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Advent mosaik IV 2015

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zusammengestellt von mosaik - Zeitschrift für Literatur und Kultur. Illustrationen von Sarah Oswald. Mit Texten von: Camena Fitz, Claudia Kohlus, Martin Reiter, Ingeborg Kraschl, Luka Leben, Jonas Linnebank, Simona W., Eric Ahrens, Simone Lettner, Marina Büttner, Matthias Engels, Natalia Fastovski, Simone Scharbert, Katie Grosser, Claudia Maria Kraml, Maximilian Michl, Sophie Stroux, Sigune Schnabel, Andreas Schumacher, Gundula Maria von Traunstein, Claudia Wallner, Martin Piekar, Andreas Haider und Emanuel Gauß.

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INHALT 01 | Camena Fitz ...................................................................3

02 | Claudia Kohlhus ........................................................... 10

03 | Martin Reiter ............................................................... 11

04 | Ingeborg Kraschl .......................................................... 13

05 | Luka Leben ................................................................... 14

06 | Jonas Linnebank........................................................... 17

07 | Simona Winkler ........................................................... 18

08 | Eric Ahrens ................................................................... 21

09 | Simone Lettner ............................................................ 23

10 | Marina Büttner ............................................................ 26

11 | Matthias Engels ........................................................... 28

12 | Natalia Fastovski .......................................................... 32

13 | Simone Scharbert ........................................................ 33

14 | Katie Grosser ............................................................... 34

15 | Claudia Maria Kraml .................................................... 36

16 | Maximilian Michl ......................................................... 38

17 | Sophie Stroux............................................................... 40

18 | Sigune Schnabel ........................................................... 47

19 | Andreas Schumacher ................................................... 49

20 | Gundula Maria von Traunstein .................................... 52

21 | Claudia Wallner ........................................................... 53

22 | Martin Piekar ............................................................... 55

23 | Andreas Haider ............................................................ 57

24 | Emanuel Gauß ............................................................. 58

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01 | CAMENA FITZ

BAUCHGE.FÜHL

ein haus

wohnt

in meinem bauch

in meinem bauch wohnt ein haus

ein haus mit 3 zimmern und 1 treppe

in einem raum gibt es ein rechteckiges

| fenster |

mit schwarzem rahmen

schwarz und aus eisen

allein

kann ich das | fenster | nicht öffnen.

als ich mich in dich

verliebe

beistrich

lad ich dich ein

in das haus

Page 4: Advent mosaik IV 2015

in meinem bauch.

du kommst und

bist ein guter

erster gast.

doch du willst nicht, dass ich

allein

in der dunklen ecke

sitz.

und dann

gehst du.

ich verschließ die tür 3 mal

und kontrollier 4 mal

ist sie ordentlich verschlossen?

und dann setz ich mich in meine

dunkle

ecke

in dem raum mit dem schwarzen

eisenfenster

in dem haus

in meinem bauch

in dem raum mit dem schwarzen

eisen | fenster |

in dem haus

in dem. in meinem bauch

und

allein

kann ich das | fenster | nicht öffnen.

Page 5: Advent mosaik IV 2015

ich bin

immer noch

verliebt

in dich,

als du vorsichtig an der tür

klopfst

ich stell mich schlafen

und du klopfst jetzt ans | fenster | .

ich schau hindurch und schüttle den kopf.

da gehst du wieder

doch vor der tür vor dem haus

in meinem bauch

steht

jetzt

ein sofa.

von meiner dunklen ecke aus

kann ich

es

nicht

sehen.

du bist

verliebt

in mich,

als ich dich mitnehm

auf den weg zu dem haus

in meinem bauch.

wir setzen uns auf das sofa

vor dem haus

in meinem bauch

Page 6: Advent mosaik IV 2015

dort bleiben wir die ganze

nacht

und den halben mond

lang

dir wird kalt, du willst ins haus.

wir sollten

das sofa

mit hinein nehmen,

schlägst du vor...

ich geh hinein in das haus

in meinem bauch

und schick dich raus

schlaf gesellt sich zu mir

zu mir

in meine dunkle

ecke

er stiehlt das licht

aus

meinen augen

und du sitzt auf dem sofa

vor dem haus

in meinem bauch.

am nächsten morgen

als der tau nicht

länger

glitzert,

nimmst du das sofa

und du gehst.

Page 7: Advent mosaik IV 2015

ich blick durch

das schwarzeisenfenster

allein

kann ich das | fenster | nicht öffnen.

dort wo das sofa stand, ist

jetzt

ein dunkles loch in der grünen wiese

vor dem haus

in meinem bauch

ich will dort blumen säen

oder lieber einen baum pflanzen?

ich will dich

um deine meinung

fragen

als ich dich endlich wiederfind,

sind wir verliebt

ineinander.

wir gehen zu dem haus

in meinem bauch

gemeinsam

lange stehen wir vor dem dunklen loch

vor dem haus

in meinem bauch

und halten händchen.

du wirfst einen kirschkern

gegen das schwarzgerahmte eisenfenster

wir gehen rein und

streiten

Page 8: Advent mosaik IV 2015

als du gehst, wart ich

in meiner dunklen

ecke

ich wart vergeblich auf schlaf

die erde hat sich halb verdreht

und noch immer

sitz ich

in dem schwarzeisenfenstergerahmten

zimmer

dunkler noch, ist jetzt meine ecke.

im ganzen raum

scheint kaum mehr sonne, noch licht.

es klopft

an der tür

ich öffne die tür

von dem haus

in meinem bauch

dort stehst du

nicht

nur das sofa, nicht du

und vor dem haus

in meinem bauch

steht

jetzt

ein kleiner baum

Page 9: Advent mosaik IV 2015

seine äste stoßen an das | fenster |

allein

kann ich das | fenster | nicht öffnen.

jeden abend wünsch ich mir, dass du

in das haus

in meinem bauch

kommst.

ich bring das sofa rein und

schlaf

Camena Fitz

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02 | CLAUDIA KOHLHUS

weiße welten die keine weißen westen tragen

in stillen nächten gebrochene versprechen

engelchen ohne flügel wenig zeit sich die

ärschlein zu wärmen bei bratendüften

ins abseits gestritten ins gebet genommen

sich gegenseitig das messer in den rücken

gewünscht dafür in der kirche lauter

gesungen

Claudia Kohlus

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03 | MARTIN REITER

ZÄHL DIE TAGE

Ich weiß Dezember bringt uns Lichter

Und Jänner nur noch Schnee.

Wenn Februar dann kommt

Dann kann ich ihn nicht mehr sehen.

Und Sunrise, Sunrise, Sunset.

Ich lieg wach in meinem Bett.

Ich spür das Pochen meines Herzens,

Hör das Rauschen in meinem Kopf.

Der stete Schritt der Wochentage

Verwandelt sich in Alltagstrott.

Und Stunden werden zu Tagen,

Werden zu Wochen, werden zu Jahren.

Und eins weiß wirklich keiner:

Wie viel Zeit wir hier noch haben.

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Zähl die Ringe unter meinen Augen und

Du weißt wie alt ich bin.

Zähl die Träume in meinem Herzen,

Innen drin bin ich noch Kind.

Und ich durchschau‘ das Schema,

Doch ich halt mich weiter dran.

Es ist so schwer was zu verändern,

Wenn man sich selbst nicht ändern kann.

Und Stunden werden zu Tagen,

Werden zu Wochen, werden zu Jahren.

Und eins weiß wirklich keiner:

Wie viel Zeit wir hier noch haben.

Martin Reiter

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04 | INGEBORG KRASCHL

ADVENT

Gewiss

warten wir auf innigere Tage -

wenn unsere Stummheit aufbricht

sich Augen in uns

und ineinander kehren

herzerfüllte Worte

die Lippen überwinden

wir in unserer Welt

den Nächsten erkennen

und den Blick

für das Große

immerzu bewahren

Ingeborg Kraschl

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05 | LUKA LEBEN

ALLE JAHRE WIEDER

Die Welt dreht sich vom aufzeichnenden Auge unbemerkt,

wie die Felgen eines Sportwagens am Großbildfernseher. Je

mehr Zeit man sich nimmt, um zu schauen, umso mehr fällt

auf, dass sich nichts tut. Und doch ist irgendwann wieder ein

Jahr vorbei und noch eines und die Lichterketten ranken sich

an den Geschäften und Boutiquen empor wie die Rosen des

Dornröschenschlosses seit Jahrhunderten Abend um Abend in

den Gutenachtgeschichten der westlichen Kultur, nur dass

dahinter nicht die unendliche Ruhe des (Winter)schlafs

einkehrt, sondern ein alptraumhafter Mahlstrom an

Geschäftigkeit.

Das hübsch anzusehende Überwuchern kann man auch in

zeitgerafften Dokumentationen des Zerfallsprozesses

beispielsweise eines Weihnachts-apfels beobachten: Der

Schimmel sprießt und zuckt tänzerisch mit seinen feinsten

Härchen, manchmal springt etwas ganz unerwartet hervor

Page 15: Advent mosaik IV 2015

und erweckt im Betrachter ein süßes Erschrecken und

insgesamt sammelt sich alles zur samtenen Geborgenheit

eines Pelzes, wie von einem kleinen wichen Tier, man möchte

schon die Wärme eines pochenden Herzschlags darin

vermuten, aber bald! – zeigt sich das verfaulte schwarze

Fleisch im Inneren, dass immer mehr verkümmert und

schließlich gottseidank verschwindet!

Auch in den Geschäften tummelt sich das überschäumende

Leben: Die Augen der ausgezehrten, burnout-gefährdeten

Beamten, Betriebswirte und Babysitter glänzen im Fieber der

Selbstüberwindung – sie spüren weder Hitze noch Kälte,

keinen Durst und nicht die schmerzenden Füße – alle

Körperfunktionen fallen dem übermächtigen Treiben des

Gehirns, dass nur noch seiner Fixierung auf ein Ziel folgt, zum

Opfer: Weihnachten! Rauschende Feste, Gemütlichkeit,

Beisammensein, Intimität, Besinnung – all dies muss durch

größte Entäußerung und Disziplin vorbereitet werden! Es liegt

in der Natur der Sache, dass die Erleichterung des Einbruchs

nur auf die äußerste Belastung folgt:

Wenn man mit Schultern, die verspannt sind, wie die eines

Langzeit-gefängnisinsassen im höchsten Sicherheitstrakt,

nach der Bescherung im Bett liegt und zum ersten Mal

bemerkt, dass man Schmerzen hat und, wenn man dann den

geliebten Partner bittet, den Schmerz durch zärtliches

Betasten zu lindern und dieser murrend reklamiert, dass man

überhaupt die ganze Zeit schon so angespannt sei und damit

allen die Freude verderbe und, wenn man daraufhin in Tränen

und Rotz ausbricht und all den Glühwein und die Gänsesuppe

aus sich heraus weint, und wenn man dann den Partner aus

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den verbliebenen Leibeskräften anbrüllt und sieht, wie er

aufrichtig erschrickt, wie in ihm das staunende Kind wieder

zum Vorschein kommt, und man in sich einen Funken

Zärtlichkeit diesem Kind, das er einmal gewesen sein muss,

gegenüber aufkeimen spürt, dann, ja dann ist Weihnachten.

Luka Leben

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06 | JONAS LINNEBANK

ich liebe dich

weil du mich mein

-st wir werden

ohne zu irren

weiter du wir

-st größer ich

passe mit hin

-ein liebewesen

Jonas Linnebank

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07 | SIMONA WINKLER

AM WEIHNACHTSMARKT

Besinnlich weihnachtlich sind wir heut‘ eingestellt

Der dritte Glühwein soeben bestellt

Am Weihnachtsmarkt stehend, ringsum so viele Leut‘

Wo sich jedermann an der Weihnacht erfreut

So viele Sachn dort zu finden sind

Kugeln, Krimskrams und dazwischen das Jesuskind

Chicken Nuggets, Burger und Wedges zum Verzehr

Zuckerwatte, Popcorn und vieles mehr

Santa Claus sieht man an allen Seiten

Im Schlitten von Rudolph gezogen gen Norden reiten

Turmgebläse soll bringen besinnliches Flair

„Last Christmas“ ist aber alles, was ich hör‘

Die Massen drängen sich von Stand zu Stand

zerren das Kind mit sich an der Hand

„Mama, ich glaub ich hab das Christkind gesehen!“

„Emma nein, wir wollen doch zum Weihnachtsmann gehen“

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Der hat einen Bart, Elfen und Listen mit Namen

Die Bösen, die leer ausgehen und die Guten, die was

bekamen

„Das Christkind hat noch jedem was gebracht,

egal, was man übers Jahr so macht“,

denkt Emma, doch lässt sich weiterschieben

„Hauptsache die neue Wii ist aufgetrieben.“

Der nächste Zehner wird verprasst

Mal sehen, was noch alles in die Bäuche passt

Noch was Kitschiges für Tante Gerti gefunden

Einfach ein Engerl oben drangebunden

Advent, die stille Zeit im Jahr

So still, ich nehm‘ sie kaum noch wahr

Steckte einst nicht mehr dahinter?

Als Glühweinstand im kalten Winter?

Gemeinsam singen vor dem Baum

Geschichten lesen, man glaubt es kaum

Wer hat den heutzutage noch Zeit zum Lesen?

So stressig ist es früher nicht gewesen.

Weihnachtsfeiern fast jede Woch‘

Kekse, Kränze, Kerzen – Geschenke brauch ich noch

Den Baum darf man auch nicht vergessen

Und natürlich den Truthahn zum Essen

Vorher kommt noch der Nikolaus

Und bringt allerlei Nüsse und Schoko ins Haus

Von Perchtenshow zu Krampuslauf

Den Lärm und Trubel nehm‘ ich in Kauf

Page 20: Advent mosaik IV 2015

„Die Zeiten ändern sich halt!“ sagt man und lacht

„Und hat es uns wirklich was gebracht?“

Die Tassen stimmen klirrend mit ein

Darf‘s noch ein warmer Glühwein sein?

Simona Winkler

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08 | ERIC AHRENS

WEIHNACHTSMARKT

Kinder kotzen neongrün

als hätten sie verdorbene Kobolde gegessen.

Du investierst zwanzig Tacken

an Plastikpferderennbuden

und dein Hauptgewinn ist ein Plüschtier,

von dem du Ausschlag bekommst.

Die Gesichter der Schausteller steinern,

wartend auf den nächsten Trottel,

der glaubt, sich mit einem Greifarm

ein iPad fischen zu können.

Karussells katapultieren dich

in den endlosen Nachthimmel

und für einen Augenblick wünschst du dir,

sie würden dich loslassen und du könntest

über den Dächern verschwinden.

Doch diese Sehnsucht wird

vom dampfenden Glühwein vernebelt,

Page 22: Advent mosaik IV 2015

der dich in selige Stimmung versetzt

und die Musik aus allen Ecken sagt dir,

dass alles gut wird.

Nach ein paar Bechern bist du breit genug,

um mit der ganzen Welt Frieden zu schließen.

Um verschüttete Freundschaften anzurufen

und ihnen zu sagen, dass es dir leid tut,

wie es gelaufen ist.

Aber soweit kommt es nicht.

Du setzt dich lieber in die Gondel

einer Geisterbahn und hoffst darauf,

dich wieder wie ein Kind zu fühlen.

Mit Herzklopfen und Nervenkitzel.

Aber als du nach wenigen Minuten

wieder rausgeschoben wirst

schaust du finsterer drein

als die Deko-Dämonen

an der Fassade.

Die Euphorie

runtergebrannt

wie klumpiges Kerzenwachs.

Früher war es leichter,

sich zu begeistern.

Verarschen zu lassen,

aber auch.

Eric Ahrens

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09 | SIMONE LETTNER

EIN KLEINER ADVENTSPAZIERGANG

Gestern Abend ging ich spät noch spazieren. Ich ging

unbedachten Schrittes meines Weges, in wirre Gedanken

versponnen, das dumpfe Tönen der Autobahn vernehmend.

Ich fühlte keinen Weihnachtsfrieden in mir. Die nächtliche

Stille war nicht friedlich, sondern bedrohlich. Die Kälte kroch

in mich, und ich hieß sie willkommen.

Ich kam bei meinem Spaziergang zum Gemeindehaus. An

dessen Wand waren ein paar Worte gemalt: „Zünde ein Licht

an“ stand da zu lesen. Ich ging daran vorbei, und noch

während die hellen Worte vor meinem geistigen Auge

aufflammten, schaltete der automatische Bewegungsmelder

vor der Eingangstür des Gebäudes eine oberhalb angebrachte

Neonlampe ein.

Da überkam mich als mit zusammengekniffenen Augen hilflos

Blinzelnde der Gedanke, wie überflüssig es in der heutigen

Welt scheint, als Mensch selber ein Licht anzuzünden, wenn

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doch überall automatische Bewegungsmelder sind. Und auch

andere künstliche, scharfe Lichter begleiten uns schließlich

stets, Werbeplaketten, Firmenzüge, Leuchtaufschriften,

Weihnachtsketten und Warnleuchten. Ganze

Gebäudekomplexe sind nachts ausgeleuchtet. Nicht einmal

abstellen kann man diese Lichter. Sie verfolgen einen, und sie

lassen einen nicht in Frieden.

Wir befinden uns in einer Welt der Zwangsbeleuchtung,

vielleicht auch der Zwangsverblendung. Manches Mal möchte

ich gerne auf das Licht verzichten, zöge es vor, mich im stillen

Dunkeln einzuhüllen – doch dann kommt man an einem

automatischen Bewegungsmelder vorbei, und der taucht

einen gnadenlos ins grelle Helle.

Das Künstliche an diesem Licht ist verklärend. Es überblendet

jeden natürlichen, ehrlichen, aufrichtigen, unscheinbaren

Lichtfunken, der noch am dunklen Horizont zu schimmern

vermag.

Diese Lichter, über die man keine Verfügung hat – die sich

von selbst einschalten und leuchten, ohne dass man sie

ausschalten könnte, sind mir unangenehm, wie würde ich

denn noch selbst ein Licht anzünden, wenn mich stets so

grelles Industrielicht umgibt?

Was bedeuten heute vier Kerzen auf einem Kranz?

Was bedeutet heute ein aufrichtiges Licht, das aus mir

kommt, aus meinem Inneren, das Wärme erzeugt und

Geborgenheit, und nicht Kälte und Ausgesetztheit wie die

Neonlampe? Welchen Wert hat es und welcher Anstrengung

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bedarf es? – Vermutlich einer größeren als ich bisher je

gefühlt habe.

Das künstliche Licht mit seiner selbstverständlichen

Vorhandenheit soll uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass

wahres Leuchten ein Geschenk ist – das grelle Fabrikprodukt

soll uns nicht blind machen für die viel kleineren, viel

ehrlicheren Lichtstrahlen mit viel wesentlicherer Wirkung, die

Menschlichkeit verkünden. Wir brauchen nicht so sehr Städte,

die die ganze Nacht auf elektrische Art zum hellen Tag

erstrahlen lassen – wir brauchen viel eher Meere an Herzen,

die mit menschlicher Wärme das hereingebrochene Eis zum

Schmelzen bringen, durch die Dunkelheit strahlen und ein

Zeichen setzen.

Simone Lettner

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10 | MARINA BÜTTNER

GLANZ & ELEND

Da oben die Sterne, Planeten,

das Leuchten ein Raum & unten im Dreck

wir

die Erde steht Kopf wir rennen,

wir rammen einander um,

wir reißen wie Gladiatoren, wie Stierkämpfer

die Gegner entzwei doch oben sind manche

die trudeln wie Engel durchs All

haben die Häupter erhoben

die Füße gestreckt, ihre Flügelspitzen gereckt

wird der Sauerstoff knapp, tauchen sie

herab in die Erdatmosphäre zurück

in den Dreck & fangen

die Entzweiten, die Geteilten, die Geliebten und Enteilten

halten sie fest mit gefiederten Armen - viele fliehen

vor den reinen Gesichtern

Page 27: Advent mosaik IV 2015

fühlen sich höher & sind doch in naher Ferne dicht der Erde

bald darunter bald Asche verstreut überm Wasser

Marina Büttner

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11 | MATTHIAS ENGELS

MANN VOR WINTER

Ein Mann steht vor seinem Winter.

Er steigt aus dem Schlaf und geht ins Haus.

Aus den Briefen fischt er einen heraus. Er ist von ihm. Ein

alter Plan steckt darin und er stellt fest, er kann ihn nicht

mehr lesen.

Er fragt seinen Schatten, aber der ist das Stillstehen leid und

winkt ihm wortlos zum Abschied. Ein Mann sieht eine Wand

an, sieht aus dem Dunkel. Vor dem Haus steht eine Hoffnung.

Man sieht es nicht, aber eine Ahnung frisst an ihr, ganz

langsam, von unter der Rinde.

Ein Mann sieht in einen alten Spiegel, aber der Junge darin ist

verschwunden. Ein Mann setzt sich zu seinen Zweifeln. Sie

rücken auf und machen Platz. Er blättert in Bildern, merkt,

dass er nicht darin vorkommt und schaltet sie ab.

Page 29: Advent mosaik IV 2015

Er isst noch etwas von seiner Gewohnheit, trinkt den Tag aus,

rückt die Ängste in den Regalen zurecht. Er tastet nach

seinem Gesicht, daß er unter das Kissen gelegt hat, in der

Hoffnung, sich so vielleicht diesen Morgen daran zu erinnern.

Er horcht auf das Rauschen. Die Maschine verrichtet ihre

sinnlose Arbeit. Er achtet nicht weiter darauf, schneidet sich

die Wünsche, kämmt seine Gedanken streng, legt eine

Vorsicht auf und schlüpft in eine Erscheinung.

In der Bahn schwitzen links und rechts Geheimnisse, deren

Geruch er schwer ertragen kann, dampft Dummheit, drängen

Hormone zum Botenstoff, dösen Dramen träge vor sich hin.

Auf der Arbeit konfrontiert man ihn mit Leben, mit lauter

MENSCH. Er erträgt es und denkt dabei an sein Spiel.

Er sucht überall einen Horizont, eine Null-Linie ohne

Ausschlag, eine millimetergenaue Eichung; ertappt sich, wie

er mit der Schuhspitze Krater scharrt in die Grasnarbe des

Parks, auf der Suche nach Kabeln und Kupferrohren. Mit dem

Finger versucht er Löcher zu bohren in brüchige blaue Stellen

am Himmel, er vermutet dahinter ein Drahtgeflecht.

Er kauft ein Tuch. Den Zweck kann er der Verkäuferin nicht

nennen, er braucht es weder für Tisch, noch Hals, noch Bett

und es fällt ihm schwer, sich zu besinnen:

Was war noch Tisch, was Hals, was Bett? Die Verkäuferin

kassiert seine Würde und legt sie in die Kasse.

Er braucht das Tuch für die Nacht. Ob die Welt schläft wie der

schwatzhafte Vogel, wenn es sich schwärzt um sie herum?

Page 30: Advent mosaik IV 2015

Ein Mann schüttelt den Kopf. Immer schwirrt ihm das Staunen

genau ins Auge! Er nimmt seine Maske ab, wischt es fort und

setzt sie wieder auf. Ein Mann fährt heim. Unterwegs sieht er

flackernde Vergnügen und wie Feuerwerkskörper

verglühende Versprechen. Er steigt aus, seine Haltung lässt er

im Wagen. Unter seinen Schuhen splittern die Minuten wie

Murmeln.

Am Zaun lehnt sein Schatten und friert. Im Nachbarhaus

wohnen Wort, Hunger und Armut und werfen Blicke von

hinter den Vorhängen. Sicher hat er Morgen wieder eine

Häme an die Hauswand geschmiert.

Ein Mann steht vor seinem Winter. Er kommt ins Schwitzen

und nimmt den Mut ab, entledigt sich seines Gewissens. Er

liest ein paar Minuten auf und rollt sie hinüber zum Zaun. Er

war nie gut darin und der unbekannte Junge am Zaun

schmunzelt.

Ein Mann atmet einen Abend. Von drinnen rufen die Dinge,

rufen die Bilder, ruft die Angst. Er hört die Hast laut klingeln.

Ein Mann steht am Zaun und streckt die Spitze der Zunge

heraus, ganz langsam und nicht sehr weit. Ein Mann schmeckt

seine Zeit, sie schmeckt salzig und leicht nach Eisen.

Ein Mann steht im Winter und fühlt, wie sein Bedauern taut.

Er hat den Haufen Verzicht unter dem Baum im Herbst nicht

aufgekehrt, täglich fiel Blatt auf Blatt. Er wollte die Wut nicht

wecken, die darunter schläft wie ein kleiner Nager.

Page 31: Advent mosaik IV 2015

Er fühlt wieder sein Gesicht und versucht einen Ausdruck. Im

Zimmer spürt er seine Hände und denkt:

Eine Tat wäre ein Gedanke.

In der Besteckschublade findet er einige kleine Möglichkeiten,

zusammen mit Büroklammern, Reißnägeln und Schlüsseln, für

die es kein Schloss mehr gibt.

Ein Mann findet einen Faden und den kläglichen Stummel

eines Stifts. Er sieht kleine Partikel Graphit in kleinen Scharten

eines Gewebes aus Fasern zurückbleiben und ein Staunen

schwirrt wieder direkt in seine Augen. Er lässt es dort und

freut sich am Prinzip der Reibung.

Reibung erzeugt Wärme, sagt sein Schatten und schaut ihm

interessiert über die Schulter.

Ein Mann denkt einen Weg, ein Mann denkt einen Wald.

In einer Ecke spinnt etwas einen Faden. Ein Mann schreibt

sein Leben. Das Papier bleibt winterweiss, aber die Reibung

der Schreibhand erwärmt es langsam.

Ein Mann setzt zögernd Zeichen auf ein fragwürdiges und

irgendwann zerfallendes poröses Material und irgendwo tief

unten, im staubigen Bauch eines dunklen Möbels, antwortet

etwas mit leisem Pochen, was der Mann jetzt noch nicht

hören kann.

Matthias Engels

Page 32: Advent mosaik IV 2015

12 | NATALIA FASTOVSKI

VERLORENE WELT

Wir sind gefangen

in dieser Welt

mit einem kaputten Herzen,

verloren in Atemzügen,

die keine Zukunft haben.

Verzweifelt pulsieren

unsere Adern

und wir hauchen

uns gegenseitig Leben zu,

denn solange die letzte

Blüte noch blüht,

ist nicht diese Welt

und nicht unsere Liebe

verloren.

Natalia Fastovski

Page 33: Advent mosaik IV 2015

13 | SIMONE SCHARBERT

NACHTS III

und stocken einen satz nach dem anderen stecken im

neonguss der straßenlampen haben seltsame größen für

einen moment und werden so ein nervöses wechselspiel aus

konkav und konvex lachen uns angst zu im dünnlicht der

röhren

führen wir unsere silhouetten an leinen und staunen über ihr

stilles miteinander und ob sie einander kennen fragen wir uns

während wir schulter an schulter gehen klappen unsere

schatten wie tintenbilder auf mittig geknicktes papier

unser brustbein die achse im jetzt lehnen wir schulter an

schulter die mauer im rücken und sehen unsere schatten

verblassen die nacht während neonröhren flimmern und wir

nur einen augenblick lang fenster und türen geöffnet halten

Simone Scharbert

Page 34: Advent mosaik IV 2015

14 | KATIE GROSSER

TREUE HÄFEN

Mein Blick, er geht weit in die Ferne

Zum Horizont, so groß und klar

Wo Sonne nachts im Sterben Sternen

Das Leben schenkt, ein ewig Kreis

Auf sanften Wellen gleiten Schiffe

Mal links, mal rechts an mir vorbei

Sie tragen Menschen, große, kleine

Die Jungen, Alten, Menschheit ganz

Ein jeder ist auf seiner Reise

Und viele jagen eines nur

Der Hunger groß nach Abenteuer

Ist ihrer Segel starker Wind

Ich seh sie fremde Länder finden

Und bis auf tiefsten Meeresgrund

Sich kämpfen nur mit purem Willen

Sie segeln auch durch stärksten Sturm

Erschreckend groß sind die Gefahren

Page 35: Advent mosaik IV 2015

Doch trotzig bieten sie die Stirn

Der Horizont ist nicht das Ende

Er kann für sie nur Anfang sein

Mein Kahn, auch er treibt stets nach vorne

Folgt meinem Segel, das ich setz

An altbekannte, treue Häfen

Ich spür nur Regentropfen sanft

Ich weiß, das Meer, es geht noch weiter

Auf Wegen stets der Sonne nach

Und manchmal denk ich, was wohl wäre

Wenn ich drauf schlüge meinen Kurs

Und doch mit leichtem Herz ich winke

Den vielen Abenteurern nach

Gönn ihnen Glück und ihre Spannung

Und würde doch nicht tauschen woll’n

Denn treue Häfen sind mir lieber

Bekannte Küsten freu’n mein Herz

Das dann vor Freude schlägt auch höher

Wenn lange Reise sicher schließt

Der Horizont mag weit und riesig

Das Meer selbst gar unendlich sein

Mein Glück liegt mitten in mir selber

Am Steuer sitz nur ich allein

Katie Grosser

Page 36: Advent mosaik IV 2015

15 | CLAUDIA MARIA KRAML

ZWISCHENSTATION

stummes wispern ferner zeiten

allegorie dem raureif gleich

lässt zurück des frühlings leiden

das neuer namen kenntnis weicht

alte lettern voll der mären

erwachend hoffnung leicht zerspringt

aufenthalt nicht um zu währen

kälte bald durch rückgrat dringt

wo der winterwind mit flocken

blasse straßen nachts durchfährt

und zerreißend hell der glocken

luftbotschaft einlass begehrt

Page 37: Advent mosaik IV 2015

und engelsschwert geformt aus stahl

vor des trubels froher schar

erdolcht der grenzen flieh’nde qual

rettet zukunft übers jahr

funkelnd blick wie kieselsteine

bleibt in traumes mut besteh’n

geflüstert wort es ist das meine

verweile doch du warst so schön

Claudia Maria Kraml

Page 38: Advent mosaik IV 2015

16 | MAXIMILIAN MICHL

DARSTELLUNG GEMEINSAME TOPOLOGIE (GEOMETRISCH,

MÄANDRIEREND)

Wenn du ziehst

dann geb ich Druck

sanft, folgend deinem Weichen

Das, was du willst

wollt’ ich bereits

umriss schon erste Zeichen

Wenn wir wo sind

sind wir ein Tanz

umkreisen gemeinsam

Weil wir wer sind

sind wir sonst einzeln

alleine, nicht einsam

Page 39: Advent mosaik IV 2015

Dann, wenn mein Kreis

den deinen deckt

in filigranster Passung

Trinke ich gierig

aus dir Kraft

und geb dir dafür Fassung

Du lässt dich

setzen, fassen

uns: klinken ineinander

Ich: berste schier vor Kraft

wir: waren Kreis,

werden Mäander

Deine Facetten brechen Licht

umgeben dich mit Funkeln

nur

neben dir

bin ich bei mir

Ich möchte, dass wir schunkeln

Maximilian Michl

Page 40: Advent mosaik IV 2015

17 | SOPHIE STROUX

EMMA

Die Bäckerei, vor der ich stehe, ist klein, hellgrün und in ihr

windet sich die Schlange durch die wenigen speckigen

Holztische, durch die Glastür und vor dem Geschäft um eine

Ecke. Von oben sehen wir wohl aus wie eine Kreuzotter, die

sich ihren Weg durch ein Labyrinth sucht, denke ich, eine

Kreuzotter und ich bin nur ein kleiner Punkt auf ihrer Haut,

die sie bald abwerfen wird. Ich mag es, zu warten, denn dabei

verwandele ich mich von diesem kleinen schwarzen Punkt zu

einem Chamäleon, das hier und da den Gesprächen lauscht,

die Gedanken anderer mitdenkt und unsichtbar wird

zwischen ihnen.

Hinter der Glasscheibe erkenne ich den alten Mann mit seiner

Zeitung von gestern und seinem halben Croissant. Schon

letzte Woche saß er an dem Tisch vorm Fenster. Ich

beobachte die Katze, die sich normalerweise auf den

Motorhauben der geparkten Autos wärmt, aber heute die

Page 41: Advent mosaik IV 2015

Menschen, die vor der Tür anstehen, misstrauisch beäugt.

Hinter mir diskutiert jemand über Blues und vor mir über den

Dozenten, der ständig an seiner Brille kaut, wenn er

nachdenkt – also immer – und ich merke, wie ich anfange

mich einzublenden, Chamäleonfarben annehme, als mich ein

Lichtreflex wieder aus der Starre holt.

Es sieht aus wie die Spiegelung der orangen Katze, aber als ich

mein linkes Auge zusammenkneife, wird die Katze zu Haaren.

Haare?, denke ich kurz verdutzt, und dann gewöhnen sich

meine Augen an den Blick durch die Glasscheibe und ich

erkenne ein Mädchen. Ihre rottanzenden Haare sind es, die

aus der Schlange hervorleuchten. Das Mädchen ist groß,

größer als der Mann hinter ihr mit seinem gelben Polunder.

Und sie tritt nervös von einem großen Fuß auf den anderen,

zupft an ihrem T-Shirt herum und blickt sich immer wieder

um. Platzangst, denke ich im ersten Moment. Aber das passt

irgendwie nicht. Vielleicht ist sie eine von denen, die Warten

nicht ausstehen können? Vielleicht kann sie einfach nicht

stillstehen?

Wir sitzen in einer Wohnung mit grüner Tür an einem

speckigen Holztisch, in den sich Holzwürmer verkrochen

haben. „Meine Liebe,“ sage ich über die Erdbeeren mit Milch

hinweg und sie lächelt ein dreiviertel Lächeln, ein bisschen

schräg und auf keinen Fall ein ganzes Lächeln, sitzt halb auf

der Stuhlkante und halb in der Luft. Dass sie nicht runterfällt,

wundere ich mich plötzlich, nicke aber zu ihrer stillen Frage

und gucke ihr beim Verschwinden hinterher, freue mich, dass

sie unterwegs ist und irgendwo zu sein hat, während ich

meine Milch mit aufgegessenen Erdbeeren trinke.

Page 42: Advent mosaik IV 2015

Sie sitzt auf dem Fensterbrett mit grünem Rahmen und malt

mit schnellen, weiten Strichen auf Papier. Ihre Hände sind

schon schwarz und ein paar Punkte haben sich auf ihr Gesicht

verirrt. Ihr rotes Haar steht wirr ab, ihr grüner Blick rennt den

Pinselschwüngen hinterher. Sie sieht schön aus in dem

bunten Licht mit ihren leuchtenden Haaren und mit dieser

Ruhe. Ich sitze ihr gegenüber und bewundere ihre spitze Nase

und die Haare, die immer noch ein wenig nach einer

Katzenspiegelung aussehen. Der Moment ist fast ein Bild,

vielleicht von Rembrandt, schnelle Pinselstriche und trotzdem

ruhig.

„Sind wir bald da?“, fragt sie auf dem Weg zu einer Party und

ich blicke ihr hinterher wie sie vor mir verschwindet. „Wir

sind zu früh.“, sage ich langsam, aber sie hört nicht. Ich will

mich nicht hetzen lassen, will den Moment genießen, bleibe

vor einem Schaufenster voller Bücher, die Neuerscheinungen

dieses Monats, betrachte, wie sie farblich sortiert zu einer

Pyramide aufgestellt sind, verliere mich in dem Bild, und finde

mich auf der Spitze der Pyramide wieder wie ich mich bereit

mache, auf ihr herunter zu rutschen.

„Emma!“, rufe ich und drehe mich in ihre Richtung, aber sie

ist weg und sie antwortet mit einem „Komm doch!“ zwei

Straßen weiter, sie wartet nicht. (Sie will so schnell wie

möglich da sein, wo auch immer) Ich bleibe noch einen

Moment vor dem Schaufenster stehen, blicke auf die

Buchrücken und erkenne einen meiner alten Freunde, der

sich irgendwie zwischen all die neuen Bücher geschlichen

hat.

Page 43: Advent mosaik IV 2015

„Sofern sie Emma hießen…“, sage ich leise zu den

Buchdeckeln, vielleicht verstehen sie mich ja. Vermutlich

wissen sie mehr über Emmas als ich.

Ich wende mich ab und folge mit einem leisen Seufzen Emma,

die schon lange um zwei Ecken verschwunden ist.

"Emma“, sage ich und sie blickt auf, sucht aber mit ihren

Händen weiter hektisch nach Schlüssel oder Handy oder was

auch immer sie sucht.

„Emma“, sage ich, „Wir haben noch Zeit. Lass uns doch einen

Tee trinken.“

Sie schüttelt nur den Kopf und richtet ihren grünen Blick

wieder auf die Kommode. „Wir sollten pünktlich sein, man

weiß ja nie.“

„Aber Emma…“, setze ich an, sie aber hebt ihre Sonnenbrille

hoch und sagt: „Ich hab sie, wir können los!“

Sie ist nie da.

(Bald da sein, heißt nur, nirgendwo jetzt zu sein.)

„Emma“, sage ich, „Emma, weißt du, dass du bei Morgenstern

eine Möwe bist?“

Und sie blickt zu mir, während sie sich schminkt.

„Eine Möwe? Findest du?“

Ich betrachte sie, diesen dünnen Menschen, der immer rennt,

mit seinen wilden roten Haaren und diesem selten

Page 44: Advent mosaik IV 2015

eingefangenen, so grünen Blick. Sie lächelt nie ganz, nur

dreiviertel, aber in ihren Bewegungen liegt trotz der Ruhe

unserer Wohnung eine Ungeduld, die selbst die Schminke

nicht verbergen kann. Ich schüttele den Kopf.

Sie lacht und verschwindet mit einem Augenaufschlag durch

unsere Tür mit der abblätternden grünen Farbe und ein paar

Flecken fallen auf den Boden als sie zuschlägt, fast wie der

Regen unter Tannenbäumen. Ich betrachte Emmas

Abwesenheit in dem Raum und die grünen Schuppen auf der

Fußmatte.

„Nein, du bist keine Möwe“, sage ich in die Leere der

Wohnung und die Wohnung hört zu. „Dich gibt es so nicht bei

Morgenstern.“

Wir laufen eine gepflasterte, sich wellende Straße entlang. Ich

suche irgendein Museum oder eine Galerie, von der ich zuvor

gelesen habe, bin euphorisiert vom Pulsschlag der Stadt und

ihren grellen Farben und freue mich über jeden Grashalm.

Emma geht vor mir, obwohl sie nicht weiß, wohin ich will,

läuft in falsche Straßen und um falsche Ecken. Ich versuche,

mich nicht aufzuregen, warum rennt sie nur weg, ich habe

doch eine Karte dabei, klein, besser als nichts, aber so wirklich

gelingt es mir nicht, denn ihr stummes „Sind wir bald da?“

dröhnt in meinem Hinterkopf als säße es in meinem Ohr.

Ich sage nichts, sie sagt ja auch nichts, aber als ich das

Museum dann endlich finde, hat sie nach paar Minuten alles

gesehen und wartet ungeduldig im Cafe.

Page 45: Advent mosaik IV 2015

Ich bleibe lange bei den Bildern von diesem Amerikaner

stehen, Rosen, betrachte sie mit Emmas Ungeduld, die ich

nicht abschütteln kann, und ärgere mich.

„Emma,“ flüstere ich dem Rosenzyklus zu, „Emma ist schuld.“

Aber die Rosen aus Amerika schweigen und Emma schweigt

auch.

In der Bibliothek mit den zu großen Tischen und dem braunen

Teppich, in der man sich nicht einmal traut zu husten, weil

alles so leise und trocken ist und man fast an der Stille

ersticken kann, lese ich in einem Gedicht von der „Koexistenz

des Widersprüchlichen“ und denke sofort an uns, Emma.

(Das ist unser Problem.)

Und die Frage, ob wir bald da sind, so oft du sie auch stellst,

könnte ich dir erst beantworten, wenn ich dieses Meer sehe.

Aber Emma, dahin wirst du mit mir nie gehen, denn du wirst

vorher um eine andere Ecke biegen, Morgenstern nicht sehen

und nicht warten, ich kenne dich, du wirst wegrennen, nur

um anzukommen, egal wo, aber nicht am Meer, nicht mit mir,

nicht bei mir.

Und du bist einfach nicht aus Morgenstern, eMMa, so sehr

ich mir das wünsche. Dort wirst du nie sein. Du wirst immer

eine anwesende Abwesenheit bleiben.

Und du bist keine Emma wie sie in Büchern steht. Du bist eine

eMMa und nie da.

„Bitte?!“

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„Was?“ Ich schrecke auf.

„Was Sie wollen?“, fragt der Verkäufer mit der Pastellschürze.

„Ich,“, das Chamäleon löst sich auf, „Ein Croissant bitte. Und

ein Pain au Chocolat.“ Und das eine Auge sieht das Mädchen

plötzlich wieder, meine Emma für ein paar Minuten, wie sie

bezahlt, ihre Tüte nimmt und aus dem Cafe hastet.

Sophie Stroux

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18 | SIGUNE SCHNABEL

TAGSCHMELZE

Du sagtest,

Erinnerungen wachsen im Schatten

zwischen Gesteinsbrocken.

Doch der Gipfel lag karg im Dunst,

die Luft so dünn,

dass sie von der Last der Vögel

zerbrach.

Als wir von Flüssen sprachen,

taute der Schnee in den Grund der Worte,

und deine Haare flatterten

wie Segel.

Page 48: Advent mosaik IV 2015

Ich pflückte das Moos

von deiner Stirn

und ließ es zwischen Felsen liegen.

Lange vor den ersten Flocken

trieben Silben

auf den Wegen

und zerfielen unter den Füßen.

Sigune Schnabel

Page 49: Advent mosaik IV 2015

19 | ANDREAS SCHUMACHER

HYMNEN AN DIE WEIHNACHT

Welcher überarbeitete, feierabendfixierte Familienvater

fürchtet nicht vor allen Verpflichtungen des Kalenderjahres

den – Jesus Maria! – frustrierenden Einkauf der

Weihnachtsgeschenke –

mit seinen hieroglyphischen Wunschzetteln und

unausgesprochenen Erpressungen,

der heillosen Hektik und Schnäppchenpreisjagd.

Wie ein zwischenmenschliches Wundermittel kittet er

familiäre Spannungen,

mildert Vernachlässigungen,

radiert verletzende Worte.

Seine zuverlässige Erledigung allein

garantiert eine friedvolle Stimmung

am Abend des Herrn.

Einst da ich astronomische Summen verpulverte,

da in ein Nichts sich auflösend meine MasterCard zerbröselte,

Page 50: Advent mosaik IV 2015

in ein phänomenal schwarzes Loch

sich ohnehin längst verflüchtigt hatte mein Kontoguthaben

und ich mit lausig-lächerlichen einhundertsiebenunddreißig

Euro in der Tasche

im SATURN stand, einsam wie kein Mensch zuvor,

zahlen nicht konnte und auf Raten finanzieren nicht,

und an den von meinen Geliebten begehrten Warengütern

mit unendlicher Sehnsucht hing,

ein Waschlappen wie kein Mann zuvor,

da besann ich mich eines alten, verbotenen, geheimnisvollen

Kunstgriffs –

du, Kleptomanie, Triebabfuhr gelangweilter

Aufsichtsratsgattinnen,

kamst über mich, und mit einem Mal

schwand meine kleinkarierte, bürgerliche Rechtschaffenheit.

Zum Staubwölkchen wurde das Preisschild.

Tütenweise mopste ich, und erst seitdem fühle ich

die schwitzende Hand des allmächtigen Vaters.

Wie dumm und überaus unnötig

dünkt mir das ordnungsgemäße Bezahlen der Ware an der

Kasse nun –

wie königlich-würdig der Ausgang am Drehkreuz.

Gern will ich die fleißigen Flossen rühren,

überall einstecken, was man grad so braucht,

entfernen die kleinen versteckten Sicherungsetiketten.

Die Kinder werden strahlen,

ich schiebe alles ein.

Ich werde nicht bezahlen

und Superdaddy sein!

Page 51: Advent mosaik IV 2015

Muss denn immer dieser Hansel, der Ladendetektiv,

wiederkommen?

Endet nie seine Schicht?

Gottverdammter Motherfucker,

verzehrt den himmlischen Anflug der Weihnacht.

Kann denn nie einfach mal dieses ganze

elektronische Überwachungsdingens ausfallen

und dann am Eingang bitte freundlichst darauf hingewiesen

werden?

Längst weiß ich, wann die letzte Bescherung sein wird –

wenn, in Handschellen gelegt, ich einst heimgeführt werde.

So komm ich – mit dem blauen Bus

und leerem Sack – nach Haus am Schluss.

Gnad Gott, dass ich die Schuld begleich’,

umsonst ist nur das Himmelreich.

Andreas Schumacher

Page 52: Advent mosaik IV 2015

20 | GUNDULA MARIA VON TRAUNSTEIN

EISVERKRUSTETES ZWEIGGEWIRR

Von eisverkrustetem Zweiggewirr

tropft es.

Ich bin gegangen,

hab dich zurückgelassen,

alleine.

Im Schein der Straßenlaterne

steh ich jetzt

und weine.

Von eisverkrustetem Zweiggewirr

tropft es.

Gundula Maria von Traunstein

Page 53: Advent mosaik IV 2015

21 | CLAUDIA WALLNER

EIN HARTER WINTER.

Früh

dunkelt mein Tag

sich zum Abend

Lang

verbleiben eisige

Schattennächte

Wo

durchzitterte Lippen

erblaut sind

Sich

da zu erwärmen

fällt schwer

Page 54: Advent mosaik IV 2015

Und

dünne Haut friert

schutzlos dahin

Wo

mehr und mehr

Eiskristalle

wuchern

Weil

nichts mehr da ist

um sie zu

schmelzen.

Claudia Wallner

Page 55: Advent mosaik IV 2015

22 | MARTIN PIEKAR

WINTERSONNENWENDE

Weh mir, wo nehm ich, wenn

Es Winter ist, die Blumen, und wo

Den Sonnenschein,

und Schatten der Erde?

(Friedrich Hölderlin)

Amour, Amour

Alle wollen nur dich zähmen

(Rammstein)

In meinem Kopf: Ameisenrennen

Oder Blizzard – wie du willst

– ziemlich dunkel jedenfalls. Und

Alles um mich herum hat zum Gegenteil

Den Kittel der Jahreszeit so

Abweisend und vertuschend angenommen.

Ich knittere ihn bald. Mit Spuren ins

Weiße, hinein

Page 56: Advent mosaik IV 2015

Ins Caspar David Friedrichsche – tief, tief

Schlafen meine Versuchungen

Und Vermutungen noch. Unter Frösteln.

Mein Herzblut, es ist meine Zeit

Des Erwachens. Aber ich will

Noch gar nicht, nur noch

Ganz kurz… bitte. Ich weiß um meine Furcht. Sie

Gurgelt schon. Jetzt. Lasse ich’s doch

Noch schlummern. Ich steige allein.

Aus dem Höhlengleichnis

Unserer Liebe. Dem Bett.

Mon Amour… Alte Minne.

Verkriech dich, glaub mir.

Verkriech dich vor mir.

Ach Herz. Reife nur, aber

Reif nicht zu viel; es ist Winter-

Sonnenwende: die Schatten fallen

Über ihre Lichter her. Wir sind,

Den ganzen Tag, in heller Nacht umgeben.

Schlaf einfach winters. Wir

Sehen uns wieder.

Schlaf einfach durch.

für Benjamin Lebert

Martin Piekar

Page 57: Advent mosaik IV 2015

23 | ANDREAS HAIDER

DER WEIHNACHTSBAUM

Dem Wald entrissen,

der lange schon keinen Schnee mehr sah,

ins Wohnzimmer gestellt,

geschmückt mit Glitzerzeug und Kerzen,

und Süßem in Alufolie.

Da steht er nun,

eingeschraubt ins Christbaumkreuz,

quasi gekreuzigt,

so, als ob es zwischen Weihnachten und Karfreitag

einen Zusammenhang gäbe.

Schon brennen die Kerzen,

die Lichter erhellen Raum und Baum.

Und während das Lied ertönt,

weinen die Kerzen ihre Wachstränen.

Oh Tannenbaum, Oh Flammenbaum.

Andreas Haider

Page 58: Advent mosaik IV 2015

24 | EMANUEL GAUß

ENGELSHIMMELHYMNENCHÖRE

der karton ist schon wieder nass. Früher hätte ich mich

darüber aufgeregt, ich habe mich so viele Male darüber

aufgeregt, ich zürnte gegen dieses Wasser, das da immer aus

den Regenrinnen, aus den Abflüssen und aus dem Himmel

rinnt, aber jetzt, nach so vielen Jahren hier, bin ich damit

abgefunden. Die Nässe, die Kälte, die Trostlosigkeit von

diesem Ort, der mir früher, vor schon so vielen Jahren, nicht

zuzumuten gewesen wäre, ich habe gelernt mich mit ihm zu

arrangieren. Es könnte sehr viel schlimmer sein, denke ich,

wenn das Wasser wieder durch die kleinen Ritzen über mir

sickert, wenn es meinen Schlaf stört oder meine Ruhe, es

könnte schlimmer sein. Wenn ich an die ganzen anderen

denke, die nicht so ein gemütliches Plätzchen gefunden

haben, dann schüttelt es mich vor Mitleid. Ich wünschte ich

könnte sie hier aufnehmen, aber es ist zu wenig Platz.

Page 59: Advent mosaik IV 2015

Anscheinend soll die Stadtverwaltung planen, mein Heim zu

vergittern, sodass ich wieder raus auf die Straße muss, nach

so vielen Jahren. Ein schöner Anblick sind wir sicher nicht. Ein

schöner Anblick sieht anders aus. Wir verschrecken die

Touristen, die vorbeilaufen und irritieren die fröhlichen

Spaziergänger.

Der Regen klopft auf die Straße über mir, die Auto rauschen

darüber und zerdrücken ihn, unter mir, nur das

Wasserrauschen. Wie viele Liter schon an mir vorbeigezogen

sind? Wie viele Liter ich schon rauschen gehört habe? Ich

weiß es nicht, in all den Jahren, wahrscheinlich Millionen und

Milliarden. Eine so lange Zeit, die mich Luxus, Essen, Trinken,

Duschen, Dächer und Wände hat vergessen lassen. Eine

riesige Zeitspanne, eine unermessliche Dauer, die ich selbst

seit Jahren – ich denke zumindest, dass es Jahre sind – nicht

mehr überschauen kann.

Das Wasser rauscht einladend, die Autos brummen an den

roten Ampellichtern und ich ziehe meine Decke über die

Schultern. Vor Jahren hatte ich für kurze Zeit eine

wasserdichte, aber jetzt nicht mehr. Man hat sie mir

weggenommen, als sie mein Heim verwüstet haben. Aber ich

habe mich daran gewöhnt. Wenn ich daran denke, dass da

draußen so viele Freunde sind, die keine Decke haben, die

kein so großes Glück haben wie ich, der sich in seine Decke

eingraben kann, dann schüttelt es mich vor Mitleid.

Ich reibe meinen Hals am Deckensaum. Dort ist der Stoff

schon ganz abgewetzt und die Fransen, die er zu verhindern

versucht hat, kitzeln sanft meinen Haaransatz.

Page 60: Advent mosaik IV 2015

Es tobt der Sturm. Die stolzen Fahnen auf der Brücke flattern

bestimmt wieder. Hier unten bin ich vor dem Wind geschützt.

Ich spüre aber wie er die Brücke zum Erzittern bringt.

Resonanz. Er tobt draußen und ich sitze hier drinnen draußen.

Nur ein kleines Lüftlein schafft er hier herein. Ein paar

Strähnen meines Haars bewegen sich auf und ab als könnten

sie fliegen. Ich denke, dass es jetzt Zeit zum Schlafen ist.

Wenn ich aufwache, hat der Wind vielleicht aufgehört, der

Regen mit dazu und es scheint die Sonne, die dann in die

kleinen Ritzen über mir stolpern wird und mich weckt. Mit

den zukünftigen Sonnenstrahlen auf den Wangen, schließe

ich die Augen. Es ist still, wenn man vom Lärm absieht.

Doch da! Was ist das? Ich höre etwas, ein Geräusch, das ich

schon lange nicht mehr hören durfte. Kein Geräusch, nein

Gesang. Warum höre ich Gesang? Wer singt? Es sind viele. Es

ist ein Chor. Immer klarer wird der Gesang. Er überdeckt das

konturlose Rauschen des Wassers und der Autos. Die Brücke

schwingt mit ihm.

Mein Ohr liegt am Brückenstein. Ich habe es da abgelegt, weil

mir sonst so heiß ist unter der Decke. Obwohl die Luft vom

Regen kalt ist, heizen die Autos über mir ein und ich will nicht

wieder verschwitzt aufwachen, aber da dann plötzlich:

Gesang, den ich höre. Kommt er aus dem Stein? Es scheint so.

Aber es ist wahrscheinlich anders, als es scheint. Warum

sollte der Gesang aus dem Stein kommen? Ist da vielleicht ein

Keller unter mir oder neben mir? Ein Chor der in der

Kanalisation steht? Warum sollte ein Chor in der Kanalisation

stehen? Ich drücke mein Ohr an den Stein, er ist rau und

porös. Ich will hören, was sie singen und wie sie singen, aber,

Page 61: Advent mosaik IV 2015

obwohl es so laut durch den Stein klingt und dabei alle

anderen Geräusche überdeckt, kann ich nicht verstehen, was

sie singen. Auch nicht, wie sie singen. Ob es ein

mehrstimmiges Lied ist, ob es auf- und abgeht mit den Tönen,

all das ist mir unbekannt. Wie viele Leute singen? Wie viele

sind es? Zwanzig, vielleicht oder nur zehn, könnten auch fünf

sein oder auch nur einer, der direkt gegen die Wand singt.

Ich erinnere mich, dass auch ich in einem Chor gesungen

habe. Jeden Mittwoch haben wir uns im Hinterzimmer von

einer schlummrigen Kultbar getroffen und geprobt. Keine

Auftritte im Sinn, keine Berühmtheit, keine Zuhörenden,

keine Bewunderung. Wir hatten nur das Singen im Sinn. Wir

waren nicht an die Kirche gebunden, nicht an die Universität

oder an sonst etwas. Vor der Öffnung der Bar war es uns

erlaubt zu singen und niemand störte sich daran. Wer ist wir?

Ich kann mich nicht erinnern. Enge Freunde und Freundinnen,

die schon seit Langem vom Staub und Dunst, vom Hunger und

von den Abgasen bedeckt sind. Staubige Gestalten aus einem

anderen Leben, das vielleicht besser gewesen ist, aber

höchstwahrscheinlich nur auf eine andere Weise schrecklich.

Der Stein bringt meine Ohrmuschel zum Schwingen, sie

schwingt mit ihm. Sie vibriert mit dem Gesang. Ich drücke sie

fester daran, um Details hören zu können und nicht nur

Etwas. Gesang, das kann ich mit Sicherheit sagen. Mein Kopf

ist jetzt so nahe an der Wand wie nur möglich. Mein Ohr wird

zerdrückt, aber ich kann noch immer nichts Genaues hören.

Nur, dass es Gesang ist. Gesang aus der Tiefe.

Page 62: Advent mosaik IV 2015

Ich richte mich auf, so werde ich nie verstehen, wer singt und

was gesungen wird. Ich befreie mich von der Decke und die

Kälte dringt in meine verschlissene Kleidung. Ich setze mich

auf und nehme meinen braunen Mantel, der mir seit Jahren

als Polster dient. Ich rücke geduckt nach vorne und springe

aus meinem Loch auf den Gehsteig. Der Aufprall ist hart.

Meine alten Knochen quietschen, weil sie so spät noch in

Bewegung gebracht werden. Sie beschweren sich bei mir,

aber ich kann nicht auf sie hören. Der Gesang ist das einzige,

ihm meine Aufmerksamkeit.

Klar und undeutlich. Ich bin mir sicher, dass ich ihn mir nicht

nur einbilde. Hier auf dem Gehsteig kann ich klarer sagen,

woher er kommt. Er kommt von unten aus dem Asphalt. Ich

muss tiefer. Weiter nach unten. Meine Augen und Ohren sind

angespannt. Ich schaue mich hektisch um. Da geht ein

Pärchen, unter einem Regenschirm vereint. Als sie mich

erblicken, schrumpfen ihre selbstzufriedenen Gestalten

zusammen. Sie haben Angst vor mir, aber das bin ich

gewohnt. Blicke, die nirgens Ruhe finden, mein Gesicht, zu

dreckig, agressiv, mögen sie denken, einfach auf den Boden

zu schauen, auch das verdächtig. Seit Jahren wenden sich die

ab, geistig, während ihre Blicke hektisch herumirren, die einst

meine Freunde hätten sein können, aber das ist mir egal

geworden. Vor allem jetzt ist es egal. Jetzt zählt nur der

Gesang, der aus der Tiefe dringt. Das Pärchen hastet vorbei.

Ängstlich, als würde ich ihnen jeden Moment ein Messer in

die Seite stechen. Ich warte bis sie verschwunden sind. Den

steilen Gehsteig hinauf, auf dass ich sie nie wieder sehen

muss.

Page 63: Advent mosaik IV 2015

Nachts ist die Böschung hinter dem Weg fast unsichtbar. Das

Wasser wirft seinen Schein und bloß die Konturen kann ich

erkennen, ein Weg, dort, das weiß ich, doch schließlich ein

unsichtbar gemacht.. Tagsüber steige ich oft über das

Geländer und tripple die Böschung hinunter, weil ich mich im

Fluss waschen oder meine Wasserflasche auffüllen will, aber

nachts habe ich den Abstieg dort hinunter immer vermieden.

Ich habe Angst vor dem dunklen Wasser. Angst,

hineinzufallen und von der Strömung mitgerissen zu werden,

dass sie mich dann finden als aufgedunsene Sandlerleiche.

Doch jetzt springe ich über das Geländer, ohne zu zögern,

meine Angst unterdrückend, keinen Platz gebe ich ihr. Meine

alten Knochen geben wieder ein Knarzen von sich. Ich

ignoriere sie. Um nicht in die Schwärze zu fallen, umfasse ich

mit dem Aufprall das Geländer. Wassertropfen rinnen von

oben an meinem Arm entlang und in meine Kleidung hinein.

Ein Frösteln überkommt mich, aber auch das zählt jetzt nicht.

Es zählt nicht, ob mich die Kälte wieder so furchtbar krank

macht. Ich tapse zu dem dicken Rohr, das nur selten Wasser

speit, wo ich immer meine Flasche auffülle. Es ist so dunkel,

dass ich meine nächsten Trittpunkte kaum berechnen kann.

Vorstellungen davon, oftmals unzutreffend. Knarzen der

Knochen. Die Schiefe schmerzt. Ich komme ihm näher.

Auf dem Abflussrohr habe ich wieder geraden Boden unter

den Füßen. Das Blut pocht mir in den Ohren. Ich muss mich

kurz ausruhen, Luft schnappen. Vor mir das Wasser in den

Fluss, es ist grau, die Abflüsse sind in ihm vereinigt. Regen

prasselt über mir auf die Straße, die Autos fahren immer noch

wie wild auf und ab, hornissengleich und hektisch dröhnend.

Page 64: Advent mosaik IV 2015

Dumpfer, dann heller wie Insekten, die an mir vorbeifliegen.

Aber genauso unwichtig wie diese, sind auch jene. Ich habe

das Gefühl, dass ich plötzlich – ohne zu wissen, warum und

wie – etwas Wichtigem auf der Spur bin. Mein Herzschlag, die

Trommeln in mir haben sich beruhigt. Der Gesang, sie waren

wie die Schlagzeuguntermalung. Mein Atem ist wieder ruhig

geworden. Der Gesang ist jetzt noch lauter, aber nicht klarer.

Ich weiß, dass er aus dem Rohr kommt, mit all dem wertlos

gemachten Wasser und den Abfällen.

Ich springe noch einmal hinuter auf die hohlnadelförmige

Innenseite des Rohrs. Wasser umschließt meine Füße. Die

Krankheit, die ich mir dabei zuziehen könnte – ich

verschwende keinen Gedanken an sie. Ich bücke mich – die

Knochen – und stecke meinen Kopf hinein. Das Wasser, das

neben meinen Ohren rauscht, kann den Gesang, der jetzt

wieder um ein Stück lauter geworden ist, nicht überdecken.

Ich bin mir sicher, dass er aus diesem Rohr kommt. Ich taste

mit meinen Fingern in die Dunkelheit und erwarte das Gitter,

an das ich mich oft lehne, wenn es sonnig ist. Doch meine

Hand findet es nicht. Ich strecke mich. Vielleicht ist weiter

hinten, als ich mir einbilde. Aber auch weiter hinten ist kein

Gitter. Es ist verschwunden. Vielleicht haben sie es

abmontiert aus den üblichen Gründen.

Ich ducke mich zusammen – wieder die Knochen. Meine Hose

wird nass. Wie jemand, der einen Zwerg zu imitieren

versucht, wackle ich in das Rohr hinein. Es ist jetzt

vollkommen dunkel. Nur der Gesang, die Wände und das

gegen meine Beine schwappende Wasser schaffen

Orientierung. Mir fällt ein, dass ich Zündhölzer in meiner

Page 65: Advent mosaik IV 2015

Hosentasche habe. Ich krame sie umständlich heraus,

entfache eines, doch die vom Wasser mitgetragene Luft bläst

es gleich wieder aus. Obgleich nur für einen kurzen Moment

Licht durch das Rohr und auf das, was dahinter liegt

geschlackert ist, habe ich jetzt ein Bild davon, wohin ich gehe,

das im Finster auf der Netzhaut klebt: Etwa fünf Meter noch

zieht sich das Rohr gerade aus. Dann kommt etwas anderes,

ein größerer Raum. Ich drehe meinen Kopf und sehe hinter

mir das aufgebrachte Wasser im Schein der Stadt. Die Autos

höre ich jetzt nicht mehr. Alles ist schwarz. Weiter vorwärts

tasten, zur Quelle des Gesangs, denke ich. Lauter und Lauter

wird er, je weiter ich mich zum Raum hinter der Enge

vortaste. Ich zwänge mich durch, das Rohr wird enger und

enger. Alles ist schwarz. Ich muss anfangen zu kriechen. Das

Wasser, der Abfall umschleusen meinen Körper, umschlingen

ihn. Meine Kleidung wird nass und nässer, durchweicht sich

mit der schmutzigen Gischt der abwärtsziehenden Flut. Alles

ist schwarz. Der Raum kann jetzt nur mehr wenige Zentimeter

entfernt sein … aber es so eng. Ich zwänge mich weiter. Die

Enge schmerzt meine Hüften. Der Beton des Rohrs reibt

meine Kleidung ab. Meine Finger tasten nach vorne in die

Schwärze. Ich spüre das Ende des Rohrs und die Wände des

Raums. Ich umfasse die rauen Kanten und ziehe mich

vorwärts. Das Wasser füllt immer mehr vom Rohr aus. Ich

halte meinen Kopf hoch und ziehe ein letztes Mal. Mit dem

Gesicht voran stoße ich in den schwarzen Raum. Der Gesang

er wird noch lauter. Ich höre ihn jetzt deutlich und kann

etwas verstehen, einzelne Wörter, die aber sofort wieder aus

meinem Kopf gedrängt werden vom Wasser, das meinen

Oberkörper nach hinten drängt. Mein Kopf – ich kann ihn

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nicht weiter oben halten. Ich stemme mich gegen die Wände,

aber meine Hüfte, sie ist zu breit. Sie steckt fest. Meine

Nackenmuskeln können nicht mehr. Ich rüttle mit der Hüfte

und winde mich. Trommelschläge in meinen Ohren,

Herzpochen durch meinen adrigen Hals in vollkommener

Finsternis … Ich kann ihn nicht mehr oben halten. Die

Armmuskeln versagen, sie können nicht mehr rütteln. Der

raue Beton bohrt seine abstehenden Spitzen in meine Hüfte.

Nur der Kopf hält sich noch mit letzter Kraft aus dem

steigenden Wasser in der Dunkelheit. Doch es geht nicht

mehr. Er kann nicht mehr und erschlafft. Die angestrengten

Lungenflügel nehmen die Fluten gierig auf. Ein tiefes

Einatmen. Der Kopf – er schafft es ein letztes Mal aufzusehen

und da ist plötzlich Licht. Auf einem kleinen Tisch, steht ein

altes Radio, das ein altes Lied spielt, klar und deutlich. Nur ein

altes Radio, nur ein altes Lied.

Emanuel Gauß

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IMPRESSUM

ADVENT-MOSAIK IV (2015)

mosaik - Zeitschrift für Literatur und Kultur

herausgegeben von Josef Kirchner und Sarah Oswald

mosaikzeitschrift.at

fb.com/mosaik.zeitschrift

issuu.com/mosaik.zeitschrift

mosaik ist eine Zeitschrift für Literatur und Kultur und

versteht sich als nicht-profitorientiertes Medium zur

Veröffentlichung literarischer und nicht-literarischer Texte

aller Art. Neben literarischen Texten sind ausdrücklich auch

nichtliterarische Textsorten wie Essays, Kommentare oder

Forschungsberichte und auch Rezensionen, Interviews sowie

Veranstaltungsberichte erwünscht.

[email protected] und finde dich wieder als

ein Steinchen im mosaik.