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Klin. Wschr. 51, 151--155 (1973) © by Springer-Verlag 1973 Editorial Aktuelle Probleme der Gerontologie bzw. Geriatrie H. Franke Wfirzburg, Medizinische Universit~ts-Pol'~Jnik Das vorliegende Heft der Klinischen Woehen- sehrift ist groBenteils geriatrisehen Fragestellungen gewidmet. In Europa und in den USA gibt es heute wesentlich mehr alte Mensehen als friiher; z.B. sind 12,5% der westdeutsehen Bundesbiirger i~lter als 65 Jahre. Die h6here Lebenserwartung des einzelnen und die Zunahme des Autefls der Betagten stellen unsere Generation vor grebe volkswirtsehaftliehe und medizinische Probleme. Jeder Fortschritt auf dem Gebiete der Altersheilkunde ist somit nieht nut fiir die Wissenschaft, sondern auch fiir das Wolff einer waehsenden BevSlkerungsgruppe yon groBer Trag- weite. Die Geriatrie hat heute die gleiche Bedeutung erlangt, wie z.B. die P/~diatrie, als sie um die Jahr- htmdertwende zum selbsti~ndigen Faeh in der Medizin wurde. Die sprunghafte Entwieklung der Alterus- und Altersforschung auf den Sektoren der Biologie, Patho- logie, klinisehen Medizin, Psychologie und Soziologie wurde z.B. in 530 Vortr~gen auf dem 9. Internatio- nalen KongreB fiir Gerontologie vom 2.--7. Juli 1972 in Kiew offenkundig. Die neueren Forsehungsergebnisse in der Geronto- logie betreffen die Grundlagenforschung der Alte- rung der Zellen, des~Bindegewebes, der Organe und des gesamten Organismus. Ein spezielles geriatrisches Problem stellen Grad und AusmaB der Polypathie bzw. der Multimorbidit~t im h6heren Alter dar; dabei gewinnen die Weehsel- wirkungen der Altersaffektionen, auch in bezug auf die BehandltmgsmSglichkeiten und -eigenarten, zu- nehmend an Bedeutung. SehlielMieh beseh~ftigt sieh die moderne Altersforsehung mit der Biologie der h6ehsten mensehtichen Altersstufen und besonders mit den Kriterien der Langlebigkeit. Es sollen hier nur einige Fragestellungen skizziert werden, die derzeit im Mittelpunkt der wissensehaftliehen Diskussion stehen. L Anschauungen fiber den Alterungsprozel~ Der Vorgang des Alterns ist sehr komplex; er ist trotz einer Vielzahl yon Einzelkermtnissen in seiner Gesamtheit noeh nicht fibersehaubar. Jeder geria- trisch t/~tige Arzt weiB, dal~ das Altern nicht aus- schlieBlieh kSrperliehe Funktionen und Vorgiinge be- trifft, sondern ebenso im seeliseh-geistigen Bereich festzus~ellen ist (Heft [21]; Sehulte [30]; Vischer 12a Klin. Wschr., 51. Jahrg. [40]). Es ist ferner das Verdienst des Psyehologen Thomae [34] und seines Arbeitskreises (Lehr u. Mit- arb. [23]), die soziale ,,Bedingtheit" des Alterns hervorgehoben zu haben. Seit den Grundlagenforsehungen Verz£rs [37] hat sich die experimentelle Gerontologie in vielen L~ndern stark entwiekelt; sie hat inzwisehen wiehtige Beitri~ge auf dem Gebiete der Alterung der Zelle, des Zellkerns, des Bindegewebes, des Stoffweehsels und des Nervensystems beigesteuert (Rustemeyer [27]). In Deutschland wurden zum ersten Male am 12. und 13. M~rz 1971 in GieBen neuzeitliehe molekulare und cellul~re Altersver~'nderungen in der Sieht der experimentellen Gerontologie auf einem Symposium erSrter~ (Platt u. Laseh [26a]). Danaeh spielt sieh die physiologisehe Mterung weitgehend im molekutaren Bereieh ab. 1. Zellalterung Im Alterungsprozel3 der Zellen verlieren die Eiweifl- Makromolek/ile besonders im Zellkern an Funktions- I~higkeit (Verz~r [38, 39]). Selbst die Altertmg yon kernlosen Zellen kann zu einer Verminderung der Zellenzyme fiihren. So geht auch die Alte- rung yon kernlosen Erythrocyten mit einm- deufliehen Ab- nahme yon Enzymaktivit~ten einher, z.B. yon Glucose- 6-Phosphathych'ogenase (G-6-PDH) und yon Phosphoglycer- aldehyddehydrogenase (PGADH) (L6hr u. Waller [25a]). Neben der Alterung yon Enzymproteinen sind auch niehtenzy- matische Faktoren wie z.B. das ATP/ADP-Verh~ltnis und die gest6rte M~gnesiumkonzentra~ion flit den verminderten Energiestoffwechsel im AlterungsprozeB der Erythrocyten verantwortlich zu machen. Speziell das komplexe Molekiil der Desoxyribo- nueleins/~ure (DNS) des ZeIlkerns wird durch die Aus- bildtmg yon Querverbindungen (,,Crosslinks") vernetzt (yon Hahn [17]). Da aul3erdem der Anteil der denatu- rierten Desoxyribonueleinsi~uren ansteigt, leidet mit ztmehmendem Alter die genetisehe Zellaktivitiit; so wird nach Heller der genetisehe Code in der DNS der Zelle im Laufe des Lebens unleserlieh (zit. naeh Sehra- der [28]). Einer der fiihrenden Molekularbiologen, Leslie Orgel, sieht die Ursaehe der Zellalterung nieht allein im gest6rten genetisehen Bauplan der DNS der Zell- kerne, sondern in oellul~ren Autoimmunvorg/~ngen: sie gehen yon den funktionsgesehw/~ehten Produktions- st£tten fiir das Zelleiweil3, den alterierten Ribosomen aus, und dabei entstehen anseheinend falseh program-

Aktuelle Probleme der Gerontologie bzw. Geriatrie

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Klin. Wschr. 51, 151--155 (1973) © by Springer-Verlag 1973

Editorial

Aktuelle Probleme der Gerontologie bzw. Geriatrie

H. Franke

Wfirzburg, Medizinische Universit~ts-Pol'~Jnik

Das vorliegende Heft der Klinischen Woehen- sehrift ist groBenteils geriatrisehen Fragestellungen gewidmet. In Europa und in den USA gibt es heute wesentlich mehr alte Mensehen als friiher; z.B. sind 12,5% der westdeutsehen Bundesbiirger i~lter als 65 Jahre. Die h6here Lebenserwartung des einzelnen und die Zunahme des Autefls der Betagten stellen unsere Generation vor grebe volkswirtsehaftliehe und medizinische Probleme. Jeder Fortschrit t auf dem Gebiete der Altersheilkunde ist somit nieht nut fiir die Wissenschaft, sondern auch fiir das Wolff einer waehsenden BevSlkerungsgruppe yon groBer Trag- weite. Die Geriatrie hat heute die gleiche Bedeutung erlangt, wie z.B. die P/~diatrie, als sie um die Jahr- htmdertwende zum selbsti~ndigen Faeh in der Medizin wurde.

Die sprunghafte Entwieklung der Alterus- und Altersforschung auf den Sektoren der Biologie, Patho- logie, klinisehen Medizin, Psychologie und Soziologie wurde z.B. in 530 Vortr~gen auf dem 9. Internatio- nalen KongreB fiir Gerontologie vom 2.--7. Juli 1972 in Kiew offenkundig.

Die neueren Forsehungsergebnisse in der Geronto- logie betreffen die Grundlagenforschung der Alte- rung der Zellen, des~Bindegewebes, der Organe und des gesamten Organismus.

Ein spezielles geriatrisches Problem stellen Grad und AusmaB der Polypathie bzw. der Multimorbidit~t im h6heren Alter dar; dabei gewinnen die Weehsel- wirkungen der Altersaffektionen, auch in bezug auf die BehandltmgsmSglichkeiten und -eigenarten, zu- nehmend an Bedeutung. SehlielMieh beseh~ftigt sieh die moderne Altersforsehung mit der Biologie der h6ehsten mensehtichen Altersstufen und besonders mit den Kriterien der Langlebigkeit. Es sollen hier nur einige Fragestellungen skizziert werden, die derzeit im Mittelpunkt der wissensehaftliehen Diskussion stehen.

L Anschauungen fiber den Alterungsprozel~

Der Vorgang des Alterns ist sehr komplex; er ist trotz einer Vielzahl yon Einzelkermtnissen in seiner Gesamtheit noeh nicht fibersehaubar. Jeder geria- trisch t/~tige Arzt weiB, dal~ das Altern nicht aus- schlieBlieh kSrperliehe Funktionen und Vorgiinge be- trifft, sondern ebenso im seeliseh-geistigen Bereich festzus~ellen ist (Heft [21]; Sehulte [30]; Vischer

12a Klin. Wschr., 51. Jahrg .

[40]). Es ist ferner das Verdienst des Psyehologen Thomae [34] und seines Arbeitskreises (Lehr u. Mit- arb. [23]), die soziale ,,Bedingtheit" des Alterns hervorgehoben zu haben.

Seit den Grundlagenforsehungen Verz£rs [37] hat sich die experimentelle Gerontologie in vielen L~ndern stark entwiekelt; sie hat inzwisehen wiehtige Beitri~ge auf dem Gebiete der Alterung der Zelle, des Zellkerns, des Bindegewebes, des Stoffweehsels und des Nervensystems beigesteuert (Rustemeyer [27]).

In Deutschland wurden zum ersten Male am 12. und 13. M~rz 1971 in GieBen neuzeitliehe molekulare und cellul~re Altersver~'nderungen in der Sieht der experimentellen Gerontologie auf einem Symposium erSrter~ (Platt u. Laseh [26a]).

Danaeh spielt sieh die physiologisehe Mterung weitgehend im molekutaren Bereieh ab.

1. Zellalterung Im Alterungsprozel3 der Zellen verlieren die Eiweifl-

Makromolek/ile besonders im Zellkern an Funktions- I~higkeit (Verz~r [38, 39]).

Selbst die Altertmg yon kernlosen Zellen kann zu einer Verminderung der Zellenzyme fiihren. So geht auch die Alte- rung yon kernlosen Erythrocyten mit einm- deufliehen Ab- nahme yon Enzymaktivit~ten einher, z.B. yon Glucose- 6-Phosphathych'ogenase (G-6-PDH) und yon Phosphoglycer- aldehyddehydrogenase (PGADH) (L6hr u. Waller [25a]). Neben der Alterung yon Enzymproteinen sind auch niehtenzy- matische Faktoren wie z.B. das ATP/ADP-Verh~ltnis und die gest6rte M~gnesiumkonzentra~ion flit den verminderten Energiestoffwechsel im AlterungsprozeB der Erythrocyten verantwortlich zu machen.

Speziell das komplexe Molekiil der Desoxyribo- nueleins/~ure (DNS) des ZeIlkerns wird durch die Aus- bildtmg yon Querverbindungen (,,Crosslinks") vernetzt (yon Hahn [17]). Da aul3erdem der Anteil der denatu- rierten Desoxyribonueleinsi~uren ansteigt, leidet mit ztmehmendem Alter die genetisehe Zellaktivitiit; so wird nach Heller der genetisehe Code in der DNS der Zelle im Laufe des Lebens unleserlieh (zit. naeh Sehra- der [28]).

Einer der fiihrenden Molekularbiologen, Leslie Orgel, sieht die Ursaehe der Zellalterung nieht allein im gest6rten genetisehen Bauplan der DNS der Zell- kerne, sondern in oellul~ren Autoimmunvorg/~ngen: sie gehen yon den funktionsgesehw/~ehten Produktions- st£tten fiir das Zelleiweil3, den alterierten Ribosomen aus, und dabei entstehen anseheinend falseh program-

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mierte EiweiBkSrper, die als Antigene spezifisehe Antik6rper erzeugan und eine Art ,,Altersaggression" ausl6sen (Bach, Grieble und Anderson [1]; Kovacs. Korda [22]).

2. Alterung der Bindegewebslaser Auch die Bindegewebsfaser altert in ihrer Makro-

molekfilstruktur (Verz~r [37]). Danach nehman nach Art nines ,,Verholzungsvorganges" die jfingeren, nicht eovalenten Wasserstoffbriicken ab und die eovalenten Verkettungen zu; die Faserelastizitiit wird auf diese Weise verringert und die Affiniti~t zu Calcium- Einlagerung gesteigert.

3. Alterung der Gewebe und Organe Der AlterungsprozeB spezieller Gawebe und der

Organe verl~uft je naah der Teilungs- und Regenera- tionsfi~higkeit der Parenehymzellen recht untersehied- lich: Organe mit zellkonstantem Parenchym wie z.B. das Gehirn, die Niere und das Herz sind dem Alte- rungsvorgang eher unterworfen als solche, bei denen bis ins hohe Alter Zellreganerationen mSglieh sind (z. B. der Darm und das Knochenmark).

Bfirger [2] versuchte z.B. am Vorgang der Physio- und Pathosklarose des Gef£Bsystems die unterschied- liche Art der Alterung dar Organe darznstellen. Da die kardiovasaul~iren und renalen Komplikationen im hSheran Altar, abgesehen yon den Geschwfilsten, die h~iufigsten Todesursaahen sind, hat die geriatrische Forschung im letzten Jahrzahnt dem morphologischen und funktionellen Verhalten yon Herz und Kreislauf (Franke [13]; Spa~g [31]; Linzbach [24]; Wezler [43]; Zapf [44] u.a.m.) und dem des uropoetischen Systems bai ~lteren Mansehen znnehmende Beaohtung ge- sehenkt. Zu der physiologischan Zell- und Binde- gewebsalterung kommen krankhafte Affektionen. In funktioneller Hinsieht zeigt das kardiovasculi~re Sy- stem, spezietl das sog. Altersherz, untar den verschie-

denartigsten Belastungen eine erhShte Versagons- bereitschaft (Wezler [43]; Zapf [44]).

Linzbach hat in einer pathologisch-anatomischen Studie in diesem Heft an einem groBen Sektionsgut nachgewiesen, dab das Gesetz der Atterspolypathie nieht nur fiir den gesamten Organismus (s. u.), son- dern auch ffir das alternde Herz zutrffft. So linden sich bei fiber siebzigj~hrigen Obduzierten im Dm'ch- schnitt etwa drei bis vier Affektionen am oinzalnen Harzen, z.B. eino Coronarkrankheit, eine Hyper- trophic des linken Ventrikels, eine Myokardfibrose, eine Verkalkung des Mitratsegels u.a.m.

Die Summation dieser verschiedenan krankhaften Ver~nderungen am Herzan im Sinne einer Organ- Polypathie ruff nach Linzbach schlieBlich die latente und letztlich die manifeste Herzinsuffizianz im Altar hervor.

Unter allen Organen sind besonders die Nieren dem AlterungsprozeB unterworfon. Nach Davison und Sholck [3] vermindert sich das Glomerulumfiltrat sowie

der effektivo renale Plasmastrom kontinuierlieh mit zunehmendem Alter, erkennt]ieh an der Inulin- und an der PAH-Clearanee. Gleiehzeitig nehmen die Zahl der Glomeruli sowie die Dieke der Nierenrinde ab. So liegt im Senium ab 8.--9. Jahrzehnt die Nierenfunktion ~ietfach an der Grenze der manifesten Insuffizienz. Diase Tatsaehe erklgrt die vielen Uberdosierungs- erseheinungen im h6heran Alter bei der Gabe solcher Medikamente, die vorwiegend fiber die Niore ausge- sehieden warden, wie z.B. der phenaeetinhaltigen Sahmerzmittel.

4. Alterung des Gesamtorganismus

])as Wesen der Alterung des Gesamtorganismus besteht in funktioneller Hinsiaht in einar verringarten Anpassungsf~higkeit an die wechsalnden Umwelts- bedingungen (Rossmann [26]); jadoch antwiakelt nach jfingsten Untersuchungen russischer Gerontologan (Frolkis [15]) der alternde Organismus auch zahl- reiehe Anpassungsmechanismen, spaziall zentral-ner- v6ser und humoraler Natur, die dem Alterungsvor- gang entgegen~kan. Auf den physiologischen A1- terungsprozeB pfropfen sich Altersleiden und -krank- heiten atff, wobei sieh Altern und Krankheit gegan- seitig im Sinne eines positiven Feed-back-Mechanismus beeinflussen, d.h. jeder dar Faktoren basehleunigt den anderen: mit fortschreitendem Alter werden Krank- heiten h/~ufiger lind mit einsatzanden Krankheiten wird der AlterungsprozeB beschleunigt (Franke [12]; Peterson [25]).

Abb. 1 versucht schematiseh den EinfluB yon Gebrechen und Krankheiten auf die theoretiseh dank- baren Lebensabl~ufe ei~gor Menschengruppen mit unterschiedliaher genetisaher Lebenserwartung dar- zustellen.

Theoretiker haben immer wieder die Frago disku- tiert, ob ohne Einwirkung yon Krankheiten und sch~dlichen exogonon Einflfissen der physiologisahe Ted bairn Mensehen allein durch Alterssehw/~che mit etwa l l5--120Jahren eintritt (Delore, Marin u. Lambert [5]). Nach den bisher vorliegenden Obduk- tionsbefunden gibt es keine Hinweise daffir, dab die H6chstbetagten an der obersten Schwalle des menseh- lichen Lebens allein infolga sog. Altersschw~ohe ster- ben. Selbst die LeiahenSffnnng eines der ~Itesten sazierten Mensehen, eines 106ji~hrigan ungarischen Schi~fars, ergab keine Anhaltspunkte ffir das Vorliegen eines ,,biologischan oder physiologischen Todes" (Haranghi und Ftiredi [20]).

II. Polypathie bzw. Multimorbidit~it im hiiheren Alter

An den Gebrechen und Krankhaiten des alternden Menschen sind meist mehrere Organe bateiligt und bedingan ein zunehmend buntes Gesamtbild. ]t~----~nlich wie Gsall [16] haban wir die Anzahl der verschiedenen Diagnosan bei den fiber 70j/~hrigen Patienten in un- serem ambulanten und station/~ren Beobachtungsgut

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Lebenseiwartung I a

E= 2° il II m 2~ 3O

/

Tod 100 0 10

ie/k'\ \

eriosklerose

- Ka'rdiosklerose u.weitere Altersgebrechen (Polypathie)

20 30 40 50 60 70 effektiv erreichtes Lebensalter

~"~ ~ A l t e rs multim orbidit ~it Einsetzen der

biol.Tod an ~ Attersschw:~che

80 90 100 110 120

Abb. 1. Ia Ideale Lebensbatm eines Mensehen mit hSchster Lebenserwartung. Ib Durch Arteriosklerose, Alterspolypathie und spgterer Altersmultimorbidit~t verkiirzter Lebensablauf eines Hundertjghrigen. Ic Verkiirzt~ Lebensdauer eines Mensehen mit genetisch hoher Lebenserwartung, der durch frfih auftretende Leiden und Krankheiten wie z.B. Emphysem bronchitis ~, Gallensteine fl, und sehlieBlich tterzinfarkt ~ bei Kardiosklerose friihzeitig mit 60 Jahren stirbt. Id Lebensbahn eines Menschen mit hoher Lebenserwartung, der z.B. an einem Carcinom mit Metastasen friihzeitig stirbt. Ie Beeinflussung der Lebensbahn eines Probanden mit theoretisch hoher Lebenserwartung durch eine Infektionskrankheit.//Verktirzter Lebens- weg eines Menschen mit genetisch reduzierter Lebenserwartlmg ohne exogene StSrfaktoren. I I I Erheblieh verkiirzte Lebenskurve

bei einem Probanden mit genetiseh maximal reduzierter Lebenserwartung, z.B. bei dem Progerie-Syndrom

denen der jfingeren Gruppen gegenfibergestellt (Fran- ke [12]; Ulmer [36]).

Danaeh nehmen im Laufe des Lebens die bei einem Kranken festgestellten Affektionen (Leiden, Krankheiten) fast proportional mit den Jahres- dezennien zu. I m Senium hat man es mit einer mannig- faehen Zahl yon Leiden im Sinne einer Polypathie (~h'anke [12]; Gsell [16]; Howell [19]) oder mit Viel- faehkrankheiten, d.h. einer Multimorbiditat (Schubert [29]) zu tun.

Dieses Nebeneinander mehrerer krankhafter Vor- g~nge und Zust/~ade ist ffir das biologisehe Verhalten Betagter geraAezu kennzeiehnend; die Alterspoly- pathien bzw. Multimorbidit/~ten kSnnen bei dem- selben Patienten w/~hrend kurzer oder 1/~ngerer Zeit- perioden in positive oder negative Weehselbeziehung treten.

Meistens werden einzelne oder mehrere Alters- affektionen, z.B. eine Kardiosklerose dureh eine Pneu- monie bei Altersemphysem akut in ungfinstigem Sinne beeinflul~t.

Bei gewissen krankhaf ten Altersvorg~ngen kSnnen jedoeh im Verlaufe grSBerer Lebensabsehldtte aueh negative Syntropien beobaehtet werden; so haben Pla t t u. Mitarb. in ihrer in dieser Zeitsehrift ver- 5ffentliehten Arbeit festgestellt, da$ bei fiber 60j/~hri-

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gen Tumor- und Lebercirrhose-Patienten eine ge- ringere Arteriosklerose-Neigung der Aorta und der Coronarien festzustellen ist ats in einem jfingeren Vergleiehskollektiv.

Daraus folgt, dal] die /~rztliche Betreuung yon hoehbetagten Patienten im allgemeinen nieht die Auf- gabe yon Organspezialisten ist; sie soIlte in die H/~nde yon erfahrenen Xrzten gelegt werden, die nieht nur das AusmaB und die Art, sondern aueh die gegen- seitige Beeinflussung der Polypathiea bzw. Morbidi- t/~ten bei ihren therapeutisehen Bemfihungen be- rfieksiehtigen.

HI. Die hSehste mensehliehe Lebensstufe

Das Problem der Langlebigkeit geh6rt zu den an- ziehendsten der Gerontologie (Franke u. Mitarb. [9]; Haranghi, Beregi u. L~sl6 [14], Steinmann [32]; Viseher u. Roulet [41] u.a .m.) . Meine Mitarbeiter und ieh haben deshalb in den letzten 10 Jahren das k6rperfiehe und seelisehe Verhalten zun/~ehst yon 148, jetzt yon 177 fiber Hundertj/~hrigen Westdeutsehlands im Vergleieh mit dem yon 50- mud 75jghrigen in einem speziellen Prfifungsveffahren untersueht (Franke, Braeharz, Laas und Moll [9]}. Gleiehzeitig liegen be- reits die ersten sog. Langssehnittsuntersuehungen bei dieser Personengruppe vor.

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Wahrseheinlich hegt der Zei~punkt, an dem das menschliehe Leben bei vitaten Personen ausschlie~hch aus Grtinden der Seneszenz wie bei einer ausbrennen- den Kerze erlSsehen muB, bei einem Alter yon fiber 110 Jahren. Der ~lteste, zur Zeit in Westdeutsehland lebende und yon uns ldiniseh erfaBte Biirger ist ur- kundlieh belegt 110 Jahre alt. Er ist t rotz nachweis- barer multipler Altersgebrechen noch relativ rtistig.

Wie kommt es nun, dal~ diese Individuen, trotz einer Polypathie bzw. Mul~imorbiditiit erhebliehen Ausmai3es, ein so hohes Alter erreicht haben ? Naeh den in dJeser Zeitsehrfft verSffenthchten Ea'gebnissen unserer Wiirzburger Forschungsgruppe zeigen die rfistigen fiber Hundert j£hrigen in bezug auf fast alle blutchemischen Werte ein biologiseh jiingeres Ver- halten, als es naeh ihrem kalendarischen Alter zu er- warren w~re; auch die in diesem Hef t yon Linzbaeh verSffenthchten und analysierten pathologiseh-ana- tomischen Herzbefunde yon 67 fiber hundertji~hrigen HSchstbetagten best~tigen unsere Hypothese: Wahr- seheinlieh stellen die Hundertj~hrigen und ~lteren Personen eine positive Selektion der Gesamtbe- vSlkerung dar, und zwar im Sinne einer speziellen biologisehen Kategorie, die alas Gros der Mitmensehen fiberlebt ha t (Franke [10]; Steinmann [32]).

Nach den jiingsten geriatrisehen Forschungen h~ngt eine iiberdurehschnittliche Lebenserwartung yon dem gfinstigen Zusammentreffen gewisser endo- und exogener Faktoren ab (Franke [10]).

Hierzu gehSren: a) in 63 % die familii~re Erbanlage, b) das Vermeiden bzw. Versehontbleiben yon

lebensbedrohliehen Ris '~en (z.B. Unf~lle) und das Niehtbetroffensein yon lebensverkiirzenden Erkran- kungen,

e) gewisse pathologisch-anatomisch erfal3bare Mo- mente, wie der konstitutionell gesteuerte Grad der Organinvolution und die individuelle Gangart der Arterioslderose (z.B. geringere Auspr£gung einer Cerebralsklerose und die besondere :Form der Kardio- sklerose),

d) best immte humorale und zentralnervSse Adap- tat ionsmeehanismen an den Alterungsvorgang (Frol- Ins [15]),

e) Erhaltenbleiben der intellektuellen Leistungs- f~higkeit; die Langlebigen vermSgen sieh relativ gut mit der jeweiligen Lebenssituation auseinanderzu- setzen (Erikson [7], Thomae u. Lehr [34]). Ein alters- bedingter Abfall der intellektuellen F£higkeiten, wie er dem sog. ,,Defizit-Modell" der Psyehologen ent- spricht (Weehsler [42]), scheint keineswegs bei HSchst- betagten gegeben zu sein. Auf diesem Gebiete sind weitere Untersuchungen dringend notwendig.

Aueh nach den jiingsten Forschungen sind wit nicht oder noch nieht in der Lage, unsere Hoehbe- tagten zu verjfingen oder zu revitalisieren (Davison [4]). Das Wesentliehe in der Betreuung der sehr Alten ist deshalb immer noch die Empfehlung einer sinn- vollen Geroprophylaxe (StSrmer [33]) und die Be-

achtung der medikamentSsen Risiken in der Geriatric (Franke [14]). So hat sieh in den letzten Jahren unter Beriicksiehfigung der Besonderheiten des mor- phologischen und physiologischen Organverhattens im Greisenalter eine spezielle Pharmakotherapie in der Geriatric entwickelt (Doberauer und Twrdy [6]). Des- halb soll~e auch die pharmazeutische Industrie mehr als bisher bestrebt sein, bei der Einfiihrung neuer Medikamente deren Wirksamkeit , aber aueh deren Gefahren auf dem geriatrischen Sektor auszutesten, ehe allgemein verbindliehe Riehtlinien gegeben werden.

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Prof. Dr. H. Franke Medizinische Univ.-PoliklinJk D-8700 Wfirzburg Klinikstr. 8 Bundesrepublik Deutschland