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Kants „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ (1755) von Sebastian Lalla, Berlin Ausgangspunkt dieses Artikels ist die Beobachtung, daß im Verlauf des achtzehn- ten Jahrhunderts ein Großteil derjenigen Voraussetzungen entfielen, auf die sich die klassische Geschichtsphilosophie gestützt hatte. 1 Als ein wesentlicher Faktor dieser Entwicklung muß die Aufgabe einer „geschichtslosen“ Natur angesehen werden: aus dem Bereich einer unveränderlichen Zeitlosigkeit gerät historische Prozessualität in die Sphäre einer kontingenten Geschichtlichkeit, in deren Horizont unter anderem die Entstehung des Himmels thematisiert wurde. Die Überlegungen zur Kantischen Kosmologie und Kosmogonie 2 werden im fol- genden unter drei Aspekten gegliedert. Aus einer kurzen Skizze der vorkantischen Astronomie sollen die Grundlagen entwickelt werden, auf denen Kant seine Natur- geschichte formulieren kann. Zweitens werde ich versuchen zu erläutern, inwiefern die Schrift von 1755 tatsächlich eine geschichtliche Verfaßtheit der Natur annimmt und damit einen weiteren Schritt in der Destabilisierung der klassischen Geschichts- philosophie, die von einer durch biblische Angaben motivierten Historie ausging, unternimmt. Und drittens möchte ich zeigen, wie Kant ausgehend von der mecha- nisch strukturierten Kosmogonie zu einer notwendigen Verknüpfung derselben mit einer theologischen Kosmologie gelangt; hier wird sich die systematische Nähe zu Leibniz zeigen. 3 Deren Implikationen wurden dann im späteren Verlauf vor allem auch mit dem Namen Pierre Simon de Laplaces in Verbindung gebracht. 1 Die Anregung zu dieser Untersuchung geht auf W. Schmidt-Biggemann zurück. 2 Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die 1755 erschienene Schrift Allgemeine Natur- geschichte und Theorie des Himmels. Eine umfassende Darstellung der Kosmologie Kants findet sich bei: B. Falkenburg: Kants Kosmologie. Frankfurt/M. 2000. Insbesondere zur Ver- tiefung der unten ausgeführten Verbindung Kants mit Leibniz’ Monadologie bietet B. Fal- kenburgs Werk wertvolle Hinweise. 3 Die Verbindung von Kants Kosmologie mit der Philosophie Leibniz’ wird bei H. J. Wasch- kies: Physik und Physikotheologie des jungen Kant, Amsterdam 1987, historisch umfassend nachgezeichnet. Diese Darstellung gibt einen Hintergrund ab, auf dem vorliegende Arbeit gelesen werden kann. Allerdings werde ich versuchen, die systematische Verpflichtung Kants an zentrale Gedanken Leibniz’ stärker zu betonen als deren historische Bedingtheit. Insofern biete ich eine Ergänzung zu Waschkies’ Analyse. Kant-Studien 94. Jahrg., S. 426–453 © Walter de Gruyter 2003 ISSN 0022-8877

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  • 426 Sebastian Lalla

    Kants Allgemeine Naturgeschichteund Theorie des Himmels (1755)

    von Sebastian Lalla, Berlin

    Ausgangspunkt dieses Artikels ist die Beobachtung, da im Verlauf des achtzehn-ten Jahrhunderts ein Groteil derjenigen Voraussetzungen entfielen, auf die sich dieklassische Geschichtsphilosophie gesttzt hatte.1 Als ein wesentlicher Faktor dieserEntwicklung mu die Aufgabe einer geschichtslosen Natur angesehen werden: ausdem Bereich einer unvernderlichen Zeitlosigkeit gert historische Prozessualitt indie Sphre einer kontingenten Geschichtlichkeit, in deren Horizont unter anderemdie Entstehung des Himmels thematisiert wurde.

    Die berlegungen zur Kantischen Kosmologie und Kosmogonie2 werden im fol-genden unter drei Aspekten gegliedert. Aus einer kurzen Skizze der vorkantischenAstronomie sollen die Grundlagen entwickelt werden, auf denen Kant seine Natur-geschichte formulieren kann. Zweitens werde ich versuchen zu erlutern, inwieferndie Schrift von 1755 tatschlich eine geschichtliche Verfatheit der Natur annimmtund damit einen weiteren Schritt in der Destabilisierung der klassischen Geschichts-philosophie, die von einer durch biblische Angaben motivierten Historie ausging,unternimmt. Und drittens mchte ich zeigen, wie Kant ausgehend von der mecha-nisch strukturierten Kosmogonie zu einer notwendigen Verknpfung derselben miteiner theologischen Kosmologie gelangt; hier wird sich die systematische Nhe zuLeibniz zeigen.3 Deren Implikationen wurden dann im spteren Verlauf vor allemauch mit dem Namen Pierre Simon de Laplaces in Verbindung gebracht.

    1 Die Anregung zu dieser Untersuchung geht auf W. Schmidt-Biggemann zurck.2 Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die 1755 erschienene Schrift Allgemeine Natur-

    geschichte und Theorie des Himmels. Eine umfassende Darstellung der Kosmologie Kantsfindet sich bei: B. Falkenburg: Kants Kosmologie. Frankfurt/M. 2000. Insbesondere zur Ver-tiefung der unten ausgefhrten Verbindung Kants mit Leibniz Monadologie bietet B. Fal-kenburgs Werk wertvolle Hinweise.

    3 Die Verbindung von Kants Kosmologie mit der Philosophie Leibniz wird bei H. J. Wasch-kies: Physik und Physikotheologie des jungen Kant, Amsterdam 1987, historisch umfassendnachgezeichnet. Diese Darstellung gibt einen Hintergrund ab, auf dem vorliegende Arbeitgelesen werden kann. Allerdings werde ich versuchen, die systematische VerpflichtungKants an zentrale Gedanken Leibniz strker zu betonen als deren historische Bedingtheit.Insofern biete ich eine Ergnzung zu Waschkies Analyse.

    Kant-Studien 94. Jahrg., S. 426453 Walter de Gruyter 2003ISSN 0022-8877

  • Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) 427

    I. Kosmologische Theorien vor Kant

    Ohne auf die Feinheiten der Geschichte der Astronomie eingehen zu knnen, willich wenigstens einige fr unseren Zusammenhang entscheidende Ereignisse benen-nen, die zum Verstndnis der Ausfhrungen Kants und um die Tragweite seinerErrterungen abzuschtzen nicht unerheblich sind. Dabei betrachte ich vor allemdrei Reduktionen des Ptolemischen Weltbildes, die in einer schrittweisen Dekon-struktion zunchst die Phnomene anders deuteten, und schlielich auch die diesenzugrundeliegenden Prmissen aufgaben.

    Der erste zentrale Aspekt ist der von Nikolaus Kopernikus (14731543) voll-zogene Bruch mit zwei Basisannahmen der klassischen antiken Kosmologie; in derSchrift De revolutionibus orbium coelestium (1543) wechselt Kopernikus von demtraditionellen geozentrischen zu einem heliozentrischen Arrangement, als dessenCharakteristikum neben der Erdbewegung auch die Bewegung der anderen Auen-planeten mit der Erde um die Sonne zu sehen ist. Da dabei die Sonne nur optisch imZentrum steht, mathematisch aber der Mittelpunkt der Kreisbahn der Erde das tat-schliche Zentrum bildet, ndert nichts an der revolutionierenden Wirkung dieserKonzeption. Kopernikus legt damit den Grundstein fr alle nach ihm folgenden Ent-wrfe, die trotz der zahllosen Ergnzungen, Verbesserungen und Kritikpunkte andem einmal gewonnenen Bild der dezentralisierten Erde festhalten. Die zweite An-nahme, die Kopernikus aufgibt und damit zunchst einen Rckschritt einleitet ist die des sogenannten punctum aequans. Wenngleich er damit der Forderung nacheiner strengen Befolgung des platonischen Ideals einer Kreisbewegung aller Him-melskrper nachkommt, so wird er ungeachtet der Vereinfachung, die sein neuesRotationsmodell gegenber der Version Ptolemaios aufweist und dank derer etlicheEpizykel sich als unntige Komplexitt zeigten doch den wachsenden Daten einertechnisch genauer werdenden Astronomie nicht mehr gerecht.

    Aus diesem Grund scheint es nur plausibel, da in der zweiten Stufe bei JohannesKepler (15711630) die Kreisbewegung der Planeten fallengelassen und gegen eineelliptische ausgetauscht wird. Ein nicht zu unterschtzender Vorfall hatte sich ereig-net, als der dnische Astronom Tycho Brahe die Neuentstehung eines Sternes (alsSupernova von 1572) beobachtete und so das bis dahin unangefochtene aristote-lische Diktum der Unvernderlichkeit des Himmels widerlegte.4 Gesttzt wurdediese Vermutung von dem Verlauf der Kometenbahn im Jahre 1577, die alle angeb-

    4 Der fragliche Bericht findet sich bei T. Brahe: Astronomiae Instauratae Progymnasmata. NDBruxelles, 1969. Da Brahe nicht der erste war, der die Axiome der aristotelischen Natur-philosophie fr den Kosmos bezweifelte, ist unbestritten. Bereits bei Wilhelm von Ockhamgibt es berlegungen zur Annahme einer einzigen Materieart; die Theorien des Nikolausvon Oresme nehmen ebenfalls einen guten Teil dessen vorweg, was bei Kepler relevant wird.Hier ist darauf nicht einzugehen, weil es nicht um eine maximale Frhdatierung geht, son-dern in erster Linie um die Wirkmchtigkeit dieser Gedanken, die sich zweifelsohne erstvom siebzehnten Jahrhundert ab entfalten konnte. Damit ist weder die Originalitt der mit-telalterlichen Denker geleugnet, noch die Eigenstndigkeit der spteren Astronomen.

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    lichen Sphren durchschnitten und damit die Unverletzlichkeit derselben bei Bei-behaltung ihrer Existenzannahme notwendig negiert htte. Kepler kann demnachbei seinen Berechnungen der Marsbahn und den daraus folgenden Schlssen fr dieanderen Planeten vor allem in den beiden Werken Mysterium cosmographicum(1596, das noch einer Fundierung des Physikalischen in einer platonischen Mathe-matik des Idealen verpflichtet war) und in der Astronomia nova von 1609 voneiner prinzipiellen Variabilitt im Kosmos ausgehen. Die Unzulnglichkeit der Ko-pernikanischen Kreisbestimmungen fhren ihn nun zu der Theorie eines sich aufzwei Kreisen ohne gemeinsamen Mittelpunkt bewegenden Krpers mit antipropor-tionaler Relation von Radius und Geschwindigkeit sogenanntes 1. KeplerschesGesetz zu der Behauptung, alle Planeten seien um die Sonne in ellipsenfrmigenBahnen umlaufend (2. Keplersches Gesetz). Fr die naturphilosophische Spekula-tion in der Folgezeit vielleicht noch bedeutender ist Keplers Ablehnung des anima-Begriffes, den er durch den der vis ersetzt. Die bislang geltende Auffassung der In-telligentien als Beweger der Himmelssphren wird dadurch von einer Konzeptioneinheitlicher Einflunahme abgelst, so da die individuelle Spezifikation repr-sentiert durch die je eigene Beseelung eines jeden Himmelskrpers nun in einermathematisch fixierbaren fortgefhrt werden kann:

    Wir mssen also eine der beiden Tatsachen feststellen: entweder sind die bewegenden Seelen(der Planeten) desto schwcher, je weiter sie von der Sonne entfernt sind, oder es gibt nur einebewegende Seele im Zentrum aller Bahnen, d.h. in der Sonne, die einen Krper desto heftigerantreibt, je nher er ihr ist, die aber bei den weiter entfernten wegen des Abstands und der (da-mit zusammenhngenden) Abschwchung des Vermgens kraftlos wird.5

    In der Ausgabe von 1631 hatte Kepler dann eine Anmerkung beigefgt, da nurder Begriff der Seele durch den der Kraft ausgetauscht werden msse, um dieGrundlagen der Physik seiner Theorie der Himmelsbewegungen zu erhalten,6 die in der alten Diktion der Metaphysik gesprochen vor allem eine Wechsel von einercausa finalis zu einer causa efficiens markierten.

    Als letzten Schritt will ich kurz die Errungenschaften Newtons skizzieren, auf dieKant dann explizit zurckgeht. Das im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts przi-sierte Verstndnis der Trgheit fand im ersten Axiom Newtons seine vorerst ver-bindliche Formulierung. Ihr zufolge wird ein Krper nur durch uere Einflu-nahme entgegengesetzter Krfte dazu veranlat, seinen Zustand der Ruhe oder dergeradlinigen, gleichfrmigen Bewegung zu verndern. Gleichwohl bedarf es nocheines inneren Antriebs, eines Motors, um die Bewegung berhaupt zu erhalten;Newton sah diesen mit der Trgheitskraft (vis inertiae) verbunden. Wir werden sp-ter sehen, da diese Voraussetzung Implikationen fr die Motivation der TheorieKants hatte. Im zweiten Axiom, dem der Bewegungsvernderung, definiert Newtondie Zu- oder Abnahme der Bewegung als proportionale Relation zu der bewegenden

    5 Kepler: Das Weltgeheimnis (Mysterium cosmographicum). Mnchen/Berlin 1936, 126;zitiert nach E. Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes. Berlin u.a. 1956, 345.

    6 Nach E. Dijksterhuis, 345.

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    Kraft entlang der Geraden, in der diese vis motrix wirkt. Fr die Applikation auf dieregelmigen Umlufe der Planeten mittels des zweiten Keplerschen Gesetzes hatdiese Annahme insofern Relevanz, als aus ihr erstmals die genauen Krfteverhlt-nisse im Zusammenhang mit den inzwischen bestimmbaren Entfernungen der Him-melskrper untereinander mglich wird. Dazu tritt das dritte Axiom, das jeder aufeinen Krper einwirkenden Kraft eine ihr in entgegengesetzter Richtung gleich groeKraft als Reaktion gegenberstellt. Somit sind die Anziehungsrelationen im Raumwechselseitig und die einzelnen Krper je miteinander in ein ganzes System verbun-den. Es gelingt Newton, mit Hilfe dieser Axiome die prinzipielle Gleichfrmigkeitder Gravitationskraft im gesamten Raum und der Schwerkraft auf der Erde nach-zuweisen, so da zuletzt als sicher bewiesen gelten kann, da die aristotelische An-sicht einer qualitativen Differenz in der sublunaren und der supralunaren Welt hin-fllig geworden ist. Doch auch wenn die Verallgemeinerung der im All wirkendenKraft ungeheure Vorteile in der Erklrung der meisten Phnomene mit sich brachte,entstanden auf der anderen Seite neue Schwierigkeiten, namentlich in der Kosmo-gonie. Die Errterung wird nachher bei Kant darauf zurckkommen, zuvor mssenwir aber noch auf unmittelbar vor der Publikation der Allgemeinen Naturgeschichteund Theorie des Himmels vertretene Theorien hinweisen.

    Ein Problem mit der Gravitationskraft hatte auch G. L. de Buffon (17071788),der in seiner Histoire naturelle7 einen kosmogonischen Entwurf prsentierte, derauch insofern als eine Kant vorauslaufende Theorie Beachtung verdient, weil dieVerbreitung dieses Werkes ungleich hher war als die wenige Jahre spter erschie-nene Allgemeine Naturgeschichte8. Buffon akzeptiert die Schwerkraft als einedurchgngig das Universum beherrschende: Alles ist ihren Gesetzen unterworfenund sie dient der Harmonie der Welt als Grundlage,9 gert aber dann in die glei-chen Schwierigkeiten, die schon Newton zu gewrtigen hatte. Denn eine konse-quente Umsetzung der Gravitation alleine htte den unausweichlichen Show-downeines in sich zusammenfallenden Alls zur Folge:

    [] man sieht augenfllig, da die Wandelsterne durch die Anziehungskraft stets nach derSonne hin gezogen, in senkrechter Linie auf dieses Gestirn fallen wrden, entfernte sie nichteine andere Kraft von ihr, die nur eine Abstoung in gerade Linie sein kann [].10

    Eine hnliche Argumentation wird uns bei Kant wieder begegnen. Natrlich stehtauch fr Buffon fest, da als Ursache dieser Kraftverteilung im eigentlichen Sinnenur Gott als ihr Urheber in Betracht kommt. Dennoch fordert er eine methodolo-

    7 Nach der deutschen bersetzung: Bffons Smmtliche Werke, sammt Ergnzungen. Hrsg.von G. Cuvier. Kln 1837.

    8 Bekanntlich mute der Verleger Kants Konkurs anmelden, ehe das Buch die wichtigen Mes-sen erreicht hatte, so da der Bekanntheitsgrad der Allgemeinen Naturgeschichte und Theo-rie des Himmels denkbar gering war.

    9 Buffon, I, 157 (s. Anm. 7).10 Ibid.

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    gisch relativ ungebundene Herangehensweise an die sich ergebenden naturphiloso-phischen Deutungsforderungen:

    Diese Abstoungskraft ist sicher den Sternen im Allgemeinen von Gottes Hand mitgetheiltworden, als er das Weltall in Bewegung setzte; da man aber in der Naturlehre, so viel mankann, zu den Ursachen, die auer der Natur liegen, seine Zuflucht zu nehmen, sich enthaltenmu, so scheint es mir, da man im Sonnensystem auf eine ziemlich wahrscheinliche Weise vondieser Abstoungskraft Rechenschaft geben mu und eine Ursache dafr finden kann, derenWirkung mit den Regeln der Bewegungslehre bereinstimmt [].11

    Doch wir drfen uns von der vermeintlichen Aufgeklrtheit, die den deistischenGott nur noch im Wappen einer ansonsten theologiefreien Naturwissenschaft fhrt,nicht zu frh tuschen lassen. Mag Buffon auch im Detail einer Methode nach-gehen, die naturwissenschaftliche Phnomene immanent zu systematisieren sucht,so bleibt doch der Kontext, in dem diese Erklrung geschieht, eindeutig in ihrenGewichtungen. Exemplarisch wird dies an der Diskussion zeitgenssischer Thesendeutlich, die Buffon gegen seine eigene stellt, und bei der das 1708 erschienene BuchA new theory of the earth von Will Whiston folgende Abweisung erfhrt:

    Wir werden [] keine Widerlegung derselben unternehmen [der vorgebrachten Thesen; S. L.]:die eben gemachte Auseinandersetzung reicht hin, um den Widerspruch seiner Meinung mitdem Glauben und folglich die Unzulnglichkeit seiner Beweise darzuthun.12

    Es ist nicht ntig, in die Einzelheiten der kritisierten Position zu gehen, um Buf-fons generellen Duktus der Argumentation zu erkennen: Leitlinie ist offiziell immernoch der theologisch vorgegebene Horizont; da praktisch auch Buffons eigeneTheorie, namentlich die angestellten Berechnungen der Erdzeitalter, sich bestenfallsnoch mit einer zahlenmystischen Allegorese als den biblischen Angaben im Schp-fungsbericht konform deuten lassen, ndert nichts am Anspruch und Selbstver-stndnis, eine Konzeption einfordern zu mssen, die sich der Theologie nicht entge-genstellt. Mithin ist keine bewute Konfrontation beabsichtigt was faktisch ausunserer Sicht als Kampfansage an den literalen Bibelsinn wirkt, hat Buffon offenbarals nicht anstig empfunden. Zum wenigsten hat er keinen Selbstwiderspruch inseinem eigenen Vorgehen und der Kritik an Whiston entdeckt.

    Die Theorie, weshalb es zu genau diesen Planetenbewegungen kommt, ja, woherberhaupt diese selbst stammen, besagt kurz gefat, da vor einiger Zeit Buffongibt zunchst einen fr die Frage nach der theologischen Anbindung noch einmal in-teressanten Hinweis: Hier mu man mit ihm [Leibniz] glauben, da sich die Sachein der Zeit begab, als nach Moisis Erzhlung Gott das Licht von den Finsternissenschied []13 ein Komet die Sonne schrg gestreift und dabei einige Brocken Ge-stein aus ihr herausgeschlagen hat, die seitdem durch den passenden Drehimpulsihre Kreise um die Sonne ziehen. Die Planeten sind demzufolge nichts anderes alsehemals zur Sonne gehrende, nun eigenstndig umlaufende Teile. Damit ist die ma-

    11 Ibid. I, 158.12 Ibid. I, 181.13 Buffon; I, 159.

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    terielle quivalenz zwischen allen Gestirnen eine Konsequenz, die Buffon zu erkl-ren hat, denn die These, da alle Planeten gleichen Ursprungs mit der Sonne seien,scheint zunchst im Widerspruch mit der Beobachtung ihrer je unterschiedlichenDichte zu stehen. Buffon weist in bezug auf dieses Datum die Hypothese Newtonszurck, da die einwirkende Hitze die Dichtedifferenzen hervorrufe (insofern Gottdie Bestndigkeit der Planeten je nach ihrer Lage spezifisch vorhergeplant und dieSterne dementsprechend ausgestattet habe) und bringt statt dessen die Dichte mitder Umlaufgeschwindigkeit in Verbindung. Das weitaus grere Problem dieserKonstruktion abseits aller physikalischen Schwierigkeiten liegt aber darin, daBuffon lediglich eine Verlagerung der Frage erreicht. Denn war vorher rtselhaft,woher die Planeten stammen, so sind nun die Kometen in das Zentrum des Interes-ses gerckt. Meines Wissens bleibt die Histoire naturelle auf die Frage, woher dieserKomet stammte, eine Antwort schuldig. Fr unsere Belange der Datierung des Uni-versums ist Buffon hingegen weitaus ergiebiger.

    Die Entwicklung der Erde hin zu dem heutigen Zustand, in dem sie fr die Men-schen bewohnbar ist, mu in mehreren Stufen gedacht werden. Unmittelbar nach demKometentreffer flogen die herausgesprengten Teile der Sonne genauso brennenddurch das All wie das Zentralgestirn. Erst ber eine relativ lange Zeitdauer khltensich die Materiemassen so weit ab, da andere Elementarkombinationen sich gegendas Feuer durchsetzen konnten. Die Berechnungen Buffons sind fr diese Periode amprzisesten, er veranschlagt der Erde genau 2936 Jahre als Glutball. Doch erst nachweiteren 3035000 Jahren hatte die Temperatur sich so weit gesenkt, da Wasserdauerhaft auf der Erde bestehen konnte, ohne sofort als Dampf in die Atmosphre zuentweichen. Die wssrige Phase whrend deren Beginn die Erde vollkommen, dannzum Ende hin sukzessive abnehmend mit Wasser bedeckt gewesen ist steht mit circa15 bis 20000 Jahren in Rechnung. Prinzip der erdgeschichtlichen Entwicklung ist einevon Norden einsetzende, sich immer weiter verstrkende Abkhlung, die zuerst einetropische Fauna und Flora von der nrdlichen Hemisphre verschwinden lie, dieHitzeregionen in den Sden verschoben hat und in letzter Ausrichtung das gesamteLeben auf der Erde auslschen wird. Auch diesen Proze kann Buffon errechnen, ihmzufolge hat die Erde noch gute 93000 Jahre, bevor die Klimakatastrophe komplett ist.Schon bei weniger akkurater Mathematik fllt auf, da der ehedem gltige Zeitrah-men von sechstausend Jahren seit der Erschaffung der Welt hier keine Gltigkeit mehrbesitzt. So kommt auch der Vergleich astronomischer Traditionen bei den verschiede-nen Vlkern in der Histoire naturelle zu keinem anderen Ergebnis, als die Dimensionmenschlicher Geschichte vor dem Hintergrund einer nunmehr kosmischen Geschichteauszudehnen. Buffon registriert bereits bei Urvlkern eine relative Perfektion natur-wissenschaftlicher Beobachtung, die fast unerreicht, bis zu seiner Zeit rtselhaft er-scheinen mu, wenn man sie aus einer Dauer von wenigen Jahrhunderten entwickeltansetzen mu: Sind, von jetzt an zu zhlen, 6000 Jahre hinreichend, um zu dem edel-sten Zeitpunkte der Geschichte der Menschen hinaufzusteigen []?14

    14 Buffon, II, 291.

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    Wenngleich mit diesen kritischen Bemerkungen Buffons die traditionelle Konzep-tion schon zusammengebrochen scheint, so sind die Elemente der alten Sichtweisedoch noch nicht aus dem Kanon wissenschaftlicher Explanation entfernt. Buffonversucht ebensowenig wie Thomas Wright nach ihm eine Kosmogonie aus mecha-nischen Prinzipien, die Sonne etwa wird als vorgegebenes Phnomen nicht weiterhinterfragt und die Intention, Gott durch die Herrlichkeit seiner Schpfung zu de-monstrieren, wird erst lange nach Kant aus dem Repertoire der Himmelsmechanikverschwinden. Die von Buffon skizzierte Berechnung der Erdzeitalter lt nur indi-rekt Rckschlsse auf das Weltall zu, vermutlich war auch keine Ausdehnung aufextraterrestrische Bereiche vorgesehen; das Zentrum der Betrachtung lag eindeutignoch auf der Erde, selbst bei Wright, der die Exklusivposition unseres Sternes ein-deutig negiert, kommt es nur zu einer Theorie fr das Sonnensystem. Insofern wirdKant tatschlich einen Schritt weiter gehen und die Valenz seiner Theorie nicht nurfr das bekannte Universum, sondern auch formal universell behaupten.

    Bevor ich zu Kant selbst komme, mssen wir noch kurz den schon erwhntenThomas Wright of Durham untersuchen. Zum einen, weil Kant sich auf ihn beruft,zum anderen, weil es spannend ist (und nicht ganz unumstritten), in welchem Maeer Gedanken vorweggenommen hat, fr die in der Rezeption nach einiger Verzge-rung dann Kant als Referenz angefhrt wurde.15

    An Original Theory of the Universe16, 1750 in London erschienen, geht schon aufeinen Entwurf von 1734 zurck, und behandelt die kosmogonischen Fragen derZeit in neun fiktiven Briefen. Vor allem das Phnomen der via lactea will Wrightverstndlich machen und bietet dabei erstmals den Gedanken, in dieser scheinbarzuflligen Anordnung der Fixsterne eine innere Ordnung erkennen zu knnen. Inden Ausfhrungen Wrights finden sich neben vielen Verweisen auf klassische Dich-ter und die Theorien antiker Astronomen vor allem zwei Grundgedanken, die frden Zusammenhang von Beobachtung und abgeleiteter Hypothese bedeutsam sind.Wright bernimmt die noch nicht vollstndig approbierte Annahme, da es sichbei den Sternen um Sonnen handelt17 und versucht, eine Mengenbestimmung inner-halb der Fixsternsphre, bezogen zunchst auf die Milchstrae zu geben. Die dabeiermittelten Zahlen von knapp vier Millionen belegen schon hinreichend die Unzu-lnglichkeit aller Theorien, die von einer Proportionierung der einzelnen Sternen-sphren ausgehen, in der den Planetenbahnen der gleiche Raum wie der gesamtenFixsternsphre zugeteilt wird. Zweitens und das scheint zunchst im Widerspruchzu der ersten Annahme zu stehen, lst sich Wright nicht von der Vorstellung eines

    15 Zur Frage nach dem Verhltnis von Kant und Wright cf. auch: F. A. Paneth: Die Erkenntnisdes Weltbaus durch Thomas Wright und Immanuel Kant. In: Kant-Studien 47 (1955/56),337349.

    16 Herausgegeben im Reprint von M. A. Hoskins. London/New York 1971.17 Auch hier gilt: Die genaue zeitliche Fixierung, wann dieser Gedanke in der Astronomie als

    verbindlich galt, ist schwer zu geben. Entscheidend ist insofern, da die technischen Mittelnoch nicht przise genug waren, um in der Sache wesentlich ltere Spekulationen hinrei-chend zu demonstrieren.

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    endlichen Universums. So bezeichnet er die visible creation im Siebten Brief alsden Teil des finiten Universums, obwohl er zuvor davon ausging, da die Milch-strae von einer endlosen Zahl von Sternen geformt werde.18 Vermutlich deutetWright die Unmenge der Sterne im Sinne einer Unfabarkeit der Zahl nach, nichtgem einer realen Unendlichkeit. Beide Annahmen lassen sich nur dann miteinan-der kombinieren, wenn man bercksichtigt, da Wright weder eine kosmogonischeThese vortrgt, noch sich von der alten Theorie des in konzentrischen Kreisen auf-gebauten Universums gelst hat. Die den Sternen eingeprgte Ordnung ist keine, dieaus einer physikalischen Notwendigkeit hervorginge, noch weist sie ber sich hin-aus auf eine Systematizitt des Universums allgemein. Der einzige gemeinsame Be-zugspunkt stellt die Relation zum Schpfer dar, dessen Glorie sich in der Vielfalt desUniversums abbildet und so sind auch die anderen Sterne durchaus nur Variatio-nen der Erde:

    Suns crowding upon Suns, to our weak sense, indefinitely distant from each other; and Miriadsof Miriads of Mansions, like our own, peopling Infinity, all subject to the same Creators Will;a Universe of worlds, all deckd with Mountains, Lakes and Seas, Herbs, Animals and Rivers,Rocks, Caves and Trees.19

    So bietet sich ein vertrautes Bild bis an die Grenzen des Weltalls, die zugegebe-nermaen nun weit entfernter liegen als blich angenommen sich noch in altemGewande prsentieren: wo auch immer sie verlaufen, fr Wright ist zumindest diegegenberliegende Seite bekannt, wo die Sedes Beatorum und dahinter das Ens Pri-mum ihren Bestimmungsort haben.

    Kant drfte aus dem Auszug in den Hamburger Freyen Urtheilen mithin Anre-gungen bekommen haben; da sich seine eigene Theorie aber von der Wrightsnicht unterscheide, ja, da sie nur ein Plagiat des englischen Kosmologen sei, wreeine schwer zu haltende Unterstellung. Viel nher liegt der Verdacht, da Kant dieReverenz an den Entwurf der Original Theory of Universe deshalb so stark betont,weil er davon ausgehen mute, da sich in dem ihm nicht im Original zugng-lichen Text mehr befindet, als er der Rezension entnehmen konnte. Wrights Aus-fhrungen reichen aber um es klar zu sagen weder methodisch noch von derinhaltlichen Originalitt an die Kants heran. Lediglich die Beobachtung der Ster-nennebel als in sich geschlossene Einheiten, die intern sehr wohl einer Differenzie-rung fhig sind, darf mit gutem Recht als lohnende Entdeckung Wrights festgehal-ten werden.

    Zuletzt findet sich in der 1750 erschienenen, ein Jahr spter ins Deutsche ber-setzten Schrift von Pierre Louis Moreau de Maupertuis (16981759) Essai de cos-mologie ein an den Vorgaben Newtons orientierter Entwurf, der sich nur mit einemvon einem durch ein intelligentes Wesen gesetzten Endzweck als verwirklichendeSystematik zu deutende Wirklichkeit mit den Grundlagen der Bewegungslehre in

    18 Wright, 62: [] I want nothing to be granted but what may easily be allowed, namely, thatthe Milky Way is formed of an infinite Number of small Stars.

    19 Ibid., 46.

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    Verbindung bringen lt.20 Da de Maupertuis als Prsident der Berliner Akademieder Wissenschaften auf deren Patronage Kant wohl mit seiner Verffentlichunggehofft haben mag nicht nur inhaltliche Richtlinien gesetzt hatte, sondern auchindirekt eine Herausforderung bot, der Kant in seinem Werk von 1755 entgegenzu-treten suchte, scheint plausibel. Darzulegen, inwieweit aus der Verbindung vonKonfrontation und gesuchter Kooperation die eigene Konstruktion mitbeeinflutwurde, wrde an dieser Stelle zu weit fhren.

    II. Kants Naturgeschichte als Muster der Entstehung des Universums

    Die Naturgeschichte gliedert sich in eine Vorrede und drei Teile, deren erster diesystematische Ordnung der Fixsterne zum Thema hat; im zweiten Teil entwickeltKant auf der Basis der Newtonschen Prinzipien sein Modell zur Entstehung des Kos-mos und fhrt dann im dritten aus, welche Folgerungen fr die anthropologischeund astronomische Diskussion um die Mglichkeit eines bewohnten und endlosausgedehnten Universums zu ziehen sind.21

    Fr die gesamte Theorie Kants bedeutend ist die Auffassung, da es sich bei demUniversum um einen durchgngig den gleichen Gesetzen unterworfenen Raum han-delt, in dem die Galaxie der Erde nur einen Teilbereich eines greren Ganzen dar-stellt. Da die Gesamtheit der Sternenwelt der empirischen Beobachtung jedoch ent-zogen ist, dient unser Sonnensystem bevorzugt als Paradigma der Erklrung allerastronomischen Vorgnge; fr die grundlegende Motivation, ber die von Newtongebotene Konzeption hinauszugehen und nicht nur eine Theorie von der Verfas-sung, sondern auch von dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebudeszu geben, lassen sich zwei Faktoren festhalten, einer als sozusagen eine aus derastronomischen Empirie entnommene Beobachtung und ein system-interner. Letzte-rer fhrt Kant auch zu einer Verbindung seiner berlegungen mit zentralen Gedan-ken der Kosmologien Leibniz und Newtons, weil im Moment der Vereinbarkeit vongttlicher Schpfung und selbstsuffizienter Naturgesetzlichkeit die Kernfrage be-rhrt wird, ob und wie die Mechanisierung der Bewegungsverhltnisse im Univer-sum kohrent gedacht werden kann.

    Die wesentliche Schwierigkeit, die Newton in seiner Theorie ber die Mechanikder Himmelsbewegung nicht bewltigen konnte, lag in der bertragung der Krfte.

    20 Eine ausreichende und gute bersicht ber die zentralen Gedanken de Maupertuis gibtH. J. Waschkies (op. cit., 566576), auf dessen Ausfhrungen hier verwiesen werden soll.

    21 Der dritte Teil wird nur am Rande in die Diskussion mit einbezogen, weil aus ihm wenig frdie Frage nach der zeitlichen Relativierung der kosmischen Geschichte hervorgeht. Allen-falls die Tatsache, da Besiedelung der Planeten kein Ausnahmefall, sondern eher die Regelist, deutet auf eine Sttzung der unten vertretenen Thesen hin, da Kant die extensionaleHomogenitt der systematischen Verfatheit des Universums annahm. Fr eine immer nochgute Gesamtbersicht ber die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels cf.E. Adickes: Kant als Naturforscher Bd. II. Berlin 1925, 206315.

  • Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) 435

    Mit Hilfe der von ihm entdeckten Gesetze lie sich zwar ein deskriptives Bild derPlanetenbewegung und ihrer charakteristischen Umlaufbahnen zeichnen, nicht aberplausibel machen, weshalb es genau diese Bahnen gab oder wie sie zustande gekom-men waren. Die Konstanz der vorherrschenden Krfte war fr Newton damit einunhinterfragbares Faktum, an dem sich der unmittelbare Eingriff der gttlichenAllmacht offenbarte, der allein es ermglichte, den physikalisch nicht deduktiblenEinflu der himmlischen Krper untereinander als eine unwandelbare Gre (unddamit berhaupt als eine berechenbare) zu fassen. Denn in einem als wesentlich leererkannten Raum, in dem die einzigen Materieansammlungen die in die Erklrungeinzubindenden Planeten waren, fehlte jeder Ansatzpunkt fr die Kraftbertragungvon zentraler Gravitation und gegenseitiger Anziehung. Zudem und dies erwiessich pragmatisch gesehen als der schwieriger zu lsende Teil, htte es ber ln-gere Zeitrume angesichts der gelegentlichen Unregelmigkeiten in den orbitalenZyklen zu einer bedrohlichen Potenzierung der Gravitation im Zentrum kommenknnen.

    Daher lie sich das Universum als ein von Gott geschaffenes, einmalig gegebenesadquat analysieren; die Entstehung sowie der innere Aufbau des Geschaffenen hin-gegen waren auf die fortwhrende Einflunahme Gottes zur Aufrechterhaltung derWelt angewiesen, in dem Gott quasi als kosmischer Stabilisateur die Gleichm-igkeit der Bewegungen immer wieder herstellt, wenn das Gefge aus dem Lot ge-rt. Diese gleichsam als creatio continua metaphysische Komponente des physi-kalischen Systems Newtons hat Kant als einen Schwachpunkt der mechanischenTheorie angesehen. Seine Konsequenz lautete demnach: wenn es in der jetzigen Ver-fassung der Materieverteilung im All unerklrlich ist, wie die Bewegungen den Him-melskrpern so bertragen werden, da sie konstant so bestehen bleiben knnen,dann gibt es neben der deus ex machina-Theorie nur eine Alternative, nmlich,da es zu einem frheren Zeitpunkt gnstigere Ausgangsbedingungen gegeben hat,die einen rein mechanischen Ablauf des Planetenumlaufs ermglichen. Damit istnicht nur die traditionelle Vorstellung eines geschichtslosen Universums endltigverworfen, sondern gleichzeitig auch der Grundstein fr eine evolutionistische Er-klrung der kosmischen Phnomene gelegt worden. Kants eigentliches Anliegenbesteht somit nicht in der Deutung des Ist-Zustandes, den er mit den NewtonschenRegeln weitgehend erfassen kann; entscheidend sind die berlegungen, die diesemPlan vorausgehen, aus der Anwendung mechanischer Gesetze auf den Spezialfall desKosmos ein explanatives System zu entwickeln, das dem besonderen Modell denCharakter des Allgemeinen zuweist. Die alte Trennung in einen sublunaren undeinen supralunaren Raum, in dem jeweils unterschiedliche Naturgesetze aufgrundder Wesensverschiedenheit der zu betrachtenden Materie herrschen, war bereits vorKant aufgegeben worden. Doch in letzter Konsequenz blieben Reste dieser essentia-listischen Einteilung des Universums in einen Teil (unser Sonnensystem), der mathe-matischer Formulierung zugnglich ist und in den (etwa die Fixsternsphre und denGroteil der Kometen), der dieser entzogen ist. Die Durchgngigkeit der Applika-tion einheitlicher Gesetze auf das Gesamt des Kosmos hat bei Kant aber nicht nur

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    eine Homogenisierung der Betrachtungsweise zur Folge, sondern auch eine prinzi-pielle ffnung ins Unendliche hin: weil sich keine sinnvollen Grenzlinien fr eherdiesen Punkt als fr jenen angeben lassen, wird das ganze Konzept der kosmischenEndlichkeit zu einer Hypothese, deren Beweisbarkeit ungleich schwcher ist als dieder Gegenposition. Gesetzmigkeit wird damit zu einem konzisen Mastab, dessenWirksamkeit eine Transzendierung unwahrscheinlich macht zumal bei Kant indiese berlegung noch die theologische Komponente mit hineinspielt, da sich nuran einem potentiell Unendlichen die tatschliche Allmacht im strikten Sinne eineruneingeschrnkten Machtflle widerspiegeln kann. Das grenzenlose Weltall istdemnach die einzige der Omnipotenz Gottes wrdige und adquate Reprsentanz(wenn es diese berhaupt im Geschaffenen geben sollte).

    Die Kehrseite dieser starken Gottesvorstellung zeigt sich umgehend in der darausresultierenden Verselbstndigung der Schpfung: wenn das Abbild dem Urbild mg-lichst gerecht werden soll, darf es die wesentlichen Zge (und das sind in Kants Be-griff der Allmacht oder Allgenugsamkeit vor allem die der umfassenden Indepen-denz) nicht vermissen lassen; das bedeutet, da die uneingeschrnkte Gltigkeit derNaturgesetze nicht nur aus der theologischen Prmisse, die Fhigkeit des Schpfersmaximal nachgebildet zu haben, erfllt werden mu, sondern als solche auch dasletzte (sozusagen) Refugium der Gottheit zu okkupieren trachten mu: die totaleUnabhngigkeit auch die des Geschaffenseins. Ein vollkommen autarkes System,das in sich geschlossen funktioniert, weist zum mindesten die Tendenz auf, auchseine eigene Herkunft aus sich erklrbar zu machen.

    Dies ist wenigstens der Vorwurf, dem Kant sich ausgesetzt sieht und dem er in derVorrede zu begegnen sucht:

    [Der Verteidiger der Religion] [] gesteht es nicht undeutlich: da, wenn man zu aller Ord-nung des Weltbaues natrliche Grnde entdecken kann, die dieselbe aus den allgemeinsten undwesentlichsten Eigenschaften der Materie zu Stande bringen knnen, so sei es unntig, sich aufeine oberste Regierung zu berufen.22

    Am Ende einer naturalistischen und materialistischen Erklrung der Welt wreGott nur noch eine fromme Zugabe, auf die zu verzichten lediglich einer Ge-schmackssache gleichkommt. Da Kant inhaltliche hnlichkeiten seiner Theorien mitdenen des Epikur zugibt, mu er umso mehr besorgt sein, sich formal von dieser alsErzketzerei der Antike verschrieenen Position einer Gottlosigkeit aus Mangel anErklrungsbedrftigkeit abzusetzen. Aus unserer Perspektive ist die zweite Einwen-dung, die Kant seinem Unternehmen prventiv selbstkritisch zuerkennt, gewich-tiger, da nmlich das in Angriff genommene Vorhaben angesichts der bescheidenenKenntnisse sowie der prinzipiell eingeschrnkten epistemologischen Mglichkeitendes menschlichen Geistes eher zum Scheitern denn zum Gelingen prdestiniert sei.Theologisch gesprochen rhrt es an Hybris, die geheimen Schpfungsplne Gottesdurchschauen und mechanisch nachvollziehbar machen zu wollen. Da Kant hier

    22 NTH AA 1, 223.

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    noch in seiner vorkritischen Periode schreibt, zeigt sich nicht zuletzt in dem un-erschtterlichen Optimismus, gerade an diesem Punkt der Naturlehre, der Astro-nomie, am leichtesten und sichersten bis zum Ursprunge gelangen zu knnen23.Allerdings verdankt sich diese Haltung nicht allein einer jugendlichen Naivitt, son-dern hngt vor allem damit zusammen, da Kant im weiteren Verlauf der Schrift diegenerellen Prinzipien, nach denen seine Kosmogonie aufgebaut sein soll, auf ein Mi-nimum von zwei differenten Krften beschrnkt, so da durch die Vereinheitlichungder untersuchten Prozesse eine Vielzahl von Phnomenen auf einen geringen Corpusan explanativen Einheiten zurckgefhrt werden kann.

    Doch zunchst gilt es noch, den Vorwurf eines potentiellen Atheismus zu wider-legen. Kant whlt einen progressiven Ansatz, der zunchst die Verdienste jenerTheorien zugesteht, die unter der Rubrik des physiko-theologischen Gottesbeweiseseine teleologische Struktur der Welt auf die Intelligenz des sie geschaffen habendenWesens zurckfhrt. Anstatt zu beweisen, da eine fortschreitende Naturalisierungder kosmischen Prozesse auch noch irgendwo Platz fr eine Gottesvorstellung las-sen msse und sich so eine theologische Hintertr offenzuhalten, durch die dieNaturwissenschaft angesichts einer eingeforderten Integration Gottes in ein anson-sten schon konsistentes System24 entfliehen und gleichzeitig die Religion in ein an-sonsten atheistisches Modell eintreten kann behauptet Kant genau das Gegenteil:da nmlich erst eine maximal durchorganisierte und in Regeln begriffene Anschau-ung des Weltbaus das richtige Verstndnis fr die Stelle erffne, an der Gott seinenBeitrag fr denselben geleistet habe. Dazu demonstriert Kant die vermeintlicheStrke einer finalen Erklrung thermischer Phnomene, die sich in Wirklichkeit alsSchwchung der eigentlich intendierten These: Gottes weise Herrschaft hat die Na-turgesetze so eingerichtet erweist, weil sie sich zu frh des ultimativen Erklrungs-momentes bedient und somit dieses diskreditiert, sobald eine einfacher zu integrie-rende Lsung desselben Problems gefunden werden kann.25

    Den wesentlichen Unterschied, den Kant zwischen die antiken Kosmogonien undseine eigene Lehre setzt mit dem er sich vom Verdacht des Epikureismus lsenmchte stellt die Gesetzmigkeit der Materiebewegung dar. Im Gegensatz zu derdurch den Zufall gesteuerten Drift der Elementarteile in der demokritischen Chaos-theorie fordert Kant eine allein an den mechanischen Gesetzen Newtons orientierteBetrachtung der ursprnglichen Krfte.

    Dabei ist es vor allem die relative Unabhngigkeit jedes einzelnen Momentes, wel-che in der Zusammensicht aller Phnomene die Mglichkeit einer vollkommen au-tonomen Natur fr Kant nahezu ausschliet:

    23 Ibid., 229.24 Das Problem des Rasiermessers Ockhams, dem zufolge die erklrenden Faktoren nicht

    ohne Notwendigkeit vermehrt werden sollen.25 Als Beispiel fr die theologische Erklrung aus der Finalitt fhrt Kant die auf Jamaica herr-

    schenden Winde an, deren lindernde Khle vom Meer her das Leben an der Kste jener Inselerst ermglicht.

  • 438 Sebastian Lalla

    War es wohl mglich, da viele Dinge, deren jedes seine von dem anderen unabhngige Naturhat, einander von selber gerade so bestimmen sollten, da ein wohlgeordnetes Ganze darausentspringe, und wenn sie dieses tun, gibt es nicht einen unleugbaren Beweis von der Gemein-schaft ihres ersten Ursprungs ab, der ein allgenugsamer hchster Verstand sein mu, in wel-chem die Naturen der Dinge zu vereinbarten Absichten entworfen worden?26

    Ausgehend von der Prmisse, da unabhngige Naturen sich ohne bergeordneteFgung nicht zu einer harmonischen Kombination einfnden, und gegeben die em-pirische Beobachtung, da eine einigermaen miteinander vertrgliche Schnheitdes Ganzen existiert, kann die Schlufolgerung fr Kant nur die sein, da hinterdem scheinbaren Chaos doch eine letztlich ordnende Macht steht: und es ist einGott eben deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regel-mig und ordentlich verfahren kann.27

    Es ist mehr als fraglich, ob Kant seine Theorie damit aus der Schulinie eineslatenten Atheismus gerettet hat: nicht nur, da sein eingestandener Deismus einenchristlichen Kritiker (fr den nach biblischem Weltbild Gott immer noch unmittel-bar in den Lauf der Gestirne eingreifen kann und dies auch tut) kaum befriedigenwird. Die berlegung, da die sich manifestierende Wohlgeordnetheit der Gesetzenur auf den weisen Verstand des Schpfers hin erklren lasse, hat einen gravieren-den Nachteil, denn der zum absolut vorgngigen Urheber der Naturgesetze degra-dierte Gott wird zum Gefangenen seiner eigenen Ordnung. Die Frage, ob Gott einganz anderes Universum htte schaffen knnen, stellt Kant nicht, aber die Antwortinnerhalb seines Systems drfte recht offensichtlich sein. Da es schon der mensch-liche Verstand schafft, die Analyse der kosmogonischen Prozesse bis zu dem Punktzurckzuverfolgen, an dem Gott nur als der Hervorbringer der materia prima fun-giert, beschrnkt sich die einzige Alternative, die nur dem gttlichen Geist vorbe-halten ist, auf die Faktizitt der Schpfung. Nur wenn Gott zugleich mit der Materieeine andere Physik (Mechanik) geschaffen htte, htte es auch eine andere Kosmo-gonie geben knnen. Da Gott aber offenbar nicht dem Prinzip des zureichendenGrundes unterworfen ist und nur, wenn man dies zugibt, kann man eine theisti-sche Konzeption aufrechterhalten, ohne der Transzendenz die Befolgung der imma-nenten Gesetze aufzuntigen erkauft Kant die potentielle, ja kontrafaktische All-macht Gottes um den Preis des Verlusts jeder Tragfhigkeit fr die tatschlicheAusgestaltung des Weltgebudes: in einer stringenten Formalisierung der Ursache-Wirkungs-Relation anhand der Newtonschen Gesetze wird die freie Schpfungs-handlung Gottes notwendig eine quivokation des Ursache-Begriffes mit sich fh-ren. So man also die essentielle Andersartigkeit der ersten Verursachung (nmlichdie der Materie) gegenber aller sich aus dieser entwickelnden Bewirkungen akzep-tiert, koppelt man die ontologische Diversitt an die Unmglichkeit, dieser logischwieder Herr zu werden. Aus dem kategorial nicht mehr falichen (dem ganz ande-

    26 NTH AA 1, 227.27 Ibid., 228.

  • Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) 439

    ren) folgt eine Beliebigkeit der Schlufolgerung, deren Valenz nur in eine RichtungKraft hat. Mithin wird der Begriff des verursachenden Gottes zu einer Variabel, die inklusive einer Nullstelle bei allen Einsetzungen erfllt ist, solange sie funktionalden Gedanken der Ursache reprsentiert. Kants Deismus endet also in einer Aporie:wenn die Gesetzmigkeiten in dieser abgeschlossenen Welt von der transzendentenGottheit jenseits festgelegt worden sein sollen, dann ist es schlechthin unerklrlich,wie die Konstanz des Willensentscheides den Spalt der essentialen Differenz ber-brcken kann. Verzichtet man hingegen auf den uranfnglichen Einflu Gottes,dann wird die Vorstellung, die Welt sei geschaffen worden, weil sie sonst ungeord-net sein msse, zu einem frommen Postulat, das systemimmanent keiner Notwen-digkeit mehr entspringt: da die Natur geordnete Verhltnisse aufweist, besagt nur,da sie eine Natur ist, die geordnete Verhltnisse aufweist. Alle anderen Naturen,die es ohne diese ehedem mit Gottes Vorhersehung einer weisen Ordnung er-klrte Harmonie gegeben hat, geben mag oder gegeben haben knnte, sind ebennicht mehr Data unserer Wahrnehmung. Im Sinne Leibniz ist die beste aller mg-lichen Welten halt auch die einzige aller mglichen Welten.

    Aus der Sicht einer maximal vielfltigen Verwirklichungsmglichkeit der Naturmag man das bedauern ich sehe bei Kant keinen anderen Weg, wie man die nunfolgende Theorie der mechanischen Weltverfassung sonst rechtfertigen knnte.

    Erster Teil der Allgemeinen Naturgeschichte

    Dem ersten Teil der Allgemeinen Naturgeschichte vorangestellt gibt Kant nocheine kurze bersicht ber die zentralen Gedanken Newtons, auf denen seine Theo-rie basiert. Neben der Gravitationskraft ist die Abstoungskraft von eminenter Be-deutung, beide finden sich sowohl fr das gesamte Sonnensystem als auch fr dieeinzelnen Teile desselben als grundlegende Faktoren. Da die Sonne im errechnetenMittelpunkt aller zentripetalen Bewegungen steht, wird sie als die Ursache jener an-gesehen, obgleich letztlich nur die Wirkung zu beobachten, da genau dieses sie aus-gelst habe, aber nur zu vermuten ist. Das Zusammenspiel von Gravitation und ge-genseitiger Fliehkraft erlutert Kant an spterer Stelle, zu Beginn deutet er nur aufden Unterschied zwischen Kometen und Planeten hin, deren Exzentrizitt so gravie-rend voneinander abweicht, weil die Krafteinwirkung eine ungleich schwchere ist.Prinzipiell sind die Kometen aber den gleichen Gesetzen unterstellt wie die Plane-ten eine Ansicht, die in der antiken Astronomie undenkbar gewesen ist. Die Syste-matizitt des Weltbaus, vielleicht der Schlsselbegriff der ganzen Konzeption Kants,bedarf noch einer genaueren Interpretation. Kant selbst weist auf die engere Ver-wendung des Begriffes System hin, der nicht allein das gemeinsame Vorkommenvon Sternen in einem um einen zentralen Krper fixierten Umlaufbereich kennzeich-net, sondern darber hinaus noch die Bezugnahme auf eine gemeinsame Flche er-fordert. Fr unser Sonnensystem heit das, da ein System deswegen vorliegt, weilim Durchschnitt die Abweichung der einzelnen Planetenumlaufbahnen von einer

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    durch den Sonnenquator gedachten Flche nur sehr gering ist. Mit Hilfe dieser De-finition kann Kant zum Beispiel eine Grenze festlegen, jenseits derer die in das Son-nensystem eintretenden Kometen nicht mehr als diesem zugehrig, sondern als Teileeines unser gesamtes System integrierendes Supersystem betrachtet werden mssen.Die relativ enge Definition von systematischer Verfassung ermglicht auch einePluralitt von Systemen, die ansonsten aufgrund der Tatsache, da alle Sterne irgend-wie aufeinander bezogen werden knnen, wenn der Radius zum gewhlten Mittel-punkt nur gro genug gesetzt wird, keinen erkenntnistheoretischen Nutzen gehabthtte. An diesem Punkt wird schon deutlich, da die Infinitt des Weltalls fr Kantnur eine quantitative ist, die in sich aber homogene Strukturen voraussetzt; dennnichts weniger will der erste Teil behaupten, als da im Grunde alle Erscheinungendes Himmels auf ein systematisch verfates Modell bezogen werden knnen.

    Gemeinsames Kennzeichen fast aller klassischen Kosmologien war, da sie einemehr oder weniger differenzierte und adquate Gliederung der Planetenebenen vor-nahmen, die sich an diese anschlieende Sphre der Fixsterne aber jeder weiterenAufteilung entzogen. Eine Ordnung innerhalb der uersten Sternenregion gab es al-lenfalls ikonographisch durch die Einteilung in Sternbilder, aber nicht nach der Auf-teilung in Himmelszonen, Dichte der Vorkommnis, Entfernung und Leuchtkraft oderder ihrerseits sich zeigenden Ordnung (also ohne die Perspektive der Erde zu berck-sichtigen). Kant wei sich dem Ansatz nach Thomas Wright verbunden, wenn er des-sen berlegung, da auch die Fixsterne geordnet und nicht blo ein ohne Absichtzerstreutes Gewimmel28 sind. Beobachtbar wird dieses systematische Auftretenparadigmatisch an der Milchstrae; hier prsentieren sich ungewhnlich viele Sternein enger Hufung zirkelfrmig angeordnet in einer imaginierten Beobachtungsfl-che, die den Standpunkt des Beobachtenden einschliet und Kant wird nicht mdezu betonen, da in diesem Gedanken einer geordneten Verfatheit aller Sterne daseigentliche Moment zum Verstndnis des Aufbaus des gesamten Universums liegt.

    Dies aus zwei Grnden: zum einen lassen sich die Fixsterne nun selbst wiederumals Sonnen auffassen, die gegebenenfalls ein eigenes Gravitationszentrum um sichaufbauen und von Planeten umkreist werden. Zum anderen ist damit ein Paradigmavon System dargestellt, das auf alle weiteren Strukturebenen des Weltalls ange-wandt werden kann, namentlich auf die sogenannten Nebelsterne. Die erste Schlu-folgerung ergibt sich dabei aus der berlegung, da die Sterne, sobald sie als nichtwillkrlich am Firmament verstreut gedacht werden, ihre unterschiedliche Greund Helligkeit einer je unterschiedlichen Entfernung verdanken, da also die Fix-sternsphre in sich viel umfassendere Dimensionen besitzt als angenommen. Wich-tiger ist aber der zweite Gedanke, der sich aus der potentiellen Unendlichkeit derGravitationskraft unserer Sonne ableitet. Kant statuiert mit Newton, da sich dieAnziehung der Sonne ins Weltall ohne Grenze ausdehnt wenngleich nicht berallmit derselben Intensitt, sondern mit zunehmender Entfernung schwcher. Daswre fr die weit entfernten Fixsterne letztlich eine sehr schwache Anziehung, aber

    28 Ibid., 248.

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    auf die Dauer gesehen doch eine hinreichend starke, um irgendwann die gesamteFixsternsphre sich auf die Sonne zuzubewegen lassen. Diese Gefahr besteht jedochnur solange, wie den jeweiligen Fixsternen keine austarierende eigene Schwerkraftzuerkannt wird. Indem Kant nun alle Sterne als Sonnen anderer Systeme annimmt,stabilisiert er theoretisch; da es ein tatschliches Gleichgewicht der Systemeim Weltall gibt, hat dann P. S. Laplace bewiesen unser Sonnensystem gegen die an-deren, gem dem dritten Newtonschen Gesetz, da jeder actio eine gleichwertigereactio gegenberstehen mu. Fr die weitere Konzeption bedeutender ist die zweiteAnnahme: die en miniature am Sonnensystem aufgezeigten Regularitten lassen sichauf beliebig viele Ordnungen hherer Ebene projizieren, so da Kant in den Nebel-sternen29 ganze Gruppen von Systemen der eben erklrten Art sehen kann.

    Bevor Kant die Stimmigkeit seiner berlegung anhand des Sonnensystems testenund die Theorie so erhrten kann, stellt sich noch ein nicht unbedeutendes Problem.Im traditionellen Verstndnis hieen die Fixsterne eben so, weil an ihnen keine Be-wegung festzustellen war. Mit Kants Interpretation einer kinematischen Verfas-sung der Fixsternsphre (wobei der Terminus der Sphre eigentlich hinfllig wird)ist aber eine Bewegung impliziert. Die Alternative, zwischen unbewegten Planeten-systemen oder unsichtbarer Bewegung zu whlen, scheint gleichermaen wenig ver-lockend. Kant kann nicht zuletzt hier auf die inzwischen schon diskutable Meinungeiner weitaus greren Zeitspanne des Universums hindeuten, die es bei den immen-sen Entfernungen sehr wahrscheinlich macht, da die vorhandenen Bewegungeneinfach bislang noch nicht registriert worden sind. [In achttausend Jahren wre esallenfalls eine Vernderung um ein Grad.]

    Da die durchgngige systematische Verfassung das alte Verstndnis eines qualita-tiv distinkten Himmels zugunsten einer quantitativen Extension ablst, folgt ausKants Hypothesen zum einen eine Entgrenzung des Alls, zum anderen ein wesentlichvernderter Beobachtungsansatz: es gengt nunmehr, sich auf das eine Sonnensystemzu beschrnken, weil es so, wie man es hier vorfindet, sich an allen anderen Stellendes Universums potentiell auch verhlt. Da es in dem sichtbar vorhandenen Univer-sum von jenen Sonnensystemen (wenngleich nicht immer genauso wahrnehmbar)noch mehr als genug gibt, ist fr Kant wiederum der Erweis der unbegrenzten Schaf-fenskraft Gottes:

    Wir sehen die ersten Glieder eines fortschreitenden Verhltnisses von Welten und Systemen,und der erste Teil dieser unendlichen Progression gibt schon zu erkennen, was man von demGanzen vermuthen soll. Es ist hier kein Ende, sondern ein Abgrund einer wahren Unermelich-keit, worin alle Fhigkeit der menschlichen Begriffe sinkt, [] Die Weisheit, die Gte dieMacht, die sich offenbart hat, ist unendlich, und in eben der Mae fruchtbar und geschftig;der Plan ihrer Offenbarung mu daher eben wie sie unendlich und ohne Grenzen sein.30

    29 Kant verweist hier auf die Meinung de Maupertuis, die er zu widerlegen sucht.30 NTH AA 1, 256. Interessant ist hier, wie die alte letztlich origenistische Vorstellung, die

    Unendlichkeit des Schpfers msse in der Unendlichkeit des Geschaffenen ihr Pendent fin-den, auch noch Kants berlegungen prgt. Ob er dahingehende Anstze der frheren Ge-schichte gekannt hat, namentlich etwa die Giordano Brunos, wre eine Untersuchung wert.

  • 442 Sebastian Lalla

    Als prospektives Ergebnis dieses ersten Teils vermutet Kant weitere mgliche Pla-neten, die jenseits des Saturn die Lcke zu den Kometen durch eine noch weiter aus-greifende Exzentrizitt schlieen. Damit wre die Abstufung kontinuierlich und dasallgemeine Gesetz, nach dem die Umlaufbahn an Weite ihrer elliptischen Ausdeh-nung mit wachsender Entfernung vom Mittelpunkt des Bezugssystems zunimmt, so-wohl besttigt wie es erst die Bedingung dafr war, da eine solche Annahme ber-haupt sinnvoll erscheint. Da seine Theorie aber nicht nur externen berlegungengengt, sondern auch interne Kohrenz aufweist und so allererst die kosmischenPhnomene erklren kann, wird Kant im zweiten Teil beweisen.

    Zweiter Teil der Allgemeinen Naturgeschichte

    Fr das tatschliche Entstehen des Weltbaus gibt Kant ein vergleichsweise ein-faches Modell. Ausgangspunkt ist unmittelbar nach dem Nichts, das heit im er-sten Moment, da die Materie geschaffen wurde eine gleichfrmige aber spezifischeVerteilung des in die Elementarbestandteile aufgelsten Stoffes. Diesen Zustand dervollkommenen Ruhe kann man aber nur hypothetisch voraussetzen, denn mit demGegebensein der unterschiedlichen Lage im Raum beginnen auch sofort die Krfteder einzelnen Teilchen aufeinander einzuwirken. Erster Faktor in dem ganzen Sy-stem ist die Gravitation, die in ihrem Wirkungsbereich andere Teilchen zu dem sichim Mittelpunkt befindlichen Schwerkraftzentrum zieht. Kant arbeitet wie gesagthier nur noch mit dem Bezugsrahmen unseres Sonnensystems: indem er aber denAnspruch, eine universal gltige Theorie aufzustellen, aufrechterhlt, ldt er sichnicht nur die Schwierigkeit einer induktiven Hypothese auf, sondern auch die wei-ter unten zu thematisierende Problematik, der kosmologischen Prozessualitt einetheologisch-kosmogonische Instanz der Prszienz als Fundament geben zu mssen.

    Die Elementarteilchen sind von unterschiedlicher Dichte und dementsprechendwirkt auch die Gravitation je anders auf sie ein: die dichten Teile werden schnellerund nher an das Zentrum herangezogen, die leichteren verbleiben in grerem Ab-stand. Wre das Universum nur durch die Schwerkraft zentral bestimmt, htte sichalle Materie irgendwann im Mittelpunkt versammelt. Kant insistiert daher zu Rechtauf die ausbalancierende Wirkung der Abstoungskrfte der Teilchen untereinan-der. Auf dem Weg zum Mittelpunkt bewegt sich der Elementarstoff nmlich un-gleichfrmig, so da die Teile ihren Lauf gegenseitig stren: aus der Vertikaldriftwird so zunehmend eine horizontale Bewegung, die bei vermehrtem Auftreten zuKreiselformationen der Teilchen fhrt. Die so sich zusammenballenden Materieku-geln entwickeln nun ihrerseits kleine Gravitationszentren und ziehen die sie umge-benden Teilchen an, was im Endeffekt zu einem sich selbst verstrkenden Ablaufwird, an dessen Ende nur eine berschaubare Zahl grerer Objekte briggebliebenist unsere Planeten und deren Satelliten. Dabei geraten diese Klumpen nach Kantnotwendig in eine Zirkelbahn um das sie anziehende Mittelpunktgestirn, weil diegegenseitige Einflunahme dann am geringsten ist, wenn die einander behindernden

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    Kugeln in konzentrischen Kreisen [Kant: parallele Zirkel] eine Penetration ihrer wi-derstreitenden Krfte verhindern. Sobald mithin die Gravitation in die Abwrtsrich-tung durch die abstoenden Krfte seitwrts einen Gleichgewichtszustand erreichthat, sinkt der entsprechende Krper nicht mehr, sondern vorsichtig formuliert schwenkt in eine Umlaufbahn ein. Alle Teilchen, die nicht an andere angelagert zuKugeln geworden und als solche nun materiesatt genug sind, um der zentripetalenTendenz zu widerstehen, strzen auf den Zentralkrper, mehren dessen Masse unddienen im weiteren Verlauf als Nahrung des Sonnenfeuers. [Kant erklrt brigensnicht, wieso es auf der Sonne brennen mu.] Da die leichten Teile aufgrund der lang-sameren Bewegung in grerer Entfernung zum theoretischen Stillstand kommen,whrend sie von den dichten berholt werden, nimmt mit zunehmender Sonnen-ferne auch die Masse pro Volumen der Planeten ab. Jupiter und Saturn sind deshalbdie volumenreichsten und auch massereichsten Krper des Sonnensystems, weil ih-nen die Schwerkraft der Sonne am wenigsten Material abgezogen hat. Kant wendetsich damit gegen die von Newton vertretene Ansicht, die Dichte der Planeten stehein Relation zu der Hitze, die sie ertragen mten eine Erklrung, die [wie wirgesehen hatten] bereits G. Buffon in seiner Theorie des Kosmos verworfen hatte.Whrend Buffon aber die Dichte an die Umlaufgeschwindigkeit gekoppelt hatte,reicht Kant die bloe Dynamik der Planetengenese, um das Phnomen der spezifi-schen Dichte zu erlutern. [Aufgrund verschiedener Rechnungen gelangt Kant zudem Ergebnis, da die ursprngliche Raumausdehnung der Urmaterie unseres Son-nensystems rund dreiig Millionen mal grer gewesen sein mu als die Planetenheute an Umfang einnehmen.] Im Endergebnis dieser Entwicklung ist der Raum, indem sich die Planeten befinden, leer, was zu dem anfangs skizzierten Problem derKraftbertragung fhrt:

    Wenn wir [] den Raum erwgen, in dem die Planeten unseres Systems herum laufen, so ist ervollkommen leer [] und aller Materie beraubt, die eine Gemeinschaft des Einflusses auf dieseHimmelskrper verursachen, und die bereinstimmung unter ihren Bewegungen nach sich zie-hen knnte. Dieser Umstand ist mit vollkommener Gewiheit ausgemacht, und bertrifft nochwo mglich die vorige Wahrscheinlichkeit. Newton, durch diesen Grund bewogen, konntekeine materialische Ursache verstatten, die durch ihre Erstreckung in dem Raume des Planeten-gebudes die Gemeinschaft der Bewegungen unterhalten sollte. Er behauptete, die unmittelbareHand Gottes habe diese Anordnung ohne die Anwendung der Krfte der Natur ausgerichtet.31

    Diesem milichen Umstand glaubt Kant Abhilfe geschaffen zu haben. Doch bevorich zu einer kritischen Betrachtung darber komme, ob die Zufriedenheit Kants,hier ohne Gott auskommen zu knnen, gerechtfertigt und nicht zu frh war, mssenwir noch einige Charakteristika der sich aus dem im wesentlichen aber so schon fer-tigen Konzept der materialistischen (naturalistischen) Evolutionshypothese fr dieGestalt des Universums ergeben, genauer ansehen. Ich nenne drei thematischeSchwerpunkte.

    31 NTH AA 1, 262.

  • 444 Sebastian Lalla

    Erstens: aus der Negation einer isotropen Materieverteilung lassen sich Differen-zen kosmischer Phnomene begreiflich machen, die in traditionellen Anstzen derAstronomie unplausibel waren.

    Zweitens: die prinzipielle Extension der Theorie auf alle mglichen Universenmacht deren singulre Denkbarkeit erst zu einer sinnvollen Hypothese.

    Drittens: die inhrente Selbstreferentialitt der Theorie Kants leistet nicht nureine Erklrung der Entstehung unserer Sonne, sondern impliziert auch die Mglich-keit einer kontingenten Kosmologie berhaupt; diese greift Elemente aristotelischerNaturphilosophie auf.

    1.) Nach klassischer Vorstellung, die eine qualitative Differenz nur zwischen densublunaren und dem supralunaren Element(en) annahm, war die aktuelle Propor-tion der Materie im Raum ein rein statistisches Problem ohne weitere Auswirkungauf die Prozesse ihrer Organisation. Entscheidend war aufgrund der Unvernder-lichkeit aller jenseits des Mondes gelegenen Himmelskrper eigentlich nur der Be-reich, in dem die irdischen Strukturen eine Rolle spielten, so da in einer Astrono-mie der konzentrischen Sphren theoretisch jede einzelne Kreisscheibe fr sichgenommen betrachtet werden konnte. Erst mit dem Versuch, die Einheitlichkeit derim All vorhandenen Materie zu denken, erhielten die Masse- und Lageverhltnisseder anderen Planeten eine relationale Relevanz zur Erde, die kosmogonisch wie kos-mologisch in die Erwgungen mit einbezogen werden mute. Doch was sich aus on-tologischen berlegungen zur Himmelsmaterie als Fortschritt erwiesen hatte, standunter kinematischen und dynamischen Gesichtspunkten hindernd da, insofern diequalitative Gleichartigkeit der Materie eine Spezifikation jeweiliger Charakteristikanur formal, nicht aber material erklren konnte. Ich verweise beispielsweise aufBuffons Konstruktion, die Planten aus der Sonne hervorgegangen sein zu lassen: daalle die gleiche Materialstruktur aufweisen, sind Umlaufgeschwindigkeit, Dichte,chemisches Reaktionsverhalten und hnliche Aspekte der naturwissenschaftlichenBeobachtung Problempunkte, die sich nur bedingt auflsen lassen; das heit: derenkohrente Interpretation ein wesentlich umfangreicheres Axiomenset erfordert, alses die Einfachheit der genetischen Symmetrie erwarten liee. Kant geht nun von dernicht zu gering einzuschtzenden Voraussetzung aus, da sich im Urzustand despostkreationalen Chaos eine ungleiche Verteilung in sich differenter Materie vorge-legen habe. Damit lassen sich sowohl die Unterschiede der Strmungsbewegungenim Weltraum erklren weil die Teilchen je anders auf die Gravitation ansprechen als auch die interne Diversifzierung einzelner Planeten plausibel machen. Die Plura-litt kommt also bei Kant nicht auf der Seite der wahrnehmbaren Phnomene zu ste-hen, sondern auf die der ihnen zugrundeliegenden Essenzen. Und nur, weil diese inihrer strukturellen Gegebenheitsweise mathematisch fabar und in physikalischenTheorien zu berechnen sind (Kant errechnet zum Beispiel aus der Dichte und Aus-dehnung des Saturnringes die Umlaufgeschwindigkeit, die zu dessen Entstehung n-tig gewesen sein mu), knnen wir berhaupt die uns erscheinenden Irregularittenauflsen man beachte nur einmal den Unterschied zu den spteren Anstzen der

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    Kritik der reinen Vernunft, um hier das Ausma der Entwicklung Kants festzu-halten. Die Planeten sind eben nicht alle aus dem gleichen Stoff, und die Kometenwiederum heterogener Materie, mglicherweise die Fixsterne ebenfalls. Was sichandeutet, ist die Determination des kosmischen Geschehens aus seinem Urzustandher, in dem die nicht-isotrope Verteilung das wesentlich divergente Geschehen einesals komplex betrachteten Ganzen systematisch ermglicht. Methodisch bedingt diesden Rckgang auf eine stets maximal frhe Periode der Weltentstehung, faktischeine Theorie, die die intensionale Pluralitt ihrer Phnomene durch den extensiona-len Universalittsanspruch kompensieren mu.

    2.) Der Teil aus Kants Theorie, der in rezeptions- und wissenschaftsgeschicht-licher Hinsicht die meiste Beachtung erfahren hat, ist die sogenannte Nebularhypo-these. Wie oben bereits erwhnt, lehnt Kant die Meinung von Maupertuis ab, da essich bei den am Himmel schwachleuchtend sichtbaren Nebelansammlungen umkompakte Krper handelt, gleichsam um Sterne unvorstellbaren Ausmaes. Er siehtin ihnen vielmehr die aufgrund ihrer immensen Entfernung nur undeutlich wahr-nehmbaren Ansammlungen ganzer Sternensysteme, die analog unserem Sonnen-system aufgebaut und lediglich in ihrer Komplexitt als Ganzes das reprsentieren,was wir von unserer Milchstrae deshalb nicht erkennen, weil wir ein integrativerTeil derselben sind. In der fr uns sich geschlossen darstellenden Sternensphre tau-chen also andere, ebenfalls abgeschlossene Galaxien auf, die als Parallelsystemeirgendwie in Verbindung mit unserem stehen, in sich aber wiederum galaktischgegliedert sein knnen. Dementsprechend mu jede Astronomie, die der KantischenPosition folgt, mit einer Mehrzahl von Sternenebenen rechnen, die weit ber die bis-lang angenommene Zehnzahl der Sphren hinausgeht. Da smtliche unserer Beob-achtung verfgbaren Komplexe aber aus einer Perspektive ad extra gesehen werden,ohne da wir Evidenz ber den genauen Einschlu der eigenen Milchstrae in dieseKompositionalitt htten, sind zwei Konsequenzen fast unweigerlich mit dieserKonzeption verbunden: erstens eine prinzipielle Potenzierung der Ebenen, die jedeEndlichkeit des Universums ad absurdum fhren mu, weil sie stets als Bestandteileiner hheren Ordnung begriffen werde knnte. Zweitens die notwendige Annahmeeiner homologen Struktur aller Galaxien des Universums. Diese zunchst spekula-tive Vermutung darf nicht als Verabsolutierung der in unserem Sonnensystem vor-handenen Naturgesetze als Extrapolation auf alle anderen verstanden werden. Eherist genau das Gegenteil ausschlaggebend. Weil man aufgrund der potentiellen Un-endlichkeit des Inbegriffenseins in je hhere Totalitt galaktischer Verflechtung niedas definitive Zentrum bestimmen kann, lt sich auch nie die ultimative Balanceder Kraft feststellen, der sich alle anderen Teilkrfte unterordnen. Zwar ist dieIntensitt der Gravitation partieller Schwankung unterworfen Kants Hypothesesetzt eine mit der Entfernung kontinuierlich schwcher werdende an doch im Prin-zip unendlich, so da man alle Massepunkte kennen mte, um eine das ganze Uni-versum abdeckende Einheitlichkeit der Wirkung zentraler Schwerkraft bestimmenzu knnen. Wenn man darber hinaus, wie Kant das auch tut, fr jedes Sternen-

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    system ein eigenes Schwerkraftfeld annimmt, gelangt man aus besagten Grndenzu einer infiniten Menge partieller Gravitation, die erst recht nicht mehr mit demGedanken einer zentralen in Einklang gebracht werden kann. Allenfalls unter derBedingung der wesentlichen Gleichheit in der Verfassung aller aktuellen und poten-tiellen Galaxien bleibt jede einzelne von ihnen determinierbar wenn auch das Ge-samt festlegen zu wollen, in den Bereich der theoretischen Omnipotenz entrckt(spter mehr dazu). Nun uert sich Kant in erster Linie nur zu den Bedingungenunseres Sonnensystems, so da wir die postulierte Homologie nicht exemplarischvorfhren knnen doch liegt auch darin ein performativer Beweis. Da die Gesetz-migkeiten innerhalb eines Systems der Kantschen Definition so geregelt auftre-ten, obwohl, wie wir eben sahen, nicht von einer strukturellen Isometrie ausgegan-gen werden kann, lt sich entweder aus einer bergreifenden Stabilisierung durchein allgemeines Gesetz deuten, das die einzelnen Unregelmigkeiten egalisiert, oderdurch eine interne Balance, die genau alle Divergenzen austariert. Letztere Interpre-tationsvariante scheitert aber daran, da die Begrenzung der einzelnen Systeme nureine dynamische Hypothese ist (tatschlich sind die Systeme offen, was etwa an deneinbrechenden Kometen deutlich wird) und in der Pluralitt prinzipiell in die Unbe-stimmbarkeit einer unendlichen Anzahl von parallelexistenten Systemen enthobenwird. Folglich ist es wesentlich wahrscheinlicher, eine Homologie der universalenStruktur anzunehmen, als dies nicht zu tun.

    3.) Im Verlauf der Bemerkungen zu Kant steht sicher im Hintergrund immerdie Frage, was die Allgemeine Naturgeschichte vor hnlichen Anstzen vor Kant,bzw. in seiner Zeit, auszeichnet. Ein Punkt, der dabei sicher an Kant geht, ist derVersuch, nicht nur der Entstehung der Planeten und eventuell der Sterne um einezentrale Sonne, sondern auch deren Existenz eine Geschichte zu geben. Die mit demAbschied vom geozentrischen Weltbild einhergehende Aufwertung der Sonne hatteim Zusammenhang der eigentlich alten, zur vollen Wirksamkeit aber wohl erst imachtzehnten Jahrhundert gelangenden Einsicht in den Sonnencharakter der Fix-sterne eine Relativierung erfahren. Kant fhrt diesen Proze der Harmonisierungaller stellaren Valenzen weiter, indem die Sonne in eine Naturgeschichte eingebautwird, die ihr neben der intergalaktischen Exklusivitt nun auch die intragalaktischenimmt. Eine Auszeichnung erfhrt sie nur insofern noch, als sie den rechnerischenMittelpunkt der Zyklen aller sie umlaufenden Sterne bildet, doch ist diese expo-nierte Stellung keine metaphysisch begrndete, sondern ihrerseits aus den gleichenGesetzeskonstanten hervorgegangen, denen auch die anderen Elemente des Systemsunterliegen. Im dritten Teil werde ich versuchen darzulegen, da es vermutlich docheiner privilegierten Existenz der Sonne bedarf, um im Rahmen der Hypothesen, aufdie Kant unumgnglich verzichten kann, die Faktizitt des Weltbaus schlssig be-haupten zu knnen. Doch zunchst weist die Bildung der Sonne keine abweichendenMomente auf: die durch die Gravitation ins Zentrum strzenden Teile der Urmate-rie verdichten sich und aus der kontinuierlichen Ballung entsteht ein Gestirn wie dieanderen auch, mit dem einzigen Unterschied, da dieses nur eine Achsendrehung,

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    keine Zirkelbahn vollzieht. Kant besteht also auf dem festen Corpus der Sonne, aufdem sich die brennende Oberflche austobt (gegen die Annahme einer durch unddurch glhenden Masse). Obgleich aus physikalischer Perspektive diese Theorie derSonnengenese der tatschlich stimmigen Deskription wenig Eintrag leistet, ist sie alsganze doch fr Kants System und in ihren Implikationen fr das Verstndnis desUniversums hchst bedeutsam. Denn die Entwicklung hin zu einer Kosmogonie,die auer der Urmaterie und der in dieser wirkenden Kraft keinerlei Ergnzungdurch irreduzible Fakten mehr bedarf, erreicht den Zustand einer Selbstreferentia-litt, in der dank der unendlichen Extension (welche allerdings noch auf der Unend-lichkeit Gottes gegrndet war) ein galaktisches perpetuum mobile zum bestim-menden Moment der Bewegung wird. Bei aller Perfektion der Newtonschen Gesetzebefindet Kant doch deren nie vollstndige Umsetzbarkeit, so da das Universumseine scheinbare Stabilitt in bezug auf unser Sonnensystem doch nur besitzt, weildie Zeitrume der Beobachtung verschwindend gering sind. Die Ellipsenform derPlanetenumlaufbahn anstelle eines Kreises zeugt von dieser minimalen Unvollkom-menheit (und resultiert aus der unterschiedlichen Entfernung der sich zum Planetenvereinigt habenden Teilchen im Konsolidierungsproze). Bei der Angabe von Jah-reszahlen ist Kant zwar nicht so przise wie Buffon, doch dafr umso grozgiger:

    Es ist vielleicht eine Reihe von Millionen Jahren und Jahrhunderten verflossen, ehe die Sphreder gebildeten Natur, darin wir uns befinden, zu der Vollkommenheit gediehen ist, die ihr jetztbeiwohnt; und es wird vielleicht ein ebensolanger Periodus vergehen, bis die Natur einen ebenso weiten Schritt in dem Chaos tut: [].32

    Damit ist klargestellt, da die Entwicklung der Schpfung mit sechstausend Jah-ren reichlich zu knapp bemessen wre. Doch darin allein liegt noch nicht Kantswesentliche Intention. Wichtiger als die Zeitdauer des Werdens ist die Mglichkeit ja, auf Dauer die notwendige Wirklichkeit des Vergehens, denn das Sonnensystemhat keinen ewigen Bestand. Fr Kant bietet sich nicht die Mglichkeit, Gott als Ret-ter des Universums zu prsentieren, denn diese Option hatte er ja, wie am Anfangerwhnt, schon an Newtons Theorie kritisiert:

    Eine Weltverfassung, die sich ohne ein Wunder nicht erhielt, hat nicht den Charakter der Be-stndigkeit, die das Merkmal der Wahl Gottes ist; man trifft es also dieser weit anstndiger,wenn man aus der ganzen Schpfung ein System macht, [].33

    Irgendwann werden die minimalen Abweichungen im Krfteverhltnis sich sum-mieren und zu einem Kollaps der Welt fhren, der das Sonnensystem als einenMaterieklumpen hinterlt. Das ist fr die Bewohner desselben Systems uerstbedauerlich. Doch Kant hlt einen Trost bereit, der meines Erachtens eine deutlicharistotelische Konnotation besitzt: das Individuum und als solches mu man einSonnensystem in dieser Theorie jetzt bezeichnen hat nur begrenzten Wert, weit ausmehr ist die Natur um die Erhaltung der Art bemht. Anders ausgedrckt: eine Ga-

    32 NTH AA 1, 313f.33 Ibid., 311.

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    laxie mehr oder weniger ist in der totalen Perspektive des Universums eine vernach-lssigbare Gre und den Verlust an der einen Stelle sieht Kant an anderer doppeltund dreifach ausgeglichen. Die quantitative Dimension, die das einzelne System be-stimmte und allererst als solches zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion be-frderte, wird auf der Ebene der teleologischen Entgrenzung in eine Zukunft sichimmer neu regenerierender Galaxiematerie zu einer rein qualitativen Komponenteder Kosmogonie:

    Es werden Millionen und ganze Gebrge von Millionen Jahrhunderten verflieen, binnen wel-chen immer neue Welten und Weltordnungen nach einander in denen entfernten Weiten vondem Mittelpunkt der Natur sich bilden und zur Vollkommenheit gelangen werden; [] Wirdrfen aber den Verlust eines Weltgebudes nicht als einen wahren Verlust der Natur bedauren.Sie beweiset ihren Reichtum in einer Art von Verschwendung, welche, indem einige Theile derVergnglichkeit den Tribut bezahlen, sich durch unzhlige neue Zeugungen in dem ganzen Um-fange ihrer Vollkommenheit unbeschadet erhlt.34

    Neben die rumliche Unendlichkeit tritt also noch die zeitliche, und beide zusam-men garantieren, da sub specie aeterni gesehen die Gattung Sonnensystem sichaufs herrlichste prsentiert. Dabei sei nur angemerkt, da Kant auf uralte Musterder Kosmologie zurckgreift, denn die soeben angedeutete Auswechslung einzelnerTeile des Universums ist eine Variante, die schon Anaximander entwickelt hatte.

    Diese Hinweise mssen zunchst gengen, was Kants Theorie betrifft. ber dieFortschrittlichkeit derselben lt sich sicher erst dann urteilen, wenn wir noch ein-mal einen Blick auf die Rolle Gottes in der ganzen Konzeption werfen.

    III. Laplace und die Konsequenzen der Theorie Kants

    Die von Kant prsentierte Kosmogonie hatte gegenber allen frheren Entwrfenden Vorzug, von einer ueren, supranaturalistischen Ursache weitgehend unabhn-gig zu sein, wenn man einmal das ursprngliche Moment der creatio ex nihilo auerAcht lt. Die Gesetzmigkeit der Bewegungen im All, die prinzipielle Homologiealler denkbaren Expansionen des zeitlich wie rumlich unendlichen Kosmos und dieselbststabilisierende Zyklik einer sich ad infinitum perpetuierenden Kosmogenesebelegen scheinbar eine Autonomie von theonomen Elementen; da diese Indepen-denz jedoch nur eine vordergrndige ist, die in Widerspruch zu den konstitutivenPrmissen der Theorie Kants steht, will ich abschlieend versuchen darzulegen.

    Dabei fallen die verstreuten Bemerkungen, da sich die Gre des Urhebers ander Vollkommenheit seines Werkes erkennen lasse, nur sehr gering ins Gewicht; sieknnen als Kontributionen eines Deisten an die Gewohnheitstradition theologischerErklrungsmodelle verstanden werden, was eine ehrliche berzeugung, unter Um-stnden motiviert durch eine aufrichtige Frmmigkeit, gar nicht ausschlieen mu.

    34 Ibid., 314, 318.

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    Fr unsere Untersuchung sind hingegen nur solche Aspekte relevant, die notwen-dig aus dem System folgen, welches wiederum ohne sie nicht kohrent konstruiertwerden knnte, und die gleichzeitig den impliziten Anspruch, genau von diesen Mo-menten unabhngig zu sein, konterkarieren. Zentraler Ansatzpunkt hierfr ist dieim Chaos der Urmaterie einbeschlossene Ordnung der unterschiedlichen Teilchen.Nach Kants Verstndnis sind die nach dem Schpfungsakt nur den Kraftgesetzenunterworfenen Materieansammlungen deshalb ausschlaggebend fr die Bildung al-ler Krper im Universum, weil die spezifische Varianz der Dichte eine unterschied-liche Bewegung und daraus resultierend die Zusammenballung von Teilchen verur-sachte. Nun ist diese Verteilung aber nicht willkrlich, sondern von Gott genau soarrangiert, da es zu den tatschlich dann ablaufenden Prozessen kommen mute.Da sich diese und jene schwereren Teilchen genau an den Stellen befanden, an de-nen sie sich befanden, ist kein im Gesamt der Entwicklung kontingentes Faktum,wie es der ganze Proze ist. Der naheliegende Erklrungseinwand gegen alle inten-tionalistischen Lesarten einer den Phnomenen nach naturalistisch interpretierba-ren Konzeption ist der, da bei anderer Ausgangssituation eben diese Konstellationnie zustande gekommen wre. Die Faktizitt des heute vorhandenen Status belegtdemnach keinen prszienten Willen, sondern ist das Resultat aus einer unbestimm-bar groen Menge von alternativen Entwicklungsmglichkeiten, in deren Verlaufnur die eine Verwirklichung nmlich unsere die Basis fr die Frage nach sichselbst berhaupt bietet. In allen anderen parallelen Kosmogonien gibt es keine Al-ternativen, weshalb der Gedanke, aus unserer Perspektive diese doch anzunehmen,mit der Exklusivitt unserer Kosmogonie steht und fllt.

    Mit diesem schwer zu entkrftenden Argument, das Faktische mit dem Not-wendigen zu verwechseln, weil eine vermeintliche Symmetrie der jeweiligen Nega-tion vorausgesetzt wird, die so aber gar nicht besteht, htte Kant nun folgender-maen antworten knnen: der Urzustand in meiner Theorie ist nicht essentiellvorgeprgt, sondern hat nur ein Stadium erreicht, in dem es unmglich geworden ist,ihn anders zu denken. Dann wre in der Tat Gott ein dankenswertes Erinnern gefl-lig, die eigentlich entscheidenden Vorgnge wren hingegen der Gravitation geschul-det. In dem Mae, wie Gott aus der Welt hinausgedrngt wurde, htte man ihn durchdie Naturgesetze kompensiert. Dies so denke ich ist nicht die Intention Kantsgewesen und die Allgemeine Naturgeschichte so zu lesen, geht an wesentlichen Mo-menten vorbei. Erstens: das paradigmatische Verstndnis unseres Sonnensystems alsnur eines von vielen mglichen, hindert es, eine nur dem Zufall zuzuschreibende Vor-kommnis von ausgestalteten stellaren Konstellationen im All fr die wahrscheinlich-ste Form zu halten. Wenn alle Systeme in allen Galaxien analog dem unsrigen aufge-baut sind, mu auch die Verteilung der Urmaterie, die Kant als unumgnglich fr dieHerausbildung unseres Systems erwiesen hatte, fr alle anderen potentiellen Teil-bereiche des Universums angenommen werden. Da Kant im dritten Teil seiner Schriftdie mehr oder weniger durchgngige Bewohntheit der Sterne behauptet hatte, ver-liert die Hypothese einer auf die Gravitation gegrndeten Evolution des Kosmos indem Mae an Wahrscheinlichkeit, wie das Vorhandensein von Leben sich als unab-

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    dingbar essentialistisch bestimmt und durch intentionale Teleologie erst verstndlichzeigt. In der Vorrede hatte Kant auf die Unmglichkeit einer rein chaotischen Rege-lung der Natur hingewiesen. Hier wird klar, da Kosmologie nur dann ein sinnvollesUnterfangen ist, wenn a priori die rationale Verfatheit eines Teils des Universumsvorausgesetzt wird: ich hatte oben zu zeigen versucht, da es in einem offenen Allkeine einmalige Ausnahme geben kann, die nicht mit den zugrundeliegenden Geset-zen irgendwie bereinstimmt. Insofern die Erde als Paradigma planetarischer Ent-wicklung vorgestellt wird, avanciert die exzeptionelle Erscheinung rationalen Lebenszur Regel fr alle Planeten, deren unterschiedliche Beschaffenheiten von Kant ganzim Sinne einer Prioritt intentionaler Strukturen als kompatible Herausforderung andie Vielfalt mglicher Evolution intelligenter Daseinsformen gedeutet wird. Zwei-tens: Kant setzt zwar die Mglichkeit eines prinzipiell unendlich ausgedehnten Uni-versums an, spricht desungeachtet aber von einem Mittelpunkt desselben. Ob damitdie alte Vorstellung etwa die Nikolaus von Kues gemeint ist, da das Unendlicheeine Kugel sei, deren Mittelpunkt berall und die Peripherie nirgends sei, wird beiKant nicht deutlich. Doch liegt es nahe, keinen wirklich rumlichen Charakter diesesMittelpunktes anzunehmen, sondern eher so etwas wie ein Kraftzentrum, aus demsich immer wieder neue Kosmen entwickeln knnen; oder wir knnen hier eine Vor-stufe des transzendentalen Denkens erkennen, in dem Kant den Mittelpunkt alsdie denknotwendige Voraussetzung fr die Bestimmung der einzelnen Schwerpunkt-verteilungen im Universum begreift. Da dies plausibel ist und auf die oben gegebeneInterpretation der vorgngigen Homologie hinweist, drfte nun einsichtig sein. We-niger deutlich ist, da sich hier schon die notwendige Referenz auf eine integrierteGotteskonzeption zeigt, die Kant sehr stark im Lichte Leibniz erscheinen lt.

    Um noch einmal auf die Ausgangssituation zurckzukommen: von den beidenErklrungen es hat sich so entwickelt, weil die Teilchen so verteilt waren und dieTeilchen waren so verteilt, da es sich genau so entwickelt hat ist die erste reinnaturwissenschaftlich haltbar. Sie ist es jedoch nicht mit der von Kant gleichzeitigpostulierten Periodizitt eines paradigmatischen Universalismus. Denn gefordertwird, da in allen mglichen Verteilungen der chaotisch zerstreuten Materie genau(im Sinne einer wesentlichen Analogie) dieses Resultat sich zeigt. Die wissenschaft-liche Hypothese, so nenne ich sie einmal, besagt aber nur, da es genau dieses Pro-dukt ergeben hat, insofern der Einmaligkeit jener ursprnglichen Startsituation einegewisse Notwendigkeit exklusiv eignet. Mithin mu Kant, um den Charakter eineridealtypischen Kosmologie aufrecht erhalten zu knnen, darauf bestehen, von je-dem beliebigen Punkt zu einem relativ gleichen Ergebnis zu gelangen, whrend erdies, um einer wissenschaftlichen Kosmogonie gerecht zu werden, gerade negierenmu. Die Diskrepanz zwischen beiden Ansprchen lt sich formal nur durch dieimplizite Setzung eines schon je vermittelnden Gottes ausgleichen. Eine Apotheoseder Gravitation und Zentrifugalkraft reicht hier nicht hin, weil die Immanenz dieserbeiden Krfte nur das jeweils aktuelle, nicht aber die Entdimensionalisierung auf je-des mgliche System des Ganzen hin zu leisten vermag: denn die eigene Konstanz zubehaupten, mte notwendige Voraussetzung sein, um der potentiellen Kontingenz

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    aller je auftretenden Optionen begegnen zu knnen. Dies ist gleichbedeutend damitzu sagen: egal, wie der Kosmos aufgebaut ist, die Krfteverhltnisse mssen so sein,wie sie jetzt sind. Da diese Forderung nicht nur deshalb in der Umsetzung scheitert,weil sie genau die essentialistische Prgung vorwegnimmt, die der Naturalist obeneigentlich bestreiten wollte, sondern auch, weil ja die Entwicklung der Abstoungs-krfte und der ihnen entgegenstehenden Gravitation recht eigentlich resultierendeVerhltnisse aus der Verteilung der spezifisch bestimmten Urteilchen sind, wird jetztdeutlich. Somit ist das Postulat (Homogeneitt der Krfteverhltnisse) nur die Kon-statierung des Faktischen als die bereits vollstndige Flle seiner Mglichkeiten und verfehlt so den eigenen Anspruch, sich selbst eine Transzendenz ber das Gege-bene verleihen zu knnen. Von den begrifflichen Aporien, die eine Vergottung ohneGott mit sich brchte, soll hier gar nicht weiter gehandelt werden.35

    Bei Kant findet sich die Konsequenz, den Verzicht auf Gott nur durch die konsti-tutive Integration Gottes erreichen zu knnen, noch nicht explizit gezogen. Dies zuleisten, blieb dem franzsischen Mathematiker und Astronomen Pierre Simon Mar-quis de Laplace (17491827) vorbehalten.36 Die in dem kosmologischen Haupt-werk Exposition du systeme du monde enthaltene Theorie ist wohl ohne Kenntnisder von Kant vierzig Jahre zuvor formulierten Ansichten entstanden. Sie weistnichtsdestotrotz hnlichkeiten in den Grundzgen auf, die auch von den mittler-weile durch die experimentellen Ergebnisse etwa W. Herschels in der Sternenbeob-achtung erzielten Erweiterungen im Wissen um das All profitierte. Laplaces Anlie-gen ist jedoch nicht so umfassend, wie bei Kant, er beabsichtigt nur, eine Theorie derEntstehung des Sonnensystems zu geben, nimmt aber die Existenz der Sonne alsschon gegeben an. Die konsequente Anwendung der Gesetze Newtons in Kombina-tion mit den verbesserten Daten ermglichen es, die Variationen in den Umlauf-bewegungen der Planeten als zyklische Abweichungen zu bestimmen, die einer alsim empirisch nie verfgbaren ganzen Invarianz nicht entgegenstehen. Im Trait demcanique cleste (17981825) erarbeitet Laplace die Thesen des konstanten Kos-mos und da dieser partiell zwar schlingert, in sich als totum aber stabil ist, bedarf esauch keines justierenden Eingreifens einer hheren Macht. Die bei Kant noch dring-liche Frage, wie man den Uhrmacher Newtons aus der Naturwissenschaft heraus-nehmen knne, stellt sich fr Laplace gar nicht mehr.

    Dafr taucht die berlegung eines vollkommenen Gottes an anderer Stelle wiederauf und wir werden sehen, da Laplace damit an die Problematik anknpft, die ichsoeben fr Kant aufgezeigt hatte freilich ohne diese lsen zu wollen. Tragweite er-

    35 Von Belang ist diese Schwierigkeit im Spannungsgefge eines verabsolutierten Naturbegrif-fes, der seinen universalen Anspruch durch die Verdrngung des Gottesbegriffs durchzuset-zen meint; ob im Verlust des alten Gegengewichtes von Gott und Natur zwangslufig das Er-klrungspotential und die Funktion desselben auf den verbleibenden Faktor bergehenmu, wird von nicht unerheblicher Bedeutung dafr sein, in welchem Sinne man berhauptvon einer entgttlichten Natur sprechen kann.

    36 Zur Biographie und zum Werk Laplaces cf. C. C. Gillispie: Pierre Simon Laplace. Princeton,NJ 1997.

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    langt Laplace vielmehr in der Rezeption seines Gedankens, nicht in erster Linie alsKommentar zu Kants Dilemma. In dem Essai philosophique sur les probabilitsvon 1814 findet sich die Konzeption eines allwissenden Verstandes, die spter mitdem Begriff des Laplaceschen Dmons belegt worden ist. Der Sache nach handeltes sich um eine berlegung, die an Aspekten aus der Monadologie Leibniz orientiertist. Ein Bewutsein, dem alle Bedingungen aller mglichen Ereignisse bekannt sind,sowie die Gesetze, nach denen diese notwendig ablaufen mssen, wird in der Lagesein, aus einem beliebigen Set initialer Daten smtliche sich nach diesem Zeitpunkteliegenden Variationen derselben errechnen zu knnen; Laplace schreibt:

    Wir mssen also den gegenwrtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines frheren undals die Ursache des folgenden Zustands betrachten. Eine Intelligenz, welche fr einen gegebe-nen Augenblick alle in der Natur wirkenden Krfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusam-mensetzenden Elemente kennte, und berdies umfassend genug wre, um diese gegebenen Gr-en der Analysis zu unterwerfen, wrde in derselben Formel die Bewegungen der grtenWeltkrper wie des leichtesten Atoms umschlieen; nichts wrde ihr ungewi sein und Zukunftwie Vergangenheit wrden ihr offen vor Augen liegen.37

    Leibniz hatte diesen Geist gebraucht, um in der prstabilierten Harmonie dieKongruenz und Kohrenz aller in sich individuell isolierten Zustnde der einandervollkommen widerspiegelnden Monaden gegen deren Fensterlosigkeit plausibelmachen zu knnen. Bei Laplace sind zwar die einzelnen Faktoren der Vermittlungnicht die selbst noch der Information bedrftigen, doch sind die Momente der Ver-mittlung gleich: Voraussetzung des determinierenden Vorherwissens sind neben derZwangslufigkeit der Prozesse die Stabilitt des Ereignisrahmens (das heit, dieMenge der Daten darf sich nicht unvorhersehbar ndern oder gar die Gesetze um-formen) sowie die Abgeschlossenheit des Bezugssystems. Den ersten Punkt (die Not-wendigkeit des gesetzmigen Ablaufs der in Frage stehenden Naturprozesse) hattebereits Newton erwiesen; Punkt zwei (Konstanz des Ereignisrahmens) war Laplaceseigenes Werk und Punkt drei knnen wir in Kants Forderung nach einer sich imparadigmatischen Charakter prsentierenden Gleichartigkeit des Sonnensystemsfr das ganze Universum erkennen, so da die dimensionale Unendlichkeit auf einemethodische Finitt reduzierbar ist. Geistesgeschichtliches Interesse weckt der D-mon vor allem, weil die zunehmende Mathematisierbarkeit des Kosmos in Verbin-dung mit dem technischen Fortschritt die Hoffnung aufkommen lie, diese in dertraditionellen Metaphysik Gott zukommende Position irgendwann selbst einzuneh-men und alle Zustnde des Universums vorherzusagen auch wenn Laplace dieserMglichkeit widersprochen hatte:

    Der menschliche Geist bietet in der Vollendung, die er der Astronomie zu geben verstand, einschwaches Abbild dieser Intelligenz dar. [] Alle diese Bemhungen beim Aufsuchen derWahrheit wirken dahin, ihn unablssig jener Intelligenz nher zu bringen, von der wir uns ebeneinen Begriff gemacht haben, der er aber immer unendlich ferne bleiben wird.38

    37 P. S. de Laplace: Philosophischer Versuch ber die Wahrscheinlichkeit. Leipzig 1986, 1f.38 Ibid., 2.

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    Unklar bleibt hier, wie Laplace die Inkommensurabilitt des Unendlichen in denFortschrittsproze des kontinuierlichen Erkenntnisgewinns einbinden wollte.

    Rein retrospektiv hatte Kant einen vielversprechenden Ansatz geliefert, die An-fnge der eigenen Naturgeschichte explanativ einzuholen, um sich so ein solidesFundament fr die Bestimmung aller sich aus dieser Urphase ergebenden Prozessezu geben. Laplaces Glaube an die Vollstndigkeit und die vollstndige Verfgbar-keit aller dafr notwendigen Faktoren ist angesichts einer Quantenphysik nur nochschwer nachvollziehbar. Ob die Hypothese einer zeitlosen Determination des Gege-benen astronomisch sinnvoll ist (unabhngig davon, ob es anthropologisch wn-schenswert ist), steht also heute, wie damals, buchstblich in den Sternen.