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Mannheimer Beiträge zur Wirtschafts- und Organisationspsychologie Sonderheft 1998 „Zukunft der Kognitionspsychologie“ Kolloquium am 21.11.1997 anläßlich der Verabschiedung von Prof. Dr. Theo Herrmann Herausgeber: Prof. Dr. Walter Bungard Universität Mannheim Lehrstuhl für Wirtschafts- und Organi- sationspsychologie Tel: 0621 / 292 5506 Fax: 0621 / 292 5708 E-mail: [email protected] Internet: www.psychologie.uni-mannheim.de/psycho1/psycho1.htm

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Mannheimer Beiträge zurWirtschafts- und

Organisationspsychologie

Sonderheft 1998

„Zukunft der Kognitionspsychologie“Kolloquium am 21.11.1997 anläßlich der Verabschiedung

von Prof. Dr. Theo Herrmann

Herausgeber:

Prof. Dr. Walter Bungard

Universität Mannheim

Lehrstuhl für Wirtschafts- und Organi-

sationspsychologieTel: 0621 / 292 5506

Fax: 0621 / 292 5708

E-mail: [email protected]

Internet: www.psychologie.uni-mannheim.de/psycho1/psycho1.htm

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 1

Inhalt

Vorbemerkungen ........................................................................................ 2

Über den Gegenstand der Psychologie: Perspektiven einer

nomothetischen Psychologie

Prof. Dr. R. Mausfeld ................................................................................. 3

Bewußtsein und Ich-Konstitution1

Prof. Dr. W. Prinz .................................................................................... 16

Sprache und Denken

Prof. Dr. D. Dörner.................................................................................. 40

Drei Wünsche an die Kognitionspsychologie

Prof. Dr. Th. Herrmann............................................................................ 60

1 Erschienen in: Gerhard Roth & Wolfgang Prinz (Hrsg.). (1996). Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und ko-

gnititve Leistungen (S. 451-467). Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 2

Vorbemerkungen

Zur Emeritierung des langjährigen Kollegen Prof. Dr. Theo Herrmann hat die Fachgruppe

Psychologie der Universität Mannheim am 21.11.1997 ein wissenschaftliches Kolloquium

veranstaltet. Aufgrund der großen Resonanz der Veranstaltung und des hohen Interesses an

den Vorträgen der Professoren Mausfeld, Prinz, Dörner und Herrman, haben wir uns ent-

schlossen diesem Kolloquium im Rahmen unserer Mannheimer Beiträge ein Sonderheft zu

widmen.

Wir möchten uns bei den Referenten ganz herzlich bedanken, daß sich sich bereit gefunden

haben, einen Beitrag für diese Veröffentlichung zu schreiben.

An dieser Stelle wollen wir auch die Gelegenheit nochmals nutzen, Herrn Prof. Herrmann

für die vertrauensvolle und kollegiale Zusammenarbeit zu danken. Es war immer ein enga-

gierter, höchstkompetenter und geradliniger Hochschullehrer. Zum Glück können wir auch

nach seiner Emeritierung weiterhin seinen Rat einholen, da er weiterhin in der Forschung

aktiv ist.

Mannheim, im November 1998 Prof. Dr. Walter Bungard

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 3

Über den Gegenstand der Psychologie:

Perspektiven einer nomothetischen Psychologie.Prof. Dr. R. Mausfeld

„Soviele Psychologien nebeneinander wie heute, soviele Ansätze auf eigene Faust sind wohl

noch nie gleichzeitig beisammen gewesen. Man wird mitunter an die Geschichte vom Turm-

bau zu Babel erinnert.“

Seit 1929, als Karl Bühler mit diesem Satz sein Buch „Die Krise der Psychologie“ ein-

leitete, scheint es zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein, eine Krise der Psychologie

zu konstatieren. Wie keine andere Disziplin in der Geschichte der Wissenschaften ist die

Entwicklung der Psychologie durch Probleme ihrer Selbstbestimmung begleitet. Von den

einen wurde sie - vor allem hinsichtlich ihrer sozialwissenschaftlichen Bereiche - als eine für

wissenschaftsexterne Zwecke funktionalisierte soft science bezeichnet, die einem cargo cult

magischer und im Oberflächlichen verbleibenden Nachahmung von Wissenschaftsriten ver-

fallen sei. In ihren naturwissenschaftlich orientierten Bereichen, die sich mit der Erforschung

von Prinzipien des Geistes beschäftigen, habe sie sich zudem als präwissenschaftliche Vor-

bereitungsstufe überlebt und habe nun den echten Wissenschaften, den Neurowissenschaf-

ten, Platz zu machen. Der Gegenstand, für dessen Behandlung die Psychologie ihre Eigen-

ständigkeit beansprucht, sei ihr durch die Entwicklung der modernen Wissenschaft abhan-

den gekommen, ebenso wie durch die Chemie das Phlogiston. Kurz: Die Zukunft der Ko-

gnitionspsychologie liege gerade in ihrer Aufhebung, in ihrer Reduktion auf grundlegendere

Wissenschaften.

Das Thema dieses Kolloquiums ist also wohlgewählt. 1956 - vor mehr als 40 Jahren also

- beschäftigte sich ein damals sehr junger Psychologe - wir ehren ihn heute durch dieses

Kolloquium – in einer von der österreichen Akademie der Wissenschaften preisgekrönten

Arbeit mit der Frage nach einer angemessenen Begrifflichkeit der Psychologie, mit der Fra-

ge also nach dem Gegenstand der Psychologie. Er gelangt zu dem Schluß, daß auch eine

naturwissenschaftlich orientierte Psychologie die - so würden wir es heute formulieren -

'natürlichen Arten' des Mentalen zu berücksichtigen habe und daß eine atomistische, ele-

mentaristische Zerlegung des Mentalen, die sich an den natürlichen Arten anderer Naturwis-

senschaften orientiert, eine wissenschaftliche Einsicht in die Natur des Mentalen verstellt.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 4

Das war, zumindest hinsichtlich der dominanten angelsächischen Psychologie, gegen den

Zeitgeist gedacht. Einige Jahre später erst wurde mit dem Aufkommen des Funktionalismus

die theoretische Eigenständigkeit des Mentalen wiederentdeckt. In den vier Dekaden vom

Erscheinen der genannten Arbeit bis heute ist viel geschehen. Aus der Denkpsychologie

wurde die Kognitionspsychologie, das perzeptuell-kognitive System wurde als ein informa-

tionsverarbeitendes begriffen, Subparadigmen entstanden und vergingen mit ihren oftmals

ebenso großartigen wie überzogenen Versprechungen, und die Kognitionspsychologie wei-

tete sich mit der Einbeziehung von Neurophysiologie, Philosophie des Geistes und For-

schungen zur 'Künstlichen Intelligenz' zur Kognitionsforschung. Zudem begannen auch

Evolutionsbiologie, Molekularbiologie und Biophysik an den Rändern der Kognitionsfor-

schung eine zunehmende Bedeutung zu gewinnen. So sind die ganz unterschiedlichen

Stimmen, die sich der Erforschung des Geistes und seiner biologischen Grundlagen widmen,

in den 40 Jahren seit Erscheinen der Herrmannschen Arbeit zu einem mächtigen Chor ange-

schwollen. Daß dennoch - und trotz der in der Zwischenzeit erlangten Fülle an Detailwissen

- diese Arbeit erstaunlich aktuell anmutet, zeigt, daß keineswegs Übereinstimmung darüber

besteht, welchen Part die Kognitionspsychologie in diesem Chor zu spielen hat und ob ihr

für die Zukunft überhaupt ein Part darin eingeräumt wird.

Brauchen wir eigentlich, so ist oft zu vernehmen, innerhalb der Kognitionsforschung

noch eine naturwissenschaftliche Psychologie, oder läßt sich nicht vielmehr alles, was sich

über die Prinzipien des Geistes naturwissenschaftlich sagen läßt, bereits in anderen, vorgeb-

lich härteren Disziplinen der Kognitionsforschung erfassen? Derartigen Auffassungen zufol-

ge hat sich eine naturwissenschaftliche Psychologie nach der Bereitstellung einiger interes-

santer Heuristiken überflüssig gemacht und ist durch grundlegendere Zugangsweisen zu

ersetzten. Pointiert und vergröbernd will ich diese als Neuroreduktion und Computersimu-

lation bezeichnen. Für diese sich als eigentlich wissenschaftlich verstehenden Zugangswei-

sen zur Natur des Geistes stellt sich die Psychologie oftmals als das dar, was die Alchemie

für die Chemie war: als eine ideengeschichtlich notwendige, doch nunmehr abgschlossene

Vorbereitungsphase.

Gegen solche Mißverständnisse einer naturwissenschaftlichen Erforschung des Geistes

erscheint es erneut notwendig zu sein, die Eigenständigkeit einer naturwissenschaftlichen

Psychologie zu verteidigen. Doch lassen Sie mich, bevor ich detaillierter auf diese Versuche,

die Kognitionspsychologie überflüssig zu machen, zurückkomme am Anfang beginnen, mit

der Frage nach dem Gegenstand der Psychologie? Vordergründig läßt sie sich rasch beant-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 5

worten: Sie ist die Wissenschaft vom Geist, Geisteswissenschaft im wörtlichen Sinne. Ver-

wendet scheint das Wort erstmals - vor fast 500 Jahren – Philipp Melanchton zu haben, der

damit jenen Teil der Naturforschung bezeichnete, der sich auf die menschliche Seele bezog;

die Psychologie war Teil der Pneumatologie.

Überspringen wir die Jahrhunderte, in der die Naturwissenschaften ihre heutige Gestalt

annahmen. 1894 kommen in zwei einflußreichen Arbeiten - nämlich Diltheys Ideen über eine

beschreibende und zergliedernde Psychologie sowie Windelbands Straßburger Rektoratsre-

de Geschichte und Naturwissenschaft – Unterscheidungen auf, welche die Diskussionen

über den Gegenstand der Psychologie lange prägten. Erklären und Verstehen werden in

einen Gegensatz gebracht und der nomothetischen Methode der Naturwissenschaften die

idiographische Methode der Behandlung einzigartiger, und in ihrer geschichtlichen Gewor-

denheit einmaliger Vorgänge gegenübergestellt. Die Nuancen dieser Debatte sind heute nur

noch von historischem Interesse. In ihrem Kern berührt sie jedoch etwas, das auch heute

noch als Spannungsverhältnis in der Psychologie fortbesteht. Windelband beschließt in sei-

ner Rede den Absatz, in dem er nomothetische und idiographische Wissenschaft gegenüber-

stellt, mit der Feststellung, daß „die Psychologie durchaus zu den Naturwissenschaften zu

zählen ist“, daß die Psychologie also nomothetisch ist.

Von der idiographischen Zugangsweise der angemessenen Behandlung des in seinen

spezifischen historischen Entwicklungs- und Verstehenszusammenhang eingebundenen Ein-

zelnen führt eine ideengeschichtliche Kontinuität vom Konzept der Geisteswissenschaften

zu dem der Sozial- oder Gesellschaftswissenschaften. In der angloamerikanischen Gegen-

überstellung von social sciences und cognitive sciences spiegelt sich Windelbands Unter-

scheidung von idiographischen und nomothetischen Wissenschaften wider. Nun beschäftigt

sich freilich der weit überwiegende Teil der gegenwärtigen akademischen Psychologie mit

Fragen, die an einen psycho- oder sozio-historischen Entstehungszusammenhang gebunden

sind und zudem häufig an sozial-technologische Probleme gekoppelt ist. Für die Psycholo-

gie als universitärer Ausbildungsgang sind mit diesem Spannungsfeld von social sciences

und cognitive sciences eine Reihe von Problemen verbunden, zu denen ich hier nur soviel

anmerken möchte, daß ich nicht glaube, daß die Kognitionspsychologie eine Zukunft im

Rahmen der gegenwärtigen akademischen Psychologie hat.

Die Kognitionspsychologie zielt, ganz im Sinne von Windelbachs Verständnis von no-

mothetisch, nicht auf eine theoretische Erfassung dessen, was durch die individuelle Ge-

schichte oder die spezifische Entwicklung sozialer Bedingungen hervorgebracht wurde; sie

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 6

ist weder an den spezifischen durch genetische Variation bedingten, quantitativen Variatio-

nen interessiert, noch an den das Individuum konstituierenden individuellen Lerngeschichten

von Neuronen. Ihr geht es vielmehr um das, was über alle Erfahrungsmodifikationen hinaus

allen normalen Menschen gemeinsam ist, sie zielt gleichsam auf das 'basic design', das ko-

gnitiven Prozessen unterliegt. Kognitionspsychologie ist im Wortsinne Allgemeine Psycho-

logie oder auch universelle Psychologie.

Windelbachs Klassifikation der Psychologie als nomothetisch erscheint also durchaus

konsequent vor dem Hintergrund der Entwicklungen, die insbesondere von Fechner und

Helmholtz so konsequent betrieben worden waren: nämlich zu zeigen, daß auch die Unter-

suchung der Funktionsweise des Geistes einer solchen Forschungsperspektive zugänglich

sei, wie sie in den Naturwissenschaften entwickelt worden war.

In den Naturwissenschaften hatte sich eine Reihe metatheoretischer Prinzipien etabliert

und ein eigener Erklärungsbegriff konstituiert, der sich mit einer solchen Macht entfaltete,

daß Erklärung geradezu gleichbedeutend mit Erklärung innerhalb dieser naturwissenschaft-

lichen Perspektive wurde. In dieses einheitliche Weltbild, dessen Konturen von der Physik

vorgezeichnet wurden, galt es nach Helmholtz auch die naturwissenschaftliche Psychologie

einzugliedern, wollte man sich nicht überhaupt eines Anspruches auf Erklärung im Bereiche

des Psychischen begeben.

Helmholtz sah es, wie er schrieb, als Recht und Pflicht wissenschaftlichen Denkens, „die

Anwendung dieser (naturwissenschaftlichen) Methode auf alles Vorkommende auszudeh-

nen“, auch auf die Psychologie. Und was bereits für die neuzeitliche Physik galt, sah Helm-

holtz auch für die Psychologie als gültig an: Wahrheit sei nicht unmittelbar auf der Ebene

der Phänomene zu suchen und die Alltagssprache sei ungeeignet, die tiefere Ordnung hinter

den Phänomenen zu erkennen. Die theoretische Begreifbarkeit der Welt ist - Helmholtz hat

dies als erster auch für die Psychologie ausgesprochen - auf das beschränkt, was in der

Sprache der Naturwissenschaften formulierbar ist. Freilich handelt es sich - Helmholtz war

sich dessen sehr wohl bewußt - bei einem naturwissenschaftlichen Verständnis schon vom

Ansatz her um eine ganz bestimmte Form des theoretischen Verstehens. Folglich schließt

eine naturwissenschaftliche Psychologie - als der Versuch, die Natur des Mentalen im Rah-

men einer objektiven, d.h. perspektiveunabhängigen Konzeption der Welt zu verstehen - in

keiner Weise andere Arten des Verstehens aus. Viel von dem, was wir als Erkenntnis und

Verstehen ansehen, ist nicht an eine perspektivenunabhängige Konzeption der Realität ge-

bunden und dennoch gleichwohl Erkenntnis, denken wir beispielsweise an Ausdrucksweisen

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 7

des menschlichen Geistes, wie sie uns in Dichtkunst, Literatur, Malerei und Musik entge-

gentreten. Doch haben diese anderen Arten mit der naturwissenschaftlichen Zugangsweise

nichts zu tun. Insbesondere können wir diese Zugangsweisen nicht gegeneinander ausspie-

len, denn es gibt kein tertium comparationis, auf dessen Grundlage sich überhaupt formulie-

ren ließe, daß ein Verstehen innerhalb einer naturwissenschaftlichen Psychologie und ein

Verstehen innerhalb einer Psychologie des betrachterabhängigen Erlebens miteinander kon-

kurrieren. Daß die Natur des Menschen durch physikalische Erklärungen nicht erfaßt wer-

den könne, ist keine tiefe Einsicht in die Natur des Menschen, sondern schlicht Ausdruck

unserer Konzeption von Objektivität, auf welcher die Naturwissenschaft beruht.

Ein wesentliches Merkmal einer naturwissenschaftlichen Zugangsweise ist es, daß es

keine a priori privilegierten Kategorien von Evidenzen gibt, seien es Introspektion, Verhal-

ten oder neurophysiologische Daten. Vielmehr wird eine naturwissenschaftliche Psychologie

alles an Daten heranziehen, was sie für interessant und relevant für die Bildung von Theori-

en über die Struktur des Mentalen ansieht. Hierzu können neurophysiologische Daten eben-

so gehören wie entwicklungspsychologische Beobachtung zur Wahrnehmungs- und

Denkentwicklung bei Säuglingen, Beobachtungen bei Läsionen des Gehirns, introspektive

Berichte der Versuchspersonen etc. Eine naturwissenschaftliche Psychologie hat ein gleich-

sam opportunistisches Verhältnis sowohl introspektiven wie auch neurophysiologischen

Beobachtungen gegenüber. Obwohl uns zwar das Endprodukt kognitiver Prozesse oftmals

im Bewußtsein zugänglich ist, haben wir dennoch keinen privilegierten Zugang zu den in-

ternen Prinzipien, die unser Wissen, unsere Wahrnehmung, unsere Gefühle, die Form, Be-

deutung oder den Gebrauch von Sätzen, die Beziehungen zwischen unterschiedlichen

Wahrnehmungsmodulen oder zwischen Wahrnehmung und Sprache determinieren. Eben-

sowenig wie introspektive Beobachtungen haben auch neurophysiologische Beobachtungen

für die Psychologie keine epistemische Superiorität. Damit kehre ich an den Anfang - d.h.

zu den Versuchen, die naturwissenschaftliche Psychologie innerhalb der Naturwissenschaf-

ten überflüssig zu machen - zurück. Ich hatte sie grob klassifiziert als Neuroreduktionismus

und Computersimulation.

Der Neuroreduktionismus, mit dem ich mich zunächst beschäftigen möchte, stellt in sei-

nen vielfältigen Varianten und Schattierungen die gegenwärtig in der Kognitionsforschung

einflußreichste Position dar. Er ist geradezu zur gegenwärtigen Orthodoxie geworden. Im

wesentlichen besagt er, daß die eigentliche Erklärungsebene für mentale Prozesse auf

neuraler Ebene liege, daß psychologische Theorien bestenfalls vorübergehende Hilfkon-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 8

struktionen seien, bis man auf neuraler Ebene die eigentliche Erklärung für die betrachteten

psychologischen Phänomene gefunden habe. Da das Mentale schließlich nichts mehr als eine

komplexe Erscheinungsweise von Eigenschaften des Gehirnes sei, erledige sich sein Ver-

ständnis mit zunehmendem Verständnis des Gehirnes. Es ist freilich eine ganz und gar

witzlose Bemerkung, daß die Neurone die Grundlage des Verhaltens oder geistiger Prozes-

se seien, denn mit gleichem Recht kann man bemerken, daß die Atome die Grundlage der

Neurone seien, die Quarks die Grundlage der Atome und die Superstrings die Grundlage

der Quarks. Wenn Reduktion auf eine grundlegendere Wissenschaft wirklich ein zentrales

Merkmal der Naturwissenschaft wäre - was sie nicht ist -, welche Gründe könnte der Neu-

roreduktionismus dafür anführen, daß er nur ein sehr halbherziger Reduktionismus ist, der

bei einer rein phänomenal bestimmten und physikalisch völlig arbiträren Zwischenebene von

Neuronen stehen bleibt, statt konsequent mentale Prozesse auf die Physik zu reduzieren -

und Verhalten beispielsweise in terminis von Quarks zu erklären? Hier wird deutlich, daß

das neuroreduktionistische Credo in der Psychologie nicht mehr darstellt als die dogmati-

sche Behauptung darüber, auf welcher Ebene die Antwort zur Natur des Geistes zu finden

sei. Damit ist der Neuroreduktionismus - und dies ist wichtig festzuhalten – eine Hypothese

der Neurophysiologie, nicht der Psychologie. Für eine naturwissenschaftliche Psychologie

ist er kaum von Belang.

In seinem Verständnis von Reduktion beruht der Neuroreduktionismus auf einem Miß-

verständnis der Geschichte der Theorieentwicklung in den Naturwissenschaften. Die Re-

duktion einer Wissenschaft auf eine vorgegebene grundlegendere ist wenig typisch für die

Entwicklung der Naturwissenschaft. Reduktion ist und war, wie die Wissenschaftsge-

schichte lehrt, niemals vorrangiges Ziel der Naturwissenschaft. Vielmehr ist die Geschichte

der Naturwissenschaft dadurch gekennzeichnet, daß man unterschiedliche Phänomenberei-

che miteinander in Beziehung zu setzen sucht: Beispiele sind Wärmelehre und Mechanik,

Elektrodynamik und Quantentheorie, Quantentheorie und Gravitationstheorie, Physik und

Chemie, Biologie und Chemie, usw. Das Verhältnis von Chemie und Physik genügt, um den

Unterschied von Reduktion und explanatorischer Vereinheitlichung zu verdeutlichen: Nie-

mand wäre im vergangenen Jahrhundert auf die Idee gekommen, die Gesetzmäßigkeiten der

Chemie deshalb für weniger gültig und angemessen anzusehen, weil sie sich nicht auf physi-

kalische Gesetzmäßigkeiten reduzieren lassen. Die Beschreibungen und Gesetzmäßigkeiten

der Chemie haben bis heute Gültigkeit, und es war die Physik, die sich ändern mußte, um

eine explanatorische Vereinheitlichung zu erlauben. Gleiches gilt für andere Bereiche: War

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 9

etwa das Konzept des Gen solange von zweifelhaftem Status, wie man es noch nicht als

DNS-Molekül beschreiben konnte? Oder wurde das Prinzip der natürlichen Selektion als

unnaturwissenschaftlich angesehen, weil man es nicht aus den Prinzipien der Newtonschen

Mechanik herleiten kann? Hinzu kommt, daß die Tatsache der Reduzierbarkeit beziehungs-

weise der Irreduzierbarkeit als solche wenig interessant ist: Auch elektromagnetische Eigen-

schaften sind nicht auf mechanische zu reduzieren. Was also die Naturwissenschaft seit jeher

antreibt ist keineswegs die Reduzierung auf eine grundlegendere Wissenschaft, sondern die

Entwicklung phänomenadäquater Theorien und die explanatorische Vereinheitlichung der

Prinzipien, auf denen unterschiedliche Klassen von Theorien beruhen.

Auffassungen, wie sie im sog. 'eliminativen Materialismus' formuliert werden, daß men-

tale Zustände 'in Wirklichkeit' nicht existierten, da sie keinen Platz in der durch die Physik

beschriebenen Welt hätten, und daß folglich das Sprechen über alltagspsychologische Phä-

nomene durch ein Sprechen über neurale Dinge ersetzt werden müsse, sind ebenso sinnvoll,

wie es etwa die Forderung wäre, in der Biologie ein Sprechen über DNS durch ein Sprechen

über Quarks zu ersetzen.

Die Attraktivität des Neuroreduktionismus für viele Kognitionsforscher scheint darin zu

liegen, daß er vorgibt, in besonderer Weise naturwissenschaftliche Prinzipien zu verkörpern,

dar etwas Nebulöses, Mysteriöses seines geheimnisvollen Charakters entkleidet und es auf

etwas Klares und Wohlbekanntes zurückzuführen sucht. Doch der metaphysische Dualis-

mus, den er dadurch zu vermeiden sucht, ist ohne den klaren mechanistischen Materiebegriff

des 17. Jahrhunderts gar nicht mehr formulierbar. Mit der Entwicklung der Physik ist uns

die Materie abhanden gekommen.

Nicht die Materie ist Gegenstand der Physik, sondern all das, was durch gültige physi-

kalische Theorien beschrieben wird. Wenn der Neuroreduktionismus dennoch glaubt, in

gewissen materiellen Dingen, die von uns phänomenal als Neurone klassifiziert werden, eine

materielle Basis des Psychischen zu finden, so bleibt er damit den naturwissenschaftlichen

Kategorien des 17. Jahrhunderts verhaftet.

Somit bleibt jenseits eines metaphysischen Neuroreduktionismus nur die empirische Fra-

ge, inwieweit Kenntnisse über das Gehirn unsere Theoriebildung über mentale Prozesse

restringieren - und sie somit bereichern können. Ziel einer naturwissenschaftlichen Psycho-

logie ist es, Theorien über die Struktur des Mentalen zu formulieren und somit letztlich über

Eigenschaften des Gehirns - wobei wir nicht vergessen sollten, daß auch dies selbst schon

eine abstrahierende Idealisierung ist(z.B. vom Stoffwechselsystem und vom Immunsystem).

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 10

Daß in manchen Fällen neurophysiologische Daten zu einer Verfeinerung der psychologi-

schen Theoriebildung beitragen können und beigetragen haben, steht völlig außer Zweifel,

doch ebenso außer Zweifel steht, daß neurophysiologische Daten keinen privilegierten Sta-

tus als eigentliche Grundlage des Mentalen haben. „Eine physiologische Hirntheorie“, so

betonte Theo Herrmann in der eingangs genannten Arbeit, „verlangt als Richtigkeitskriteri-

um auch immer die Vereinbarkeit mit psychologischen Tatsachen.“ Das Feuern von Neuro-

nen, die Lokalisation metabolischer oder elektrischer Hirnaktivität oder das Verhalten einer

Person sind einige von vielen möglichen Indikatoren für innere Prozesse, jedoch keineswegs

ein Substitut für diese.

So, wie sich Chemie, Biologie und andere Bereiche der Naturwissenschaft als eigenstän-

dige Gebiete entwickelten und eine phänomenangemessene Beschreibungssprache für die

Formulierung ihrer Gesetzmäßigkeiten entwickelten, ohne dabei durch reduktionistische

Mißverständnisse gefährdet zu sein, kann auch eine naturwissenschaftliche Psychologie ge-

treu den metatheoretischen Prinzipien der Naturwissenschaft eine eigenständige phänome-

nadäquate Theoriebildung betreiben; sie ist keineswegs eine epistemologische Magd der

Neurowissenschaft. Mehr noch: Die gegenwärtig dominanten Varianten des Neuroreduk-

tionismus stehen, wie ich versucht habe deutlich zu machen, geradezu in Gegensatz zu die-

sen Prinzipien, sie stellen ein Mißverständnis der Anwendung naturwissenschaftlicher Prin-

zipien auf die Untersuchung des Geistes dar.

Neuroreduktionistische Positionen können also, da sie für die Kognitionspsychologie

bedeutungslos sind, keinen Einwand gegen eine eigenständige, genuin psychologische Theo-

riebildung darstellen. Nun basiert ja die Kognitionswissenschaft auf der grundlegenden Idee,

daß Wahrnehmung und Denken auf Transformationen von Repräsentationen beruhen, die

durch abstrakte interne Codes konstituiert werden. Wie nun, wenn wir statt gleichsam von

unten die Kognitionspsychologie von oben her überflüssig zu machen suchen, indem wir

behaupten, eine Einsicht in die Struktur des Geistes könne bereits dadurch zu gewinnen

sein, daß wir ein Computermodell konstruieren, das hinsichtlich bestimmter Aspekte unun-

terscheidbar vom Verhalten von Personen ist. Wie beim Neuroreduktionismus der Erklä-

rungsbegriff an die Reduktion auf vermeintlich Grundlegenderes gebunden wird, so wird er

hier an einen Erfolg der Simulation - zumeist im Sinne irgendeines jeweils gewählten 'Un-

unterscheidbarkeits'-Kriteriums - gebunden. Die Beweggründe für eine sich an der Simulati-

on orientierende Zugangsweise lassen sich ideengeschichtlich ebenfalls auf das 16. und 17.

Jahrhundert zurückführen: nämlich auf die Gleichsetzung von verum und factum als Kriteri-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 11

um der Erkenntnis; wahr ist, was sich technisch reproduzieren läßt, denn die - von Descar-

tes geforderte Klarheit und Bestimmtheit - ist allein dem Einsichtsverhältnis des Schöpfers

zu seinem Werk vorbehalten.

Kann aber das Bemühen um eine Simulation mentaler Prozesse etwas zur Kognition-

spsychologie beitragen? Kann die Betrachtung von Maschinen als solche bereits Einsicht in

die Natur mentaler Prozesse erlauben? Ich meine 'nein', und der Grund ist ein sehr einfacher.

Auch hier, wie schon im Falle des Neuroreduktionismus, hat dies Theo Herrmann - in einer

Schrift zur Verteidigung der Experimentalmethodik - in aller Klarheit ausgesprochen. Wie

nämlich - schreibt er zur Computersimulation kognitiver Phänomene - „sieht das Original

aus, das in diesem Modell abgebildet werden soll?“ Und fährt in Beantwortung dieser Frage

mit der Feststellung fort: „Da werden wir Psychologen, aber auch wohl Linguisten, Neuro-

wissenschaftler und Analytische Philosophie sagen müssen, daß wir darüber nur höchst

bruchstückhafte und vage Kenntnisse besitzen.“ Wenn also die eigentliche Aufgabe der Ko-

gnitionspsychologie -nämlich eine phänomenadäquate Theoriebildung über mentale Prozes-

se- erst noch zu leisten ist, welchen Nutzen könnte dann eine Simulation haben?

Ihre vermeintliche Faszination bezieht die Simulationsperspektive aus einer stillschwei-

gend metaphorischen Übertragung psychologischer Sprechweisen. Die Idee, durch Simula-

tion etwas über die Natur des Mentalen zu erfahren, ist so irrig wie die Vorstellung, - um

ein Beispiel Richard Rortys anzuführen - wir könnten in Erfahrung bringen, ob wir Robo-

tern bürgerliche Rechte gewähren sollen, indem wir ihre Funktionsweise besser erforschen.

Wüßten wir nämlich nicht bereits, was Gedanken und Gefühle sind, so könnten wir es auch

durch Untersuchung von Artefakten nicht herausfinden.

Denn Begriffe wie Denken, Fühlen, Sehen beziehen ihre Bedeutung ausschließlich aus

einem menschlichen Kontext und können bei Artefakten nur eine metaphorische Bedeutung

haben. Somit ist die Frage, ob Maschinen denken oder fühlen können, eine für die Kogniti-

onsforschung inhaltlich bedeutungslose Frage, die lediglich den Sprachgebrauch betrifft; mit

gleichem Recht, wie wir sagen können „Flugzeuge fliegen“ - und damit einen Begriff aus

biologischen Zusammenhängen metaphorisch auf Artefakte übertragen, können wir auch

sagen, Roboter laufen, Maschinen sehen oder Computer denken. Ein Problem des Sprach-

gebrauchs also und keinesfalls eine Frage nach einem durch Untersuchungen herauszufin-

denden Faktum. Denn die Attribution von Erfahrungen und Gefühlen gründet sich nicht auf

wissenschaflicher Analyse, sondern resultiert aus einer gemeinsamen Natur und einem Tei-

len von Erfahrungen. Ebenso bedeutungslos für die Kognitionsforschung ist die Frage, ob

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 12

sich technisch irgendwelche arbiträren und kontextspezifischen 'Ununterscheidbarkeits'-

Kriterien (wie der Turing-Test) erfüllen lassen.

In der Kognitionspsychologie gleicht der sich an der Simulation orientierende Zugang

dem Neuroreduktionsmus in seinem Bemühen, unter dem Banner einer konsequenten Na-

turwissenschaftlicheit das Mentale loszuwerden. Wie wenig aber beispielsweise die konse-

quent mechanistisch gedachten Versuche des 17. Jahrhundert, biologische Systeme in Form

von Tiermaschinen zu simulieren, für die Entwicklung der Biologie beigetragen haben, ist

bekannt – nämlich nichts.

In Diderots Enzyclopdie finden wir unter dem Stichwort 'Androide': „Automat von

menschlicher Gestalt, der vermittels gut angebrachter Federn etc. sich bewegt und Funktio-

nen ausführt, die jenen eines Menschen äußerlich ähnlich sind.“ Eine deutsche Bildungsen-

zyklopädie von 1820 schreibt zum Stichwort 'Automat': „Je täuschender und naturgemäßer

der Automat die Bewegungen und Verrichtungen belebter Wesen nachahmt, und je ver-

steckter und dauernder die verborgenen Kräfte die Thätigkeit desselben unterhalten, desto

vollkommener ist diese Maschine.“ Hier finden wir im wesentlichen bereits das behaviorale

Turing-Kriterium. Zugleich wird erkennbar, daß dieses vieldiskutierte Kriterium seine ver-

meintliche Faszination nur im Kontext eines Simulationszieles erhalten kann. Wie in der

Biologie erlaubt auch in der Kognitionspsychologie die Betrachtung von Maschinen oder

Programmen keine neuen Einsichten in die Natur der untersuchten Prozesse.

Simulation ist - wie schon zuvor Reduktion - weder als Erkenntnisinstrument noch als

Erkenntnisziel wesentliches Merkmal einer naturwissenschaftlichen Zugangsweise. Oftmals

steht sie geradezu in Gegensatz zu einer naturwissenschaftlichen Perspektive. Denn sie zielt

ihrem Charakter nach auf etwas ganz anderes als auf kumulative Theoriebildung über ab-

strakte und hochidealisierte Prinzipien, welche den jeweils betrachteten Phänomenen zu-

grunde liegen. Zur Simulation greift man dort, wo die Auswirkungen die Effekte der dyna-

mischen Interaktion von wohlverstandenen Elementarkomponenten gleichsam kombinato-

risch explodieren und nicht mehr analytisch handhabbar sind, oder wenn die Effekte einer

unendlich großen Zahl von Randbedingungen - wie in der Meteorologie - nicht mehr mit der

eigentlichen Theorie in Beziehung gesetzt werden können. Ihrem Charakter nach zielt Si-

mulation also auf eine technische Beherrschung von Oberflächenphänomenen, während die

Naturwissenschaft auf die abstrakten und hochgradig idealisierten Prinzipien zielt, die den

Oberflächenphänomenen zugrunde liegen. Der Versuch, in der Kognitionsforschung auf

dem Wege der Erforschung des Geistes gleichsam eine Abkürzung – vorbei an den Ker-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 13

nelementen naturwissenschaftlicher Theoriebildung, nämlich 'Experiment, Isolation, Ideali-

sierung und Abstraktion', zu suchen, indem man gewissermaßen gleich aufs Ganze geht,

dieser Versuch unterscheidet sich - was sein Erklärungskonzept betrifft – so sehr von einem

naturwissenschaftlichen Zugang wie die babylonische Wissenschaft von der griechischen,

und er beruht zudem - was seinen vermeintlichen psychologischen Gehalt betrifft - darauf,

daß man sich die Alltagsbedeutung psychologischer Begriffe wie Denken oder Wahrnehmen

stillschweigend zunutze macht.

Simulation als ingenieurwissenschaftliche Herangehensweise kann also - dies wurde

vielfach von Vertretern aller Bereiche der Kognitionsforschung überzeugend festgestellt -

weder einen eigenständigen Beitrag zu den eigentlichen Aufgaben der Kognitionsforschung

leisten, noch gar in Konkurrenz zu ihr treten.

Mit diesen Betrachtungen zu Neuroreduktionismus und Simulation habe ich versucht

deutlich zu machen, daß die Feststellung, die Kognitionspsychologie habe einen eigenstän-

digen Gegenstand, für dessen theoretische Erfassung sie als eine eigenständige Wissenschaft

zuständig ist, in keiner Weise in einem Spannungsverhältnis zu naturwissenschaftlichen

Prinzipien steht.

Wenn man nun sagt, dieser Gegenstand sei das Mentale, so geht mit einer solchen Fest-

stellung keine tiefe Einsicht in die wahre Natur des Mentalen einher, sondern sie besagt

nicht mehr als etwa die Feststellung, daß das Biologische Gegenstand der Biologie und das

Chemische Gegenstand der Chemie ist. Hier wird keine ontologische Kategorie bestimmt,

sondern nur eine bestimmte Gruppierung von Phänomenen vorgenommen, die im Rahmen

einer eigenständigen theoretischen Sprache behandelt werden müssen.

Wenn es sich nun - was die grundlegende Eigenständigkeit einer naturwissenschaftlichen

Kognitionspsychologie angeht - so verhält, wie ich es in Auseinandersetzung mit den ge-

nannten Positionen darzulegen versucht habe, dann wird man auch Belege dafür erwarten,

daß sich eine solche Perspektive bereits als fruchtbar an wissenschaftlichen Einsichten er-

wiesen hat.

Für meinen Arbeitsbereich, die Wahrnehmungspsychologie, kann ich dies ohne Zweifel

behaupten, und wohl auch für die Sprachpsychologie. Doch möchte ich - statt mit Einzel-

heiten hierzu - mit allgemeineren, wenn auch sicherlich noch nicht allgemein akzeptierten

Einsichten schließen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten über die kognitive Architek-

tur haben gewinnen lassen.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 14

Die wichtigste Entwicklung scheint mir zu sein, daß wir eine Reihe von Vorstellungen

zunehmend überwunden zu haben scheinen, die statt auf eine eigene - genuin psychologi-

sche – phänomenadäquate Theoriebildung zu zielen, Theoriebildung durch entliehene

Strukturen aus anderen Bereichen ersetzt haben - durch die man also die 'natural kinds' - sei

es der Physik, der Logik oder anderer Bereiche – als 'natural kinds', als natürliche Arten des

Mentalen betrachtet. In der Wahrnehmungspsychologie war dies die Auffassung, daß die

Sinne gleichsam Meßinstrumente für physikalische Variablen seien, eine Auffassung, die

vom Konzept der 'optischen Täuschung' bis zu gegenwärtigen Ansätzen im Bereich des Ma-

schinensehens, etwa der sog. Inverse Optik, die Geschichte der Wahrnehmungspsychologie

durchzieht. In der Denkpsychologie war dies ein Logizismus, der - auf der Annahme einer

übergreifenden und weitgehend einheitlichen kognitiven Architektur - propositionales Wis-

sen als wesentliche Grundlage intelligenten Verhaltens ansah und glaubte, Kognition, Wahr-

nehmung und Motorik getrennt untersuchen zu können, unabhängig zudem von Fragen der

ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklung.

Mit der Überwindung dieser Vorstellungen und auf der Basis einer Fülle neuer Phäno-

mene und Beobachtungen entstand ein neues Bild perzeptuell-kognitiver Architektur, ein

Bild, dem zufolge es hochgradig bereichsspezifische und überaus reichhaltige interne

Strukturen gibt, welche die Grundlage darstellen für all die erstaunlichen Leistungen, welche

die Basis unseres geistigen Lebens bilden. In der Wahrnehmungspsychologie finden wir eine

solche Spezifität innerer Strukturen etwa für die Orientierung im Raume, das Tiefensehen,

die Wahrnehmung von Oberflächen, die Erfassung einer Melodie unabhängig von ihrer

Transposition oder die Identifikation von Gesichtern. Spezifität finden wir darüber hinaus

bei kognitiven Strukturen, die uns zur Ausbildung von Sozialstrukturen befähigen, die uns

befähigen, aus Mimik und Gestik anderen Personen Intentionen zuzuschreiben und Persön-

lichkeitszüge zu erkennen, die uns ermöglichen, Musik zu verstehen oder Mathematik zu

betreiben, und die uns befähigen, motorisch mit unserer physikalischen Umwelt zu interagie-

ren.

Diese bereichsspezifischen internen Strukturen in ihren Eigengesetzlichkeiten phänome-

nadäquat zu isolieren, experimentell zu studieren, in ihren Beziehungen zueinander und ihrer

evolutionsgeschichtlichen Genese zu verstehen, kurz: sie theoretisch zu erfassen, ist Gegen-

stand und Ziel der Kognitionspsychologie. Wie sehr sie einer solchen Aufgabe gerecht wird,

wird sich nicht zuletzt darin zeigen, ob es ihr gelingt, die historische akademische Zergliede-

rung des Faches in Kategorien wie Wahrnehmung, Denken, Motivation, Gedächtnis, Emo-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 15

tion, Sozialpsychologie oder Entwicklungspsychologie durch eine solche zu ersetzen, die

der internen Struktur und den natürlichen Arten des menschlichen Geistes besser Rechnung

trägt.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 16

Bewußtsein und Ich-KonstitutionProf. Dr. Wolfgang Prinz

Inhalt

1 Vorbemerkungen........................................................................................................... 16

2 Falsche Dogmen............................................................................................................ 18

2.1 Bewußtseinsnaturalismus............................................................................................ 18

2.2 Bewußtseinsfundamentalismus ................................................................................... 20

2.3 Fazit........................................................................................................................... 22

3 Allgegenwart des Ich..................................................................................................... 23

4 Konstitution des Ich ...................................................................................................... 26

4.1 Kognitive Grundlagen: Gedanken............................................................................... 27

4.2 Dynamische Grundlagen: Pläne .................................................................................. 31

4.3 Ich-Pathologie............................................................................................................ 34

5 Explizites Ich ................................................................................................................ 36

6 Literatur........................................................................................................................ 38

1 Vorbemerkungen

Daß in der wissenschaftlichen Diskussion über die Natur des Bewußtseins und über die

Beziehungen zwischen Bewußtseinsvorgängen und Hirnprozessen immer wieder einmal ein

Ignorabimus!-Ruf erschallt, ist verwunderlich und beunruhigend. Sollen wir wirklich

glauben, daß wir hier auf prinzipielle Grenzen der wissenschaftlichen

Erklärungsmöglichkeiten stoßen? Natürlich kann man grundsätzlich nicht ausschließen, daß

es derartige Grenzen gibt. Bevor wir aber diese weitreichende Schlußfolgerung ziehen,

sollten wir uns zuvor sorgfältig vergewissern, ob wirklich schon alle

Erklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, die die Wissenschaft zu bieten hat.

Was „die Bewußtseinsfrage“ angeht -- einen ganzen Komplex von Fragen, die sich auf

die Natur von Bewußtseinserscheinungen, auf ihre Funktionsgrundlagen und ihre Rolle be-

ziehen --, sind in der Tat noch einige Erklärungsoptionen offen, und zwar solche, die genuin

psychologischer Natur sind. Für die herkömmliche mind-brain-Debatte ist nämlich charak-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 17

teristisch, daß sie überwiegend zwischen Philosophen und Neurobiologen geführt wird. Die

Philosophen richten ihren professionellen Blick auf die Bewußtseinserscheinungen und fra-

gen sich (und die Neurobiologie), wie das Gehirn es wohl fertigbringen könnte, diese Er-

scheinungen zu erzeugen. Die Neurobiologen richten ihren professionellen Blick umgekehrt

auf die Struktur und Funktion von Gehirnprozessen und fragen sich (und die Philosophie),

wie die Tätigkeit dieses Organs in Bewußtseinserscheinungen münden könnte.

Vielleicht scheitern diese Fragen deshalb, weil die Kluft zwischen Geist und Gehirn viel

zu tief und zu breit ist, als daß sie sich in einem einzigen Schritt überbrücken ließe. Viel-

leicht ergeben sich neue Chancen für eine erfolgreiche Überbrückung dann, wenn unterwegs

noch ein zusätzlicher Stützpfeiler eingezogen wird. Vermittelnde Funktion könnte er wo-

möglich dann übernehmen, wenn er weder in der Sprache des Geistes noch in der Sprache

des Gehirns formuliert wird, sondern in einer dritten Sprache, die sich in diese beiden Spra-

chen übersetzen läßt. Diese dritte Sprache müßte sich dazu eignen, Strukturen und Prozesse

zu charakterisieren, die auf der einen Seite den Bewußtseinserscheinungen zugrunde liegen

und zugleich auf der anderen Seite durch Gehirnprozesse realisiert werden. Um es in einem

Bild zu sagen: Zwei Personen, die deshalb nicht miteinander reden können, weil die eine nur

Englisch, aber nicht Französisch und die andere nur Französisch, aber nicht Englisch spre-

chen kann, können dennoch miteinander ins Gespräch kommen, wenn sie beide eine dritte

Sprache sprechen -- Esperanto, Latein oder auch Deutsch.

Mit der dritten Sprache, von der hier die Rede ist, meine ich die Sprache der theoreti-

schen Psychologie, d.h. die Begrifflichkeit, die die Psychologie verwendet, um kognitive

Leistungen theoretisch zu rekonstruieren (vgl. hierzu Eimer, Kapitel 12, in diesem Band).

Diese Perspektive ist es, aus der ich im folgenden einen Blick auf die Frage richte, wie Be-

wußtseinserscheinungen entstehen und welche Rolle ihnen im kognitiven System zukommt.

Meine Überlegungen werden im Grunde die Form einer psychohistorischen Spekulation

annehmen, in deren Mittelpunkt die Rekonstruktion der naturgeschichtlichen Voraussetzun-

gen und der kulturgeschichtlichen Bedingungen der Konstitution des Ich steht (Abschnitt 4).

Zuvor sage ich mich von zwei Dogmen los, die ich für falsch halte und die die Klärung

der hier anstehenden Fragen nach meiner Überzeugung mehr behindert als gefördert haben

(Abschnitt 2), und ich begründe, warum ich glaube, daß die Frage nach der Natur des Be-

wußtseins nur durch eine Aufklärung des kognitiven Status des Ich gelöst werden kann

(Abschnitt 3). Im Anschluß an den zentralen Abschnitt, der die Skizze des Erklärungsansat-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 18

zes enthält (Abschnitt 4), schließe ich mit einer Bemerkung über den Unterschied zwischen

explizitem und implizitem Ich (Abschnitt 5).

2 Falsche Dogmen

2.1 Bewußtseinsnaturalismus

Unter Bewußtseinsnaturalismus verstehe ich die vor allem in der Neurobiologie verbreitete

Auffassung, daß Bewußtsein eine Qualität ist, die von Gehirnen produziert wird. Wer immer

dieses Dogma akzeptiert (stillschweigend oder ausdrücklich), legt sich auf ein

Forschungsprogramm fest, das an drei Leitfragen orientiert ist: 1) Welche Tiere besitzen

Gehirne, die mit dieser Fähigkeit ausgezeichnet sind? Nur Menschen? Nur Primaten? Nur

Säugetiere? usw. 2) Welche Strukturen und Prozesse in diesen Gehirnen sind für die

Ausbildung von Bewußtsein kritisch? Corticale Strukturen im Vorderhirn? Cortical-

subcorticale Schaltkreise unter Einbeziehung des Thalamus und des Hippocampus?

Modulationsprozesse an Synapsen? usw. 3) Unter welchen Bedingungen produzieren diese

Strukturen und Prozesse Bewußtsein, und unter welchen Bedingungen nicht? Unter allen

Umständen? Im Anschluß an Orientierungsreaktionen? Nicht bei hoch überlernten

Tätigkeiten? usw. Darüber hinaus möchte man noch gern eine vierte Frage stellen, die

allerdings innerhalb dieses Forschungsprogramm kaum diskutiert wird: 4) Wie hängen die

einzelnen Eigenschaften von Bewußtseinserscheinungen mit einzelnen Eigenschaften dieser

Strukturen und Prozesse im Gehirn zusammen? Anders formuliert: Sind die Gehirnprozesse

nur Träger von Bewußtseinserscheinungen -- oder stellen sie zugleich deren konkrete

inhaltliche Grundlage dar?

Das bewußtseinsnaturalistische Dogma ist so alt wie die moderne Gehirnforschung

selbst. Seine bis heute markanteste Formulierung erhielt es durch Carl Vogt, einen Natur-

forscher und Philosophen des mittleren 19. Jahrhunderts, der sich in der Rolle eines mate-

rialistischen Bürgerschrecks gefiel. Vogts populären Vorträgen wird der Satz zugeschrie-

ben, daß die Gedanken zum Gehirn in demselben Verhältnis stehen wie die Galle zur Leber

oder der Urin zu den Nieren: Das eine ist das Organ, das andere sein Produkt (um nicht zu

sagen: sein Sekret). Ganz ähnlich versichert uns der amerikanische Gegenwartsphilosoph

John Searle, daß das Gehirn die Milch des menschlichen Bewußtseins absondert -- was im-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 19

mer das heißen mag. Subtrahiert man aus diesen Floskeln die auf Wirkung bedachte Pole-

mik und reduziert sie auf ihren gedanklichen Kern, ist das, was bleibt, nichts anderes als die

Grundüberzeugung des Bewußtseinsnaturalismus: Bestimmte Gehirnprozesse erzeugen

Bewußtseinserscheinungen, und zwar in dem Sinne, daß diese Gehirnprozesse notwendige

und hinreichende Grundlage für das Auftreten dieser Bewußtseinserscheinungen sind.

>>Das Bewußtsein kann ... nur durch die Biologie erklärt werden<< -- so dekretierte

noch kürzlich der amerikanische Neurobiologe Gerald Edelman in einem Interview (Edel-

man, 1995), ein Satz, der sich als Leitsatz des Bewußtseinsnaturalismus lesen läßt und der

das Arbeitsmodell der modernen neurobiologischen Forschung auf den Begriff bringt. Sie

lebt von der Hoffnung, daß es eines Tages gelingen wird, die Trägerprozesse von Bewußt-

sein eindeutig zu identifizieren. Die von Flohr (1995) vorgelegte Theorie ist ein prägnantes

Beispiel für diesen Forschungsansatz.

Andererseits lebt sie aber zugleich auch mit der Befürchtung, daß dieses Projekt schei-

tern und am Ende doch wieder zu einem neuen Ignorabimus! führen könnte. Die Ambiva-

lenz zwischen Hoffnung und Befürchtung hat kürzlich Hubert Markl in einer Gedenkrede

zum 100. Todestag Herrmann von Helmholtz' wie folgt formuliert:

„Es bleibt ... unseren Glaubensvorstellungen anheim gestellt, ob wir davon überzeugt

sind, daß letztlich auch das Rätsel unserer subjektiven inneren Erfahrung, unseres

Denkens, Fühlens, Wünschens und unserer Willensentscheidung ... dem Ansturm des

naturwissenschaftlichen Forschens, dem Zugriff der Methoden der >Physik des Le-

bendigen< erliegen. Oder ob Physik und Chemie, Physiologie und Biophysik zwar am

Ende aller Eigenschaften und Leistungen der Körperlichkeit aller Lebewesen ... erklä-

ren mögen, dann aber immer noch etwas bleibt, was wir ... eigentlich als das Aller-

wichtigste, nämlich das uns einzig zweifelsfrei Sichere erkennen, die Existenz unseres

bewußten Selbst: unreduzierbar auf physische Wirklichkeit .... Mag auch sein, daß wir

niemals eine endgültig abschließende Antwort darauf ...“

Wie aber, wenn das Dogma des Bewußtseinsnaturalismus falsch wäre und das For-

schungsprogramm, das auf ihm aufbaut, deshalb die falschen Fragen stellt? Eine radikale

Kritik stellt den Bewußtseinsnaturalismus insgesamt in Frage. Sie geht oft mit der Ableh-

nung jeglicher Form von naturwissenschaftlicher Erklärung von Bewußtseinserscheinungen

einher und läuft häufig auf die Begründung einer dualistischen Position hinaus. In diesem

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 20

prinzipiellen und radikalen Sinn stelle ich den Bewußtseinsnaturalismus hier keineswegs zur

Disposition.

Eine weniger radikale Kritik stellt dagegen nur die starke Version der bewußtseinsnatu-

ralistischen Position in Frage -- die Überzeugung nämlich, daß Gehirnprozesse die notwen-

dige und hinreichende Grundlage von Bewußtseinserscheinungen bilden. Dies ist die Kritik,

die ich mir im folgenden zu eigen mache. Das heißt, ich bin sehr wohl davon überzeugt, daß

die Ausbildung von Bewußtsein an bestimmte neurobiologische Bedingungen als notwendi-

ge Voraussetzung gebunden ist. Ich bin aber zugleich davon überzeugt, daß diese Bedin-

gungen nicht hinreichend sind, um die Ausbildung von Bewußtsein zu erklären. Vielmehr

müssen nach meiner Überzeugung für eine hinreichende Erklärung neben bestimmten neu-

robiologischen Voraussetzungen auch bestimmte gesellschaftlich-politische Bedingungen

veranschlagt werden. Mit anderen Worten: Die Entstehung von Bewußtsein kann nicht rein

naturgeschichtlich erklärt werden, sondern erfordert eine Verbindung von naturgeschichtli-

chen und kulturgeschichtlichen Erklärungsansätzen.

2.2 Bewußtseinsfundamentalismus

Als Bewußtseinsfundamentalismus möchte ich eine Position bezeichnen, die für Teile der

philosophischen bzw. philosophisch inspirierten Diskussion über Natur und Funktion des

Bewußtseins charakteristisch ist und die in gewisser Weise das spiegelbildliche Gegenstück

zum Naturalismus der Biologie bildet. Das bewußtseinsfundamentalistische Dogma lehrt,

daß Bewußtseinserscheinungen fundamentale Gegebenheiten sind, zu denen wir

unmittelbaren, unvermittelten Zugang haben - im Unterschied zu Erscheinungen der äußeren

Welt, die uns durch Wahrnehmungsprozesse vermittelt sind. Unsere

Bewußtseinserscheinungen - unsere Gedanken, Gefühle, Absichten - sind uns unmittelbar

zugänglich, und deshalb haben sie für unsere Erkenntnis sogar einen höheren Rang als die

Erscheinungen der Außenwelt: sie sind, wie es in dem oben zitierten Ausschnitt der Rede

Hubert Markls zum Gedenken Herrmann von Helmholtz' heißt >>... eigentlich das

allerwichtigste, nämlich, daß uns einzig zweifelsfrei Sichere....<< Bewußtseinserscheinungen

haben danach eine höhere erkenntnistheoretische Dignität als die Erscheinungen der

Außenwelt. Sie stellen das ursprüngliche Fundament aller Erkenntnis dar. Denn in ihnen

wird sich das Subjekt seiner eigenen geistigen Tätigkeit inne, statt -- wie z.B. in der

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 21

Wahrnehmung der Außenwelt -- irgendwelchen äußeren Objekten fremd

gegenüberzustehen.

Dieses Dogma ist vor allem durch Descartes' Lehre befördert worden, daß als einziger

unbezweifelbarer Verankerungspunkt für eine Theorie der menschlichen Erkenntnis nur das

reflexive Selbstbewußtsein des Geistes -- das Cogito -- in Betracht kommen kann. Descartes

war der Überzeugung, daß der Zugang zu den eigenen Bewußtseinstatsachen ein Prozeß

von viel einfacherer Struktur ist als der Zugang zur Außenwelt. Beim Zugang zum eigenen

Bewußtsein ist das Psychische gleichsam bei sich selbst; es muß nicht irgendwelchen physi-

schen Sachverhalten gegenübertreten, die ihm wesensfremd sind. Dementsprechend ist das,

was wir über unsere psychischen Vorgänge wissen, stets notwendigerweise wahr: Es ist ein

Vorgang des Innewerdens des wirklichen Sachverhalts selbst, und keineswegs ein Abbil-

dungs- und Transformationsvorgang, bei dem man die Frage nach der Beziehung zwischen

wirklichem und wahrgenommenem Sachverhalt sinnvoll stellen könnte.

Was aber, wenn auch dieses Dogma falsch wäre und wenn es unzulässig wäre, die

Struktur unserer Bewußtseinsinhalte ohne weiteres mit der Struktur der Prozesse zu identi-

fizieren, die sie erzeugen? Dann würden wir, wenn wir nach den Beziehungen zwischen

Bewußtseinserscheinungen und Gehirnprozessen fragen, vielleicht abermals eine Frage stel-

len, die zu weit greift und sich in dieser Form nicht beantworten läßt. Falls es nämlich

Gründe gibt, die bewußtseinsfundamentalistische Doktrin zu bezweifeln, daß Bewußtsein-

serscheinungen die ihnen zugrundeliegenden kognitiven Prozesse direkt widerspiegeln, wäre

es erforderlich, nicht nur zwei, sondern drei Instanzen zu unterscheiden. Man müßte dann

zwischen Bewußtseinserscheinungen, kognitiven Prozessen und Gehirnprozessen unter-

scheiden und hätte die Ausgangsfrage nach der Beziehung zwischen Bewußtsein und Gehirn

in zwei Teilfragen aufzuspalten: die nach der Beziehung zwischen kognitiven Prozessen und

ihrer bewußten Repräsentation und die nach der Realisierung kognitiver Prozesse durch

Gehirnprozesse.

Für eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem bewußtseinsfundamentalistischen

Dogma ist hier kein Raum (vgl. Lutz, 1992; Mead, 1934; Prinz, im Druck a, b; Wilkes,

1988). Für den gegenwärtigen Zweck mag es ausreichend sein festzustellen, daß sich die

moderne psychologische Forschung längst von diesem Dogma verabschiedet hat und dazu

übergegangen ist, Berichte, die Personen über ihre Bewußtseinserscheinungen geben, ge-

nauso zu behandeln wie Berichte, die sie über Vorgänge in der Außenwelt geben: als Be-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 22

richte über die Wahrnehmung ihrer kognitiven Prozesse, und keineswegs als Berichte über

diese Prozesse selbst.

Nach diesem Arbeitsmodell stehen die Bewußtseinserscheinungen zu den zugrundelie-

genden kognitiven Prozessen in genau dem gleichen indirekten Vermittlungsverhältnis wie

die Wahrnehmungseindrücke, die wir über die Außenwelt haben, zur Außenwelt selbst: Hier

wie da enthalten die Bewußtseinseindrücke nur eine hochgradig selektive und kategorial

überformte Repräsentation einzelner Aspekte der zugrundeliegenden Verarbeitungsprozesse

-- und keineswegs eine Repräsentation dieser Prozesse selbst.

Der Status der Bewußtseinserscheinungen ist jetzt ein ganz anderer: Sie sind nicht die

kognitiven Prozesse selbst, deren Realisierung durch das Gehirn erklärt werden muß, son-

dern Produkte einer Interpretation dieser Prozesse. Nimmt man hinzu, daß das kategoriale

Gerüst für diese Interpretation nicht von jedem Individuum neu entwickelt, sondern aus der

kulturellen Umgebung übernommen wird, wird deutlich, daß die Abdankung des Bewußt-

seinsfundamentalismus zu einem ähnlichen Ergebnis führt wie die Abdankung des (starken)

Bewußtseinsnaturalismus: Sie schafft Raum für die Einbeziehung gesellschaftlich-kultureller

Faktoren in Theorien über die Konstitution von Bewußtsein.

2.3 Fazit

Diesen zusätzlichen Erklärungsraum haben wir dadurch gewonnen, daß wir die Beziehung

zwischen Bewußtseinserscheinungen und Gehirnprozessen in zwei Teilbeziehungen

aufgelöst haben. Die eine ist eine Instantiierungsbeziehung; sie betrifft die Realisierung von

(verborgenen) kognitiven Prozessen durch das Gehirn -- und damit die Beziehung zwischen

zwei verschiedenen Ebenen der Beschreibung eines Systems, das kognitive Leistungen

erbringt. Die andere ist eine Wahrnehmungsbeziehung; sie betrifft das Verhältnis zwischen

(verborgenen) kognitiven Prozessen und den mit ihnen verbundenen

Bewußtseinserscheinungen. Diese Beziehung ist der Ort, an dem soziale

Konstruktionsprozesse wirksam werden können.

3 Allgegenwart des Ich

Daß wir uns vom Bewußtseinsfundamentalismus verabschieden, bedeutet nicht, daß wir

einer Wissenschaft das Wort reden, die Bewußtseinserscheinungen überhaupt nicht mehr

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 23

zur Kenntnis nimmt. Im Gegenteil: Daß wir sie jetzt anders verstehen -- nicht als

unmittelbare Korrelate von Gehirnprozessen, sondern als Ergebnisse einer kulturell

vermittelten Interpretation der Resultate von kognitiven Prozessen --, bedeutet ja

keineswegs, daß sie wissenschaftlich unergiebig sind.

Wie also läßt sich die allgemeine Struktur von Bewußtseinserscheinungen charakterisie-

ren? Wir wollen uns dieser Frage nicht durch eine vergleichende Diskussion verschiedener

Definitionen nähern (vgl. dazu Marcel, 1988; Natsoulas, 1978a, b; Wilkes, 1988), sondern

durch Rückgriff auf eine klassische Autorität der phänomenanalytisch fundierten Psycholo-

gie und der psychologisch fundierten Philosophie. Der österreichische Philosoph Franz

Brentano legte 1874 eine Untersuchung zur Grundlegung der Psychologie vor, in der er sich

ausführlich mit der Natur psychischer Phänomene und der Abgrenzung zwischen psychi-

schen und physischen Phänomenen auseinandersetzte (Brentano 1874/1924). Dabei entwik-

kelte er die Lehre von den psychischen Akten, die zugleich eine Lehre über die Struktur

elementarer Bewußtseinstatsachen ist.

In diesem Buch erörtert Brentano die Natur psychischer Akte über viele Seiten hinweg

an einem denkbar einfachen Beispiel: Was geschieht eigentlich, wenn wir einen Ton hören?

Nach Brentanos Analyse sind dann in einem einzigen psychischen Akt zwei Inhalte mitein-

ander verwoben: Der Ton, den wir hören und die Tatsache, daß wir ihn hören. Allerdings

sind diese beiden Inhalte nicht in gleicher Weise repräsentiert: Der Ton ist das primäre Ob-

jekt des Hörens; ihn können wir im psychischen Akt direkt beobachten. Das Hören selbst ist

dagegen (etwas paradox formuliert) das sekundäre Objekt des Hörens. Von ihm sagt Bren-

tano, daß es im psychischen Akt nicht beobachtet werden kann, wohl aber in ihm zu Be-

wußtsein gelangt: >>Die Töne, die wir hören, können wir beobachten, das Hören der Töne

können wir nicht beobachten; denn nur im Hören der Töne wird das Hören selbst mit er-

faßt.<< (1874/1924, S. 181)

Bewußtseinserscheinungen -- für Brentano ein Synonym für psychische Akte -- zeichnen

sich demnach durch ihren zweifachen Inhalt aus: Sie enthalten den Gegenstand, auf den sie

sich richten (Ton) und die Art und Weise, in der dieser Gegenstand gegeben ist (Hören),

wobei, wie wir modern sagen würden, der Gegenstand (das primäre Objekt) explizit, die Art

seiner Gegebenheit (das sekundäre Objekt) dagegen implizit bewußt ist.

Man kann diese Analyse -- über Brentano hinaus -- noch einen Schritt weiter treiben --

und muß es wohl auch, wenn man die Struktur psychischer Akte wirklich erschöpfend cha-

rakterisieren will. Wenn nämlich zutrifft, daß im Hören eines Tons nicht nur der Ton, son-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 24

dern auch das Hören implizit enthalten ist, dann muß auch das Subjekt des Hörens -- mein

Ich -- in abermaliger Verschachtelung im Akt enthalten sein. Denn das Hören ist nicht vor-

stellbar ohne ein Subjekt, das hört (ebensowenig wie vorstellbar wäre, daß es gar kein Ob-

jekt gäbe, das gehört würde).

In diesem Sinne ist das Subjekt des Aktes in jedem psychischen Akt implizit gegenwär-

tig. Die psychischen Akte einer Person unterscheiden sich nach ihren sekundären Objekten

(sie hört, sieht, denkt, glaubt, hofft, befürchtet, fühlt, daß etwas der Fall ist) oder natürlich

auch nach ihren primären Objekten (sie hört einen Ton, ein Geräusch, eine Stimme) --, aber

sie gleichen sich darin, daß in allen Akten im Hintergrund das gleiche Subjekt anwesend ist.

Wenn ich einen Ton höre, ist das Hören mein Hören, wenn ich über etwas nachdenke, sind

es meine Gedanken, und wenn ich etwas tun will, ist es mein Wille, dessen ich gewahr wer-

de. Mit anderen Worten: Mein Ich ist in meinen Bewußtseinserscheinungen implizit anwe-

send; es bildet die gemeinsame Klammer, durch die meine psychischen Akte zusammenhän-

gen.

Dem entspricht, daß die bewußte Repräsentanz einer Situation genau dann endet, wenn

das Ich sich aus ihr verabschiedet. Der klassische Fall, an dem man dies verdeutlichen kann,

ist die Art und Weise, in der wir unsere Umgebung wahrnehmen, wenn wir etwa während

eines Spaziergangs in ein Gespräch verwickelt werden, das unsere ganze Aufmerksamkeit

beansprucht. Unsere bewußte Wahrnehmung ist dann ganz auf den Inhalt des Gesprächs

und auf die Gesprächssituation selbst konzentriert; dies sind, um mit Brentano zu sprechen,

die primären Objekte, auf die unser implizit anwesendes Ich sich richtet. Nur sie sind es, die

wir dementsprechend bewußt wahrnehmen. Andere Merkmale der Situation -- der Weg, den

wir begehen und die Szenerie, die wir dabei durchschreiten -- nehmen wir nicht mit Be-

wußtsein zur Kenntnis. Natürlich kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese Informatio-

nen verarbeitet werden, denn andernfalls wäre nicht zu erklären, daß wir, obwohl tief im

Gespräch versunken, voll in der Lage sind, unsere Schritte umgebungsgerecht zu steuern.

Die Verarbeitung erzeugt aber keine bewußte Repräsentation, d.h. keine Repräsentation, die

auf das implizit anwesende Ich bezogen ist (vgl. z.B. Prinz, 1983).

Diese Beobachtungen führen zu der Schlußfolgerung, daß die Bezogenheit auf ein im-

plizit anwesendes Ich offensichtlich die konstituierende Bedingung für die Ausbildung be-

wußter Repräsentationen darstellt: Zur bewußten Repräsentation gelangen Sachverhalte

dann, wenn (bzw. dadurch, daß) sie in ihrer Beziehung zum Ich repräsentiert werden.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 25

Diese These ist für die weiteren Überlegungen von entscheidender Bedeutung. Sie hat

gegenüber vielen anderen bewußtseinstheoretischen Maximen einen entscheidenden Vor-

zug. Sie kann nämlich nicht nur erklären, unter welchen Bedingungen Bewußtsein entsteht,

sondern auch, warum die Bewußtseinserscheinungen so sind, wie sie sind. Die implizite

Anwesenheit des Ich bildet nicht nur die Entstehungsgrundlage für das Auftreten bewußter

Repräsentationen, sondern auch die inhaltliche Grundlage für ihre Beschaffenheit. Mit an-

deren Worten: Die Qualität der Bewußtheit entsteht nicht nur dann, wenn die Bedingung

der impliziten Gegenwart des Ich erfüllt ist, sondern sie besteht auch darin, daß diese Be-

zogenheit auf das Ich als ein zentrales Merkmal im Inhalt der Repräsentation in Erscheinung

tritt. Diese inhaltliche Beziehung legt klar, daß der bewußte Charakter von Repräsentatio-

nen sich unmittelbar aus ihrer Bezogenheit auf das Ich ergibt (im Grunde mit ihr zusam-

menfällt) -- und daß nicht etwa umgekehrt Ich-Bezogenheit aus einer (irgendwie anders

fundierten) Bewußtheit resultiert.

Wenn dies zutrifft, müssen alle Fragen, die sich auf die Natur und Funktion des Bewußt-

seins beziehen, in Fragen nach der Natur und Funktion des implizit anwesenden Ich über-

führt werden, und die Frage nach der Geschichte des Bewußtseins wird zu der Frage nach

der Konstituierung des impliziten Ich.2

4 Konstitution des Ich

Der Gedanke, das eine Theorie des Bewußtseins zugleich eine Theorie des Ich sein muß, ist

keineswegs neu. Er findet sich in verschiedenen Ausprägungen in einflußreichen modernen

Bewußtseinstheorien wie z.B. in Edelmans Konzept der higher-order consciousness

(Edelman, 1989, Kapitel 11), in Dennetts Theorie des Ich als eines narrativen Zentrums

(Dennett, 1990, 1992) oder zuletzt in Metzingers Theorie des Selbstmodells (Metzinger,

1993). Der gleiche Gedanke ist ferner implizit in allen Definitionsansätzen enthalten, die --

in der Nachfolge des Philosophen Ludwig Wittgenstein -- davon ausgehen, daß die

Perspektive der ersten Person für Bewußtseinserscheinungen konstitutiv ist (Ich-

2 Allerdings darf die Bewußtseinskonzeption, die den folgenden Überlegungen zugrunde liegt, nicht mit anderen Konzeptionen verwechselt

werden, die Bewußtsein als reflexives Selbstbewußtsein definieren. Das definierende Merkmal unserer Bewußtseinskonzeption besteht inder impliziten Anwesenheit des Ich in der Repräsentation von Ich-fremden Sachverhalten -- und nicht in der expliziten Repräsentation desIch oder Ich-naher Inhalte (vgl. hierzu Abschnitt 14.4). Natürlich wird eine vollständige Bewußtseinstheorie auch erklären müssen, wieSelbstbewußtsein -- explizite bewußte Ich-Repräsentation also -- möglich ist und von welcher Art das Subjekt ist, das bei derartig expliziterIch-Repräsentation implizit anwesend ist. Allerdings ist dies ein Spezialproblem, dessen Lösung nicht am Anfang, sondern am Ende einerumfassenden Bewußtseinstheorie stehen kann.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 26

Perspektive im Gegensatz zu Er-Sie-Es-Perspektive; z.B. Marcel, 1988; vgl. Eimer, Kapitel

12, in diesem Band). Allerdings unterscheiden sich die Überlegungen dieser Autoren zum

Teil sehr grundlegend darin, welche Prozesse sie für die Konstitution des Ich verantwortlich

machen und wie sie das Verhältnis zwischen Ich-Konstitution und Bewußtheit bestimmen.

Die Konzeption, die ich im folgenden skizziere, greift eine Reihe von Überlegungen dieser

Autoren auf, setzt aber das Gesamtpuzzle anders zusammen als jeder einzelne dieser

Autoren es getan hat.

Im folgenden skizziere ich ein psychohistorisches Szenario, das dazu bestimmt ist, die

Konstitution des Ich zu rekonstruieren. Seinen Ausgangspunkt bestimme ich (ähnlich wie

Edelman und Metzinger) idealtypisch wie folgt: Wir betrachten ein Lebewesen vom kogniti-

ven Organisationsniveau von Primaten, und zwar in einem Ausgangszustand, in dem sym-

bolische Kommunikation und Repräsentation noch keine nennenswerte Rolle spielen. Mit

Hilfe von Edelmans Theorie des primären Bewußtseins läßt sich ein grobes Bild der kogni-

tiven Leistungsfähigkeit derartiger Organismen zeichnen, zugleich aber auch ein Bild der

Grenzen ihrer Leistungsmöglichkeiten.

Auf der Haben-Seite können wir diesen Lebewesen -- verkürzt gesagt -- die Fähigkeit

zuschreiben, die verhaltensrelevanten Implikationen der jeweils aktuellen Reizsituation zu

bewerten. Die Bewertung erfolgt auf der Grundlage komplexer Algorithmen, die in langfri-

stigen Lernprozessen entstanden sind. Weitere Algorithmen sorgen dafür, daß die Ergebnis-

se dieser Bewertungen gegen die aktuellen Prioritäten des Lebewesens abgeglichen werden

und daß dieser Abgleich in Handlungsentscheidungen umgesetzt wird. So komplex die Be-

rechnungen sein mögen, die der Verhaltenssteuerung zugrunde liegen, unterliegen sie doch

der prinzipiellen Beschränkung der Kopplung an die jeweils aktuelle Situation: Sie nehmen

ihren Ausgang von der aktuellen Reizinformation, und sie bewerten Handlungsoptionen, die

sich auf die aktuelle Situation beziehen. Keine bzw. kaum eine Rolle spielen demgegenüber

Prozesse, die symbolische Repräsentation voraussetzen wie z.B. die Vergegenwärtigung

vergangener oder die Planung zukünftiger Ereignisse.

Vor dem Hintergrund dieses (idealtypisch vereinfachten) Leistungsprofils läßt sich die

These, die im folgenden begründet und plausibel gemacht werden soll, wie folgt formulie-

ren: Ich-bezogene Repräsentationsmodi können sich aus dieser (zunächst Ich-losen) Aus-

gangssituation dann entwickeln, wenn 1) die Fähigkeit zunimmt, wahrgenommene und ver-

gegenwärtigte Information nebeneinander zu verarbeiten (Duale Repräsentation) und 2)

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 27

Erklärungsmodelle ausgebildet sind, die das Auftreten von Vergegenwärtigungen auf perso-

nale Instanzen zurückführen (Personale Attribution).

Die erste dieser beiden Voraussetzungen betrifft die Naturgeschichte der Verhaltens-

steuerung und ihrer Realisierung des Gehirns, die zweite dagegen die Kulturgeschichte der

Spezies homo sapiens. Im folgenden elaboriere ich diese These im Hinblick auf die kogniti-

ven und die dynamischen Grundlagen der Ich-Konstitution.

4.1 Kognitive Grundlagen: Gedanken

Duale Repräsentation. Wir erweitern jetzt den Lebenshorizont unseres hypothetischen

Organismus um einen entscheidenden Schritt, indem wir annehmen, daß der soziale

Verband, in dem er lebt, einfache Formen symbolischer Kommunikation entwickelt. Für den

ersten Schritt reicht es aus, wenn wir ihn lediglich bei der Rezeption symbolischer

Kommunikation betrachten. Soweit diese Mitteilungen sich auf Sachverhalte beziehen, die

außerhalb des aktuellen Wahrnehmungshorizonts des Rezipienten liegen, wird er sie nur

verstehen können, wenn er über die Fähigkeit verfügt, kommunikationsinduzierte

Vergegenwärtigungen (= Repräsentationen von abwesenden Sachverhalten) auszubilden --,

und zwar so, daß sie für die Handlungssteuerung in der aktuellen Situation unschädlich sind.

Die Fähigkeit zur Ausbildung von Vergegenwärtigungen hat also zwei Seiten: Einerseits

bietet sie die Grundlage für eine Entkopplung von der aktuellen Situation (Edelman:

freedom from the present). Andererseits darf diese Entkopplung aber keineswegs

vollständig sein. Die Inhalte der Vergegenwärtigung dürfen die Inhalte der aktuellen

Wahrnehmung nicht ersetzen; deren handlungssteuernde Wirkung muß vielmehr voll

erhalten bleiben.

Die gleichzeitige Verarbeitung von vergegenwärtigten neben wahrgenommenen Inhalten

macht deshalb eine tiefgreifende Umorganisation der bis dahin zur Verfügung stehenden

Verarbeitungsarchitektur erforderlich. Erforderlich ist jetzt eine Architektur, die zwischen

Vordergrund- und Hintergrundverarbeitung unterscheidet und die es erlaubt, vorübergehend

vergegenwärtigte Information im Vordergrund zu verarbeiten und gleichzeitig im Hinter-

grund die Verarbeitung der aktuellen Wahrnehmungsinformation fortzusetzen --, jedenfalls

so weit, daß elementare Grundfunktionen intakt bleiben wie z.B. die Orientierungsreaktion

(= Entdeckung überraschender Information) oder die Bewegungssteuerung.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 28

Den Repräsentationsmodus, der mit dieser neuen Organisation der Informationsverar-

beitung verbunden ist, will ich im folgenden als duale Repräsentation bezeichnen. Darunter

verstehe ich die Fähigkeit, wahrgenommene Inhalte und vergegenwärtigte Inhalte nebenein-

ander und funktional getrennt zu unterhalten. Die Trennung stellt sicher, daß zwischen

Wahrgenommenem und Vergegenwärtigtem jederzeit unterschieden werden kann und daß

vor allem die aktuelle Handlungskontrolle unter der Regie der aktuell wahrgenommenen

Information verbleibt. Außerdem sichert die Trennung der beiden Repräsentationsbereiche

die Möglichkeit, Vordergrund- und Hintergrundverarbeitung jeweils nach Bedarf zu vertei-

len.3

Über die neurobiologische Realisierung der dualen Repräsentationsarchitektur soll hier

nicht spekuliert werden. Wichtig ist lediglich, daß sie das kognitive Organisationspotential

der mit ihr ausgestatteten Lebewesen in vieler Hinsicht erweitert.4 Eine dieser Erweiterun-

gen ist die Geburt des Ich.

Gedankenattribution. Wir haben bisher nur Vergegenwärtigungen betrachtet, die durch

die Rezeption sprachlicher Mitteilungen angestoßen werden und insofern von außen indu-

ziert sind. Sobald eine duale Repräsentationsarchitektur ausgebildet ist, bietet sie aber auch

Raum für die handlungsunschädliche Erzeugung systeminduzierter Vergegenwärtigungen

wie z.B. Gedanken, Erinnerungen oder Phantasien. Der Kürze halber verwende ich im fol-

genden den Ausdruck Gedanken stellvertretend für alle systeminduzierten Vergegenwärti-

gungen.

Gedanken unterscheiden sich von den von außen induzierten Vergegenwärtigungen in

einem wichtigen Merkmal. Das Auftreten von Vergegenwärtigungen, die durch sprachliche

Mitteilungen angestoßen sind, ist stets von der Wahrnehmung einer Kommunikationshand-

lung begleitet, die in der aktuellen Situation stattfindet, d.h. es gibt stets eine Person, die

aktuell wahrnehmbar ist, und diese Person ist die Quelle einer Mitteilung über einen Sach-

verhalt, der lediglich zu vergegenwärtigen ist. Wenn dagegen systeminduzierte Gedanken

3 Daß die Ausbildung von Vergegenwärtigungen neben Wahrnehmung eine duale Repräsentationsarchitektur voraussetzt, muß nicht not-

wendigerweise bedeuten, daß ohne eine derartige Architektur Vergegenwärtigungen überhaupt nicht ausgebildet werden können. DualeRepräsentation ist nämlich nur dann erforderlich, wenn Vergegenwärtigungen „in der Arbeitszeit“ des Systems erzeugt werden sollen, d.h.während das System mit der aktuellen Situation on-line verkoppelt ist. Ist es jedoch abgekoppelt, können Vergegenwärtigungen erzeugtwerden, ohne Schaden anzurichten: Träumen können möglicherweise auch solche Lebewesen, die nicht über ein duales Repräsentationssy-stem verfügen.

4 Eine andere wichtige Erweiterung des kognitiven Organisationspotentials betrifft die Möglichkeit der Generierung umfassender Modellevon Ereignis- und Handlungszusammenhängen, d.h. von organisierten Realitätsausschnitten. Derartige Modelle können sich dannentwickeln, wenn vergegenwärtigte Information räumlich, zeitlich oder semantisch integriert werden. Einmal etabliert, dienen sie dann alsBezugsrahmen für die Einordnung der jeweils aktuellen Situation.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 29

auftreten, fehlt ein entsprechendes Gegenstück in der aktuellen Situation, so daß sie nicht

ohne weiteres auf eine personale Quelle zurückgeführt werden können, die in der aktuellen

Situation lokalisiert ist. Hier entsteht ein Interpretationsproblem: Wie können die Gedanken

mit der aktuellen Situation verknüpft werden? Woher kommen sie, und welche Instanzen

erzeugen sie? Es ist naheliegend, auch hier personale Quellen für die auftretenden Verge-

genwärtigungen verantwortlich zu machen -- Quellen, die in der aktuellen Situation wirk-

sam sind.

Die Konstituierung solcher Quellen kann in verschiedener Form erfolgen. Eine mögliche

Lösung besteht darin, das Auftreten von Gedanken auf die Stimmen von Göttern, Priestern

oder Königen zurückzuführen -- auf Stimmen personaler Autoritäten also, von denen ange-

nommen wird, daß sie in der aktuellen Wahrnehmungssituation unsichtbar gegenwärtig sind.

Eine andere Lösung lokalisiert die Quelle der Gedanken dagegen in einer eigenständigen

personalen Instanz, die an den Körper des Akteurs selbst gebunden ist (z.B. in ihm wohnt):

dem Ich.

Diese beiden Lösungen des Attributionsproblems unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht:

historisch, politisch und psychologisch. Historisch dürfte die erste deutlich älter als die

zweite Lösung sein. Der Übergang zwischen den beiden Lösungen und der mit ihnen ver-

bundenen Mentalitäten ist Gegenstand der spekulativen Bewußtseinstheorie des amerikani-

schen Psychohistorikers Julian Jaynes (1976). Folgt man Jaynes, ist dieser Übergang in hi-

storischer Zeit geschehen: zwischen Ilias und Odyssee. In der Ilias ist nach Jaynes die Gei-

stesverfassung der Protagonisten durchweg, wie er sich ausdrückt, bicameral strukturiert.

Das heißt, die Gedanken, Gefühle und Absichten, die in ihnen auftauchen, stammen nicht

von ihnen selbst, sondern von Göttern, die sie ihnen eingeben. Anders in der Odyssee:

Odysseus verfügt über ein Ich, und dieses Ich ist es, das denkt und handelt. Jaynes ist der

Überzeugung, daß das einheitliche Bewußtsein des Odysseus erst entstehen konnte, als die

bicamerale Struktur zusammenbrach und das Ich die Nachfolge der Götter antrat. Auch

wenn man bezweifelt, daß sich die Geistesverfassung der mediterranen Kriegerelite in der

kurzen Spanne zwischen Ilias und Odyssee so tiefgreifend verändert haben soll, ist dennoch

nicht unplausibel, daß wir es hier mit einem literarischen Nachklang einer psychohistori-

schen Entwicklung zu tun haben, die (jedenfalls in diesem Teil der Welt) dazu führte, daß

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 30

das Ich die göttlichen Stimmen ablöste. In anderen Teilen der Welt mag diese Entwicklung

später oder aber auch überhaupt nicht eingetreten sein.5

Daß ferner die politischen Implikationen der beiden Lösungen sehr unterschiedlich sind,

liegt auf der Hand. Gesellschaften, deren Akteure ihre Gedanken den Stimmen weltlicher

oder überweltlicher Autoritäten zuschreiben, werden dazu neigen, Priester- und Adelseliten

auszubilden, die für sich die Rolle natürlicher Autoritäten bzw. authentischer Interpreten

solcher Autoritäten in Anspruch nehmen und daraus die Legitimation zur Ausübung von

Herrschaft ableiten. In dem Maße, in dem das Ich an die Stelle der Götter tritt, werden diese

Eliten obsolet, und autoritäre Konstruktionen werden durch Organisationsformen abgelöst,

die die Legitimität ihres Handelns in den personalen Ich-Kernen ihrer Akteure verankern

(vgl. hierzu Abschnitt 14.3.2).

Ein wichtiger psychologischer Unterschied besteht schließlich darin, daß die Entwick-

lung eines Ich-Konzepts die Voraussetzung dafür schafft, daß Individuen in der Lage sind,

sich (und andere) als zeitlich überdauernde personale Instanzen zu konzipieren. Einmal kon-

stituiert, ist das Ich in jedem Vergegenwärtigungsvorgang als implizite personale Quelle

gegenwärtig, und ähnlich wie es immer der gleiche Körper ist, der in jeder Wahrnehmungs-

situation anwesend ist, ist es in der Regel auch die gleiche Ich-Instanz, die in diesem Körper

wohnt und über Zeit und Situationen hinweg mit sich selbst identisch bleibt.

Daß das Ich als Quelle der Gedanken konstituiert wird, bedeutet, daß es nicht Be-

standteil der Gedanken selbst ist, sondern außerhalb steht -- eine Instanz, auf die die Ge-

danken bezogen sind.6 Damit begegnen wir im Bereich der Gedanken genau dem gleichen

Grundmuster, das wir zuvor unter Brentanos Anleitung für den Bereich der Wahrnehmung

ausgemacht haben. Allerdings sehen wir jetzt, daß dieses Grundmuster dort nicht funda-

mental, sondern abgeleitet ist. Zunächst entwickelt sich die implizite Gegenwart des Ich im

5 Überhaupt wird man sich den historischen Übergang von den Stimmen externer Autoritäten zu der Stimme des internen Ich natürlich nicht

so vorzustellen haben, daß ganze Kulturen in bestimmten Zeiträumen von der einen in die andere Geistesverfassung kippen. Sehr vielrealistischer dürfte die Auffassung sein, daß dieser Wechsel im Attributionsmodus zunächst auf der Ebene der Führungseliten eintritt -- undzwar mit der politischen Folge, daß diese Eliten daraufhin zu verhindern versuchen werden, daß der ich-förmige Attributionsmodus in dengesellschaftlichen Schichten um sich greift, die unter ihrer Führung stehen. Anders formuliert: Ein realistisches Modell despsychohistorischen Übergangs zwischen den beiden Attributionsmodi wird annehmen müssen, daß dieser Übergang für verschiedeneGesellschaftsschichten zeitversetzt erfolgt und daß er dort, wo er stattfindet, politische Mechanismen in Gang setzt, die darauf ausgerichtetsind, seine Weitergabe „nach unten“ so weit wie möglich zu verhindern. In modernen westlichen Gesellschaften ist dieser Prozeß amunteren Ende angekommen (im Prinzip jedenfalls -- vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit überhaupt). Darüber, wanner in den Führungseliten in den Kulturen unserer Vorfahren begonnen hat -- ob vor 300'000, 30'000 oder 3'000 Jahren --, soll hier nichtspekuliert werden.

6 Diese Bezogenheit der Gedanken auf das Ich kann im übrigen aktiven oder passiven Charakter tragen. Gefühle, Stimmungen oder auchIdeen, von denen jemand besessen ist, haben den Charakter von Widerfahrnissen. Willensimpulse oder zielgerichtete Überlegungen habendemgegenüber den Charakter von aktiv gesteuerten Vorgängen, in denen das Ich nicht nur als Repräsentationszentrum, sondern auch alsSteuerungszentrum in Erscheinung tritt (vgl. Abschnitt 14.3.2).

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 31

Kontext der Interpretation der Herkunft von Gedanken, und erst in einem zweiten Schritt

wird dieses so konstituierte Ich auch in gleicher Weise im Bereich der Wahrnehmung wirk-

sam. Ermöglicht wird seine Allgegenwart eben dadurch, daß es nicht als Bestandteil der

vergegenwärtigten oder wahrgenommenen Inhalte konstituiert wird, sondern als eine Re-

präsentations- und Steuerungsinstanz, die diesen Inhalten gegenübersteht.

4.2 Dynamische Grundlagen: Pläne

Handlungsziele sind eine Unterklasse von Vergegenwärtigungen, die psychologisch ebenso

wie politisch von besonderer Bedeutung sind. Aus der psychologischen Tatsache, daß

Handlungsziele an der Steuerung von Handlungen beteiligt sind, ergibt sich zugleich ein

besonderes politisches Interesse an ihrer Erklärung und Bewertung -- sowie an der

Regulierung von gesellschaftlichen Konventionen zur Handlungserklärung und -bewertung.

Die Einbeziehung von Handlungszielen in den Prozeß der Ich-Konstitution führt zur

Ausbildung eines Ich, das nicht nur als Repräsentations- und Gedankenzentrum fungiert,

sondern zugleich auch als Entscheidungs- und Steuerungszentrum für Handlungen.

Um diese Überlegung verständlich zu machen, gehen wir noch einmal auf das Aus-

gangsszenario zurück, in dem wir einen idealtypischen Organismus betrachten, der noch

nicht über die Fähigkeit zur dualen Repräsentation verfügt. Wie wir schon sahen, beruht

seine Verhaltenssteuerung darauf, daß er eingehende Information laufend auf ihre Verhal-

tensrelevanz hin bewertet, und zwar auf der Grundlage komplexer Algorithmen, die dafür

Sorge tragen, daß in dem Bewertungsprozeß seine gespeicherten Lernerfahrungen umfas-

send berücksichtigt werden. Unklar ist aber geblieben, wie aktuelle Bedürfnisse in einem

derartigen Organismus installiert sein können. Die landläufigen motivationspsychologischen

Vorstellungen versagen hier. Wenn keine duale Repräsentation möglich ist, gibt es keine

Möglichkeit, Ziele auszubilden, d.h. explizite Vergegenwärtigungen von Sollzuständen zu

unterhalten, die neben die Wahrnehmung der aktuellen Situation treten. Noch weniger be-

steht die Möglichkeit, Bedürfnisse als Motive zu interpretieren, d.h. als gerichtete Zustände

eines Ich.

Die einzige Möglichkeit besteht darin, die Bedürfnisse in der aktuellen Wahrnehmungs-

situation wirksam werden zu lassen -- dadurch nämlich, daß bedürfniskonforme Handlungs-

anreize in der aktuellen Situation selbst zur Wahrnehmung gelangen. Auf diese Weise wird

die Wahrnehmung gleichsam dynamisiert: Die Wahrnehmungsinhalte sind mit Valenzen

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 32

ausgestattet, die ihre jeweilige Eignung zur Befriedigung aktueller Bedürfnisse spezifizieren:

Speisen sind verlockend, Partner attraktiv, Rivalen widerwärtig, Freßfeinde bedrohlich. Der

Organismus ist Kräften ausgesetzt, die in der Außenwelt ansetzen und auf ihn einwirken,

und sein Verhalten ist das Resultat des Spiels dieser Kräfte.

Duale Repräsentation. Die Situation ändert sich grundlegend, sobald die Fähigkeit der

dualen Repräsentation ausgebildet ist. Neben das Spiel der Kräfte tritt jetzt das Spiel der

Gedanken -- und mit ihm die Fähigkeit, Ziele auszubilden und aufrechtzuerhalten, die nicht

in der aktuellen Wahrnehmungssituation lokalisiert sind, sondern neben und getrennt von ihr

repräsentiert werden. Es ist offensichtlich, daß die Fähigkeit zur Implementierung von Zie-

len völlig neue Möglichkeiten zur bedürfnisgerechten Steuerung von Handlungen bietet,

weil sie die Repräsentation von Zielen abkoppelt von der Repräsentation der aktuellen

Wahrnehmungssituation -- mit der Folge, daß bedürfnisgesteuerte Zielsetzungen auch unab-

hängig von der aktuellen Wahrnehmungssituation aufrechterhalten und verhaltenswirksam

werden können.

Duale Repräsentation schafft somit die Grundlage für einen neuartigen Mechanismus der

bedürfniskonformen Handlungssteuerung, der auf dem Vergleich von wahrgenommenen Ist-

Zuständen mit explizit repräsentierten Soll-Zuständen beruht und in der Lage ist, Handlun-

gen so zu planen, daß sie eine Annäherung von Ist- an Soll-Zustände bewirken. Wie dieser

Mechanismus funktioniert, kann hier nicht im einzelnen erörtert werden. Für den gegenwär-

tigen Zusammenhang kommt es nicht darauf an, wie Handlungsziele in Handlungen umge-

setzt werden (vgl. hierzu Müsseler et al), sondern nur darauf, daß Vergegenwärtigungen

von Zielzuständen ausgebildet werden und daß sie verhaltenswirksam sind.7

Zielattribution. Wenn Ziele Handlungen steuern, ist die Frage, woher die Ziele kommen,

mehr als ein nur psychologisch interessantes Attributionsproblem. Sie ist eine Frage von

höchster politischer Brisanz, denn die Antwort entscheidet darüber, wo die eigentlichen

Ursachen des Handelns von Personen liegen -- und damit auch darüber, wie die gesell-

schaftlichen Sanktions- und Gratifikationssysteme einzurichten sind, die darauf einwirken,

daß dieses Handeln sich im Spielraum der jeweiligen Normen bewegt.

7 Mit der Entwicklung eines neuen Mechanismus der Handlungssteuerung, der auf der Auswertung von Diskrepanzen von Ist- und Soll-

Werten beruht, muß übrigens keineswegs verbunden sein, daß der ältere Mechanismus, der auf der Dynamisierung der wahrgenommenenSituation beruht, verschwindet oder auch nur an Bedeutung verliert. Vorstellbar ist z.B., daß unmittelbare bedürfnisgerechte Reaktionenauf aktuelle Situationsmomente nach wie vor durch den älteren Mechanismus vermittelt werden, während der neuere Mechanismus dielängerfristige, situationsentkoppelte Handlungsplanung besorgt.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 33

Natürlich tritt das Attributionsproblem auch hier nur dann auf, wenn Handlungsziele

ausgebildet werden, die nicht durch andere Akteure in kommunikativen Akten vorgegeben

werden: in diesen Fällen bedarf es ja keiner attributiven Ergänzung, weil die personale

Quelle der Zielvorgabe in der aktuellen Situation wahrnehmbar ist. Ein Attributionsproblem

entsteht auch hier nur dann, wenn Zielrepräsentationen auftauchen, die nicht von außen in-

duziert sind.

Im Prinzip sind die Lösungen für dieses Problem hier die gleichen wie zuvor -- mit dem

Unterschied, daß die politischen Implikationen hier noch schärfer zutage treten als dort und

mit der Folge, daß das Interesse an einer gesellschaftlichen Regulierung der betreffenden

Attributionsgewohnheiten hier wesentlich deutlicher ausgeprägt ist: schließlich geht es hier

nicht nur um Gedanken, sondern um Handlungen. Die eine (ältere) Lösung führt die Entste-

hung von Handlungszielen auf den Willen von unsichtbar anwesenden personalen oder qua-

si-personalen Autoritäten zurück, auf äußere Instanzen also, die dem Akteur auf die ein

oder andere Weise eingeben, was zu tun ist und kraft ihrer Autorität Gehorsam verlangen.8

Die andere (neuere) Lösung führt die Entstehung von Handlungszielen dagegen auf das

Ich zurück, eine in jeder Wahrnehmungssituation anwesende innere Instanz, die eigenstän-

dig entscheidet, was sie tut, so daß Gehorsam durch Autonomie abgelöst wird.

Kulturen (bzw. Eliten; vgl. Anm. 4), in denen das Ich an die Stelle von Göttern oder Köni-

gen tritt, konstituieren damit also nicht nur ein kognitives Gedankenzentrum,

sondern auch ein dynamisches Handlungszentrum -- ein Zentrum also, das Handlungsziele

setzt und auf dieser Grundlage Handlungen plant und steuert. Aufgrund seiner Doppelrolle

als kognitives und dynamisches Zentrum ist das Ich zugleich das Integrationszentrum für die

psychische und physische Tätigkeit der Person. Dem entspricht, daß in einigen theoretischen

Ansätzen eine wichtige Funktion des Bewußtseins in der Integration von Verhalten gesehen

wird (z.B. Allport, 1988).

Ebenso wie das kognitive Ich ist das dynamische Ich in den betreffenden psychischen Akten

nicht explizit, sondern nur implizit anwesend: Eine Person, die Handlungen plant oder

Handlungsentscheidungen trifft, ist in der Regel „ganz bei der Sache“, genauso wie dann,

wenn sie etwas beobachtet oder über etwas nachdenkt. Auch hier ist die implizite Anwesen-

8 In Betracht kommen hierfür nicht nur Götter, Priester, Könige oder Ahnen, sondern auch andere Naturerscheinungen, denen Intentionen

zugeschrieben werden (insbesondere Tiere, aber auch Pflanzen oder Steine). Die Zuschreibung von Intentionen ist dabei nichtnotwendigerweise gleichbedeutend mit der Zuschreibung von dualer Repräsentation: Diese Instanzen müssen nicht notwendigerweisewahrnehmen können, was der Fall ist. Sie müssen lediglich wollen können, daß etwas Bestimmtes der Fall sein soll.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 34

heit des Ich konstitutiv für die bewußte Qualität der betreffenden Akte: Die Sache, bei der

die planende Person ist, existiert nicht an und für sich selbst, sondern als eine Sache, die von

ihr betrieben wird --, und genau in diesem Sinne ist sie bewußt.

4.3 Ich-Pathologie

Allerdings kann der Prozeß der Ich-Konstitution im Einzelfall auch andere Wege gehen --

Wege, die als pathologisch gelten. Wir sprechen hier allerdings nicht von exotischen

Attributionsgewohnheiten fremder Kulturen, die sich von den unsrigen so nachhaltig

unterscheiden, daß wir sie als pathologisch empfinden, sondern ausschließlich von

abweichenden Entwicklungen, die einzelne Individuen innerhalb eines gegebenen

normativen Attributionsrahmens nehmen können. Zwei Beispiele mögen genügen, um das

Gemeinte anzudeuten.

Ein erstes Beispiel, das in diesen Zusammenhang gestellt werden kann, ist die Ausbil-

dung von Wahnsymptomen bei verschiedenen psychotischen Erkrankungen, besonders bei

Schizophrenien. Folgt man der in den letzten Jahren entwickelten Schizophrenietheorie des

Londoner Psychiaters Chris Frith (1992; Frith & Done, 1988), lassen sich diese Symptome

nach genau dem gleichen Grundmuster erklären, das auch in Jaynes' Konzept des bicamera-

len Geistes enthalten ist: Wahnpatienten leiden darunter, daß sie außerstande sind, die Her-

kunft ihrer Ideen nach dem konventionellen Attributionsschema zu erklären, das die Quellen

der Ideen im Ich lokalisiert. Sie verfügen gewissermaßen über kein Ich, das sie als implizite

Quelle ihrer Gedanken erleben und sind deshalb darauf angewiesen, die Gedanken, die ihnen

kommen, auf andere Weise zu erklären.9

Ein anderes Beispiel nicht normgerechter Ich-Konstitution liefert das in letzter Zeit auch

in der populärpsychologischen Presse ausführlich diskutierte Syndrom der multiplen Per-

sönlichkeit. Von multiplen Persönlichkeiten ist dann die Rede, wenn in einer Person zwei

oder mehr voneinander relativ unabhängige Persönlichkeiten ausgebildet sind, die in sich

integriert und strukturiert sind und von denen jede eine Art eigenes Leben führt (vgl. Confer

& Ables, 1983; Stern, 1984). So bizarr sich dieses Syndrom auf dem Hintergrund unseres

9 Das geschieht typischerweise dadurch, daß zum einen Gedanken auf personale Quellen zurückgeführt werden, die unsichtbar anwesend

sind (Angehörige, Ärzte, historische Personen, Außerirdische), und zum anderen dadurch, daß Wirkungsmechanismen konstruiert werden,über die die von diesen Quellen ausgehenden Gedanken übertragen werden (Stimmen, Visionen, aber auch Strahlen, Drähte und techni-sche Kommunikationseinrichtungen wie Telefone, Funkgeräte oder Computer).

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 35

modernen Persönlichkeitskonzepts ausmacht10, so nahtlos fügt es sich in die theoretische

Vorstellung ein, daß das Ich nicht als ein fundamentales Naturphänomen anzusehen ist, son-

dern ein kulturelles Artefakt, das in einem gesellschaftlich gesteuerten Attributionsprozeß

zustandekommt. Die Einheitlichkeit und Konsistenz des Ich ist somit keine natürliche Not-

wendigkeit, sondern lediglich eine kulturelle Üblichkeit, und wenn Individuen besonderen

Entwicklungs- und Lebensbedingungen ausgesetzt sind, mag es durchaus sein, daß sie ande-

re als die üblichen Attributionsmuster entwickeln -- z.B. solche, die mehrere unabhängige

Attributionsquellen für ihre Gedanken unterscheiden.

Das bedeutet allerdings keineswegs notwendigerweise, daß in diesen beiden Fällen die

Ursache für die ungewöhnliche Entwicklung notwendigerweise in einer Störung des Attri-

butionsprozesses liegen muß. Denn die Tatsache, daß die Störung in ungewöhnlichen Attri-

butionen zum Ausdruck kommt, sagt über die Verursachung der Störung nichts Eindeutiges

aus. Die Ursache kann in einer Störung der Attributionsprozesse selbst liegen, sie kann aber

ebensogut auf eine Störung der neurobiologischen Prozesse zurückgehen, auf denen die

Fähigkeit zur dualen Repräsentation beruht. Es sind eben biologische und gesellschaftliche

Bedingungen, die in die Ich-Konstitution eingehen, und wenn sie anders als gewohnt ver-

läuft, können die Ursachen dafür in beiden Bereichen liegen.

5 Explizites Ich

Aus all dem folgt: Das Ich ist eine Erfindung zur Lösung eines Attributionsproblems. Es

wird zunächst als Quelle systeminduzierter Vergegenwärtigungen konstitutiert. Sobald es in

dieser Rolle konstitutiert ist, bildet seine implizite Anwesenheit in allen psychischen Akten

die funktionale und auch die inhaltliche Grundlage für den bewußten Charakter ihrer

Repräsentanz.

Das Ich wird sozial konstruiert, d.h. konkret im sozialen Austausch erzeugt. Diese Aus-

tauschprozesse spielen sich in einem kulturell genormten Interpretationsrahmen ab, der die

Sozialisation der Individuen steuert. Der Interpretationsrahmen schreibt den Individuen eine

10 Das gilt nicht in gleichem Maße für die Theorie der postmodernen Persönlichkeit, die sich von modernen Konzepten durch die wesentlich

stärkere Betonung der Pluralität der Person unterscheidet (vgl. z.B. Gergen, 1990; Glass, 1993; Keupp, 1994; Welsch, 1990). Theori-en.der postmodernen Persönlichkeit reagieren auf die Beobachtung, daß sich die gesellschaftlichen Verhältnisse extrem differenzieren, sodaß homogene Lebensentwürfe und -verläufe kaum mehr gelingen. Die Vielfalt der Lebensstile, Arbeitsformen, Konsumchancen oder so-zialen Kontakte erfordert im Gegenteil Subjekte, die Pluralitäten und Ambivalenzen ertragen. Die Autoren unterscheiden sich zwar darin,ob sie bedauern oder begrüßen, daß es ein „mit sich selbst identisches Ich“ nicht mehr gibt, allerdings hält niemand diese Entwicklung fürpathologisch -- und niemand vertritt die Auffassung, daß das Konzept der postmodernen Persönlichkeit mit dem pathologischen Konzeptder multiplen Persönlichkeit zusammenfällt. Dennoch: Die Analogie ist auffällig.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 36

ich-förmige Organisation ihrer mentalen Struktur zu, d.h. ein kognitives und dynamisches

Zentrum.

Die sozialisationswirksame Vermittlung eines derartigen Interpretationsangebots kann

auf verschiedene Weise erfolgen. Die elementarsten Vermittlungsmechanismen stützen sich

auf unmittelbare face-to-face-Interaktionen im mikrosozialen Bereich und sind nicht einmal

notwendigerweise an sprachliche Kommunikation gebunden. Wenn in einer gegebenen so-

zialen Gruppierung sämtliche sozialen Akteure den Umgang miteinander so organisieren,

daß sie ich-förmige Organisation bei allen Kommunikationspartnern voraussetzen, trifft je-

der Akteur -- auch jeder neu hinzutretende -- auf eine Situation, in der durch das Handeln

der anderen eine ich-förmige Rolle für ihn bereitgehalten wird. In einer solchen Situation

wird es nicht lange dauern, bis die Fremdzuschreibung von sozial konstruierten Eigenschaf-

ten zur Selbstzuschreibung führt und die Person sich die ihr zugeschriebene Ich-Rolle zu

eigen macht.11

Komplexere Vermittlungsmechanismen stützen sich demgegenüber auf sprachlich ge-

bundene Diskurse im makrosozialen Bereich. Zu nennen ist hier zunächst der Diskurs des

psychologischen Common Sense, d.h. der alltagspsychologischen Konstrukte, die Kulturen

oder Sprachgemeinschaften verwenden, um das Verhalten ihrer Akteure zu erklären. So

operiert z.B. die moderne Alltagspsychologie mit einer Theorie der menschlichen Persön-

lichkeit, dessen Kern ein explizites, lebenslänglich identisches Ich bildet -- ein Ich, das als

organisatorischer Kern aller Erfahrungen und Handlungen fungiert. Ebenso einschlägig sind

die Diskurse der Moral und des Rechts (vgl. Prinz, im Druck b). In diesen Diskursen wird

persönliche Verantwortung von Akteuren für ihr Handeln daraus konstruiert, daß ihr Ich als

autonome Quelle von Handlungsentscheidungen konzipiert wird. Für all diese Diskurse gilt,

daß in ihnen die dynamischen Grundlagen des Ich deutlich stärker als die kognitiven

Grundlagen thematisiert werden -- eine Schwerpunktsetzung, die verständlich ist, wenn man

bedenkt, daß ihre primäre gesellschaftliche Diskussion darauf ausgerichtet ist, einen Rahmen

für gesellschaftliche Mechanismen der Handlungskontrolle zu liefern.

Den Abschluß dieser Überlegungen sollen zwei Gedankenspiele bilden. Sie beziehen sich

beide auf die klassische Frage, ob oder wie weit andere Lebewesen als Menschen über eine

ich-förmige mentale Organisation verfügen und damit über Bewußtsein:

11 Vielleicht wird dieser Prozeß zusätzlich dadurch unterstützt, daß eine analoge Selbstanwendung der Interpretation des Verhaltens anderer

Personen stattfindet -- derart, daß eine Person nach längerer Interaktion dazu übergeht, auch sich selbst so zu verstehen, wie sie andere Per-sonen schon zu einem früheren Zeitpunkt verstanden hat: als ich-förmig organisierte Subjekte.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 37

1) Entwickelt sich bei Tieren Bewußtsein in dem Maße, in dem wir es ihnen zuschrei-

ben? Würde z.B. mein Hund eine ich-förmige Organisation ausbilden, wenn ich ihn so be-

handele, als hätte er eine?

Hinter diesem Gedankenspiel verbirgt sich die Frage, ob das Angebot einer expliziten

Ich-Konzeption hinreichend ist für die Ausbildung einer ich-förmigen mentalen Organisati-

on. Aufgrund unserer psychohistorischen Skizze müssen wir diese Frage mit Nein beant-

worten -- jedenfalls so lange wir nicht annehmen, daß auch die zweite hierfür notwendige

Voraussetzung bei Hunden ausgebildet ist, nämlich die Fähigkeit zur dualen Repräsentation.

(2) Können Menschen zu bewußtseinslosen Zombies werden, wenn ihnen alle Interak-

tionen und Diskurse vorenthalten werden, die explizite Angebote für die Ausbildung einer

ich-förmigen mentalen Struktur enthalten?

Diese Frage beantwortet die Theorie mit Ja, denn sie nimmt an, daß ohne sozial vermit-

telte Attributionen weder ich-förmige Organisation noch Bewußtsein entsteht. Danach

scheint es, als wäre es wohl möglich, daß Menschen bewußtseinslos leben, nicht aber, daß

Tiere Bewußtsein entwickeln. Zombies mag es geben, aber Bambi und Lassie und Flipper

bleiben wohl auf immer eine schöne Illusion.

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Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 40

Sprache und DenkenProf. Dr. Dietrich Dörner1

Der Zusammenhang von „Sprache und Denken“ ist ein altes Thema für die Wissenschaften,

die sich mit dem menschlichen Geist befassen; Kommentare dazu finden sich bei Platon

(z.B. im Dialog Sophistes) und bei Aristoteles (s. z.B. ‘Über die Seele’, Buch III, 11). Wil-

helm von Humboldt (1988, S. 426) meinte, daß die „Sprache das bildende Organ der Ge-

danken“ sei. Und Lurija (1992, S. 90) stellte fest: „Das Wort ist jedoch nicht nur ein Werk-

zeug der Erkenntnis, sondern auch ein Mittel zur Steuerung der höheren psychischen Pro-

zesse, ... Während die vergleichsweise einfachen Formen organischer Tätigkeit ... ohne Be-

teiligung der Sprache gesteuert werden können, finden die höheren psychischen Vorgänge

auf der Basis sprachlicher Tätigkeit statt.“

Merkwürdigerweise aber macht die neue Wissenschaft vom menschlichen Geist, die Ko-

gnitionswissenschaft, wenig Aufhebens von dieser Beziehung; Denkpsychologie und (Psy-

cho)Linguistik existieren fast parallel zueinander und ihr Überschneidungsbereich ist klein.

Das hat seinen Grund in der Art und Weise, wie die Kognitionswissenschaft mit geistigen

Prozessen umgeht. Prozesse des Schlußfolgerns, der Gedächtnissuche, des Umgangs mit

Analogien, usw. kann man wunderbar mit Computerprogrammen nachbauen; die Umgangs-

sprache braucht man für solche Unternehmungen nicht. Dementsprechend verwendet An-

derson (1996) in seinem Lehrbuch der kognitiven Psychologie viel Mühe darauf, nachzu-

weisen, daß die Sprache beim Denken keine Rolle spiele, er meint sogar, daß das Denken

der Sprache seine Konturen vorschreibe.

Ich will in diesem Aufsatz zeigen, daß „Sprache“ und „Denken“ eng zusammenhängen

und zwar andersherum als Anderson meint. Weiterhin will ich zeigen, daß die mangelnde

Berücksichtigung dieses Zusammenhanges zu einem ganz falschen Bild vom menschlichen

Denken geführt hat, nämlich zu der „Programmhypothese“ des Denkens. Mit dieser Hypo-

these wird behauptet, daß menschliches Denken dem Ablauf eines Computerprogramms zu

vergleichen sei. Wir haben (erworbene oder ererbte) Computerprogramme im Kopf, wie

z.B. den GPS (General Problem Solver) von Newell & Simon (1972). So nimmt es wieder-

um Anderson (1996, S. 250) an. Und Denken besteht im Aufruf solcher Programme. — Die

1 Lehrstuhl Psychologie II, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 41

Programmhypothese hatte zur Folge, daß man dem Zusammenhang „Sprache und Denken“

keine Beachtung schenkte; warum auch, wenn die Sprache dem Denken folgt und man die

Struktur des Denkens (Newell & Simon sei Dank!) kennt, braucht man diesen Zusammen-

hang nicht zu erforschen. Zusätzlich aber verschwand – man mag es kaum glauben, aber es

ist wahr! – das Thema „Denken“ aus der Kognitionspsychologie, aber auch das ist eigentlich

logisch: warum sollte man etwas untersuchen, was man kennt.

Die Schlußfolgerung dieses Aufsatzes möchte ich nun vorwegnehmen. Sie lautet:

Ohne Sprache gibt es kein Denken!

Die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken wollen wir nicht histo-

risch ergründen und auch nicht analytisch aufgrund von Ergebnissen empirischer Forschung

untersuchen. Wir gehen vielmehr synthetisch vor. Wir fragen uns, von welcher Beschaffen-

heit ein System sein muß, welches Sprache verstehen und produzieren kann. Wir werden

zeigen, daß man dadurch, daß man ein System baut, welches Sprache verstehen kann, zu-

gleich ein System baut, welches denken kann.

Sprachverstehen

Ich möchte mich also zunächst damit beschäftigen, auf welche Art und Weise Sätze und

ganze Diskurse verstanden werden. Meine Hypothese über die Natur des Verstehensprozes-

ses ist einfach. Verstehen besteht darin, daß man sich ein Bild von einer Sache macht. Ge-

nauer gesagt: Verstehen besteht darin, daß man ein Schema von einem Sachverhalt aufbaut,

welches aus verschiedenen Komponenten besteht, die zueinander verschiedene Relationen

aufweisen. Wenn ich höre „Albert gibt Berta Geld!“, so wird der Verständnisprozeß darin

bestehen, daß ein internes Schema erzeugt wird, welches Albert und Berta bei dieser Trans-

aktion zeigt; es entsteht ein in die Zeit sich erstreckendes Geschehnisschema. Ein solches

Schema kann, muß aber nicht, in ein Bild, ein Vorstellungsbild, umgewandelt werden. Übri-

gens: oft erzeugt man nicht nur ein Schema, sondern eine ganze Reihe davon; es gibt sehr

verschiedene Formen der Geldübergabe. — Wie das Schema im Gedächtnis tatsächlich be-

schaffen ist, wollen wir an dieser Stelle nicht genau darstellen. Ein Schema ist eine Art Vor-

schrift zur Herstellung eines Bildes, s. hierzu Dörner, 1998, Kapitel 3.

Abb. 1 zeigt ein solches durch einen Verstehensprozeß entstandenes Schema als Bild; so

schön scharf aber ist es in unserem Gedächtnis nie, es ist schemenhafter, unschärfer, verwa-

schener.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 42

Nomen1 Nomen2 Nomen3Geben

Albert gibt Berta Geld

Abb. 1: Die Umsetzung von Sprache in ein Geschehnisschema.

Abb. 1 zeigt außerdem, wie man sich das Programm vorstellen kann, das aus Sätzen Sche-

mata macht. Der Prozeß startet mit dem Aufruf des allgemeinen Schemas für „geben“. Dies

Schema sieht man oben in der Abbildung. Es besteht aus einer zeitlichen Abfolge von drei

Subschemata, die jeweils Ereignisse darstellen. Diese Ereignisse bringen drei Komponenten

in einen Zusammenhang, nämlich einen Akteur, einen Rezipienten und ein Objekt, welches

den Besitzer wechselt. In dem allgemeinen Schema für „geben“ sind diese drei Komponen-

ten nur als „Hohlstellen“ vorhanden. Das Schema legt aber fest, welche räumlich-zeitlichen

Relationen zwischen den Komponenten bestehen.

In dieses Schema wird nun gemäß der in dem Satz vorhandenen Symbole eingesetzt.

Das, worauf das Wortsymbol vor dem Verb zeigt (der Sinn des Wortes sensu Frege, 1966),

wird an die Stelle des Akteurs eingesetzt, der Sinn des Wortsymbols unmittelbar nach „ge-

ben“ wird an die Stelle des Rezipienten eingesetzt und an die Stelle des Objektes wird der

Sinn des zweiten Wortsymbols nach „geben“ eingesetzt. Und so entsteht ein konkretes

Schema. Die Konstruktion beginnt also mit dem, was Klix (1984, 1992) den „Ereigniskern“

nennt – dieser ist gewöhnlich im Verb festgelegt – und dann wird eben in das Hohlschema

des Geschehnisses, welches durch das Verb vorgegeben wird, eingesetzt.

Daß Sprache in Schemata umgesetzt wird aus denen man Vorstelklungen machen kann, ist nicht verträg-

lich mit einer Kernannahme der augenblicklichen kognitiven Psychologie, die darin besteht, daß angenom-

men wird, daß Sprache in propositionale Gefüge umgesetzt wird. Kintsch (z.B. 1978) hat in dieser Bezie-

hung mehrere Theorien vorgelegt. Man kann zeigen, daß die Annahme eines propositionalen Gedächtnisses

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 43

gänzlich unnötig ist. Ich neige dazu, sie für ein methodisches Artefakt zu halten; mit Propositionen läßt

sich in einem Computer gut arbeiten; dafür gibt es vorgefertigte Programme und deshalb neigen die kogni-

tiven Psychologen und Linguisten dazu, mit Propositionen zu operieren. Auf diese Art und Weise kommt

etwas in die Welt, was überhaupt nicht wirklich existiert. — Über die Ungültigkeit der Annahme eines

propositionalen Gedächtnisses möchte ich aber hier nicht weiter sprechen; siehe hierzu Dörner 1997. Also:

Sprache wird in Bilder umgesetzt und umgekehrt wird bei der Sprachproduktion aus Bildern Sprache.

Die Schwierigkeit, die spracherkennende Systeme heutzutage oft haben, sind darauf zurückzuführen, daß

sie diese Umsetzung von Sprache in Bilderschemata und die damit verbundenen Prüfprozesse nicht ausfüh-

ren. So kommen die merkwürdigen Produkte zustande, die man mit heutzutage im Handel befindlichen

Spracherkennungssystemen hervorbringen kann. Ich möchte Ihnen eine kleine Kostprobe davon nicht vor-

enthalten:

Ich habe diktiert:

Mein lieber Freund, ich rat’ euch drum

Zuerst Collegium Logicum!

Dort wird der Geist Euch fein dressiert,

In span’sche Stiefel eingeschnürt,

Daß er bedächtiger fortan

Hinschleiche die Gedankenbahn

Und nicht etwa die kreuz und quer

Irrlichteliere hin und her.

Und das machte ein Programm namens ‘Voice Pad’ daraus:

Meine liebe Freunde, ich hart Oldie Dorn

Zerknirschten Kollegium Logik Rollen

dort wird der heißesten ohnehin kein appellierte,

den Anschein Klienten Einschnitte Klinikum

Gasse der DDR fordern

hin Schläuche die genannten Waren

unter Nichte Ecke war Geräusch und quer

gerichtet Lire hin unter der.

Es ist offensichtlich, daß sich der Computer, als er versuchte, Mephisto zu „verstehen“, kein „Bild“ der

ganzen Angelegenheit gemacht hat. Er hat das, was er aufnahm in Verbindung gebracht mit ähnlich klin-

genden Silben und Wörtern in seinem Gedächtnis.

Das Verstehen eines Satzes bedeutet die Konstruktion eines Schemas durch Einsetzung in

die Hohlstellen eines Ereigniskerns. Allerdings ist diese Einsetzung gewöhnlich alles andere

als unproblematisch. Denn sehr oft ist durch die Begrifflichkeit der Worte eines Satzes gar

nicht festgelegt, was oder wie etwas in ein Hohlschema eingesetzt werden soll. Der Sinn

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 44

vieler Worte der Umgangssprache ist unklar; die Worte der Umgangssprache haben sehr oft

gar keine feste Bedeutung, sondern sie sind „synchytisch“ (von Kries nach Bühler, 1934, S.

221); synchytisch bedeutet „zusammengehäuft“).

Welche Bedeutung hat das Wort „Institut“? In dem Satz „er hat das Institut vor fünf

Minuten verlassen“ eine andere als in dem Satz „er hat das Institut vor zwei Jahren verlas-

sen“. Auch „verlassen“ bedeutet in beiden Fällen etwas verschiedenes. Und in dem Satz „das

Institut verläßt die Stadt zu einem Ausflug“ ist „Institut“ wieder etwas ganz anderes. In den

Wort ‘Institut’ sind also eine ganze Menge verschiedener Bedeutungen zusammenge-

häuft.— Erstaunlicherweise haben wir mit den verschiedenen Bedeutungen von „Institut“

gewöhnlich überhaupt keine Schwierigkeiten, denken keine Sekunde bewußt über die Be-

deutung nach; irgendetwas in uns setzt „automatisch“ das richtige ein.

Parsing zur Ermittlung dereinzusetzenden Elemente.

Einsetzung eines "Sinnes" der Worte in die Hohlstellen des Schemas.

Paßt das konkretisierteSchema in das Weltbild?

Paßt das konkretisierte Schema zum übergreifen-

den Schema?

Fragen!

Fragen!

Albert gibt Berta Geld

+

+

-

-

Abb. 2: Ein Programm für die Erstellung von Schemata.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 45

Das Programm zum Verstehen von Sätzen verfügt also über eine ganze Menge an „Ein-

sicht“ und „Intelligenz“, von der wir aber gar nichts merken. Wichtig ist: das „Verste-

hensprogramm“, welches aus Sprache Schemata macht, ist ein Konstruktionsprogramm; es

werden nicht irgendwelche Bedeutungen aufgerufen, sondern es werden Schemata konstru-

iert. Die verschiedenen Bedeutungen der Begriffe werden so kombiniert, daß sich ein

„stimmiges“ Schema ergibt, welches zum Kontext oder allgemein zum Weltbild paßt.

Abb. 2 zeigt eine mögliche Form des Programmes, welches aus einem Satz ein Schema

erzeugt. Input für den Prozeß ist der Satz. Die Schemakonstruktion verläuft so, daß zu-

nächst, ausgehend vom Verb, ein „hohles“ Geschehnisschema konstruiert wird. Dieses hohle

Geschehnisschema haben wir schon in Abbildung 1 gesehen. Als nächstes folgt dann die

Einsetzung in die Hohlstellen entsprechend den Regeln, die für das Verb gelten. Für ‘geben’

lautet eine Regel: Der Akteur steht vor dem Verb, der Rezipient unmittelbar hinter dem

Verb und das Objekt folgt dann. Dementsprechend wird also eingesetzt.

Damit aber ist der Konstruktionsprozeß keineswegs zu Ende. Das so konstruierte

Schema wird vielmehr noch in zweifacher Weise überprüft. Die erste Überprüfung ist die

„allgemeine“ Weltbildkonformität des Schemas. Paßt das Schema, welches neu entstanden

ist, zu den bekannten Schemata im Gedächtnis des Individuums? „Albert gibt Berta Geld“

paßt zweifellos. „Der Hund fliegt um die Kirchturmspitze“ paßt nicht zu der allgemeinen

Welterfahrung eines gewöhnlichen Individuums. Wie findet diese Prüfung auf allgemeine

Weltbildkonformität statt? Die einfachste Form dieser Prüfung wäre, alle Geschehnissche-

mata, die mit den Verben ‘geben’ bzw. ‘fliegen’ verbunden sind, aufzurufen und dann zu

prüfen, ob das neu konstruierte Schema mit den anderen Schemata kompatibel ist. Wenn

z.B. in den „fliegen“-Schemata alles mögliche vorkommt, nur nie ein Hund als Akteur, dann

sollte der Hund als Einsetzung zurückgewiesen werden. Oder aber es sollte eine Nachfrage

erfolgen: „ein Hund?“

Als letztes folgt nun die Prüfung auf spezifische Passung. Gewöhnlich steht ein Satz

natürlich im Rahmen eines Diskurses, einer längeren Erzählung oder einer Unterhaltung.

„Alleinstehende“ Sätze sind selten. Also wird jetzt noch geprüft, ob die Information, die das

neu gebildete Schema enthält, zu der Information paßt, die bislang schon vorhanden ist.

Wenn z.B. eine Geschichte erzählt wird, in der ein Hund einen Abfallhaufen durchwühlt und

dann zwei Katzen, viel kleiner als der Hund, den Hund attackieren und verjagen, dann paßt

die Fortsetzung „der Hund flog um die Kirchturmspitze“ nicht zu dem gesamten Gescheh-

nis. Es würde erwartet werden, daß der Hund flüchtet, sich zu einem sicheren Platz zurück-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 46

zieht, oder daß der Hund vielleicht ein paar Kumpel sucht, als Verstärkung im Kampf gegen

die Katzen, oder daß der Hund zu seinem Herren flüchtet und sich – auf Hunde Art – über

die Katzen beschwert, oder sonst irgend etwas, was mit allgemeinen Geschehnisschemata

kompatibel ist, die sich mit Flucht oder Vertreibung beschäftigen.

Wenn diese Operationen durchlaufen sind und wenn die beiden Prüfprozesse auf „allge-

meine“ und „spezielle“ Konformität positiv ausgegangen sind, wird das Schema akzeptiert.

Gewöhnlich verläuft der Konstruktionsprozeß unbewußt. Kommt er zu einem ordentli-

chen Ende, so haben wir es eben verstanden; wenn nicht, so erfolgt eine Frage. „Die Tanne

steht neben dem Haus!“ – Das ist in Ordnung. „Der Hund fliegt um die Kirchturmspitze!“ –

Das ist keineswegs in Ordnung und erzeugt eine Frage. „Sagten Sie ‘Hund’?“

Übrigens: Menschen machen sich auch durchaus aus sehr merkwürdigen sprachlichen

Gebilden noch ihr „Bild“. Es gibt kaum etwas, was Menschen nicht irgendwie verstehen

könnten. Nehmen wir z.B. das Gedicht „Das Gleichnis“ von Robert Gernhardt (1997):

Wie wenn da einer, und er hielte

Ein früh gereiftes Kind, das schielte,

Hoch in den Himmel und er bäte:

„Du hörst jetzt auf den Namen Käthe!“ –

Wär’ dieser nicht dem Elch vergleichbar,

Der tief im Sumpf und unerreichbar,

Nach Wurzeln, Halmen, Stauden sucht

Und dabei stumm den Tag verflucht,

An dem er dieser Erde Licht ...

Nein? Nicht vergleichbar? Na, dann nicht!

Natürlich setzen beim Lesen dieses Gedichtes sofort Prozesse ein, die den ‘einen’, ‘Käthe’

und den ‘Elch’ auf irgendeine Weise in ein kommensurables System bringen. Und meist

findet man schon Beziehungen: Käthe nach oben, der Elch nach unten, Kind bekommt Na-

men, Elch bekommt Staude; Name ist Symbol, Staude Ding, daher Kind errettet, Elch ver-

flucht im Sumpf zu bleiben (Hingabe an das Materielle, Dingliche gegen den geistig symbo-

lischen Bereich); man kriegt eine ganz Menge „Tiefsinn“ zusammen, wenn man die Gedan-

ken ein bißchen laufen läßt. (Die Analogisierung von Käthe mit dem Elch ist – nebenbei

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 47

gesagt – natürlich falsch; es heißt ja ‘dieser’ und nicht ‘diese’. — Also, noch einmal, an-

ders!)

Sprachverstehen ist mehr als die Aufnahme von Information. Gewöhnlich ist es vielmehr

Produktion und Veränderung von Information. Sprache ist nicht nur ein Kommunikations-

system; damit Sprache als Kommunikationssystem funktioniert müssen vielmehr mit dem

Verstehen und dem Produzieren von Sprache recht komplizierte Konstruktionsprozesse

verbunden sein. Die Fähigkeit, Sätze zu verstehen, beinhaltet die Fähigkeit, Schemata – und

damit mögliche Realitäten – zu konstruieren.

Wenn nun Denken die Konstruktion von Wirklichkeit oder von „Möglichkeit“ ist, so ist

allein schon das Verstehen von Sätzen eine Tätigkeit , die schwer vom Denken zu trennen

ist.

Das Verstehen und das Beantworten von Fragen

Das Verstehen von Sätzen ist ein Konstruktionsprozeß. Dies trifft noch mehr auf die Tätig-

keit des Verstehens und des Beantwortens von Fragen zu. Man unterscheidet gewöhnlich

zwei Arten von Fragen, ja/nein– Fragen, bei denen es um die Existenz oder Nichtexistenz

eines Sachverhaltes geht, und Fragen, in denen es um die spezifische Form eines Sachver-

haltes geht. Diese Fragen werden im Deutschen gewöhnlich mit den W-Frageworten ‘war-

um’, ‘weshalb’, ‘wozu’, ‘wie’, ‘wer’, ‘was’, usw. eingeleitet.

Ja/nein- Fragen werden beantwortet, indem festgestellt wird, ob das, wonach gefragt

wird, der Fall ist (oder war oder sein könnte) oder nicht. Wenn man das Verstehen, das Be-

antworten von ja/nein- Fragen nachbilden will, dann kann das so geschehen, daß man ein

System in seinem Situations- oder aber in seinem Protokollgedächtnis nachprüfen läßt, ob

sich dort der Sachverhalt, nach dem gefragt wird, tatsächlich vorfindet. „Ist das Fenster

geschlossen?“ Um diese Frage zu beantworten kann man entweder hingucken oder man

kann in dem internen Abbild der Situation, welches man mit sich trägt, nachprüfen, ob das

Fenster geschlossen ist. „Hattest Du die Tür abgeschlossen?“ Um diese Frage zu beantwor-

ten, kann man das Protokollgedächtnis als Logbuch der unmittelbaren und der mittelbaren

Vergangenheit durchsehen, um dort die Tätigkeit des Abschließens der Tür zu finden oder

auch nicht. Ja/nein-Fragen sind sehr wichtig, um Lücken und Unklarheiten in Bildern der

Realität aufzuspüren, um dann gegebenenfalls weitere Explorationsprozesse zu starten.

Auch ja/nein- Fragen sind also nicht nur – wie es auf den ersten Blick scheinen mag – In-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 48

formationsabfragen. Vielmehr können sie mit umfangreichen Recherchen und Explorations-

prozessen verbunden sein. „Hatte ich die Tür nun wirklich abgeschlossen? – auf jeden Fall

habe ich den Schlüssel in der Tasche! Das heißt immerhin, daß ich ihn nicht zu Hause liegen

gelassen habe und daß ich prinzipiell die Möglichkeit gehabt hätte, die Tür abzuschließen.

Aber habe ich es auch wirklich getan? Wie war das eigentlich genau, als ich das Haus ver-

ließ? ...“

In dieser Weise kann eine ja/nein- Frage einen ganzen Prozeß der Rekonstruktion der

Vergangenheit einleiten (der nicht notwendigerweise zu einem wahrheitsgetreuen Bild der-

selben führen muß). Auch die Beantwortung von ja/nein- Fragen ist also oftmals verbunden

mit Prozessen der Konstruktion von Wirklichkeit und kein System wäre ohne solche Pro-

gramme zur Konstruktion von Schemata in der Lage, in differenzierter Weise ja/nein- Fra-

gen zu beantworten .

In verstärkter Weise trifft das gleiche zu für W Fragen. Aus diesem Grunde wollen wir

uns jetzt ausgiebig mit diesen Fragen beschäftigen. Man kann zeigen, daß diese Fragen im-

mer auf eine Rekonstruktion eines unvollständigen Schemas abzielen.

Wenden wir uns zunächst dem Verstehen von W-Fragen zu. Das Verstehen von Sätzen

bedeutet die Konstruktion eines Schemas. Was bedeutet aber das Verstehen von W-Fragen?

Man kann es auffassen als das Konstruieren eines Schemas mit einer Hohlstelle. Abb. 3

zeigt, was damit gemeint ist.

warum?woher? wohin?

wann?wo?

loc

loc loc

temp

A B C D E

Abb. 3: Bezüge der Frageworte auf verschiedene Arten von Hohlstellen in einem Schema.

In der Abbildung 3 sieht man in der Mitte angedeutet eine Kette von Ereignissen A-B-C-D-

E. Um diese Ereigniskette herum gruppiert sich eine Reihe von Frageworten. Frageworte

wie ‘warum’, ‘wohin’, ‘woher’, ‘wo’, usw. haben immer einen zweifachen Bezug. Zum

einen markieren sie ein Ereignis, eine Situation oder ein Objekt in einem komplexeren Ge-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 49

schehen oder in einem Geschehnisschema. Zum anderen weisen sie auf eine Hohlstelle oder

eine Leerstelle in dem Schema hin. Das Fragewort ‘warum’ z.B. bezieht sich auf ein be-

stimmtes Ereignis und fragt nach den Antecedentien des entsprechenden Ereignisses. Was

ist dem Ereignis vorausgegangen und hat zu dem Ereignis geführt? „Warum gibt Albert

Berta Geld?“ — „Weil Berta Albert ein Bild verkauft hat!“ (‘Warum’ muß aber nicht not-

wendigerweise nach den Antecedentien fragen; oft fragt es auch nach der Finalität. „Warum

gibt Albert Berta Geld?“ — „Damit sie ihm Milch mitbringt!“ — Auch die Bedeutung von

Fragewörtern ist in der natürlichen Sprache polymorph.)

In der gleichen Weise, wie ‘warum’ auf eine bestimmte Hohlstelle in einem Geschehnis-

schema hinweist, weisen auch die anderen Frageworte auf bestimmte Arten von Hohlstellen

im Geschehnisschema hin. ‘Woher’ fragt nach der früheren Position eines Objektes, ‘wohin’

nach der zukünftigen. ‘Wie’ fragt (gewöhnlich) nach der Instrumentalität; nach der Art und

Weise, wie eine bestimmte Überführung ablaufen kann. In ähnlicher Weise kann man für alle

Frageworte die Hohlstelle oder die verschiedenartigen Hohlstellen angeben, die gemeint

sind. So besteht also das Verständnis einer W-Frage aus der Konstruktion eines Schemas

mit Leer- oder Hohlstellen. Es reicht aber nicht, daß eine Frage nur verstanden wird; sie

muß auch beantwortet werden.

In der Frage „wer hat dir das gegeben?“ ist das Ereignis genannt, welches stattgefunden

hat, irgendwer hat einer bestimmten Person etwas bestimmtes gegeben. Aber offen ist, wer

das war. Das gesagte Schema hat also eine Hohlstelle; „wer“ indiziert (meist), daß die Ak-

teurstelle in einem Schema offen ist. Die verschiedenen Frageworte („wer“, „was“, „wozu“,

„warum“, „wohin“, „woher“, ...) beziehen sich auf verschiedene Formen von offenen Stel-

len. „Wer“ fragt nach dem Akteur, „was“ fragt nach einem Objekt, „warum“ fragt nach der

Ursache, „wozu“ fragt nach dem angezielten Endergebnis, usw..

Eine Frage wird verstanden, indem gleichfalls, wie bei gewöhnlichen Sätzen ein Schema

aufgebaut wird; eine Frage aber unterscheidet sich von einem gewöhnlichen Satz darin, daß

dieses eine Hohlstelle aufweist.

Eine Frage wird umgewandelt in ein Schema mit einer Leerstelle. Und dann? Wie wer-

den Fragen beantwortet? Nun, natürlich in der Weise, daß auf irgendeine Weise eine Einset-

zung für die Leerstelle gesucht wird. Einen Konstruktionsprozeß dafür kann man sich leicht

vorstellen. Es gibt ein Schema mit einer Leerstelle; nunmehr findet im Gedächtnis ein Mu-

stervergleichsprozeß statt, der nach einem gleichen oder ähnlichen Schema sucht in wel-

chem diese Leerstelle ausgefüllt ist. Wenn es sich also bei dem oben erwähnten Beschenkten

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 50

um einen 10-jährigen Knaben namens Hans handelt, und wenn dieser ein fernlenkbares Mo-

dellauto geschenkt bekommen hat, so mag sich als Antwort auf die Frage „wer hat Hans das

Modellauto geschenkt?“ bei Kennern der Verhältnisse die Antwort einstellen „Onkel Er-

win!“, da im Familienumfeld Onkel Erwin als Fan technischen Spielzeugs und außerdem als

generös bekannt ist. Die Antwort auf eine Frage bedeutet also die Komplettierung eines

Schemas aufgrund eines Mustervergleichs; aufgrund der Suche nach gleichen, ähnlichen

oder analogen Strukturen im Gedächtnis.

"warum" - Suche mit verringerten Verträg-

lichkeitsbedingungen

Substitution

"Warum gibt Albert Berta Geld?"

Warum - Leerstelle

"Weil sie ihm ein Bild verkauft hat!"

Abb. 4: Die Beantwortung einer ‘Warum’ - Frage.

Abbildung 4 zeigt den Ablauf der Beantwortung einer ‘Warum’ - Frage. Am Anfang steht

das Schema mit der Hohlstelle. Man sieht das Schema der Geldübergabe zwischen Albert

und Berta und davor fehlt etwas; das gesamte Geschehnisschema weist eine Leerstelle auf.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 51

Wie kann diese Leerstelle aufgefüllt werden? Dies kann einfach dadurch geschehen, daß zu

dem Muster, welches das Ausgangsschema darstellt, also das Schema mit der Leerstelle, ein

mit diesem Muster verträgliches Muster gefunden wird. Beispielsweise geht man in seinem

Gedächtnis auf die Suche nach anderen Geldübergaben, die dieser Geldübergabe zwischen

Albert und Berta möglichst ähnlich sein sollten. (Wenn man aber nichts Ähnliches findet,

dann können sukzessive die ‘Verträglichkeitsbedingungen’ zwischen dem Suchbild und dem

zu Suchenden gelockert werden und man sucht dann vielleicht nur noch nach irgendwelchen

Geldübergaben.)

Wenn nun eine Geldübergabe gefunden worden ist und wenn diese Geldübergabe außer-

dem ein Antecedenz aufweist, eine vorausgehende Ereignisfolge, die ein Grund oder eine

Ursache für die nachfolgende Folge ist, wie es in der Abbildung 4 in der Mitte gezeigt ist,

dann kann nun eine Substitution stattfinden. Die Ereignisfolge in der Mitte zeigt wie eine

Frau einem Mann ein Bild gibt und daraufhin der Mann der Frau Geld gibt; wir haben also

einen Verkaufsprozeß vor uns. Diese zweite Szene ist der ersten Szene partiell analog. Die

Relationen in dem zweiten Teil der Szene entsprechen den -Relationen in dem zweiten Teil

der Ausgangsszene; in beiden Fällen geht es um eine Geldübergabe von einem Mann zu

einer Frau. (Die Szenen sind aber nicht nur analog; sie sind sich außerdem noch ziemlich

ähnlich, weil die Akteure und das Objekt der Szenen zwar nicht miteinander gleich aber

ähnlich sind. Dennoch: streng genommen handelt es sich um eine Analogie.)

Der letzte Schritt, der jetzt noch notwendig ist, ist die „Substitution“. In das aufgefun-

dene, partiell analoge Schema, müssen nun die Ursprungselemente eingesetzt werden. In der

Abbildung 4 sieht man das unten. Und dieses neu konstruierte Schema kann dann in die

sprachliche Äußerung umgesetzt werden „vielleicht hat sie ihm ein Bild verkauft!“ (Das

kann natürlich auch anders aussehen; vielleicht wird nicht nur eine partielle Analogie gefun-

den, sondern mehrere und dann kann das System mit mehreren Möglichkeiten als Hypothe-

sen für die Gründe der Geldübergabe von Albert an Berta reagieren. Der Kern der Prozedur

für die Beantwortung von W-Fragen ist also das Suchen nach ähnlichen oder analogen

Schemata für ein vorgegebenes Schema mit einer Hohlstelle und die nachfolgende Auffül-

lung der Hohlstelle entsprechend dem aufgefundenen Schema. Bei anderen Frageworten

sind die Hohl- bzw. Leerstellen andere als bei dem Fragewort ‘warum’; ansonsten aber kann

der Prozeß gleichartig ablaufen.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 52

erfolgreich?

Erstellung eines Suchschemasmit Hohlstellen entsprechend

dem W- Fragewort

Suche (unter Aussparung der Hohl-stellen) nach einem mit dem Such-schema verträglichen Gedächtnis-

schema

Erneute Suche (unter Aussparungder Hohlstellen) mit herabgesetzten

Verträglichkeitsbedingungen

Einsetzung der Elemente des Such-schemas an die entsprechenden

Stellen des gefundenen Schemas

erfolgreich?

Antwort auf die Frage wird,was an den Stellen der Hohlstellen

im gefundenen Schema steht+

+

-

-Frage kann nicht

beantwortet werden!

1

2

3

4

5

6

7

Abb. 5: Informationsverarbeitung bei der Beantwortung von Fragewort-Fragen.

Abbildung 5 zeigt ein Flußdiagramm mit den Informationsverarbeitungsprozessen, die not-

wendig sind, um Fragewort- Fragen zu beantworten.

Das Verstehen von Aufforderungen

Sprache besteht aus drei Grundelementen, Aussagen oder Urteilen, Fragen und Aufforde-rungen. Mit Urteilen und Fragen haben wir uns bereits beschäftigt. Wie kann man ein Sy-stem bauen, welches Aufforderungen versteht? Eine Aufforderung führt beim Menschen,wenn sie akzeptiert wird, zur Ausbildung einer motivationalen Struktur. Wenn mich jemandauffordert „hol’ mir ein Glas Wasser!“ dann mache ich es mir zum Ziel, dem Aufforderndenein Glas Wasser zu bringen; das ist dann mein handlungsleitendes Motiv. (Es entsteht natür-lich die Frage, unter welchen Bedingungen Aufforderungen akzeptiert werden und unterwelchen Bedingungen nicht. Letzten Endes muß sich eine Aufforderung immer in die „Mo-tivationslandschaft“ des Aufgeforderten einfügen lassen. Beispielsweise muß die Bitte umein Glas Wasser verstanden werden als ein „Bindungssignal“ („der erwartet, daß ich ihm

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 53

Wasser bringe, also hat er Vertrauen zu mit, also wird er mir auch helfen, wenn es einmalnotwendig ist, also ist es im Interesse der Aufrechterhaltung der sozialen Bindung, ihm einGlas Wasser zu bringen!“ — So etwas wird natürlich nicht so explizit gesagt oder auch nurgedacht, wie ich es eben dargestellt habe.)

Es gibt auch Selbstaufforderungen. Aus einer bestimmten Datenlage kann sich ergeben,

daß man irgend etwas bestimmtes tun sollte. Vielleicht ist es z.B. vernünftig, zunächst ein-

mal die Gründe eines Ereignisses zu erforschen, ehe man Überlegungen darüber anstellt, wie

man die Folgen des Ereignisses vermeiden kann. Dann mag man sich auffordern: „Du mußt

dir überlegen, wie es zu diesem Ereignis kommen kann!“ Diese Aufforderung mündet dann

z.B. in einer Folge von Warum-Fragen. — Solche Selbstaufforderungen sind im Denkablauf

sehr häufig; der Denkende steuert sein Denken oder verändert es, indem er sich selbst sol-

che Aufforderungen gibt. Wir kommen unten noch auf diesen Punkt zurück, wenn wir über

die Selbstreflexivität des Denkens sprechen. Selbstaufforderungen ergeben sich oftmals aus

einer kritischen Analyse erfolgloser Denkprozesse.

Denkabläufe als „innere Dialoge“

Aus den soeben dargestellten Teilstücken läßt sich sehr wohl eine Theorie des Denkens ab-

leiten. Man kann zeigen, daß sich ein solches Strukturschema für den Problemlöseprozeß,

wie der ‘General Problem Solver’, als Folge von Fragen und (Selbst-) Aufforderungen dar-

stellen läßt. Folgendermaßen sieht ein solches Schema aus:

• Welches sind die Unterschiede zwischen Start- und Zielsituation? (→ Unterschiedsliste

xyz)

• Wie kann man den Unterschied xyz beseitigen? (→ Operator I)

• Ist der Operator I anwendbar? (→ ja!/nein!)

• Wenn der Operator I nicht anwendbar ist: Selbstaufforderung: Setze dir als Ziel, die

Anwendbarkeit des Operators I zu erreichen. (→ neue Absicht)

• Wenn aber der Operator I anwendbar ist, so wende ihn an! (→ neuer Startpunkt)

• Selbstaufforderung: Setze als neuen Startpunkt das Produkt der Anwendung des Ope-

rators.

Man kann auch andere Problemlöseprozeduren in der gleichen Weise als Frage-

Aufforderungs-Sequenzen darstellen. Wir wollen darauf aber hier nicht weiter eingehen.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 54

Ein Denkvorgang kann also beschrieben werden als ein innerer Dialog. Wenn das aber rich-

tig ist, dann ist die Sprache das gedankenleitende System, genau wie Wilhelm von Hum-

boldt meinte. Diese Konzeption bedeutet nun nicht unbedingt, daß alles im Denken nur über

die Sprache geschieht. Natürlich können sich zu den aufgrund von Sätzen konstruierten

Schemata Assoziationen einstellen. Und diese bringen unter Umständen neue Elemente in

den Denkablauf hinein. Die Sprache aber ist der Dirigent des gesamten Prozesses; die je-

weils gestellten Fragen geben dem Denken hauptsächlich die Richtung.

Nebenbei: Die Fähigkeit zur Sprache, die Fähigkeit Sprache zu verstehen, Fragen zu

verstehen, Fragen zu beantworten, Aufforderungen in motivationale Schemata zu überfüh-

ren, bedeutet keineswegs, daß Sprechen auch immer Denken ist. Es gibt vielmehr durchaus

Leute, denen mit großer Geschwindigkeit muntere Sprachbäche entquellen, ohne daß man

bei näherer Analyse den Eindruck hat, daß sie dabei viel gedacht haben. Der Sprachfluß soll

das nur vorspiegeln. Und es gibt ein Sprechen, welches nur noch die Funktion hat, soziale

Bindungen zu indizieren und zu sichern, und damit eigentlich nicht so sehr Sprechen, son-

dern der Austausch von Zeichen (Zeichen z.B. für das wechselseitige Wohlwollen). Wenn

mir in Bamberg einer sagt „Grüß Gott!“ dann meint er keineswegs, daß ich in Gott gegrüßt

sein soll. Und wenn einer zu mir sagt „Einen Guten Tag noch!“ dann wünscht er mir kei-

neswegs einen guten Tag und wäre baß erstaunt, wenn ich ihn fragen würde, was er denn

bitte mit „einem guten Tag“ meint; sondern er indiziert mit diesem Zeichen lediglich soziale

Bindung. Mit Denken hat das alles nichts zu tun.

Die Steuerung des Denkens

Wenn man Denken auffaßt als eine Abfolge von Fragen, Antworten, Selbstaufforderungen,

dann löst sich ein anderes Problem der Denkpsychologie, nämlich das der Selbstreflexivität

des Denkens. Dieses Problem ist gleichfalls leider nicht im Blickfeld der modernen Kogniti-

onspsychologie. Betrachtet man Protokolle des ‘lauten Denkens’, so findet man darin fast

immer selbstbezügliche Elemente, also Äußerungen der jeweiligen Versuchspersonen, die

sich nicht auf das zu lösende Problem, sondern auf den Problemlöseprozeß beziehen. Eine

Versuchsperson äußert bei einem Problemlöseprozeß also z.B.: „Ich weiß gar nicht, was ich

hier so mache! Ich glaube, ich mach das einfach falsch! Ich fang immer von vorn an, versu-

che mich von vorn zum Ziel durchzuarbeiten. Eigentlich könnte man das ja auch mal an-

dersherum machen! Man könnte vom Ziel aus vorgehen!“

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 55

Diese Äußerung enthält eine Umprogrammierung des eigenen Denkens; die Ver-

suchsperson ändert ihren Denkstil. Statt weiter ‘vorwärtsplanend’ vorzugehen, statt zu ver-

suchen, vom Startpunkt zum Ziel zu kommen, beschloß sie, in Zukunft ‘rückwärtsplanend’

vorzugehen; also einen Weg zum Ziel zu ersinnen, indem sie sich überlegt, was denn un-

mittelbar vor der Erreichung des Zielzustandes der Fall sein müßte und was davor und was

davor. Auch so kann man planen; oftmals ist diese Form des Planens sogar sehr effektiv.

Nachdenken über das Denken? Wie ist das möglich? Wenn man Denken als inneren

Dialog betrachtet, so macht die Konzeption eines Systems, welches seine eigenen Gedanken

zum Gegenstand des Denkens macht, überhaupt keine Schwierigkeiten. Denn in der Erinne-

rung des Denkenden gibt es ja ein mehr oder minder vollständiges Protokoll des bisherigen

Denkablaufs ganz einfach als Protokoll des inneren Dialogs. Die Form des eigenen Denkens

zeigt sich in den Abfolgen der Aussagen, der Fragen, der Selbstaufforderungen. Dieses Mu-

ster der Sprachelemente kann selbst Objekt eines Denkablaufs werden; auf diese Weise kann

sich das Denken selbst zum Objekt machen und sich selbst verändern.

Eine Form einer solchen kritischen Selbstanalyse ist das von Duncker (1935) so ge-

nannte Verfahren des „Ausfällens des Gemeinsamen“. Diese Methode besteht darin, daß der

Denkende die bisherigen erfolglosen Denkabläufe auf gemeinsame Elemente untersucht und

dann diese ‘gemeinsamen Elemente’ durch andere ersetzt oder herausläßt.

Das oben angeführte Beispiel zeigt, wie so etwas aussehen kann. Die Versuchsperson

stellt fest, daß sie bei allen bisherigen, erfolglosen Lösungsansätzen vom Start zum Ziel hin

gearbeitet hat. Und das macht sie jetzt anders! Die Konzeption der Selbstreflexivität als

Analyse des eigenen Denkprotokolls befreit von der Notwendigkeit, mehrere Ebenen der

psychischen Regulation annehmen zu müssen. Solche ‘Ebenenmodelle’ sind in kognitiven

Psychologie nicht ungebräuchlich, um die Tatsache zu beschreiben, daß das menschliche

Denken und überhaupt die menschliche Verhaltensregulation nicht nur einfach ablaufen,

sondern ihrerseits gesteuert werden. Das Denken kann geändert und gesteuert werden; und

dafür erfindet man gewöhnlich eine weitere Instanz der „Metakognition“.

Die Annahme solcher mehrfach ineinander geschachtelter Instanzen bringt das Problem

mit sich, daß man eigentlich mit dieser Schachtelung bis ins Unendliche fortfahren müßte.

Denn zweifellos ist es dem Menschen möglich, nicht nur sein Denken beim Problemlösen

zum Objekt seiner Betrachtung zu machen; er kann auch über das Nachdenken über das

Denken nachdenken. Wenn man mit Mehrebenenmodellen operiert, muß man also letzten

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 56

Endes eine unendliche Menge von ineinander geschachtelten Instanzen annehmen, die sich

jeweils zum Objekt der Betrachtung machen.

Die Konzeption, die ich gerade eben vorgestellt habe, vermeidet dieses Problem. Es

reicht, daß wir eine Denkinstanz annehmen (und das ist der ‘innere Dialog’), die fallweise

ihr Objekt wechselt. Mal wird das Problem ‘bedacht’, mal eben die Form des eigenen Den-

kens. Natürlich auch wieder in der Form eines inneren Dialogs.

Wenn man Denken wesentlich als ‘inneren Dialog’ ansieht, dann wird man allerdings ak-

zeptieren müssen, daß es „das“ Denken gar nicht gibt. Ebenso, wie es unendlich vielfältige

Formen innerer Dialoge gibt, gibt es unendlich vielfältige Formen des Denkens. Eigentlich

ist das leicht einzusehen; aber das leichte fällt vielen Psychologen schwer. Und so suchen

denn immer noch viele nach den Gesetzen des Problemlösens, des Planens, des Konzept-

erwerbs, des Analogiebildens. Solche Gesetze gibt es nicht. Zu Analogien kann man in ver-

schiedener Weise kommen, abstrakte Konzepte ergeben sich mal so, mal so; das hängt vom

Denkenden, seiner Erfahrung mit dem Denken, seiner Flexibilität, seiner sprachlichen Ge-

wandtheit ab. Auch hängt es von der Form der Sprache ab. Wenn z.B. eine Sprache über

relativ wenig abstrakte Oberbegriffe verfügt, wie es für viele primitive Sprachen charakteri-

stisch ist, so fällt es schwer, Analogien zu bilden, weil das Analogienbilden über abstrakte

Oberbegriffe laufen muß.

So konnte man z.B. zeigen (s. Hallpike, 1984, S. 157), daß der Erwerb einer europäi-

schen Sprache (es handelte sich dabei um das Französische) schlagartig dazu führte, daß

Jugendliche eines westafrikanischen Stammes erheblich flexibler wurden und besser mit

Problemen umgehen konnten als ihre Eltern. Die entsprechende afrikanische Sprache hatte –

wie es bei vielen der primitiven Sprachen der Fall ist – wenig Oberbegriffe; es gab z.B. kei-

nen gemeinsamen Begriff für Körperteile, für Schwanz, Hals oder Beine. Vielmehr wurde

das Bein einer Giraffe mit einem anderen Wort bezeichnet als das Bein eines Affen oder

eines Menschen. Das Fehlen von Oberbegriffen macht den Sprung von einer Koadjunktion

zur anderen sehr schwer, ganz einfach weil die Begriffe nicht als Koadjunktionen, als be-

griffliche Nebenordnungen verstanden werden können.

Wenn dem Indianer die Birkenrinde für den Kanubau fehlt, so könnte er statt dessen

z.B. Plastiktüten verwenden. Diese sind durchaus gut geeignet. Um aber auf diese Idee zu

kommen, muß man die Birkenrinde dem Oberbegriff „Membran“ unterordnen, um dann

nach anderen möglichen „Membranen“ zu suchen. Verfügt man nicht über den Oberbegriff

„Membran“, so wird man eben auf die Idee mit der Plastiktüte nicht kommen.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 57

Die Armut oder der Reichtum an Oberbegriffen ist ein Merkmal, welches Sprachen un-

terscheidet. Es gibt andere, auf die ich hier nicht eingehen kann. Die Untersuchung der Un-

terschiede zwischen verschiedenen Sprachen ist aber von großem Interesse, wenn man dar-

an interessiert ist, herauszufinden, welche verschiedenen Denkabläufe möglich sind.

Man kann also zeigen, daß allein durch eine Sequenz von Fragen, Urteilen, Aufforde-

rungen Denken realisiert werden kann. Wohl gemerkt: realisiert, nicht etwa nur beschrieben.

Denn Urteile, Fragen und Aufforderungen sind gewissermaßen die Anstoßpunkte für be-

stimmte Programme, die Schemata konstruieren, modifizieren oder erweitern. Wenn es aber

richtig ist, daß das „innere Gespräch der Seele mit sich selbst“ (Platon, Der Sophist, 263e)

mit Denken gleichgesetzt werden kann, dann wäre es sehr merkwürdig, wenn neben dem

„Apparat“ zur Realisierung des Sprechens noch ein gesonderter Denkapparat existierte, der

auf irgendeine Art und Weise das gleiche macht. Insofern ist es sehr unwahrscheinlich, daß

Anderson (1996, S. 356) recht hat, wenn er meint, daß Denken nichtsprachliche Informati-

onsverarbeitung sei.

Die Tatsache, daß die Fähigkeit zum Sprechen die Fähigkeit zum Denken impliziert, er-

klärt auch zwanglos, warum die fulminante Fortentwicklung der geistigen Fähigkeiten des

Menschen innerhalb der letzten zwei Millionen Jahre wohl mit der Entwicklung der Sprache

einhergeht. Es wäre wirklich interessant, mehr über die Entstehung und die Fortentwicklung

der Sprache von ihrem Urbeginn an zu erfahren und damit auch etwas über die Entwicklung

der Denkfähigkeit.

Literatur

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Verlag.

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Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 58

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griff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Göttingen: Vandenhoeck &, Rupprecht.

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tice Hall.

Platon: Der Sophist. In: Platon: Werke in acht Bänden, Band VI. Darmstadt, Wissenschaft-

liche Buchgesellschaft.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 59

Drei Wünsche an die KognitionspsychologieProf. Dr. Theo Herrmann

Inhalt

1 Vorbemerkungen........................................................................................................... 60

2 Zwei Warnungen vorab ................................................................................................. 62

3 Wünschbarkeiten........................................................................................................... 64

4 Neuropsychologische Verfahren und die Alltagsphänomene........................................... 64

5 Denken und Sprechen.................................................................................................... 67

6 Intentionale Zustände als Forschungsgegenstand der Kognitionspsychologie ................. 71

7 Schluss.......................................................................................................................... 74

8 Literatur........................................................................................................................ 74

1 Vorbemerkungen

Mein Vortrag hat es mit der Zukunft der Kognitionspsychologie zu tun. Die Kogni-

tionspsychologie ist - leicht einsehbar - derjenige Teil der Psychologie, der sich mit Kogni-

tionen befaßt. Was aber sind Kognitionen? Der Einfachheit und Unverdächtigkeit halber

beziehe ich mich auf Phil Zimbardo: Zimbardo, der Lehrbuchguru, dürfte mehr als jeder

andere die Meinung der Herrschenden unserer Zunft transportieren, also vor allem jener

Amerikaner, die derzeit in dominanter Weise die Definitionsmacht haben. Zimbardo defi-

niert mit Hilfe der deutschen Herausgeber seines Werks wie folgt (Zimbardo, 1995, S. 753):

„Kognitionen: Strukturen oder Prozesse des Erkennes und Wissens. Darunter fallen z.B. die

Prozesse des Wahrnehmens, Schlußfolgerns, Erinnerns, Denkens und Entscheidens und die

Strukturen der Begriffe und des Gedächtnisses.“

Und wie steht es mit der Zukunft dieser Kognitionspsychologie? Man sollte eine künftig

real existierende Kognitionspsychologie nicht beschwören wollen. Die Erkenntnisentwick-

lung auch in den Wissenschaften ist nämlich ganz überwiegend das Ergebnis unvorhersehba-

rer Entdeckungen und Erfindungen innerhalb oder außerhalb des jeweiligen Faches. Dieses

plausible Argument gegen Vorhersagen (und große Zukunftskonzeptionen) ist bekanntlich

vor allem von Sir Karl Popper und seinen Schülern vertreten und ausgearbeitet worden.

Und außerdem hängt die Wissenschaftsentwicklung, mehr als wissenschaftstheoretische

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 60

Puristen zugestehen, ab von schlecht vorhersehbaren Methoden- und Theoriemoden, von

politisch-ökonomischen Eingriffen und ohnedies von globalen „Zeitgeist“-Entwicklungen.

Zudem wollen wir hoffen, daß auch die Kognitionspsychologie immer wieder in den Genuß

möglichst spannender Novitäten kommt, die alle versuchten Vorhersagen zunichte machen.

Eine Wissenschaft, deren Zukunft man vorhersagen kann, wäre es kaum wert, sich mit ihr

zu befassen. Ich zumindest habe zur realen Zukunft der Kognitionspsychologie nichts zu

sagen und schließe mich statt dessen Friedrich Schiller an - ich mußte noch in der Schule die

zum Teil frappierend schlechten Reime der „Glocke“ auswendig lernen. Nach Schiller gilt

auch für die Kognitionspsychologie: Ihr „ruhen noch im Zeitenschoße die schwarzen und

die heitern Lose.“

Ein schwarzes Los wäre wohl der Kognitionspsychologie beschieden, wenn sie so blie-

be, wie sie ist. Das sage ich aus einem anderen Grund, als man vielleicht zunächst meinen

möchte. Ich halte nämlich den gegenwärtigen Zustand der Kognitionspsychologie, wie sich

noch zeigen wird, für durchaus zufriedenstellend. Wenn allerdings - wie noch vor einigen

Jahren - die Gefahr bestünde, daß die Kognitionspsychologie, erhitzt durch ein grassieren-

des Cognitive-Science-Fieber, für nicht viel mehr als die Lehre von den regelbasierten Wis-

senssystemen gehalten würde (vgl. dazu Tack, 1995), dann stünde es um diese Teildisziplin

der Psychologie in der Tat so schlecht, daß man ernstlich besorgt sein könnte. Nun hat je-

doch die Kognitionspsychologie in letzter Zeit viele interessante Knospungen erfahren; es

steht nicht mehr zu befürchten, daß ihre namhaften Vertreter, von Silikonprodukten um-

stellt, Geistiges nur noch in Kategorien begreifen, die sie dem programmierbaren Kunststoff

entlehnen. Wenn ich also hoffe, daß die Kognitionspsychologie nicht so bleiben möge, wie

sie ist, meine ich nichts anderes, als daß sie eine möglichst vielfältige Dynamik entwickeln

möge - nicht weil sie so schlecht ist, sondern weil sie nicht stagnieren soll.

Mein gegenwärtiger Vortrag betrifft Wünschbarkeiten. Die Entwicklungen, die ich der

Kognitionspsychologie wünsche, sind mir selbstverständlich nicht allesamt selbst zugefallen.

Es gibt sie bereits fast alle, über sie wird nachgedacht, manches wird bereits zu realisieren

versucht. Ich hätte nur gern, daß diese Gesichtspunkte energisch in die Kognitionspsycho-

logie inkorporiert würden. Ich werde diese Wünschbarkeiten mit großer Willkür behandeln,

in idiosynkratischer Auswahl und ohne nachvollziehbare Ordnung. Eine von mir gewünschte

Kognitionspsychologie ist nichts theoretisch Geschlossenes - das ist nicht einmal die Physik

- und methodologisch Homogenes, sondern - wie jede gute Wissenschaft - etwas Buntes,

ein Blumenstrauß von vielen interessanten Phänomen und deren einfallsreicher theoretischer

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 61

Rekonstruktion in untereinander vernetzten Forschungsprogrammen. Auch die von Zimbar-

do genannten Prozesse und Strukturen des Erkennens und Wissens sind in ihrer Natur viel-

fältig, heterogen, nuanciert. Ich würde es bedauern, wenn man sich nicht mehr der Vielfalt

geistiger Prozesse und Strukturen und dem Nutzen ihrer verschiedenartigen Behandlung

stellte.

2 Zwei Warnungen vorab

Aus meinen Vorbemerkungen ergeben sich zwei Warnungen, die, wie ich fürchte, etwas

schulmeisterlich anmuten können. Sie sind nicht so gemeint, zumal ich mich selbst als einen

ihrer Adressaten verstehe.

Erstens: Kognitionspsychologen sollten nicht die bunte Mannigfaltigkeit der kognitiven

Phänomene ignorieren, auch wenn die Kenntnisnahme dieser Phänomene nicht den Aufbau

des je eigenen, mit Mühe entwickelten Modells des geistigen Lebens oder gar der Seele

fördern; Kognitionspsychologen sollten nicht den Eindruck entstehen lassen, als sei nur

dasjenige erforschenswert, was in ein bestimmtes globales Modell oder auch nur in eine

Modellklasse paßt oder sie stützt. Freilich brauchen wir umfassende, experimentell und an-

derweitig empirisch prüfbare und auf diese Weise miteinander möglichst heftig konkurrie-

rende Modelle - bisher mehr Wunsch als Wirklichkeit! Der Sinn der Wissenschaft besteht

zweifellos auch darin, Komplexes auf möglichst einfache theoretische Strukturen abzubil-

den. Aber nicht weniger wichtig und nicht weniger entscheidend für den Erfolg einer wis-

senschaftlichen Disziplin ist das Finden neuer Fakten, die Entdeckung neuartiger empiri-

scher Sachverhalte oder Effekte. Wir brauchen wieder so etwas wie die Mentalität des neu-

gierigen und beharrlichen Naturforschers. (Als solche sind mir, um zwei Beispiele zu nen-

nen, immer der junge Wolfgang Metzger und Ivo Kohler erschienen.)

Vielleicht fanden wir in den letzten Jahrzehnten weniger neue empirische Effekte als un-

sere wissenschaftlichen Vorgänger, weil wir, immer mehr geblendet durch unsere modell-

spezifischen Abstraktionen, an den unbemerkt am Wege liegenden Phänomenen vorbei-

stolperten. Und viele von uns haben nicht mehr das Sitzfleisch, vielleicht Jahrzehnte lang an

der Hebung eines einzigen Schatzes zu arbeiten. Jedenfalls haben die Demonstration eines

neuen Effekts und der Erweis seiner Replizierbarkeit unter definierten Randbedingungen

ihre eigene Rechtfertigung; der Effektnachweis bleibt per se unberührt davon, wie gut der

Effekt in irgendeine Theorie- bzw. Modellbildung inkorporierbar ist. - Umgekehrt: Der Mo-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 62

dellbauer sollte sich angesichts des Aufweises von neuen empirischen Sachverhalten, und

handele es sich auch um sehr spezifische Effekte, fragen, ob sein Modell durch den neuen

empirischen Befund herausgefordert ist. Gute Modelle bewähren sich nämlich gerade bei

der Vorhersage und Erklärung sehr spezifischer Effekte; das zeigt ebenso die Physik wie die

Linguistik. Und der psychologische Modellbauer sollte ernstlich ins Grübeln geraten, wenn

sein Modell so gar nicht von empirischen Befunden tangiert wird und immer richtig bleibt.

Zweitens: Man sollte die Entwicklung der Kognitionspsychologie nicht zu sehr von den

jeweils gerade vorhandenen und attraktiven Methoden und Verfahren, den „tools“, abhängig

sein lassen. Auch wenn es - um es am Beispiel zu verdeutlichen - jetzt wirkungsvolle neu-

rowissenschaftliche Verfahren der Bildgebung gibt, sollte dies nicht dazu führen, weniger

intensiv als bisher etwa Evozierte Potentiale zu messen oder Priming-Untersuchungen

durchzuführen - je nachdem, was das jeweils problematisierte Phänomen verlangt. Die Er-

findung der Bildgebenden Verfahren rechtfertigt also per se keinen opportunistischen

Wechsel des Probleminteresses. Und man sollte sich - horribile dictu - auch für Phänomene

interessieren, die mit den uns vorliegenden Methoden noch gar nicht erforschbar sind. Die

Entwicklung der Kognitionspsychologie sollte also - ich bin da allerdings höchst pessimi-

stisch - nicht methodengetrieben, sondern phänomengetrieben und auch durch den Impetus

innovativer Theorieentwicklungen vorangebracht werden.

Wir Kognitionspsychologen sollten uns nach allem nicht wie jener oft zitierte Junge be-

nehmen, der ein Hämmerchen geschenkt bekommen hat, handele es sich bei unserem Psy-

chologenhämmerchen wie einst um die Faktorenanalyse oder das Semantische Differential

oder später um die MDS, um die Rasch-Skalen oder um Strukturgleichungsmodelle, um die

neuesten Programmiersprachen, um verfeinerte Reaktionszeitmessung, eben um die Bildge-

benden Verfahren, um relativ leicht herstellbare Virtual Reality oder was auch immer. Wenn

der Junge ein solches Hämmerchen geschenkt bekommen hat, so behämmert er erfahrungs-

gemäß, wenn man nicht aufpaßt, alles und jedes wahllos mit diesem so attraktiven neuen

„tool“. Ein solches Verhalten verrät vielleicht die Geschicklichkeit eines modebewußten

Wissenschaftskaufmanns, aber wenig wissenschaftliche Kompetenz. Nehmen wir uns ein

Beispiel an unseren evolutionären Vorfahren: Diese verwendeten Werkzeuge und stellten

sie her, um ihre Probleme zu lösen; der Homo sapiens sapiens existierte gar nicht, wenn sich

unsere Vorfahren nur für dasjenige interessiert und dasjenige problematisiert hätten, für

dessen Bearbeitung sie bereits ein Werkzeug besaßen. Auch der Kognitionspsychologe mö-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 63

ge also in dieser Hinsicht nicht - wenn ich so sagen darf - hinter den Homo habilis oder so-

gar den Zwergschimpansen zurückfallen.

3 Wünschbarkeiten

Nun zu meinen Wünschen: Ich werde, obwohl mich das reizt, nicht über einzelne kognitive

Phänomene berichten, deren Erforschung ich für wünschbar halte. Zu meinen Lieb-

lingsphänomenen gehört beispielseise das früher intensiv behandelte und erst neuerdings

wieder etwas stärker beachtete Phänomen der intermodalen Qualitäten. (Wieso denken wir

bei hohen Trompetentönen eher an ein äi“ als an ein äu“ und eher an Gold als an Kohle? Ist

das bei allen Menschen so; wovon hängen solche fast obligatorischen Assoziationen ab?

Handelt es sich dabei überhaupt um Assoziationen?) - Ich mache also nicht auf einzelne

kognitive Phänomene aufmerksam, sondern befasse mich ziemlich pauschal, wie im gegebe-

nen Rahmen nicht anders möglich, mit drei theoretischen Gesichtspunkten, die ich gern in

die Kognitionspsychologie integriert sähe. Daß ich mich dabei im Laufe meiner nachfolgen-

den Erwägungen zunehmend vom Mainstream entferne, macht mir Freude; ich kann mir und

sollte mir provokante und exotische Auslassungen zumindest jetzt als Emeritus erlauben

dürfen.

4 Neuropsychologische Verfahren und dieAlltagsphänomene

Die Kognitionspsychologie bedient sich seit dem Beginn ihrer Geschichte mit gutem Erfolg

psychophysiologischer und, noch nicht sehr lange und mit großer Intensität, neuro-

psychologischer Verfahren. Die bereits genannten Bildgebenden Verfahren sind schon we-

gen der schönen bunten Flecken im graphisch dargestellten Gehirn sehr schnell auch in

weiten Laienkreisen bekannt geworden. Die sich zum Teil hervorragend entwickelnde Ko-

operation vor allem mit der medizinischen Neurologie hat für uns, wie aber auch für die

Neurologie, enorme Vorteile, eben weil auch an dieser Schnittstelle zweier Wissenschaften

beträchtliche Synergieeffekte wirken.

Worauf ich hinaus will, ist folgendes: Mit Hilfe der vorhandenen Techniken, zum Bei-

spiel beim Einsatz der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) oder der Funktionellen

Magnetresonanztomographie, kann man, trotz einer Reihe bekannter Mängel und Schwä-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 64

chen, darstellen, welche Hirnareale bei kurz andauernden, oft wiederholten und möglichst

kontextfreien geistigen Tätigkeiten aktiviert sind. So wird es beispielsweise irgendwo bunt,

wenn die in ihrer Röhre befindliche Versuchsperson nacheinander viele gewöhnliche Buch-

staben liest, und an anderen Stellen wird es bunt, wenn die vielen Buchstaben als Spiegelbil-

der exponiert werden. Es läßt sich mit mehr als einer einzigen Körper-Geist-Doktrin verein-

baren - wer aber denkt darüber nach ? - , daß man mit dem Erkennen prozeßabhängig akti-

vierter Hirnregionen stark verbesserte Aufschlüsse über kognitive Prozesse und Strukturen

erhalten kann. Neuropsychologische Befunde können in meiner Sicht sogar durchaus geeig-

net sein, hinreichend gut explizierte kognitionstheoretische Annahmen als falsch zu erwei-

sen.

Die Beschränkung der Methode liegt in der fast stets erforderlichen häufigen Wieder-

holung vieler gleicher, kleiner, gegen Kontexteinflüsse möglichst resistenter geistiger Tätig-

keiten, deren jeweilige Verortung in einem Hirnareal wegen des geringen Signal-Rausch-

Abstands bei der Auswertung kumuliert und mit einer ebenfalls kumulierten Baseline-

Messung in Beziehung gesetzt wird. Dies ist - neben der immer noch zu geringen, wenn

auch inzwischen wachsenden zeitlichen Auflösung - eine entscheidende Beschränkung der

Einsatzmöglichkeit von Bildgebenden Verfahren genau in denjenigen Bereichen, für die sich

möglichst viele Kognitionspsychologen interessieren sollten.

Auch die traditionelle Messung Evozierter Potentiale kommt zu guten, das heißt: ziem-

lich zuverlässigen und dabei zeitlich hochaufgelösten experimentellen Befunden, wenn man

die Zeitstruktur der Aktivation von Hirnarealen beim wiederholten Ablauf kleiner, wenig

kontext-abhängiger geistiger Prozesse kumuliert und wiederum mit kumulierten Baseline-

Messungen ins Verhältnis setzt. Zum Beispiel erhebt man die genauen Zeitpunkte, zu denen

bestimmte Hirnteile aktiv werden, wenn man einer Versuchsperson isolierte Sätze ihrer

Muttersprache mit planmäßig variierten grammatischen oder semantischen Fehlern zum

Lesen vorgibt. Wieder geht es um oft wiederholte, zirkumskripte, kontextfreie Reizdarbie-

tungen, deren psycho-physiologische Effekte man bei der Auswertung des EEG übereinan-

derlegt und auf Baseline-Messungen normiert (Rösler, Friederici, Putz & Hahne, 1993).

Doch - so stellt sich die Frage - wer hört schon im Alltagsleben, beim Fehlen eines defi-

nierten Kommunikationspartners, isolierte, fehlerhafte Sätze, die in keinen situativen Kon-

text, zum Beispiel in keinen Diskurszusammenhang eingebettet sind und mit keiner vom

Hörer nachvollziehbaren alltäglichen Absicht des Kommunikationspartners einhergehen?

Zumindest wird hier mit dem EEG keineswegs der Normalfall menschlichen Sprachverste-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 65

hens untersucht (vgl. auch allgemein Altmann, Garnham & Dennis, 1992; Coles, 1989). So

verhält es sich durchgängig mit den psychophysiologischen und neuropsychologischen Be-

funden zur Erforschung von Kognitionen. Der Psychologe untersucht dasjenige, was die für

ihn erreichbaren Techniken hergeben, und unterdrückt zu oft, daß Verallgemeinerungen auf

das alltägliche kognitive Funktionieren des Menschen halsbrecherisch bis nachweislich

falsch sind.

Ich habe einen vielleicht ganz utopischen Wunsch: Wir sollten, zusammen mit Informati-

kern, Biotechnikern und anderen Mitstreitern, alles tun, um endlich auch dasjenige meßbar

zu machen, was wirklich im Alltagsleben des menschlichen Geistes geschieht. Was ich mei-

ne, verbeispiele ich wie folgt: Ist es wirklich so, daß Sie, um jetzt meine Rede verstehen zu

können, folgendes tun müssen: Sie zerlegen diese Rede zunächst strikt in einzelne Sätze und

speichern jeden Satz einzeln in einem Buffer. Sie analysieren jeden Satz vollständig bezüg-

lich seiner syntaktischen Struktur. Erst dann erkennen Sie die Bedeutung des Satzes unter

Heranziehung Ihres mentalen Lexikons, sozusagen durch Nachschlagen der Bedeutung der

einzelnen Wortformen, deren grammatische Rolle sie zuvor durch die grammatische Analyse

kennengelernt haben. Auf dieser Basis eines solchen konsekutiven Satzverstehens müssen

Sie dann noch die Bedeutung meiner gesamten Rede verstehen und sich ein internes Modell

derjenigen Situation bilden, auf die meine Rede referiert. - Das klingt offensichtlich absurd,

ist aber erstaunlichweise eine dominierende wissenschaftliche Meinung (vgl. z.B. Harley,

1995; S. 139 ff). Nun weiß man bereits recht gut, welches Hirnareal bei der syntaktischen

Analyse gehörter Sätze feuert, und man kennt entsprechend auch andere sprachspezifische

Arealaktivationen. Man sollte nun, so mein noch ziemlich utopischer Wunsch, die soeben

skizzierte Annahme oder ähnliche Annahmen durch zeitlich hochauflösende Analysen von

Hirnarealaktivierungen während des Verstehens umfangreicher, nicht-wiederholbarer, freier

Redebeiträge prüfen können. Zeigen dann die Aktivationsmuster, daß die gehörte Rede

strikt in kurzzeitig gespeicherte Sätze zerlegt werden? Kommt es auch jetzt, Satz für Satz,

zunächst zur Aktivation des Syntaxzentrums und zu vollständigen syntaktischen Analysen,

bevor die anderen Areale feuern können? - Ich bin überzeugt, daß sich die skizzierte Auffas-

sung - wenn man denn könnte - neuropsychologisch schnell widerlegen ließe.

Um Mißverständnisse zu vermeiden: Mein Wunsch nach Neuerung verträgt sich sehr

wohl mit meinem anderen, ebenso ernstgemeinten Wunsch, daß die schon bisher erfolgrei-

chen neuropsychologischen Forschungsarbeiten ständig vermehrt und ausgebaut werden.

Mit der bislang durchgängigen Beschränkung auf die hirntopographischen Äquivalente klei-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 66

ner und kontextfreier, repetitiver geistiger Tätigkeiten kann man bestimmte kognitionstheo-

retische Probleme erfolgversprechend bearbeiten, andere, sehr wichtige aber eben nicht.

5 Denken und Sprechen

Ich würde es begrüßen, wenn sich die Kognitionspsychologie wieder mit dem Denken be-

faßte. Man sollte nicht verkennen, daß die frühere, so attraktive Psychologie des Denkens

längst einer außerordentlich vielfältigen Psychologie des Problemlösens den Platz überlassen

hat. Doch muß ja das menschliche Denken keineswegs nach Gottes Ratschluß unbedingt

unter dem Gesichtpunkt behandelt werden, daß ein kognizierter Istzustand nicht mit einem

antizipierten Sollzustand übereinstimmt und daß man kognitive Wege vom Ist zum Soll er-

innert und kombiniert oder daß man sie ganz neu entwickelt und daß man gegebenenfalls

außerdem noch ermittelt, worin das Soll eigentlich bestehen soll. Denken kann doch zum

Beispiel auch Erwägen, Nachdenken, Sinnieren oder geistiges Sichgehenlassen sein. Und

soweit das Denken dem Lösen eines Problems dient, kann man die Denkvorgänge doch

auch für sich selbst, im einzelnen eben als Denkvorgänge, betrachten. Was zum Beispiel

bedeutet es, wenn einem Menschen Bedenken kommen, wenn man einen Selbsteinwand

erhebt; welche Arten von Selbsteinwänden lassen sich unterscheiden; unter welchen Bedin-

gungen treten sie auf; unter welchen Bedingungen reagiert man auf sie in welcher Weise?

Oder was bedeutet es und wie kommt es dazu, daß man bisweilen zwar weiß, daß man die

Lösung hat, ohne daß man schon die Lösung explizieren kann? (Das war bekanntlich ein

wichtiges Forschungs-thema des Manheimers Otto Selz.) - Solche Untersuchungsgegen-

stände sind nun in meiner Sicht keine arbiträren Kleinigkeiten, sondern Hilfen beim Gewinn

eines durchgreifend verbesserten Verständnisses sehr fundamentaler kognitiver Prozesse

und Strukturen. - Ich kann hier nicht ausführen, warum ich unter den gegenwärtigen Ge-

sichtspunkten auch eine stärkere Einbeziehung der von Friedhart Klix und seiner Schule zu

kognitiven Strukturen und Operationen gewonnenen Erkenntnisse (Klix, 1992, S. 262 ff.) in

die künftige Analyse des Denkens für wichtig halte.

Das Denken und generell die kognitiven Prozesse und Strukturen sind wesentlich

sprachlich verfaßt. Ich sympathisiere mit Dietrich Dörner (1997), wenn er an Platon und

daran erinnert, daß das Denken, zumindest mit heuristischem Nutzen, als das „innere Ge-

spräch der Seele mit sich selbst“ (Platon, 1990, S.356) verstanden werden kann. Das Den-

ken vollzieht sich eben zum guten Teil darin, daß wir uns selbst Fragen stellen und uns diese

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 67

Fragen beantworten, daß wir etwas konstatieren und daß wir es anschließend bezeifeln, daß

wir Formulierungen lauschen, die uns sozusagen ohne unser Zutun in den Kopf kommen,

und diese bewerten, daß wir also im Gespräch mit uns sind. Hieran lassen sich zumindest

zwei Gedanken knüpfen:

Erstens: Es ergeben sich sogleich interessante Forschungsfragen, wenn man nicht igno-

riert, daß unser Denken, qua Sprechen-mit-sich-selbst, weitgehend sprachlich verfaßt ist.

Ich erinnere an die heute leider weitgehend vergessene Wigotski-Tradition (Wigotski,

1964), die das Denken theoretisch aus dem Sprechen entwickelt. Das Denken ist ebenso

von sprachlichen Repräsentationen durchwoben, wie es von „Bildern“ und von motorischen

Repräsentaten durchdrungen ist (vgl. Engelkamp, 1990; Herrmann, Grabowski, Schweizer

& Graf, 1996).

Wenn sich zum Beispiel die Kognitionspsychologie in den letzten Jahren geradezu schu-

bartig mit demjenigen befaßt, was man als „bewußt“ und als „nicht-bewußt“ bezeichnet,

dann sollte man versuchsweise den eigentlich naheliegenden Gedanken einbeziehen, daß

Bewußtseinsgrade viel damit zu tun haben, in welcher Mischung sprachliche, bildhafte und

andere Repräsentationsmodi an einem Denkvorgang beteiligt sind. Hier können wir übrigens

von den alten Psychiatern lernen, die in psychopathologischen Zusammenhängen feinste

einschlägige Unterscheidungen getroffen haben. Und diese Unterscheidungen sollten sich

zum Beispiel auch neuropsychologisch darstellen und systematisieren lassen.

Allerdings müßte sich die Kognitionspsychologie auch an dieser Stelle aus dem Einheitsgrau

des so beliebten amodalen Kodes befreien (Dörner, 1997). Der amodale Code soll, wie der

Name sagt, nicht einzelsprachlich, nicht bildhaft oder in einer anderen Modalität vorliegen;

er hat gewissermaßen nur abstrakt-propositionale Merkmale. In diesem Code soll nach An-

derson (1976) und anderen unser Wissen gespeichert sein. Diese Vorstellung ist ein Über-

bleibsel der Computer-Metapher des Geistes. Gewiß können und sollten wir für bestimmte

theoretische und auch didaktische Zwecke abstraktiv davon absehen, daß unsere kognitiven

Strukturen und Prozesse in sprachlichem, bildhaftem oder anderem Modus vorliegen. Der

amodale Code ist dann eine bestimmte Art, über Kognitionen zu sprechen, er ist als eine

Façon de parler gut zu gebrauchen. Er impliziert eine vereinfachte Betrachtung, die ich

übrigens später in diesem Vortrag noch ebenfalls benutzen werde. Man darf den amodalen

Code aber nicht ontologisieren, zu einem hinzunehmenden Faktum machen. Bei der Analyse

des Denkens kämen wir weiter, wenn wir sprachliche, bildhafte und andere modale Anteile

von Denkprozessen deskriptiv unterscheiden und ihr jeweiliges Auftreten erklären könnten.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 68

Hält man mir vor, hier fehlten doch die geeigneten Erfassungsmethoden, so antworte ich:

Man möge sich gefälligst bemühen, solche Methoden in weitgehend vergessenen Winkeln

der Psychologiegeschichte wiederzufinden oder verbesserte Verfahren neu zu entwickeln,

um nicht einen fundamentalen Gesichtspunkt des geistigen Lebens unbeackert zu lassen.

Zweitens: Wenn der Mensch beim Denken sozusagen mit sich selbst spricht, dann möge

dies der Kognitionspsychologe sogar noch etwas wörtlicher nehmen: Man sollte versuchs-

weise annehmen, daß das Gespräch-mit-sich-selbst partiell und in Annäherung in der vom

Menschen jeweils beherrschen, konkreten Einzelsprache geschieht, nicht aber (oder nicht

nur) in Form einer zum Beispiel universellen „Tiefensprache“ oder eines amodalen Proposi-

tions-Codes. Freilich impliziert diese Vorstellung geradezu einen Rückgriff auf den Lingui-

stischen Relativismus Whorfscher Art, der bei Verzicht auf die früheren Übersteigerungen in

der Tat gehöriger Wiederbeachtung würdig ist (vgl. Schlesinger, 1986). Ich bin fest davon

überzeugt, daß interindividuelle Unterschiede des Denkens partiell auf die jeweils erlernte

Sprache zurückführbar sind. Und solche Befunde sollten nicht deshalb ignoriert werden,

weil es sich dabei angeblich nur um Interkulturvergleich oder nur um Differentielle Psycho-

logie handelt. Dem ist entgegenzuhalten: Daß die erlernte Sprache das Denken beeinflußt,

gilt für alle Menschen. Begriffsnetze, auf denen kognitive Operationen arbeiten, sind in Ab-

hängigkeit von der Struktur der jeweils erlernten Sprache verschieden - dafür gibt es bereits

Befunde, und man kann und sollte das genauer untersuchen. Und bestimmte kognitive Ope-

rationen können - eben in der Wigotski-Tradition - versuchsweise als abgekürzte, „interiori-

sierte“ einzelsprachliche Operationen verstanden werden.

Es gibt da nur einen Haken: Um diesen theoretischen Gesichtspunkt angemessen in For-

schungsarbeit umsetzen zu können, braucht man einige sprachpsychologische Kenntnisse.

Nun ist aber die deutsche Sprachpsychologie, die immerhin einen Karl Bühler und einen

Hans Hörmann hervorgebracht hat, heute schwächer als jemals seit ihren Anfängen in

deutschsprachigen Universitäten verankert. Welcher deutschsprachige Lehrstuhl ist noch

mit einem Sprachpsychologen besetzt? Bei der durchaus leicht überschaubaren Schar von

Psychologen, die überhaupt noch psycholinguistisch interessiert sind, mangelt es nach mei-

nem Dafürhalten weit überwiegend am Interesse und partiell auch an der Kompetenz, bei

einer Neubegründung einer Denkpsychologie mitzuwirken. Da das so ist, wird man eine

Neubelebung einer Denkpsychologie, die diesen Namen verdient und die das Denken als

wesentlich sprachlich und auch einzelsprachlich verfaßt versteht, bei uns in Deutschland nur

erwarten können, wenn man geradezu fahrlässig optimistisch ist. Ich wünsche mir aber die

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 69

Hineinnahme des soeben skizzierten Gesichtspunkts in die künftige Entwicklung der Kogni-

tionspsychologie ebenso, wie ich mir die baldige Reanimierung einer Sprachpsychologie in

Deutschland wünsche, die sich, in kontinentaler Tradition, auch für Probleme des Verhält-

nisses von Denken und Sprechen interessiert.

Wenn wir das Menschenbild betrachten, wie es durch das Curriculum unserer deutschen

Diplomprüfungsordnungen und durch die reale Praxis unserer Psychologieausbildung ver-

mittelt wird, so kann dieser durch das Curriculum konstituierte Mensch, dieser curriculäre

Mensch, durchaus allerlei: Er kann besonders gut visuell und auch nicht schlecht auditiv

wahrnehmen; weitaus weniger gut kann er riechen und schmecken; er hat Gefühle oder

doch Emotionen; er ist aktiviert und motiviert; er hat überdauernde Motive und andere Per-

sönlichkeitsdispositionen; er lernt, vor allem erwirbt er Wissen; er hat ein sehr kompli-

ziertes Gedächtnis; er will und entscheidet sich und handelt; er löst Probleme, und soweit er

Probleme löst, denkt er wohl auch. Aber er kann angesichts der Curricula der meisten deut-

schen Hochschulen weder sprechen, noch kann er Sprache verstehen. Die Psychologie in

Deutschland verkauft ihren Studierenden, wie ich seit langem ungehört predige, ihren curri-

culären Menschen weithin als einen Aphatiker. Und dies bleibt nicht ohne Folgen auch für

die Kognitionspsychologie. Ich wünsche mir hier immer noch ohne rechte Zuversicht eine

durchgreifende Änderung.

6 Intentionale Zustände als Forschungsgegenstand derKognitionspsychologie

Ich sah mich bei der Vorbereitung dieses Vortrags der Versuchung gegenüber, als einen

weiteren von mir gewünschten theoretischen Gesichtspunkt nochmals die von mir schon oft

beschworene Blickpunktbezogenheit von Kognitionen zu erörtern. Unsere Untersuchungen

zu diesem Thema kann man nachlesen (z.B. Herrmann, 1996). Ich möchte aber nicht der

Versuchung nachgeben, im gegenwärtigen - generellen - Zusammenhang eigene For-

schungsarbeiten zu erläutern oder gar zu propagieren. Deshalb zu etwas anderem.

Inzwischen ist die Feststellung, der Mensch sei kein Computer, ein Truismus geworden.

Und doch pflegen wir Kognitionspsychologen beim Sprechen über kognitive Prozesse und

Strukturen einen wesentlichen Gesichtspunkt auszusparen, dessen künftige Beachtung ich

mir jedoch wünsche. Eine heute nach meiner Einschätzung überwiegend vertretene kogniti-

onspsychologische Grundannahme kann kurz wie folgt gekennzeichnet werden: Es gibt in

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 70

irgendwelchen internen Datenträgern Gefüge von Prädikat-Argument-Strukturen (Proposi-

tionsstrukturen); in diesen Propositionsstrukturen (stelle man sie sich als semantische Netze,

als Propositionslisten oder wie immer vor) ist die Welt repräsentiert; Prädikate mit ihren

Argumenten sind die Atome des geistigen Lebens; auf ihnen laufen geistige Operationen ab.

- Ist diese kognitionspsychologische Grundauffassung akzeptabel? Ich bin überzeugt, daß

diese Auffassung zumindest nicht ausreicht, falls sie nicht falsch ist. Sie ist, in meiner Sicht,

nicht nur deshalb unzureichend, weil mit ihr die zuvor erörterten Repräsentationsmodalitä-

ten ignoriert werden. Wie vermerkt, kann man durchaus im geeigneten Problemkontext

zeitweilig von der Thematisierung der Modalitäten absehen, und so möchte ich im folgenden

aus Einfachheitsgründen in der Redeweise des amodalen Codes formulieren.

Die Gegenvorstellung zur soeben skizzierten Grundauffassung besteht in folgendem:

Unser Geist bzw. unser kognitives System befindet sich zu jedem Zeitpunkt in einem be-

stimmten mentalen Zustand („mental state“). Wir repräsentieren nicht irgendetwas schlecht-

hin, sondern wir repräsentieren es aus einer mitgegebenen mentalen Einstellung heraus. In

der Terminologie der Analytischen Philosophie formuliert: Wir haben „propositionale Atti-

tüden“ bzw. „propositionale Einstellungen“; wir kognizieren in einem „intentionalen Code“.

Was soll darunter verstanden werden? Üblicherweise liegt für ein kognitives System nicht

irgendwie und irgendwo zum Beispiel lediglich die Information vor, daß Anna Otto liebt.

Vielmehr glauben oder wissen oder behaupten oder wünschen oder wollen oder hoffen oder

fürchten wir, daß Anna Otto liebt. Die Grundeinheit, das Radikal, unseres Denkens und

Wissens ist nicht die einfache wie auch immer intern repräsentierte Proposition von der Art

[Prädikat: LIEBEN (Agent: ANNA, Patient: OTTO)], sondern eine komplexere Einheit: ein

mentaler Zustand, der sich auf einen repräsentierten Sachverhalt bezieht, der also ein inten-

tionaler mentaler Zustand ist. Ein intentionaler Zustand ist zum Beispiel der Zustand des

Wissens oder der Zustand des Wünschens: Zustände des Wissens oder des Wünschens be-

ziehen sich immer auf etwas, was gewußt oder gewünscht wird. Propositionale Einstellun-

gen bestehen erstens aus einem mentalen Prädikat (wissen, wünschen usf.); sie bestehen

zweitens aus einer ersten Argumentstelle X dieses Prädikats, die im elementaren Fall auf das

kognizierende System selbst referiert (ich), und drittens aus einer zweiten Argumentstelle p,

die durch eine weitere, eingebettete Proposition (zum Beispiel, daß es regnet) besetzt ist.

Das Schema einer propositionalen Einstellung sieht also wie folgt aus:

X glaubt, wünscht (usf.), daß p.

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 71

Eine propositionale Einstellung ist im Unterschied zur einfachen Proposition dadurch

gekennzeichnet, daß sie gespaltene Wahrheitswerte besitzt. Die Aussage: „Ich hoffe, daß

Anna Otto liebt.“ kann in viererlei Weise wahr oder falsch sein: Erstens: Es stimmt, daß ich

hoffe, daß Anna Otto liebt. - Zweitens: Zwar liebt Anna Otto, doch hoffe ich das nicht; ich

befürchte es vielmehr. - Drittens: Ich hoffe tatsächlich etwas, aber nicht daß Anna Otto

liebt, sondern daß Anna Mario liebt. - Viertens: Alles ist falsch: Ich hoffe nicht, daß Anna

Otto liebt, sondern ich fürchte, daß Anna Mario liebt. - Schon diese Aufspaltbarkeit der

Wahrheitswerte auf die Matrixproposition sowie die Nebenproposition erweist, daß ele-

mentare propositionale Attitüden etwas anderes sind als die üblichen einfachen Prädikat-

Argument-Strukturen. Nicht alle mentalen Zustände sind indes intentional. Wenn jemand

heiter ist, dann ist er nicht „heiter, daß p“. Ich spreche hier nur über intentionale mentale

Zustände.

Ich wünsche mir, die Kognitionspsychologie möge sich folgende Frage stellen: Wie wäre

es, wenn wir versuchsweise die propositionalen Attitüden als nicht zerlegbare Elemen-

tarkognitionen akzeptieren bzw. wenn wir die mentalen Zustände, in denen sich Systeme

befinden, bei der theoretischen Rekonstruktion kognitiver Strukturen von vornherein mitbe-

rücksichtigen. Dann müßte allerdings einige Fachliteratur umgeschrieben werden, zum Bei-

spiel wären aus propositionalen Einstellungen aufgebaute „mentale Modelle“ etwas anderes

als die heute üblichen Johnson-Lairdschen „mentalen Modelle“.

Mentale Zustände kommen in der Kognitionspsychologie kaum vor. Daß jemand etwas

wünscht oder glaubt, ist für uns Kognitionspsychologen Motivationspsychologie, ist also für

uns sozusagen kein Thema. Eine solche thematische und methodologische Schnittlegung

halte ich aber für dysfunktional. Vielleicht nicht der Computer, aber wir höheren Lebewesen

können gar keine Wissensstrukturen - wie auch immer - „haben“, ohne eine kognitive Ein-

stellung zu ihnen zu besitzen. Es gibt - das ist eine starke These - keine den Menschen cha-

rakterisierenden „state-freien“ Propositionen. Und bei diesen Einstellungen, also beim Un-

terstellen, Fürwahrhalten, Glauben, Meinen oder Wissen oder beim Wünschen, Wollen,

Sollen, Können, Müssen oder Dürfen geht es nicht um irgendwelche zusätzlichen Gefühle

oder Emotionen oder um Motiviertheiten, die wir anderen Subdisziplinen der Psychologie

zuschieben dürften. Ob wir etwas glauben oder wünschen, ob wir es wissen oder annehmen,

bestimmt nämlich die Repräsentation des Geglaubten oder Gewünschten, des Gewußten

oder Angenommenen mit. Theoretische Rekonstruktionen kognitiver Strukturen sollten also

die Fusion von intentionalem mentalem Zustand und intentionalem Objekt, auf das sich der

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 72

Zustand bezieht, hinreichend berücksichtigen. Das hat nur wenig mit der Hineinnahme emo-

tionaler Sachverhalte in die Kognitionspsychologie zu tun, alles aber mit einer angemesse-

nen, vom Denkmodell des Computers abgehobenen Beschreibung kognitiver Strukturen. Es

sei noch daran erinnert, daß man modale Ausdrücke („dürfen“, „nicht müssen“ usf.) modal-

logisch behandeln kann. Die auf diese Weise bestimmbaren „constraints“ könnten beim Auf-

bau von psychologischen Theorien intentionaler Zustände bzw. Einstellungen genutzt wer-

den.

Von dieser Problemlage führt ein nur kurzer Weg zum offensichtlichen Sachverhalt, daß

die übliche mentale Repräsentation von Dingen in der Welt eine Selbstrepräsentation des

kognizierenden Systems impliziert. Die erste Argumentstelle X der Matrixproposition ist ja

in der Regel eben mit dem kognizierenden System belegt. Auf die komplizierte Situation,

daß das insofern meist egozentrisch repräsentierende System auch diffizile allozentrische

propositionale Einstellungen erzeugen kann, gehe ich hier nicht ein. Die Selbstrepräsentati-

on des kognizierenden Systems als Agent oder Rezipient des eigenen Wissens, Wünschens

usf., welches sich auf das im System vorliegende Repräsentat p bezieht, ist der Kognition-

spsychologie bis heute leider Hekuba. Als Agent repräsentiert zu sein, ist zum Beipiel etwas

ganz anderes, als als Träger einer Eigenschaft oder als die Ursache oder der Grund von et-

was repräsentiert zu sein. (Auf solchen Unterscheidungen ist übrigens die Struktur der in-

doeuropäischen Sprachen aufgebaut.) Solche Unterscheidungen sind zudem legitime The-

men der wiederzuerweckenden Denkpsychologie, von der ich zuvor gesprochen habe.

Ich habe - zusammengefaßt - den folgenden Wunsch: Die Kognitionspsychologie möge

das obligatorische Vorliegen intentionaler mentaler Zustände und die unauflösbare Fusion

dieser Zustände mit demjenigen, worauf sie sich beziehen, zum Ausgangspunkt neuartiger

theoretischer Systematisierung kognitiver Strukturen machen.

7 Schluß

Ich habe versucht, in aller gebotenen Kürze drei sehr willkürlich ausgewählte Gesichts-

punkte vorzustellen, deren gesteigerte Beachtung bei der künftigen kognitionspsychologi-

schen Arbeit ich mir wünsche.

Diese drei Wünschbarkeiten sind sehr heterogen. Manche und mancher von Ihnen wird

aber bei ihrer oder seiner, wenn ich so sagen darf, Informationsintegration sehr wohl etliche

argumentative Invarianten gefunden haben. Die Auswahl meiner Wünsche und ihre Dar-

Mannheimer Beiträge – Sonderheft 1998 73

stellung sagen nichts über die tatsächliche Zukunft der Kognitionspsychologie aus; das blo-

ße Äußern solcher Wünsche beeinflußt den Lauf der Dinge erfahrungsgemäß kaum. Ich bin

auch nicht geneigt, in meinem gegenwärtigen Vortrag jenen Flügelschlag eines mexikani-

schen Schmetterlings zu erkennen, der auf verschlungenen chaostheoretischen Wegen für

spätere Schneestürme in Alaska verantwortlich ist. Doch sagen meine Wünsche durchaus

etwas über meine wissenschaftliche Denkweise aus.

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