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Adorno - Kitsch

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  • KITSCH THEODOR W. ADORNO

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    So wenig sonst bei Ideen, die in Geschichte mitten inne stehen, der Bezug auf den Wortsinn verschlgt: das Wort Kitsch ist vom Wortsinn so weit abgerckt, da der es bereits wieder aufklren mag, indem er als verges-senes Geheimnis kenntlich wird. Wenn die Deutung zutrifft, die das Wort vom englischen sketch herleitet, dann wre damit vorab das Unaus-gefhrte, blo Angedeutete gemeint. Das mag tiefer fhren als alle Vor-stellungen vom Unechten, Scheinhaften allein jemals es vermchten. In Musik jedenfalls hat aller eigentliche Kitsch Modellcharakter: bietet den Rahmen und Entwurf objektiv verbindlicher, vorgesetzter Formgestal-ten, die in Geschichte ihren Gehalt verloren und denen der freizgige, losgerissene Knstler den Gehalt von sich aus nicht zu erwirken vermag. Darum ist der Scheincharakter von Kitsch nicht eindeutig auf die indivi-duelle Unzulnglichkeit des Knstlers zurckzufhren, sondern hat sel-ber objektiven Ursprung im Sturz von Formen und Material in Ge-schichte. Kitsch ist der Niederschlag entwerteter Formen und Floskeln in einer Formwelt, die ihrem Umkreis entrckt ist. Was der Kunst von ehe-mals zugehrte und heute unternommen wird, rechnet zum Kitsch. An-dererseits liegt in der Objektivitt des Kitschs seine Rechtfertigung. Denn er bewahrt, verzerrt und als bloen Schein, das Gedchtnis eben an eine Formobjektivitt, die verging. Kitsch ist gleichsam ein Behlter my-thischer Grundstoffe der Musik, wie sie sonst in ihr allein, verwandelt, als fortgeschrittenste Ergebnisse ihrer Dialektik auftreten, sonst aber verlo-ren sind. Darum ist der Kitsch aller Musik des juste milieu vorzuziehen.

    Man mu freilich differenzieren. Rettung des Kitschs gilt in Wahrheit nur in der musikalischen Unterwelt der Operetten, Schlager, Couplets und des anonymen Gutes, das noch unterhalb der Unterwelt liegt, der Mrsche und Trinklieder, Rhrlieder und Dienstmdchenprodukte; end-lich dem an mittlerer, ehemals ernster Musik, was mittlerweile durch-sichtig ward und heute, als Kitsch kennbar, erst sein Geheimnis preisgibt; wie etwa das Rtsel des musikalischen Jugendstiles, aus dessen Idee der ganze Richard Strauss zu konstruieren wre, an einem Liede wie dem Lassenschen Stell auf den Tisch die duftenden Reseden aufzulsen ist. Fr mittleren Kitsch der Ausdruck stammt von Karl Kraus gibt es keine Rettung. Denn nur ber den Kopf des Komponisten hinweg ver-mag das Recht von Kitsch sich durchzusetzen; nur, wenn von ihm aus nichts gemeint ist; sobald aber die Komposition von sich aus Ansprche anmeldet und subjektiv geformt sein will, aber dem Kitsch verfllt, ist die Macht von Kitsch-Objektivitt in ihr dahin. Jemand hat einmal von guten schlechten und schlechten guten Bchern geredet. Der Unterschied ist hier genau zustndig. Gute schlechte Musik: das ist Tea for Two, das Trio aus Sunflower aus der Inflationszeit; spter The Dancing Tambourine, vielleicht sogar die Drei Musketiere. Schlechte gute Musik braucht hier

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    nicht genannt zu werden. Sie ist Kitsch auch: unausgefhrt, scheinhaft, lebt von falschen Gefhlen. Aber die Macht der toten Formen ist aus ihr entwichen. Sie wre zu vernichten.

    Unmglich, die Idee Kitsch freischwebend sthetisch zu fassen. Das sozi-ale Moment konstituiert sie wesentlich. Denn indem der Kitsch vergan-gene Formwesen den Menschen als gegenwrtig aufredet, hat er soziale Funktion: sie ber ihre wahre Lage zu tuschen, ihre Existenz zu verkl-ren, Ziele, die irgendwelchen Mchten genehm sind, ihnen im Mrchen-glanz erscheinen zu lassen. Aller Kitsch ist wesentlich Ideologie. So hat im neunzehnten Jahrhundert der musikalische Kitsch die Existenz des Brgers und Proletariers, die im Existenzkampf aufgehen, durch eine Romantik verklrt, die, einmal als groe Kunst abgestorben, mit Eliland und dem Trompeter von Sckingen geeignet war, die gute Stube in eine Kemenate zu verwandeln. In dem weiteren, gesicherten Lebensraum von damals schwingt in allem Kitsch eine Todesmetaphysik mit, wie sie Tris-tans Entsagung und das B'ht dich Gott, es wr so schn gewesen zu-sammenfat. Heute, da die mittlere Sicherheit des Brgers dahin ist, hat die Funktion des Kitschs sich gewandelt. Fr den Tod lt er keinen Raum mehr: er mu nur noch verhllen und verklren: und mu mit ganz anderer Promptheit jeweiligen konkreten Wnschen der gequl-ten Menschen gengen. Trotz aller Verhllung zeichnen die realen Klas-senverhltnisse sich immer schrfer ab: wenn etwa seit einem Jahr die Angestelltenschlager von der Art der Blonden Inge gedeihen, die dem Mdchen an der Schreibmaschine mit Tonfilm und Revue weismachen, es sei eine heimliche Knigin. Kaum glaublich, wie schnell der Kitsch dem Bedrfnis antwortet. Ich habe einmal den Zusammenhang von Ich ksse Ihre Hand, Madame und der Stabilisierung aufgewiesen. Mit dem Beginn der Wirtschaftskrise kam das Lied von der einen weien Chrysan-theme heraus, die oft soviel sagt wie ein ganzer Strauss offenbar aus Ersparnisgrnden. Der ideologischen Verkoppelung von Wirtschaftsnot und politischer Reaktion dient der Gigolo. Sind die militrischen Schla-ger Zufall oder die einer neuen Bodenstndigkeit, die man uns heute ser-viert?

    An alldem ist die Musik hchst mitbeteiligt. Ihr fllt vor allem die Auf-gabe zu: durch Beibehaltung alter und beralterter Formtypen den Ein-druck besttigter kollektiver Verbindlichkeit zu erwecken; einzelne Mit-tel des Ausdrucks wie die romantische und heute bereits die impressio-nistische Harmonik zu einer Stunde einzusetzen, zu der sie sich aus ih-ren ursprnglichen Formzusammenhngen gelst haben und gleichsam als Wechselgeld des musikalischen Verkehrs kursieren knnen; melodi-

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    sche Kurven, denen eben noch die Spuren ehemaliger Gefhlsbedeutun-gen anhaften, konventionell und phrasenhaft zu gebrauchen. Dabei bleibt die Vereinigung des Charakteristischen und des Banalen Aufgabe und Paradox aller echten Kitschmusik; bedarf sie des Charakteristischen, um aufzufallen und behalten zu werden, so gestattet es ihr dafr wieder nur Banalitt, ohne Bewutseinskonzentration, meist unbewut im psychoanalytischen Sinne, berhaupt aufgefat zu werden. Uralte, ei-gentlich wohl rituale Schemata wie das von Strophe und Refrain hlt sie treu fest; ehemals besonders exponierte und auffllige harmonische Ele-mente wie der verminderte Septimakkord oder heute die Ganztonskala sind ihr lieb; von jeder individuellen Gestaltung hebt sie sich auch dadurch ab, da sie typenweise gebildet wird; sobald ein neuer Typ auf-tritt Valencia: Sechsachtelstep, Heidelberg: Geschwindmarsch, Wenn der weie Flieder: Pseudovolkslied , bildet sich eine groe Gruppe ganz hnlicher Kompositionen, die zuweilen die ursprngliche verdrngen; o-der es tritt ein Typ gleichzeitig in zahllosen Exemplaren auf. Unbedingt ausgeschlossen bleibt das Eindringen kompositorisch-selbstndiger Re-gungen in die Kitschregion. Dagegen sind aussichtsreich Einflle, die streng im Rahmen der Konvention verbleiben: wie die dreiteilige Metrik der Valencia.

    Der rgste Kitsch ist der mit Niveau, der nicht von vornherein kenntlich ist, sondern kompositorischen Anspruch erhebt. Ihn zu entlarven, gibt es als Mittel allein die technische Kritik: Kitschelemente in ernst gemeinten Kompositionen berfhren sich stets durch technische Unstimmigkei-ten. Freilich bieten die allein den Einsatz: technische Unstimmigkeit braucht nicht notwendig Kitsch zu sein.

    Es gibt kein allgemeines Kriterium fr Kitsch, denn der Begriff ist selber ein Rahmen, der sich je und je erst geschichtlich erfllt und sein eigentli-ches Recht allein in der Polemik hat. Heute ist er lngst vom juste milieu adoptiert und selber zum ideologischen Mittel geworden, eine mittlere Kultur des Musikalischen zu verteidigen, der keine Kraft mehr inne-wohnt. So beginnt die Rede vom Kitsch selber kitschig zu werden, indem sie der geschichtlichen Dialektik erliegt, der ihr Gegenstand entstieg. Da die Verachtung der unteren Musik als der wahren Region des Unbewu-ten in der Musik nicht mehr hilft und an ernster und anspruchsvoller Mu-sik die Kritik der Unstimmigkeit stets verbindlicher ist als die Aussage von Kitsch, die eine geschlossene verbindliche Musiksprache voraus-setzt: so wird man die Rede allmhlich zu vermeiden lernen; nachdem klar steht, was sie bedeutet. Ca. 1932