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3 Standpunkt Verfassungskonflikte in Osteuropa Martin Mendelski 5 Interview Soziale Ordnungen grenzüberschreitend betrachten Sigrid Quack und Karen Shire 8 Presseschau Wissenschaſtler des MPIfG in den Medien 10 Schwerpunkt Die Zukunſt ist unkalkulier- bar: Wie treffen Wirtschaſts- akteure ihre Entscheidungen? Jens Beckert und Richard Bronk; Benjamin Braun, Timur Ergen, Jenny Andersson 17 Forscherportrait Als Zeithistorikerin unter Soziologen: Ariane Leendertz 20 Nachrichten Leibniz-Preis 2018 für Jens Beckert 24 Neuerscheinungen Bücher, Journal Articles, Discussion Papers 27, 36 Veranstaltungen Berichte und Vorschau 2018/2019 34 Freunde und Ehemalige Was macht eigentlich … Miriam Hartlapp 2 Impressum Schwerpunkt Die Macht der Erwartungen Wie der Kapitalismus die Zukunft erfindet GESELLSCHAFTS FORSCHUNG 1 2018 Aktuelle Themen und Nachrichten

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3 Standpunkt Verfassungskonflikte in OsteuropaMartin Mendelski

5 InterviewSoziale Ordnungen grenz überschreitend betrachten Sigrid Quack und Karen Shire

8 Presseschau Wissenschaftler des MPIfG in den Medien

10 SchwerpunktDie Zukunft ist unkalkulier-bar: Wie treffen Wirtschafts-akteure ihre Entscheidungen?Jens Beckert und Richard Bronk; Benjamin Braun, Timur Ergen, Jenny Andersson

17 ForscherportraitAls Zeithistorikerin unter Soziologen: Ariane Leendertz

20 NachrichtenLeibniz-Preis 2018 für Jens Beckert

24 NeuerscheinungenBücher, Journal Articles, Discussion Papers

27, 36 VeranstaltungenBerichte und Vorschau 2018/2019

34 Freunde und EhemaligeWas macht eigentlich …Miriam Hartlapp

2 Impressum

SchwerpunktDie Macht der Erwartungen Wie der Kapitalismus die Zukunft erfindet

GESEllSchAfTSForSchuNg

12018

Aktuelle Themen und Nachrichten

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Impressum GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18

Impressum

Mit dem Forschungsmagazin Gesellschaftsforschung informiert das MPIfG zweimal im Jahr mit anschaulichen Artikeln und Berichten über seine Forschungsprojekte und -ergebnisse, Pu-blikationen und Veranstaltungen. Ein Schwerpunktthema lie-fert Hintergrundinformationen aus der Forschung zu Themen der aktuellen öffentlichen D iskussion. S ie e rhalten d en News-letter in einer PDF-Fassung per E-Mail oder als Printausgabe. Abonnement und weitere Ausgaben unter www.mpifg.de/forschungsmagazin

© Max-Planck-Institut für GesellschaftsforschungKöln, Juli 2018In Absprache mit der Redaktion frei zum Nachdruck.Abdruck nur mit Quellenangabe.

HerausgeberMax-Planck-Institut für GesellschaftsforschungPaulstr. 3 | 50676 Kölnwww.mpifg.de | [email protected]

RedaktionChristel Schommertz (verantw.), Anna Zimmermann

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung der Autorin oder des Autors wieder und sind nicht als offizielle Stellungnahme des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsfor-schung zu verstehen.

BildnachweisTitel: ullstein bild; MPIfG/Astrid Dünkelmann 3, 5 (links), 13, 15, 16 (links), 17, 18, 20 (links), 21, 22 (links), 27, 32 (alle), 36 (unten); picture alliance/dpa 4; Universität Duisburg-Essen/Picture People 5; Universität Duisburg-Essen 6; picture alli-ance/dpa 10; juergen-bauer.com 11 (links); London School of Economics and Political Science 11 (rechts); picture alliance/Jan Haas 14; picture alliance/Minden Pictures 16 (rechts); Hamburger Institut für Sozialforschung 20 (rechts), 31 (alle); Peter Vogel für MPG 22 (rechts); DFG/David Ausserhofer 23; Daniel Fridman 28; Wikimedia Commons/harum 29; MPIfG/Anna Zimmermann 33; Bettina Ausserhofer 34; FU Berlin/Bernd Wannenmacher 35; onliveline für MPG (oben) 36.

Gestaltung | Satzpigur design, Potsdam | Jeanette Störtte, Berlin

Mehr Themen und Standpunkte aus der Forschung des MPIfGAuf seiner Website stellt das MPIfG weitere aktuelle For-schungsprojekte vor und liefert Hintergrundinformationen zu Themen, die zurzeit öffentlich diskutiert werden. Mit ihren

„Standpunkten“ kommentieren Forscherinnen und Forscher des MPIfG Entwicklungen in Politik und Wirtschaft. Durch die „Forscherportraits“ lernen Sie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Kooperationspartner und Alumni des MPIfG näher kennen. In der Rubrik „Interviews“ sprechen sie über die Bedingungen ihrer Arbeit, neue Methoden und den Wandel der Forschungskommunikation. www.mpifg.de/forschung/forschung/themen_de.asp

Das MPIfGDas Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung ist eines der rund achtzig Institute der Max-Planck-Gesellschaft e.V., die von Bund und Ländern finanziert wird. Als eine Einrich-tung der Spitzenforschung in den Sozialwissenschaften betreibt es anwendungsoffene Grundlagenforschung mit dem Ziel ei-ner empirisch fundierten Theorie der sozialen und politischen Grundlagen moderner Wirtschaftsordnungen. Im Mittelpunkt steht die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen öko-nomischem, sozialem und politischem Handeln. Das Institut schlägt eine Brücke zwischen Theorie und Politik und leistet einen Beitrag zur politischen Diskussion über zentrale Fragen moderner Gesellschaften. Es ist bei der Auswahl und Verwirk-lichung seiner Forschungsvorhaben frei und unabhängig.

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MPIfG Jahrbuch 2017–2018

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Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Verfassungskrisen. Bisher manifestierten sich Verfassungskonflikte und der Streit um den Rechtsstaat haupt-sächlich in den östlichen Staaten der Eu-ropäischen Union, etwa in Polen, Ungarn oder Rumänien. Gegenbewegungen und

verfassungsrechtliche Spannungen gibt es derzeit in Spanien und jüngst auch in Italien. Weitere Mitgliedsländer könnten in Zukunft folgen. Um eine Kettenreak-tion zu verhindern, tritt die Europäische Kommission zunehmend autoritär auf und versucht, die „illiberalen Unrechts-staaten“ mit Überwachungs- und Sank-tionsmechanismen zum Einlenken zu bringen. Ist dies wirklich sinnvoll?

Die Anhänger der liberalen Demokra-tie und des legalen Konstitutionalismus betrachten die Gegenreformen, Verfas-sungsänderungen und Eindämmungen der Justiz als Bedrohung der europäi-schen Werte und des Rechtsstaats. Für die Anhänger einer republikanischen Demokratie sind die nationalen Gegen-bewegungen jedoch keine Gespenster, sondern der Geist einer erwachenden und sich emanzipierenden Nation, die ei-nen entpolitisierten „Rechtsstaat der Eli-ten und Experten“ mit eigenen Werten

füllen möchte. Denn die aktuellen Ver-fassungskonflikte in Polen, Ungarn und Rumänien zeigen, dass der abstrakte und liberale Rechtsstaat es hier nicht schafft, die Eliten und „ihr“ Recht an die Gesell-schaft zu binden, die Demokratie zu stär-ken und politische Einheit zu fördern.

In Osteuropa hat diese von der Gesell-schaft entbettete Form des Rechtsstaats für viele Normalbürger versagt. Der ideale Gedankenrechtsstaat der Eliten wurde nicht zum realen Rechtsstaat al-ler Bürger. Von außen und innen instru-mentalisiert, konnte er keinen Konsens zwischen dem Staat und der breiten Be-völkerung herstellen. Stattdessen führte er zur Polarisierung der Gesellschaft und der Eliten. Die Schaffung einer neutra-len Sphäre der guten Regierungsführung (good governance) und der Rechtsstaat-lichkeit, mit der sich die internationale Gemeinschaft einen Konsensus erhoff-te, kann nunmehr als ein gescheiterter Zivilisations- beziehungsweise Europäi-sierungsprozess gesehen werden. Wäh-rend der liberale Rechtsstaat in Westeu-ropa die politische Einheit gefördert hat, wurde er in vielen Ländern Osteuropas als politische Waffe im Kampf der kon-kurrierenden Interessengruppen instru-mentalisiert.

Martin Mendelskiist seit 2016 wissenschaftlicher Mitar-beiter am MPIfG. Er promovierte 2014 an der Universität Luxemburg. Für seine Doktorarbeit über die Auswir-kungen der EU auf die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in den mittel- und osteuropäischen Staaten (Polen, Rumänien und Moldawien) erhielt er den „THESEUS Award for Promising Research in European Integration“. Mendelski war Gastprofessor an der Alexandru-Ioan-Cuza-Universität im rumänischen Iaşi, weitere Gastaufent-halte führten ihn unter anderem an die Harvard University, an das Euro-päische Hochschulinstitut in Florenz, an die Bilkent-Universität in Ankara und die Europäische Rechtsakademie in Trier.

Forschungsinteressen: Rule of Law, Good Governance und Spielarten des Kapitalismus in Zentral- und Osteuro-pa, Soziologie der Korruption, Staats-lehre und politische Soziologie

GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18 Standpunkt

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StandpunktVerfassungskonflikte in osteuropaDie Krise des liberalen Rechtsstaats

In Osteuropa hat die von der Gesellschaft entbettete form des Rechtsstaats für viele Normalbürger versagt.

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Standpunkt GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18

Gegen die so wahrgenommenen patholo-gischen Effekte der liberalen Europäisie-rung wehrt sich nun ein Großteil der Ge-sellschaft – vor allem die Bevölkerung in den Peripherien, die nicht vom liberalen Elitenrechtsstaat profitiert haben –, in-dem sie Politiker wählt, die den Einfluss der Judikative eindämmen und den po-litischen Teil der Verfassung stärken wol-len. In den letzten Jahrzehnten war dies aufgrund der Fragmentierung des Par-teienstaates sowie der kurzen Amtszeiten der Justizminister kaum möglich. Jeder Reformversuch wurde als parteipolitisch motivierter Eingriff in die Unabhängig-keit der Justiz stets zurückgewiesen.

Mit der Konsolidierung des Parteiensys-tems ist ein transformativer Umbau mög-lich. Die populäre Gegenbewegung, die zurzeit in Polen und Ungarn stattfindet, hat sich das Ziel gesetzt, den normativen, liberal-formalistischen Gedankenrechts-staat mithilfe von Nationalbewusst sein, Tradition, Sittlichkeit und christlichen Werten näher an die Bevölkerung he-ranzuführen. Man will den entbetteten liberalen Rechtsstaat wieder in die Ge-sellschaft einbetten; man will dessen abs-trakte Formen wieder mit greifbaren In-

halten füllen. Dazu aber sind Legitimität, ein gesellschaftlicher Konsens und nicht zuletzt eine Vision davon nötig, wie der neue „demokratische Rechtsstaat“ nach polnischer, rumänischer und ungari-scher Spielart aussehen soll.

Historisch ist der Rechtsstaat als eine na-tionale Spielart entstanden (die englische „rule of law“, der deutsche „Rechtsstaat“, der französische „état de droit“). Er kann auch heute nur als nationale Variante funktionieren und eben nicht als eine ideale Ansammlung von besten Prakti-ken, Konventionen und internationalen Rechtsstaatsprinzipien, die als Checklis-ten (laundry lists) in Brüssel und Straß-burg entworfen werden. Der demokra-tische, real existierende Rechtsstaat ist ein sozialer Rechtsstaat, der die Bedürf-nisse, Probleme und Ängste der Bür-ger ernst nimmt, vor allem in Zeiten der Krise. Diesen demokratischen und ge-sellschaftlich eingebetteten Rechtsstaat wollen die Regierungen in Polen, Un-garn und Rumänien aufbauen. Die Euro-päische Kommission und die meisten Rechtsexperten zweifeln daran und for-dern die Rücknahme der Reformen. Sie schützen den elitären Jurisdiktionsstaat

und verhindern so eine mögliche Trans-formation zu einem sozialen Gerechtig-keitsstaat. Dürfen die bürokratischen Aufseher aus Brüssel die Entwicklung ei-ner osteuropäischen Variante des demo-kratischen Rechtsstaats mittels Vertrags-verletzungsverfahren und potenziellen Sanktionen unterbinden? Dieser und weiteren Fragen im Kontext der rule of law widmet sich meine aktuelle For-schung.

Zum Weiterlesen

Mendelski, M.:Verfassungskrisen in Osteuropa: Zwi-schen europäischer und nationaler Einheit. www.mpifg.de, 2018. https://tinyurl.com/sp-mendelski-osteu

Mendelski, M.:De-politicization by Europeanization: The Emergence of the Fragmented State in South Eastern Europe. In: Governance and Constitutionalism: Law, Politics and Institutional Neutral-ity. (Hg.) B. Iancu und S. E. Tănăsescu. Routledge, New York 2018, im Erschei-nen.

Mendelski, M.: The Rule of Law. In: The Routledge Handbook of East European Politics. (Hg.) P. Kopecký und A. Fagan. Routledge, New York 2018.

Mendelski, M.:Das europäische Evaluierungsdefizit der Rechtsstaatlichkeit. Leviathan 44 (3), 366–398 (2016).

Mendelski, M.:Europeanization and the Rule of Law: Towards a Pathological Turn. South-eastern Europe 40 (3), 346–384 (2016).

Mendelski, M.:The EU’s Rule of Law Promotion in Post-Soviet Europe: What Explains the Divergence between Baltic States and EaP Countries? Eastern Journal of European Studies 7 (2), 107–140 (2016).

Der polnische Verfassungsgerichtshof in Warschau. Die aktuellen Verfassungskonflikte in Polen, Ungarn

und Rumänien zeigen, dass der abstrakte und liberale Rechtsstaat es hier nicht schafft, die Eliten und „ihr“

Recht an die Gesellschaft zu binden, die Demokratie zu stärken und politische Einheit zu fördern.

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GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18 Interview

Frau Quack, Frau Shire, Ihr Forschungs - interesse liegt in den Bereichen grenz-überschreitende Institutionenbildung und transnationale Governance. Welche Aspekte interessieren Sie hier genau?KAREN SHIRE: Mich interessiert die Koordination von Unsicherheiten in grenzüberschreitenden Arbeitsmärkten und globalen Produktionsstätten. Aktu-ell beschäftige ich mich unter anderem mit dem Entstehen von Migrationsmärk-ten, zum Beispiel für Handwerker oder Haushaltshilfen. Die Transnationalisie-rung der Arbeit findet nicht nur im Kon-text der Europäisierung statt, sondern auch in Zusammenhang mit Regiona-lisierungs- und Globalisierungsprozes-sen in anderen Weltregionen. Ich möch-te die Erkenntnisse über Transnatio na-lisierungsprozesse durch eine au ßer-europäische Perspektive erweitern. SIGRID QUACK: Ich möchte besser verstehen, weshalb wir auf globaler Ebe-ne in verschiedenen Politikfeldern un-terschiedliche Verlaufsmuster transna-tionaler Governance beobachten und was deren Wirkungen für soziale In-klusion beziehungsweise Exklusion sind. Diese Forschung schließt an mei-ne Arbeiten der MPIfG-Forschungs-gruppe an, die ich bis zum Wechsel an die Universität Duisburg-Essen im Jahr 2013 geleitet habe. In den nächsten Jah-

ren plane ich, vertiefend die Auseinan-dersetzungen um Expertenwissen (epis-temische Autorität) zu untersuchen, die wir häufig dort beobachten können, wo private, zivilgesellschaftliche und öffent-liche Akteure es mit regulatorischer Un-

sicherheit zu tun haben. Ich will aufzei-gen, wie Konflikte darüber, wer das (ver-meintlich) „beste“ Wissen für grenz-überschreitende Gov ernanceprozesse hat, Verlaufsmuster in verschiedenen Politikfeldern prägen.

Soziale ordnungen grenzüberschreitend betrachtenSigrid Quack und Karen Shire sind Professorinnen an der gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Duisburg-Essen, die seit Oktober 2017 assoziierter Partner der International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy (IMPRS-SPCE) ist. Im Interview sprechen sie über die Bedeutung von Forschungstraditionen, die Rolle der Soziologie im Kontext der Globalisierung und ihre Impulse für das Graduiertenprogramm des MPIfG.

Die Fragen stellte Susanne Berger.

Karen Shire ist seit 1999 Professorin für Verglei-chende Soziologie und die Gesellschaft Japans am Institut für Soziologie und Institut für Ostasienwissenschaften (IN-EAST) der Universität Duisburg- Essen. Derzeit ist sie Gastprofessorin am Institute of Global Leadership der Ochanomizu University in Tokio. Forschungsschwerpunkte von Karen Shire liegen unter anderem im Bereich der Transnationalisierung von Arbeits-märkten in Europa und Asien sowie in der Geschlechterforschung.

Sigrid Quack ist seit 2013 Professorin für Verglei-chende Soziologie an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2017 ist sie außerdem Direktorin des dort ansäs-sigen Käte Hamburger Kolleg/Centre for Global Cooperation Research. Von 2007 bis 2013 forschte Sigrid Quack am MPIfG. Hier war sie zuletzt Leiterin der Forschungsgruppe „Grenzüber-schreitende Institutionenbildung“, heute ist sie weiterhin Mitglied des Councils der IMPRS-SPCE.

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Interview GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18

Sie haben ausgesprochen internatio-nal ausgerichtete Forschungsgruppen. Welcher Forschungstradition fühlen Sie sich verpflichtet?SIGRID QUACK: Meine Promotionszeit und die anschließende Forschungstätig-keit am Wissenschaftszentrum Berlin,

das in den 1990er-Jahren einen für Deutschland außergewöhnlich inter-disziplinären und internationalen Kon-text bot, haben meine Forschung sehr geprägt. Dadurch habe ich sehr früh an verschiedenen internationalen For-schungsnetzwerken mitwirken können. Hier habe ich erlebt, wie herausfordernd es manchmal ist, sich über verschiede-ne (auch nationale) Forschungstraditio-nen hinweg zu verständigen. Am En-de dieser Bemühungen stand für mich immer eine große Erweiterung des Er-kenntnishorizonts. Ich habe es stets als einengend empfunden, wenn ich mich einer bestimmten Forschungstradition zuordnen sollte. Für mich stand immer

das Forschungsproblem im Vordergrund und daran schloss sich die Frage an, mit welchen Theorien ich mich der Unter-suchung einer Fragestellung am besten nähern kann. In meine Forschung zur grenzüberschreitenden Institutionenbil-dung integriere ich verschiedene Strän-

ge der Institutionenforschung. Dabei er-scheint mir der amerikanische Pragma-tismus am hilfreichsten, um die Wand-lungsfähigkeit und Mehrdeutigkeit von Institutionen in transnationalen Räumen zu erfassen.KAREN SHIRE: Meine Promotion habe ich an der University of Wisconsin-Ma-dison abgeschlossen, die ich wegen des sehr europäisch ausgerichteten Schwer-punkts in der Sozialstrukturanalyse und der historischen Soziologie ausgewählt hatte. Das Thema meiner Doktorarbeit war die Entstehung und Institutionali-sierung der Wirtschaftsdemokratie in Deutschland und Österreich von 1918 bis 1989. Noch vor der Einreichung fiel

die Berliner Mauer, und die Erkenntnis-se, die ich mit der Promotionsarbeit ge-wonnen hatte, waren sofort veraltet. Ich wandte mich etwas Neuem zu und trat nach der Promotion eine Assistenzpro-fessur in Tokio an. In Japan gewann ich eine ganz neue Perspektive, nicht nur auf den modernen Gesellschaftsvergleich, sondern auch auf die Post-Industriali-sierung, den Wandel zu einer neuen und wissensintensiven Ökonomie und die Auswirkungen von Globalisierungspro-zessen im interregionalen Vergleich. So überrascht es vielleicht nicht, dass ich mich in meinem Werdegang der zwei-ten Welle der historisch-vergleichenden Soziologie verpflichtet fühle, Werken wie Barrington Moores „The Social Origins of Dictatorship and Democracy“ oder Reinhard Bendixs „Nation-Building and Citizenship“. Ich bin jedoch der Auffas-sung, wir sollten uns in der jetzigen Zeit unserer Traditionen entpflichten, um die Soziologie jenseits des Nationalstaats zu entdecken.

Welche Forschungsrichtungen und Ansätze werden Sie in die IMPRS-SPCE einbringen? SIGRID QUACK: Für ein tiefer ge-hendes Verständnis der sozialen und politischen Konstitution von Wirt-schaft(-en), wie es die IMPRS-SPCE an-strebt, wird es immer wichtiger, Globa-lisierungsprozesse einzubeziehen. Dies gilt einerseits für wachsende internatio-nale Abhängigkeiten ökonomischer, so-zialer, kultureller und politischer Natur. Andererseits betrifft dies aber auch so-ziale und politische Kontroversen über die Globalisierung und deren Auswir-kungen auf soziale Ungleichheit, demo-kratische Partizipation und gesellschaft-liche Teilhabe. Zu diesen Themen möch-ten wir im Rahmen der IMPRS-SPCE mit den Forschungen meiner Arbeits-gruppe zur grenzüberschreitenden Insti-tutionenbildung sowie dem Forschungs-cluster zu globaler und transnationa-ler Governance am Profilschwerpunkt „Wandel von Gegenwartsgesellschaften“ der Universität Duisburg- Essen einen Beitrag leisten. Die Arbeit des interna-tionalen Käte Hamburger Kolleg/Centre

Die Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen.

„Wir sollten uns in der jetzigen Zeit unserer Traditionen entpflichten, um die Soziologie jenseits des Nationalstaats zu entdecken.“

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for Global Cooperation Research zu Be-dingungen und Formen globaler Koope-ration, das ich seit Februar dieses Jahres leite, soll maßgeblich in die Partnerschaft mit der IMPRS-SPCE einfließen.KAREN SHIRE: Wir möchten die Duis-burger Schwerpunkte in der vergleichen-den und transnationalen Arbeits- und Wirtschaftssoziologie einbringen und dabei insbesondere jene Dimensionen von Arbeit hervorheben, die zu oft in der klassischen Industrie- und Wohlfahrts-soziologie unterbelichtet oder zweitran-gig betrachtet werden. Ich denke hier an

Themen wie unbezahlte oder informelle Arbeit, Arbeitsmigration oder die sozia-len Risiken, die aus nicht regulärer Ar-beit entstehen. Darüber hinaus werden wir gemeinsam mit dem Institute of East Asian Studies (IN-EAST) der Universität Duisburg-Essen interdisziplinäre Impul-se für weltregional-vergleichende Studi-en zu Transformationen der Arbeitswelt und Sozialpolitik geben. Ich bin der Mei-nung, dass man bei den kritischen Aus-einandersetzungen über die Zukunft – oder auch das Ende – des Kapitalismus die Bedeutung Ostasiens für die Ent-wicklung der Weltwirtschaft nicht ver-nachlässigen darf. Asienbezogene For-schungsvorhaben in der IMPRS-SPCE werden an der Expertise, Sprachausbil-dung und den Partnerschaften des IN-EAST anknüpfen können.

Das MPIfG kooperiert im Rahmen der IMPRS-SPCE nun mit zwei Univer-sitäten an verschiedenen Standorten. Welche Herausforderungen gibt es dabei aus Ihrer Sicht?SIGRID QUACK: Eine Kooperation über verschiedene Standorte hinweg ist natürlich mit logistischen Herausfor-derungen verbunden, auch wenn das

Ruhrgebiet und das Rheinland gut mit-einander verbunden sind. Durch den Einsatz von digitalen Kommunikations-formen lassen sich die räumlichen Dis-tanzen aber bestens überbrücken. Unse-re Zusammenarbeit fängt ja auch nicht bei „null“ an, sondern fundiert auf be-reits tradierten kollegialen Netzwerken zwischen dem MPIfG, der Universität zu Köln und der Universität Duisburg- Essen. Zukünftig sind auch gemeinsa-me Workshops für den wissenschaft-lichen Nachwuchs denkbar, die mal in Köln und mal in Duisburg stattfinden.

So können interessierte Kolleginnen und Kollegen vor Ort mit einbezogen werden und ein wenig die jeweilige „Campusluft schnuppern“.

Wie sieht die assoziierte Partnerschaft zwischen IMPRS-SPCE und der Uni-versität Duisburg-Essen in der Praxis aus und was ist für die Zukunft ge-plant? SIGRID QUACK: Im Oktober 2017 ha-ben die ersten beiden IMPRS-SPCE-Pro movierenden ihr Stipendium an der Universität Duisburg- Essen angetreten. Es ist grundsätzlich vorgesehen, dass alle IMPRS-SPCE-Doktoranden und -Dok-torandinnen einer Kohorte zunächst die ersten sechs Monate zusammen am MPIfG in Köln verbringen, um sich ken-nenzulernen und dort den größten Teil der Kernkurse des Curriculums zu ab-solvieren. „Unsere“ Doktorandinnen und Doktoranden werden dann in den darauffolgenden drei Jahren am Campus Duisburg in einem interdiszplinären und internationalen Forschungsumfeld ihre Dissertationsprojekte bearbeiten. Durch Kolloquien und Veranstaltungen in Köln gewährleisten wir auch in dieser Pha-se die stetige Anbindung der Doktoran-

dinnen und Doktoranden an das MPIfG. Selbstverständlich sind wir zudem am Curriculum der IMPRS-SPCE beteiligt, im Sommersemester 2018 zum Beispiel bieten Karen und ich ein Seminar zum Thema „Transnational Governance“ an. Ab Herbst 2019 streben wir die Vollmit-gliedschaft in der IMPRS-SPCE an.

Was ist ihre Vision von wirtschaftsso-ziologischer Forschung in den nächs-ten fünf Jahren und was möchten Sie im Rahmen der Partnerschaft mit dem MPIfG dazu beitragen? SIGRID QUACK: Die Wirtschaftssozio-logie sollte mehr mit angrenzenden Ge-bieten wie der Kultursoziologie, politi-schen Soziologie und der Ungleichheits-forschung kooperieren. Nur so lässt sich die Politisierung oder Entpolitisierung von bestimmten Erscheinungsformen des globalen Kapitalismus verstehen; nur so können die Wirkungen kapitalis-tischer Produktionsverhältnisse in ver-schiedenen Weltregionen angemessen erfasst werden. Ich würde die Partner-schaft gerne nutzen, um die Bedeutung von fiktionalen Erwartungen an eine un-gewisse Zukunft nicht nur mit Bezug auf die Dynamiken des Kapitalismus zu er-forschen, sondern auch mit Bezug auf die soziopolitischen Dynamiken im Be-reich der globalen Politik und Instituti-onenbildung.KAREN SHIRE: Wir leben in einer globalen Welt, die Soziologie bleibt aber in ihren Methoden und Lösungen zu na-tionalstaatlich geprägt. Mit neuen Er-kenntnissen, wie soziale Ordnung grenz-überschreitend entstehen kann, hoffe ich, diesen Spalt ein kleines bisschen zu schließen. Wir bauen gerade einen For-schungsverbund zu transnationaler Ar-beit in Duisburg auf und in den Ostasien-wissenschaften an der Universität Duis-burg-Essen einen neuen Schwerpunkt zu Transnationalisierung in Ostasien. Wir gewinnen sehr viele Impulse durch die am MPIfG und in der IMPRS-SPCE etablierte neue Marktsoziologie, Gover-nance-Forschung, Europaforschung und auch durch die Kultur der kritischen Auseinandersetzungen über die Globali-sierung und Europäisierung.

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GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18 Interview

„für ein tiefer gehendes Verständnis der sozialen und politischen Konstitution von Wirtschaft wird es immer wichtiger, Globalisierungsprozesse einzubeziehen.“

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GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18Presseschau

Lucio Baccaro„Das Seil kann reißen, wenn man es zu straff spannt“Die ZEIT | 14.06.2018Italiens neue Regierung erschüttert die Europäische Union und sogar das Ende der gemeinsamen Währung ist denkbar geworden. „Wir müssen unbedingt die Idee Europas von der konkreten Reali-tät des Euro trennen. Das Scheitern des Euro, sollte es dazu kommen, darf nicht zum Scheitern Europas führen“, appelliert MPIfG-Direktor Lucio Baccaro. Ein Ge-spräch über die Krise in Italien und eine einvernehmliche Scheidung der Euro-Zone.https://tinyurl.com/ZEIT-Int-BaccaroJuni18

Lucio Baccaro„Italien sollte über den Euro-Austritt verhandeln“Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.02.2018In einem Gespräch mit der FAZ macht sich MPIfG-Direktor Lucio Baccaro für einen geregelten Austritt seines Heimat-landes aus dem Euro stark. Es sei ein Fehler gewesen, dem Euro überhaupt beizutreten. „Sollte Italien über einen Ausstieg verhandeln? Im Großen und Ganzen: ja!“, sagt Baccaro.https://tinyurl.com/FAZ-Bacc-Austritt

Wolfgang StreeckEin Weltbürger ist nirgendwo BürgerDie ZEIT | 21.06.2018Kosmopolitismus klingt gut, verpflichtet aber zu nichts: MPIfG-Direktor emeritus Wolfgang Streeck plädiert für einen lokalen Patriotismus. „Politisches Handeln ist an verortete Gemeinschaften gebunden – Ver-ständigungs-, Verantwortungs-, Verpflich-tungs- und Praxisgemeinschaften.“https://tinyurl.com/ZEIT-WS-Lokalpatr

Wolfgang Streeck„Geld ist im Wesentlichen eine Glaubenssache, eine Fiktion, ein Versprechen“brand eins | 01.06.2018„Was da über Jahrzehnte stattgefunden hat, ist ein kontinuierlicher Versprechensauf-bau, gegenüber den Kapitalmärkten, aber auch gegenüber der Gesellschaft.“ MPIfG-Direkor emeritus Wolfgang Streeck erklärt im Interview, wie Kredite in Krisenzeiten als Beruhigungsmittel funktionieren. Und welche Nebenwirkungen sie haben.https://tinyurl.com/brandeinsWS-Geld

Jens Beckert, Mark LutterLotto macht die Armen ärmer. Dahin verschwindet ihr Geldperspective-daily.de | 25.05.2018Lotto wird im englischsprachigen Raum häufig als „A tax on the poor“, als „Ar-mutssteuer“ bezeichnet. Dass das auch für Deutschland gilt, haben Wissen-schaftler des MPIfG belegt. Gerade die Gruppe mit dem geringsten Einkommen zahlt viel in den Lottotopf ein. https://tinyurl.com/perspectiveLottoArme

Jens Beckert, Matías DeweyWirtschaftssoziologen erforschen illegale MärkteDeutschlandfunk, Aus Kultur- und Sozialwissenschaften | 17.05.2018Illegale Märkte – das ist mehr als Drogen-handel oder Produktplagiate. Auch Re-gelverletzungen auf ansonsten legalen Märkten gehören dazu. Das Verhältnis von legalen und illegalen Geschäften, staatlichen Institutionen und Öffentlich-keit ist weit komplexer als angenommen. Trotz Intransparenz und Rechtsunsicher-heit können illegale Märkte hohe Akzep-tanz besitzen, wie etwa der argentinische Bekleidungsmarkt La Salada. https://tinyurl.com/DLF-illegale-Maerkte

Jens Beckert, Wolfgang KnöblMarx für die GegenwartFrankfurter Allgemeine Zeitung 08.05.2018Am Hamburger Institut für Sozialfor-schung haben die Teilnehmer einer internationalen Konferenz anlässlich von Marx’ zweihundertstem Geburts-tag diskutiert, was die Marx’sche Theorie zum Verständnis der kapitalistisch-digi-talen Moderne beitragen kann. Den Vor-satz, auf eine philologische Sezierung der Marx’schen Schriften zu verzichten und stattdessen die heutige Brauchbarkeit seiner Konzepte zu untersuchen, löste die Tagung weitgehend ein.

Jens Beckert, Wolfgang Knöbl200 Jahre Marx: Einmal Wohlstand für alle – und zurückHandelsblatt | 07.05.2018Die kapitalistische Produktionsweise wer-de durch eine sozialistische Revolution beseitigt, sagte Marx voraus. Er hatte nur sehr bedingt Recht. Auf einer Marx ge-widmeten Tagung des MPIfG und des Hamburger Instituts für Sozialforschung wurde über dessen Relevanz für den mo-dernen Kapitalismus diskutiert.

Sebastian KohlMieten oder Kaufen? Wohnungs-märkte in USA und DeutschlandDeutschlandfunk, Aus Kultur- und Sozialwissenschaften | 29.03.2018Deutschland, ein Mieterland: In den USA gibt es seit 100 Jahren durchgängig 20 Prozent mehr Eigenheimbesitzer als hierzulande. MPIfG-Wissenschaftler Se-bastian Kohl spricht über die historisch gewachsenen Unterschiede auf beiden Wohnungsmärkten und die politischen Ursprünge der Eigenheimidee.https://tinyurl.com/mieten-od-kaufen

Wissenschaftler des MPIfG in den Medien

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Martin HöpnerEin bizarres Vorhaben der EU-KommissionWirtschaftsWoche | 25.01.2018 Der Prozess gegen die deutsche Mitbe-stimmung vor dem Europäischen Ge-richtshof wirft eine zentrale Frage auf: Sind EU-Institutionen dazu berechtigt, in alle nur denkbaren nationalen Politik-felder einzugreifen? Ein Gastbeitrag von Martin Höpner.https://tinyurl.com/WiWo-Hoepner-Mitb

Kapitalistische Dynamik und imaginierte ZukunftJens BeckertBuchtipp: „Imaginierte Zukunft“3Sat, scobel 24.05.2018„Einer der kreativsten, weitreichendsten und vielseitigs ten neuen Ansätze soziolo-gischer Theoriebildung.“ Das neue Buch von MPIfG-Direktor Jens Beckert ist mehr als eine soziologische Theorie des Kapita-lismus. Beckert zeigt auf, warum in Politik, Wissenschaft und Technik – mit Berufung auf sichere Prognosen – so viel schiefläuft.https://tinyurl.com/scobel-buchtipp-imag-zuk

Jens Beckert„Kapitalismus fußt auf einer Illusion“Handelsblatt | 29.06.2018Deutschlands bester Wirtschaftsforscher ist ein Soziologe. Kapitalismus funk-tioniert nur, weil wir uns ständig selbst belügen – er ist eine Illusion, analysiert MPIfG-Direktor Jens Beckert. „Ein Un-ternehmer oder Investor glaubt an sein Bild von der zukünftigen technologi-schen Entwicklung, drängt alle Alterna-tivszenarien zur Seite, investiert entspre-chend und hat damit Erfolg oder nicht. Meistens übrigens nicht, ein Großteil al-ler Innovationen scheitern.“

Jens BeckertDas Geheimnis der Innovation: ein offenes SpielfeldWirtschaftsWoche | 01.06.2018MPIfG-Direktor Jens Beckert zeigt in seinem Essay, wie Unternehmer, Investo-ren und Konsumenten stetig eine Zu-kunft imaginieren, die es noch gar nicht gibt. Damit treiben die Akteure die Ge-genwart ständig über sich selbst hinaus.https://tinyurl.com/WiWo-offenes-Spielfeld

Jens BeckertZukunftsvisionen in der Wirtschaft: Wie Fiktionen den Kapitalismus beflügelnDeutschlandfunk | 07.07.2018„Die Wirtschaft ist der Bereich, in dem am stärksten kalkuliert wird. Nur es ist nicht so, dass diese Kalkulationen tatsäch-lich Zukunft vorhersagen könnten. Aber gleichzeitig müssen wir Entscheidungen treffen, die wir als rational rechtfertigen können.“ MPIfG-Direktor Jens Beckert mutmaßt, dass mancher Businessplan in seiner Fiktivität eher einem Roman gleicht.https://tinyurl.com/dlf-beckert

Jens BeckertErwartungen müssen eben befeuert werdenFrankfurter Allgemeine Zeitung 25.05.2018Kim Christian Priemel bespricht MPIfG-Direktor Jens Beckerts Buch „Imaginier-te Zukunft“ und folgert, dass das Problem nicht die Fiktion an sich ist, sondern der Umstand, dass ökonomische Akteure zu wenig Meta-Ökonomie betreiben.

Jens BeckertImaginierte Zukunft – Gespräch mit dem Soziologen Jens Beckert3Sat, Kulturzeit | 23.05.2018Im Kapitalismus richten Konsumenten, Investoren und Unternehmen ihr Han-deln auf die Zukunft aus. Doch diese ist vor allem eines: ungewiss. „Fiktionen sind der Treibstoff des Kaptalismus“, sagt MPIfG-Direktor Jens Beckert. Er spricht im Kulturzeit-Interview über die Kernthe-sen seines neuen Buches „Imaginierte Zu-kunft“ und legt dar, welchen mächtigen Einfluss Zukunftserwartungen auf die Mechanismen der Wirtschaft haben.https://tinyurl.com/Kulturzeit-jb1

Jens BeckertDie Märchen der Moderne Süddeutsche Zeitung | 07.05.2018 Fakten und Fiktionen: Der Soziologe Jens Beckert analysiert mit den Mitteln der Li-teraturwissenschaft die Zukunftsbilder im Kapitalismus. Den dominierenden sozial-wissenschaftlichen Ansätzen, die die Zu-stände des Kapitalismus aus der Geschich-te heraus erklären, hält Beckert entgegen: „Die Zukunft zählt.“ Damit soll nicht we-niger als die „Grundlage eines neuen sozi-ologischen Paradigmas“ gestiftet werden. https://tinyurl.com/SZ-maerchen-moderne

Jens BeckertDie Macht der ErwartungFrankfurter Allgemeine Sonntags-zeitung | 25.03.2918Gerald Wagner reflektiert das Discus-sion Paper „Woher kommen Erwartun-gen? Die soziale Struktur imaginierter Zukünfte“ von Jens Beckert. Er legt den Fokus dabei auf das Gemeinwesen und beschreibt, dass für den gesellschaftli-chen Zusammenhalt geteilte Erwartun-gen von zentraler Bedeutung sind.https://tinyurl.com/macht-der-erwartung

Diese und weitere aktuelle Beiträge unter www.mpifg.de/aktuelles/mpifg_medien_de.asp

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Aus der Forschung GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18

SchwerpunktDie Zukunft ist unkalkulierbarWie treffen Wirtschaftsakteure ihre Entscheidungen?Wie entwerfen Wirtschaftsakteure ihr Bild von der Zukunft und wie treffen sie Entscheidungen angesichts der Ungewissheit kommender Entwicklungen? Jens Beckert und Richard Bronk gehen dieser Frage nach, ausgehend von der Annahme, dass die kapitalistische Ökonomie von steten Innovationen und dynamischen Veränderungen gekennzeichnet ist, die sich nicht auf kalkulierbare Risiken reduzieren lassen. Wirtschaftsakteure müssen ihre Ent-scheidungen trotz einer hohen Unsicherheit treffen. Hierfür verbinden sie die notwendigerweise unvollkommenen Prognosen und Risikoabschätzungen mit Narrationen über die Zukunft und formen so fiktionale Erwartungen, die Zuversicht schaffen, ihnen helfen, ihr Handeln zu koordinieren und dadurch die Zukunft prägen.

Menschen treffen Entscheidungen mit Blick auf die Zukunft. Sie sorgen für schlechte Zeiten vor oder handeln ge-genwärtig in einer Weise, die es ihnen erleichtert, sich und ihre Kinder auch künftig zu versorgen. Diese Zukunfts-orientierung des menschlichen Han-delns erhält in modernen kapitalisti-schen Wirtschaftssystemen eine völlig neue Qualität: Die Zukunft ist nicht län-ger an Traditionen gebunden und lässt sich daher nicht einfach als Wiederho-lung der Vergangenheit annehmen. Auch stellt man sich die Zukunft nicht mehr, wie Religionen oder der Marxismus es nahelegen, als eine Bewegung auf einen vorherbestimmten Endzustand vor.

Dabei rufen nicht hauptsächlich unkon-trollierbare Zukunftsereignisse, wie Erd-

beben oder Dürren, Unvorhergesehenes hervor. Vielmehr sind es die Entschei-dungen der Akteure selbst, mit denen sie versuchen, ihre Ziele zu erreichen. Das Risiko des Scheiterns ist allerdings ein ständiger Begleiter auf dem einge-schlagenen Weg. In kapitalistischen Sys-temen sehen sich Akteure einer offenen und unbestimmten Zukunft gegenüber. Sie können sich eine Fülle möglicher Zu-kunftsszenarien vorstellen und für die-se planen, wobei die Wahlmöglichkeiten verwirrend vielfältig und deren Ergeb-nisse unvorhersehbar sind.

Neue Sichten auf die Zukunft revolutionieren die Modelle wirtschaftlichen DenkensEine dermaßen ungewisse Zukunft ist eine zwangsläufige Folge der institutio-

nellen Strukturen des Kapitalismus, der menschlichen Fähigkeit zur Kreativität und der Freiheit, sich noch nie Dage-wesenes vorzustellen. Wettbewerb sowie permanente Innovationen und Neue-rungen sind prägend für die Dynamik moderner kapitalistischer Ökonomien und zwingen Investoren wie auch politi-sche Entscheidungsträger und Verbrau-cher, mit einer ungewissen, nicht auf ein messbares Risiko reduzierbaren Zu-kunft umzugehen. Die Zukunft ist un-bestimmt, weil sie erst noch erschaffen werden muss.

Wie entwickeln Wirtschaftsakteure un-ter Bedingungen radikaler Ungewissheit Vorstellungen von der Zukunft und wie treffen sie Entscheidungen? Die Bedeu-tung von Erwartungen hinsichtlich ei-

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ner unbestimmten Zukunft für die Er-klärung wirtschaftlicher Phänomene ist ein zentrales Forschungsfeld des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsfor-schung. Es geht dabei nicht darum, nor-mativ zu bestimmen, wie Akteure ih-re Zukunft analysieren und Entschei-dungen trotz fehlenden Vorauswissens treffen sollten. Auch geht es nicht darum, Ökonomen ein detailliertes Handbuch zur Überarbeitung ihrer Modellierungs-praktiken an die Hand zu geben. Viel-mehr geht es um das genaue Verständ-nis der Praktiken der Erwartungsbildung in der Wirtschaft und welche Rolle hier kalkulative Modelle und die Imagination der Zukunft spielen.

In der jüngeren Vergangenheit ist weit über die heterodoxe Ökonomie hinaus ein Wiedererwachen des Interesses an radikaler Ungewissheit zu beobachten. Es bezieht sich häufig auf Forschungs-arbeiten, die auf den Erkenntnissen der Ökonomen Frank Knight, John Maynard Keynes, Friedrich August von Hayek und George Shackle basieren. Diese wieder auflebende epistemische Tradition lässt sich mit innovativen Forschungsarbei-ten von Wirtschaftssoziologen, Anthro-pologen, Politökonomen, Historikern und Psychologen zusammenführen, um die sozial und politisch geprägte Natur von Erwartungen unter Bedingungen von Ungewissheit und ihre Rolle für die Entwicklung des Kapitalismus zu unter-suchen.

Die meisten Makroökonomen halten je-doch an Varianten der rationalen Erwar-tungstheorie fest, die davon ausgehen, dass die Akteure aufgrund des Wettbe-werbsdrucks insgesamt zu Erwartun-gen konvergieren werden, die systemati-sche Prognosefehler vermeiden und mit den Prognosen des relevantesten ökono-mischen Modells übereinstimmen. Die wichtigen Teildisziplinen Informations-

ökonomie und Verhaltensökonomie le-gen ihren Schwerpunkt auf Ergänzungen dieser Theorie, sodass diese mit den er-heblichen Wissensproblemen umgehen kann, die durch Informationsasymme-trien und vorhersehbare kognitive Ver-zerrungen aufseiten der Akteure entste-hen. Doch bleibt die zentrale Annahme unverändert: Akteure stehen nicht etwa einer radikal unbestimmten Zukunft ge-genüber, sondern einem mess baren Risi-ko, das durch Wahrscheinlichkeitsfunk-tionen objektiv geschätzt werden kann. Immer klarer wird jedoch, dass die Mi-krofundierung gegenwärtiger ökonomi-scher Standardmodelle für den Umgang mit einer durch und durch unsicheren Zukunft nicht geeignet ist. Wollen wir

die Entscheidungsfindung unter solchen Bedingungen verstehen, erfordert dies ein neues Modell wirtschaftlichen Den-kens.

Die Forschungen am MPIfG leisten ei-nen grundlegenden Beitrag zu einem solchen Modell. In der jüngsten Publika-tion, dem von Jens Beckert und Richard Bronk herausgegebenen Sammelband „Uncertain Futures. Imaginaries, Narra-tives, and Calculation in the Economy“ (OUP 2018), zeigen die Autoren auf, wie Akteure im praktischen Wirtschaftsle-ben Erwartungen unter Bedingungen von Ungewissheit bilden. Die Fallstudi-en verdeutlichen die Rolle von Imagina-tionen, Narrativen und kalkulativen Ver-fahren bei der Bildung von Erwartungen und dem Umgang mit einer ungewissen Zukunft. Imaginationen sind sowohl die Ursache von Ungewissheit als auch un-ser wichtigstes Werkzeug zu ihrer Bewäl-tigung.

Die Zukunft ist unbestimmt, weil sie erst noch erschaffen werden muss.

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richard Bronkist seit 2000 Dozent und Gastwissen-schaftler am European Institute der London School of Economics and Political Science (LSE). Zuvor übte er leitende und beratende Funktionen im Finanzsektor aus, unter anderem bei Merrill Lynch und der Bank of England. In seinem Buch The Romantic Econo-mist (CUP, 2009) betont er die Kraft von Narrativen, Imaginationen und Emotionen für die Mechanismen der Wirtschaft.

Forschungsinteressen: Wirtschaftsphi-losophie; Ideengeschichte; politische Ökonomie Europas.

Jens Beckertist seit 2005 Direktor am MPIfG und Professor für Soziologie an der Univer-sität zu Köln. Für seine Arbeiten zur Erneuerung einer interdisziplinären Perspektive in den Sozialwissenschaf-ten im Schnittfeld von Soziologie und Wirtschaftswissenschaft erhielt er 2018 den Leibniz-Preis der DFG. Seine Studie Imaginierte Zukunft (Suhrkamp, 2018) zeigt, wie fiktionale Erwartungen wirtschaftliche Dynamik erzeugen.

Forschungsinteressen: soziale Einbet-tung der Wirtschaft; Organisations-soziologie; Soziologie der Erbschaft; soziologische Theorie.

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Kalkulative Verfahren wie etwa Risiko-managementmethoden und Discounted-Cash flow-Modelle ebenso wie weitere Methoden zur Konzipierung der Zu-kunft – wie etwa die Forward Guidance der Zentralbanken, Wirtschaftsprognosen, Businesspläne, technologische Zukunfts-visionen und New Era Stories – verflech-

ten sämtlich Kalkulation und Imagination in einer narrativen Struktur. Kalkulations-modelle und Narrative beeinflussen die Er-wartungen der Akteure und sie beeinflus-sen deren Handlungen, wenn die Narrative als glaubwürdig erscheinen. Ebenso aber werden Narrative zu Machtinstrumenten auf Märkten und in Gesellschaften.

Gefragt sind Urteilskraft und kritische DistanzDie Unbestimmbarkeit der Zukunft – und die daraus oft folgende Unmöglich-keit, probabilistische Vorhersagen zu treffen oder im Voraus zu wissen, wel-ches Erklärungsmodell tatsächlich das richtige sein wird – impliziert für poli-tische Entscheidungsträger und Markt-teilnehmer, dass beunruhigenderweise weder ein offensichtlicher Wissensanker noch objektive Wahrscheinlichkeiten zur Steuerung der Imaginationen und Nar-rative existieren. Natürlich spielen ratio-nale Analysen eine bedeutende Rolle, et-wa bei Stresstests von Stories und Erwar-tungen auf ihre langfristige Plausibilität und Durchführbarkeit. Doch zumindest kurzfristig kann der Erfolg, den ein Nar-rativ am Markt oder in der Politik hat, stärker an seine emotionale Anziehungs-kraft, die Glaubwürdigkeit seines Erzäh-lers und die verwendeten rhetorischen Mittel geknüpft sein als an seine Zuver-lässigkeit der Vorhersage zukünftiger Entwicklungen. Oft sind die Erwartun-gen, die die Marktteilnehmer leiten, ein Produkt aus innovativen Imaginationen und einem am Markt oder in der Politik ausgetragenen Wettstreit um die Überle-genheit unterschiedlicher Narrative und Modelle. Erwartungen sind alles andere als die Reflexion einer erkennbaren Zu-kunft. Sie können im Wirtschaftssystem eine Quelle der Innovation sein – ein le-bendiges Produkt politischer Debatten, von Machtausübung und von Kreativität.

Damit sind Gefahren verbunden. Etwa wenn Ansätze zur Narration oder Kal-kulation der Zukunft – seien es New Era Stories, Wirtschaftsprognosen oder die Ergebnisse von finanzmathematischen Modellen – als scheinbar objektive Dar-stellungen der Zukunft behandelt wer-den. Die Finanzkrise vor zehn Jahren hat dies gezeigt. Unter Bedingungen von Un-gewissheit kommt es gerade auf Urteils-kraft und kritische Distanz zu mecha-nischen Vorhersagen an. Dies bedeutet, sich nicht auf eine analytische Monokul-tur einzulassen, denn homogene Analy-sen können eher als Warnsignal einer ge-meinsamen kognitiven Kurzsichtigkeit

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Uncertain futuresBeckert, J. und R. Bronk (Hg.): Uncertain Futures: Imaginar-ies, Narratives, and Calculation in the Economy. Oxford University Press, Oxford 2018.

Uncertain Futures considers how economic actors visual-ize the future and decide how to act in conditions of radi-cal uncertainty. It starts from the premise that dynamic capitalist economies are characterized by relentless inno-vation and novelty and hence exhibit an indeterminacy that cannot be reduced to measurable risk. The organiz-ing question then becomes how economic actors form expectations and make decisions despite the uncertainty they face.

This edited volume lays the foundations for a new model of economic reasoning by showing how, in conditions of uncertainty, economic actors combine calculation with imaginaries and narratives to form fictional expectations that coordinate action and provide the confidence to act. It draws on groundbreaking research in eco-nomic sociology, economics, anthropology, and psychology to present theoretically grounded empirical case studies. These demonstrate how grand narratives, central bank forward guidance, economic forecasts, finance models, business plans, visions of technological futures, and new era stories influence behaviour and become instru-ments of power in markets and societies. The market impact of shared calculative devices, social narratives, and contingent imaginaries underlines the rationale for a new form of narrative economics.

Contributions by MPIfG and MaxPo researchersAndersson, J.: Arctic Futures: Expectations, Interests, Claims, and the Making of Arctic Territory. Braun, B.: Central Bank Planning? Unconventional Monetary Policy and the Price of Bending the Yield Curve. Ergen, T.: The Dilemma between Aligned Expectations and Diversity in Innovation: Evidence from Early Energy Technology Policies.

Imaginationen sind sowohl die Ursache von Ungewissheit als auch unser wichtigstes Werkzeug zu ihrer Bewältigung.

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Zentralbanking ist schwierig. Die Analy-se von Millionen von Daten, die Simu-lation ökonomischer Modellwelten, die Steuerung von Zukunftserwartungen  – eine intellektuelle und organisatorische Aufgabe von geradezu aberwitziger Kom plexität. Ein Glück, dass diese Auf-gabe an bestens ausgebildete Makroöko-nominnen und Makroökonomen dele-giert ist. Schließlich versteht die Wirt-schaft niemand besser als ausgewiesene Fachleute wie Janet Yellen oder Ben Ber-nanke. Was allerdings wäre, wenn selbst Yellen und Bernanke nicht wüssten, was sie tun? Hierbei handelt es sich keines-wegs um ein abwegiges Gedankenexpe-riment, sondern – angesichts der Macht-fülle der Zentralbanken – um eine wis-senschaftliche Frage von unmittelbarer gesellschaftlicher Relevanz.

Friedrich Hayek argumentierte, dass Wirtschaftssteuerung notwendigerweise auf Wissensanmaßung beruhe (pretence of knowledge). Zentralen Steuerungsver-suchen fehle, so Hayek, das dezentral in

der Marktwirtschaft vorhandene Wissen. Dies ist das klassische Hayek’sche Dilem-ma des Zentralplaners. Denn dass sich die Modelle der Zentralbanken im Rück-blick oft als falsch herausstellen, geste-hen Zentralbanker selbst ein, seit Herbst 2017 etwa Daniel Tarullo von der ame-rikanischen Federal Reserve und Vítor Constâncio von der Europäischen Zen-tralbank. Doch hat Hayek auch Recht, wenn er schlussfolgert, dass die Wirt-schaftssteuerung aufgrund dieser Wis-sensanmaßung unweigerlich zum Schei-tern verurteilt sei?

Eine erwartungssoziologische Perspekti-ve, welche die grundsätzliche Unsicher-heit der Zukunft betont, muss Hayeks Prämisse von der Wissensanmaßung ak-zeptieren. Seine Schlussfolgerung ist je-doch zurückzuweisen: Geldpolitik kann auch dann funktionieren, wenn sie auf falschen Modellen beruht – wenngleich mit unvorhergesehenen Konsequenzen. Das Kernkonzept dieser Analyse ist die Performativität wirtschaftlicher Model-

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gelten. Sie verringern die Vielfalt des kog-nitiven Inputs in Entscheidungsprozesse und können, wenn sie sich als unzuläng-lich erweisen, Märkte destabilisieren.

Wirtschaftstheoretiker haben es bei der Modellierung von Entscheidungspro-zessen mit Situationen zu tun, die auf-grund sich ausbreitender Innovationen und komplexer Interdependenzen unbe-stimmt sind. Ihre wichtigste Lektion be-steht darin, dass auch analysiert werden muss, wie und in welchem Ausmaß Nar-rative und fiktionale Erwartungen Über-

zeugungen und Verhalten beeinflussen. Auch sollten sie beim Entwurf von Nar-rativen und Modellen, die die Zukunft und die Koordination von Verhalten er-folgreich simulieren sollen, wachsam auf die Bedeutung und den Einfluss populä-rer Theorien, politischer und wirtschaft-licher Macht, von Emotionen und Rhe-torik achten. Und schließlich sollte ein

ökonomisches Modell mindestens eben-so für seine Fähigkeit anerkannt wer-den, die in einem dynamischen Wirt-schaftsumfeld aufkommenden Tenden-zen zu diagnostizieren, wie für seinen mathematischen Fit mit den Daten wie-derkehrender Ereignisse aus der Vergan-genheit. Für eine ungewisse Zukunft ist die Vergangenheit kein guter Ratgeber.

homogene Analysen können als Warnsignal einer gemeinsamen kognitiven Kurzsichtigkeit gelten.

unsicherheit, Performativität und geldpolitik

Benjamin Braun ist seit 2014 wissenschaftlicher Mit arbeiter am MPIfG. Er studierte Politik wissenschaft und Volkswirt-schaftslehre in München und wurde 2014 an der University of Warwick und der Université Libre de Bruxelles promo viert.

Forschungsinteressen: Zentralbanken und Finanzmärkte, Asset-Manager Kapitalismus, Indexfonds und ETFs (exchange-traded funds), Finanziali-sierung.

Zum Weiterlesen: Braun, B., Govern-ing the Future: The European Central Bank’s Expectation Management dur-ing the Great Moderation. Economy and Society 44 (3), 367–391 (2015).

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le. Diese messen nicht lediglich die em-pirisch vorgefundene Wirklichkeit, son-dern bringen diese zu einem gewissen Grad selbst erst hervor.

Die Gründe für diese Performativität lie-gen in der Zukunftsorientiertheit wirt-

schaftlichen Handelns sowie in der Un-sicherheit dieser Zukunft. Um heute wirtschaftliche Entscheidungen treffen zu können, müssen Wirtschaftssubjek-te einen Weg finden, ihre Erwartungen über das Morgen hinaus zu koordinie-ren. Doch wie diese Zukunft aussehen

wird, kann niemand mit Sicherheit vor-hersagen.

Hier nun kommt das geldpolitische Pa-radigma der Zentralbanken ins Spiel: Ein von den besten Ökonominnen und Öko-nomen erdachtes Modell der Wirtschaft, gefüttert mit den besten Daten für die präzisesten Vorhersagen, eignet sich her-vorragend als Orientierungspunkt für die Erwartungsbildung der Wirtschafts-subjekte. Ob Modell und Vorhersagen korrekt sind, ist irrelevant für ihren per-formativen Erfolg. Es ist gemeinhin un-möglich, erfolgreiche Erwartungssteu-erung in Echtzeit von gefährlichem „group think“ zu unterscheiden.

Die erwartungssoziologische Analyse zeigt, dass die Hayek’sche Wissensan-maßung nicht etwa eine Anomalie, son-dern vielmehr eine notwendige Voraus-setzung der modernen Geldpolitik dar-stellt. Anders als bei Hayek folgt dar-aus aber nicht die radikale Forderung, makroökonomische Steuerungsversuche aufzugeben, sondern der pragmatische-re Vorschlag, Jens Beckerts und Richard Bronks Uncertain Futures zur Pflichtlek-türe für Zentralbanker zu machen.

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Die Förderung neuer Technologien durch Unternehmen oder Staaten hängt wesentlich davon ab, welche Erwartun-gen mit ihnen verbunden sind. Nur wenn sich Technologien wie erhofft entwickeln, Abnehmer und Unterstützer finden und sich so gegen Alternativen durchsetzen können, ergibt ihre Förderung Sinn.

Vor diesem Hintergrund wird in Poli-tik, Medien und Wissenschaft regel-

mäßig gefordert, dass sich Firmen und Staaten nicht zu früh auf be-stimmte Technologien festlegen soll-ten, um nicht zu viele Ressourcen für Fehlschläge zu verschwenden und fle-xibel auf zukünftige Entwicklungen reagieren zu können. Statt fokussier-te Förderung zu betreiben, sollen sich Akteure offen auf eine Vielzahl mög-licher technologischer Zukunftsszena-rien einstellen.

Gewissheit über die Potenziale kom-plexer Technologien kann es jedoch nur dann geben, wenn die Möglich-keit existiert, diese auch gezielt zu ent-wickeln. Ein Innovationsprozess er-streckt sich nicht selten über Jahre oder Jahrzehnte, basiert auf der Zu-sammenarbeit Hunderter Akteure und Organisationen und ist in der Regel mit dem Einsatz erheblicher Ressour-cen verbunden – Aufwendungen, die

Zwischen offenheit und Festlegung Ein Dilemma in der förderung von Innovationen

Die Europäische Zentralbank (EZB) erhöhte seit den 2000er-Jahren und insbesondere unter Mario Draghi

schrittweise sowohl die Frequenz als auch den Informationsgehalt ihrer makroökonomischen Projektio-

nen. Parallel legte sie ihren zinspolitischen Kurs zunehmend über längere Zeiträume hinweg fest. Mit ihrer

forward guidance versucht die EZB, die Reichweite ihres Erwartungsmanagements weiter in die Zukunft

auszudehnen und somit größeren Einfluss auch auf den langfristigen Marktzins auszuüben. Doch auch

dies ist alles andere als die Reflexion einer erkennbaren Zukunft.

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wiederum die Arbeit an Alternativen untergraben.

Ein gutes Beispiel für diese Problematik ist die Entwicklung elektrisch betriebe-ner PKWs: Sicherheit darüber, ob batte-riebetriebene Fahrzeuge wirklich die beste Technologie sind, um den Individualver-kehr vom Verbrennungsmotor zu lösen, wird es nie geben, wenn sich nicht eine kritische Masse an Akteuren so verhalten würde, als ob es schon so wäre – und damit durchaus gewaltige Fehlschläge riskiert.

Offenheit und Festlegung in der Förde-rung von Innovation haben also jeweils Vorteile und Nachteile. Wenn diese aber in einem Konflikt stehen, dann gibt es für Akteure in der Entwicklung kom-plexer Technologien ein veritables Di-lemma. Dieses Dilemma lässt sich an-hand von zwei Beispielen von jeweils gescheiterten Entwicklungsprozessen in der Energietechnologie verdeutlichen.

Das Beispiel der Photovoltaikförderung in den USA in den 1970er-Jahren illust-riert die Gefahr, sich angesichts einer un-sicheren Zukunft nicht auf eine Techno-logie festlegen zu wollen. Aus Sorge, zu früh auf das falsche Pferd zu setzen, zer-fielen Förderinitiativen für die Photo-

voltaik in vereinzelte Suchbewegungen. Dies wiederum stiftete nur neue Unsi-cherheit über die mittelfristigen Poten-ziale der Technologie.

Das zweite Beispiel der Förderung synthe-tischer Kraftstoffe in den USA verdeut-licht die spiegelbildliche Gefahr, sich zu bestimmt auf eine Technologie festzu-legen. In äußerst kostenträchtigen Pro-grammen versuchten US-Regierung und Ölindustrie nach der zweiten Ölkrise, die Kommerzialisierung synthetischer Kraftstoffe zu erzwingen. Als die weltwei-ten Ölpreise Mitte der 1980er-Jahre wie-der einbrachen, wurden die Programme größtenteils erfolglos eingestellt und zu ei-nem viel zitierten Beispiel für Ressourcen-verschwendung in der Innovationspolitik.

Über Erfolg oder Misserfolg innovati-ver Technologien wird stets in einer un-sicheren Zukunft entschieden. Da diese Zukunft aber maßgeblich davon geprägt wird, dass Akteure sich ab und an auf ei-nen leap of faith einlassen, ist es müßig, nach optimalen Strategien der Innovati-onsförderung zu fragen. Vielmehr chan-gieren Akteure zwischen Offenheit und Festlegung gegenüber der Zukunft – mit-samt den Vor- und Nachteilen, die die beiden Strategie mit sich bringen.

Timur Ergen ist seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG. Er hat Politik-wissenschaft, Soziologie und Volkswirtschafts lehre an der RWTH Aachen studiert und ist im Okto-ber 2014 an der Universität zu Köln promoviert worden.

Forschungsinteressen: Wirtschafts-soziologie, historische Methoden, industrielle Organisation, soziologi-sche Theorie.

Zum Weiterlesen: Ergen, T., Coalition-al Cohesion in Technology Policy: The Case of the Early Solar Cell Industry in the United States. MPIfG Discussion Paper 17/7. Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2017.

Lange Zeit wurde die Arktis als eine ab-gelegene Erdregion am nördlichen Po-larkreis betrachtet, die nur von wenigen indigenen Völkern und amerikanischen, europäischen und asiatischen Einwan-derern besiedelt ist. Erst Maßnahmen zur Erkundung nutzbarer Bodenschätze lenkten die Aufmerksamkeit der Weltöf-fentlichkeit jüngst auf die Arktis als La-

gerstätte etwa eines Drittels der weltweit ungenutzten Gas- und Ölvorkommen. Die geologische Studie, die diese Ergeb-nisse im Jahr 2008 präsentierte, war nur eine von vielen Aktivitäten, die neue Zu-kunftserwartungen für diese fast verges-sene Region hervorriefen. Die Arktis lässt sich somit auch als geopolitischer Raum beschreiben, der aus speziellen Erwartun-

gen heraus entstanden ist. Diese reichen von Szenarien globaler Erwärmung über geopolitische Konflikte zwischen den An-rainerstaaten bis hin zu Prognosen über Schadstoff- und Abfallbelastungen. Sie alle prägen die Vorstellungen von der zu-künftigen Entwicklung der Arktis und deuten das Gebiet als einen potenziel-len Dreh- und Angelpunkt der Weltwirt-

Zukunftsszenarien für die Arktis Klimawandel und wirtschaftliche Erwartungen

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schaft. Dabei spielt die dauerhafte Befahr-barkeit der Nordost- und Nordwestpas-sagen durch den Rückgang des Meereises eine entscheidende Rolle, da dieses Szena-rio eine neue Handelsroute nach China ermöglichen und zu einer Neuorientie-rung der Weltschifffahrt führen würde.

Der arktische Raum ist demnach vor al-lem als symbolisches Territorium zu be-trachten, in dem die geopolitischen In-teressen und Gebietsansprüche von Spe-kulationen über den künftigen ökono-mischen Wert der Region abhängen. Die

Geschichte ist hierbei ein zentrales Mit-tel für jene Nationalstaaten und Organi-sationen (von Russland und Norwegen über die Europäische Union bis China), die alle in unterschiedlicher Form Anteil am Erbe der Arktis beanspruchen und diese so zum Teil ihrer nationalen Iden-titäten machen. Der aus der Geschichte abgeleitete und legitimierte Anspruch, auch an der Zukunft der Arktis und ih-rem Wert teilzuhaben, ist dabei entschei-dend. Arktisch zu sein hängt somit in hohem Maße von der Fähigkeit der je-weiligen Akteure ab, die eigene histori-sche und zukünftige Präsenz in dem Ge-biet überzeugend darzustellen.

Weil die Option, einen künftigen An-spruch geltend zu machen, ganz unmit-telbar geopolitisch bedeutsam ist, ha-ben alle Akteure seit dem Jahr 2008 Stra-tegien erarbeitet, die ihre künftige Prä-senz im arktischen Raum beschreiben. Diese Strategieplanungen sollen vor al-lem anderen Akteuren zukünftige An-sprüche deutlich machen. Sie befördern aber auch einen Wettlauf, der stark an das historische Gerangel um Kolonial-gebiete und Ressourcen erinnert. Im Un-terschied dazu findet das jetzige Rennen um die Arktis mittels Formen transnatio-naler Zusammenarbeit und grenzüber-schreitenden Regierens sowie durch Da-tenerfassung und Prognosen statt. Den-noch handelt es sich hierbei um einen Prozess, bei dem Interessen allmählich durch das Festlegen zukünftiger An-sprüche geformt werden. Statt bloß als Geschichten oder Wunschvorstellungen sollten Erwartungen daher vielmehr als Ausdruck und Reflexion von Interessen erkannt werden.

Grundlegendes Szenario für die Zukunft der Arktis ist das Abschmelzen der pola-ren Eiskappe – ein apokalyptischer Zu-kunftsentwurf, der vom Weltklimarat als Auslöser von unvorhersehbaren Auswir-kungen auf die Weltmeere und das Kli-ma eingeschätzt wird. Paradoxerwei-se führt dieses Szenario aber auch da-zu, dass die Zukunft der Arktis nun zur Projektionsfläche für wirtschaftliche Er-wartungen wird. Die Neudefinition des

Klimawandels als Herausforderung und gleichzeitig Chancenbringer für die Re-gion macht die Arktis zu einer hypermo-dernen Arena für Anpassungsstrategien und Umweltschutz, gepaart mit dem Be-darf nach technologischen Investitionen, neuen Finanzierungsinstrumenten und neuen Märkten.

Am Beispiel Schweden zeigt sich, dass die nordischen Länder in der Arktis ei-ne höchst widersprüchliche Position ein-nehmen, weil sie einerseits ehrgeizige Nachhaltigkeitsagenden verfolgen und eine friedliche Entwicklung in der Re-gion anstreben, andererseits aber auch Exporteure von Schlüsseltechnologien für Anpassungsstrategien an den Klima-wandel sind. Insbesondere die Umwelt-forschung dient als eine diplomatische Ressource, die es Schweden ermöglicht, Präsenz in der Arktis zu zeigen und zu-künftig Ansprüche geltend zu machen.

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Jenny Andersson ist seit 2015 Kodirektorin am Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies (MaxPo) in Paris. Die Wirtschaftshisto-rikerin aus Schweden ist CNRS-Pro fes-sorin am Centre d’études européennes (CEE) und Leiterin von FUTUREPOL, einem vom Europäischen Research Council geförderten Projekt zur transnationalen Geschichte der Zukunftsforschung und zur Ideenge-schichte von Zukunftsforschung in der Nachkriegsära.

Forschungsinteressen: politische Öko-nomie der Sozialdemokratie, politi-sche Geschichte des Neoliberalismus, transnationale Geschichte, Ideenge-schichte von Zukunftsforschung im globalen Zusammenhang.

Zum Weiterlesen: Andersson, J., The Future of the World: Futurology, Futurists, and the Struggle for the Post Cold War Imagination. Oxford Univer-sity Press, Oxford 2018.

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GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18 Forscherportrait

„Mein Karriereweg an dieses Institut ist ja etwas ungewöhnlich“, beginnt Aria-ne Leendertz das Gespräch über sich. Sie, die gelernte Historikerin mit dem Schwerpunkt Zeitgeschichte, an einem Institut, das Soziologen und Politologen versammelt, um die Gesellschaft zu er-forschen. Zum Verständnis der Gesell-schaft sind natürlich auch historische Entwicklungen wichtig, aber das Zu-sammenarbeiten der getrennten Diszi-plinen Sozial- und Geschichtswissen-schaften scheint immer noch begrün-dungspflichtig zu sein. Zu dem „unge-wöhnlichen Karriereweg“ von Ariane Leendertz gehört freilich nicht nur ihre wissenschaftliche Disziplin: „Ich habe das Institut zuerst als historischen For-schungsgegenstand kennengelernt, be-vor ich hier angefangen habe zu arbei-ten.“ Zum 25-jährigen Bestehen des Max-Planck-Instituts für Gesellschafts-forschung (MPIfG) sollte sie etwas zur

Gründung des Instituts im Jahr 1984 schreiben.

Was als Auftrag zu einem ausführlichen Festschriftenbeitrag an eine externe His-torikerin begann, hat sie in ein kleines Forschungsprojekt umgewandelt. Diese Freiheit habe sie sich genommen, meint sie selbstbewusst und fügt gleich hinzu, dass ihr Auftraggeber, der damalige Di-rektor Wolfgang Streeck, ihr auch die-se Freiheit gewährt habe. Denn erstens war ihr schnell klar, dass die Gründung des Kölner Instituts nur zu verstehen war vor dem Hintergrund der Schließung des vormaligen Max-Planck-Instituts zur

Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt 1981; und zweitens sah sie beide Prozesse als Teil einer umfassenden Neuorientierung innerhalb der deutschen Sozialwissen-schaften.

In der deutschen Soziologie der 1970er-Jahre kann man ein gewisses Krisenbe-wusstsein wahrnehmen, das sich von optimistischen Erwartungen der Steu-erbarkeit politischer Prozesse durch wis-senschaftliche Expertise immer mehr verabschiedet hat. Statt politische Pro-gramme zu entwerfen und wissenschaft-lich zu legitimieren, wurde die Kom-

Das Zusammenarbeiten der Disziplinen Sozial- und Geschichtswissenschaften scheint immer noch begründungspflichtig zu sein.

Arbeiten an der EpochenschwelleAls Zeithistorikerin unter Soziologen: forschungsgruppenleiterin Ariane leendertz

Ariane Leendertz ist seit 2014 Forschungsgruppenleiterin am MPIfG. Mit einem Team aus Doktoranden und Postdoktoranden untersucht die His-torikerin, wie sich seit den 1970er-Jahren jenseits der Wirtschaft ökono-mische Kategorien, Selbstverständnisse, Zielsetzungen und Instrumente ausbreiteten und sich die Beziehungen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft veränderten. Nicht nur auf die Vergangenheit erstreckt sich ihr Interesse an der Verschränkung von gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Als Mitglied des Senats der Max-Planck-Gesellschaft und Mitglied der Geistes-, Sozial- und Humanwis-senschaftlichen Sektion des Wissenschaftlichen Rates der Max-Planck-Gesellschaft ist sie beteiligt an den Reflexionen und Weichenstellungen einer großen und einflussreichen deutschen Wissenschaftsorganisation.

Christoph Fleischmann

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plexität der gesellschaftlichen Zusam-menhänge betont, die sich einfachen Zugriffen zur Verbesserung oder Mo-dernisierung entzogen. Dass Leendertz’ Thesen aufgingen, davon zeugt das Buch, das aus dieser Arbeit entstanden ist: Die pragmatische Wende: Die Max-Planck-Gesellschaft und die Sozialwissenschaften 1975–1985.

Wie aber kommt eine Historikerin dazu, derart in das Innere einer anderen Diszi-plin hineinzuschauen? Die eine Antwort gibt Leendertz ruhig lächelnd: Man müs-se eben die historischen Quellen lesen; in diesem Fall: die Texte der Soziologen

aus den 1970er-Jahren; wobei auch ei-ne kluge Quellenauswahl zum Geschäft der Historikerin gehöre, um nicht in der Menge des Materials zu ertrinken. Ange-nehm selbstbewusst ist sie: Im Vertrauen auf die sichere Beherrschung der histori-schen Methoden kann sie auch den So-ziologen noch Aufklärung über die Vor-gänge in deren Fach geben.

Eine andere Antwort kann man darin finden, dass Leendertz geübt ist, sich Diskurse fremder Wissenschaften anzu-eignen: In ihrer Dissertation hat sie die Geschichte der deutschen Raumplanung untersucht von ihrem Beginn im 19. Jahr-hundert bis zum Ende der 1970er-Jah-re, geschrieben bei dem Tübinger Zeit-historiker Anselm Doering-Manteuffel.

Der hat ihr zudem eine Forschungsthe-se mit auf den Weg gegeben: Zusammen mit Lutz Raphael hat Doering-Manteuf-fel in seinem Buch Nach dem Boom in den 1970er-Jahren einen Strukturwandel von revolutionärer Qualität ausgemacht: Viele gesellschaftliche Bereiche sind ge-genüber der Hochmoderne, die seit den 1880er-Jahren prägend gewesen war, neu strukturiert worden. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts begann ein epo-chaler Wandel, eine Übergangszeit ver-gleichbar mit der sogenannten „Sattel-zeit“, die der ehemalige Bielefelder His-toriker Reinhart Koselleck in der frühen Neuzeit ausgemacht hat. Aber „epocha-

ler Wandel“ sei ein großes Wort, so Leen-dertz, und man ahnt, dass große Worte bei der klar und ruhig argumentieren-den Frau erstmal Nachfragen auslösen: Das müsse natürlich empirisch über-prüft werden. Damit sei sie nun beschäf-tigt. Wobei sie schon zu erkennen gibt, dass sie die These von Doering-Manteuf-fel für fruchtbar und plausibel hält.

Seit 2012 ist sie am Max-Planck-Insti-tut für Gesellschaftsforschung angestellt und seit 2014 ist sie hier Leiterin der For-schungsgruppe Ökonomisierung des So-zialen. Dabei hat sie, die zwischendurch auch am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität in München tä-tig war, die USA im Blick. Die Entwick-lungen in den USA seien noch kaum auf

die These von Doering-Manteuffel und Lutz Raphael hin untersucht worden; aber gerade hier würden sich viele Be-wegungen, die man in Westeuropa beob-achtet habe, spiegeln, so Leendertz. Und so taucht ein Begriff, der schon für Die pragmatische Wende zentral war, wieder auf: der der Komplexität. Dass die Ver-hältnisse komplex sind, kann eine Bana-lität sein; es kann aber auch eine Zäsur markieren, wenn die Verhältnisse zu ei-nem bestimmten Zeitpunkt als kom-plexer wahrgenommen werden als sie vordem erschienen sind, und Wissen-schaftler daran arbeiten, Komplexität theoretisch zu erfassen.

Leendertz blickt in ihrem aktuellen For-schungsprojekt auf die Entwicklung der Sozialwissenschaften in den USA zwi-schen den 1960er- und 1970er-Jahren, als Komplexität zu einem neuen Thema avancierte. Aber man müsse die Sozial-wissenschaften auch in ihrem zeitgenös-sischen Kontext wahrnehmen, erklärt die Historikerin: Die Wissenschaften reagierten auf gesellschaftliche Problem-lagen und wirkten auf diese ein. Kon-kret geht es darum, dass der amerikani-sche Wohlfahrtsstaat, das Programm der Great Society, in eine Krise geriet: finan-ziell, weil der Vietnamkrieg Geld aus den Sozialprogrammen abzog; aber es wur-den auch die Erfolge und damit die po-litische Legitimität der Programme von links wie von rechts angezweifelt. Das wirkte sich auf die Sozialwissenschaften aus, die die Konzepte für viele Program-me geliefert hatten.

Die Erkenntnis, dass die Verhältnisse komplexer und nicht einfach durch po-litische Maßnahmen zu steuern seien, bewegte aber nicht nur die Sozialwissen-schaften, sondern auch den politischen Diskurs. Leendertz sieht nun zwei mög-liche Auswege aus der wahrgenomme-nen Krise: zum einen die Verfeinerung der Methoden, um besser auf das aus-gemachte Steuerungsdefizit zu reagie-ren, und zum anderen die Verabschie-dung von der Erwartung, dass der Staat für bestimmte Bereiche überhaupt Steu-erungsmöglichkeiten hat. Letzteres sei in

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Forscherportrait GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18

Die Forschungsgruppe „Ökonomisierung des Sozialen und gesellschaftliche Komplexität“ des MPIfG im

Mai 2016, v.l.: Alina Marktanner, Lena Silberzahn, Torsten Kathke (Universität zu Köln), Daniel Monninger,

Ariane Leendertz , Fabian Langer und Andrea Mennicken (London School of Economics).

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GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18 Forscherportrait

den USA dann politisch besonders wirk-sam geworden mit dem Regierungsan-tritt von Ronald Reagan zu Beginn der 1980er-Jahre: Der planende Sozialstaat habe sich aus immer mehr Bereichen zu-rückgezogen, der freie Markt sei zur do-minanten Steuerungsinstitution gewor-den. Damit gehört die Komplexitäts-wahrnehmung auch zur Vorgeschichte des Aufstiegs des Neoliberalismus. Der war demnach nicht einfach nur das kon-servative Rollback, als das er oft darge-stellt wird, sondern konnte sich durch-aus als Antwort auf Probleme präsentie-ren, die auch von seinen Gegnern wahr-genommen wurden.

Es ist faszinierend und spannend bei Leendertz zu lesen, welche Perspektiven sich aus der Untersuchung scheinbar weit entfernt liegender wissenschaftlicher Dis-kurse ergeben. Man merkt: Hier verbin-det sich die akribische Arbeit der Histo-rikerin mit einer Perspektive für das gro-ße Ganze, hier verfolgt eine Wissenschaft-lerin bei allem Blick fürs Detail doch ein Programm, das noch lange nicht abgear-beitet ist. Und: Hier ist eine Historikerin am Werk mit besonderem Blick für die kulturellen und wirtschaftlichen Entwick-lungen. An der politischen Geschichte interessierte Historikerinnen und Histo-riker würden einen Epochenschnitt viel eher 1989/90 mit dem Zusammenbruch des Ostblocks sehen. Leendertz wägt sorgfältig ab: Die Epochenschwelle habe sicher in den 1970er-Jahren begonnen, aber man könne noch einmal eine gewis-se Beschleunigung bei der Ökonomisie-rung des Sozialen ab den 1990er-Jahren feststellen. Dass sie damit eine wichtige Perspektive für die Soziologie und die Er-forschung der gegenwärtigen Gesellschaf-ten erschließt, liegt auf der Hand.

Wie die Soziologen haben die Histori-ker eigentlich Menschen als Untersu-

chungsgegenstand, auch wenn diese hin-ter Strukturen und überindividuellen Prozessen mitunter unsichtbar werden. Leendertz aber blüht im Gespräch auf, wenn sie von einem Menschen erzäh-len kann: Über den amerikanischen Po-litiker John Kerry hat sie ein dreiteiliges Portrait für das Fachportal zeitgeschichte- online geschrieben: Wie der Kriegs-veteran und Anti-Vietnamkrieg-Akti-vist, der 1971 eine weit beachtete Rede vor dem Senat hielt, zum Präsident-schaftskandidaten der Demokraten 2004 wurde. In seinem Lebenslauf spiegele sich die Bedeutung, die der Vietnam-krieg bis heute für die amerikanische Ge-

sellschaft habe, sagt Leendertz. Also der Mensch nur als Exempel für eine Ent-wicklung? Nein, man müsse ihn sehen und hören, so Leendertz. Begeistert ver-weist sie auf die Videos der C-Span Video Library, des amerikanischen Parlaments-fernsehens, das alle Reden im Senat auf-bewahrt und online zugänglich hält; et-was Vergleichbares fehle in Deutschland, moniert sie. Dort findet man nicht nur die Rede von 1971, sondern auch die Re-de, die John Kerry vor der Invasion in den Irak 2003 gehalten hat. Kerry hat dem Kriegseinsatz damals zugestimmt. Aber nur wenn man seine Rede sehe und höre, so Leendertz, merke man, dass er eigentlich dagegen gewesen sei. Kerry habe sich in seinen öffentlichen Reden immer im Zwiegespräch mit seinem jüngeren Ich, dem Anti-Vietnamkrieg-Veteranen befunden, und Ariane Leen-dertz war sichtlich fasziniert, ihm dabei zuhören zu können.

Seit 2013 ist Leendertz auch Vertreterin der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MPIfG in der Geis-tes-, Sozial- und Humanwissenschaft-lichen Sektion der Max-Planck-Gesell-schaft. Sascha Münnich, zu der Zeit wis-

senschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG, hatte sie damals als seine Nachfolgerin vorgeschlagen. „Die sagt frei raus, was sie denkt“, erinnert sich Münnich, der inzwi-schen Professor in Göttingen ist; sie ha-be sich auch zu Wort gemeldet, wenn sie Vorschläge der Direktoren nicht über-zeugend gefunden habe. Selbstbewusst-sein und der Blick von außerhalb der So-ziologenwelt haben ihr da sicher gehol-fen. Und durch ihr Buch, fügt Münnich hinzu, habe sie auch gut verstanden, wie die Max-Planck-Gesellschaft funktionie-re. Inzwischen wurde sie auch in den Se-nat, das höchste Entscheidungsgremium der Max-Planck-Gesellschaft, gewählt. Nach ungewöhnlichem Karriereweg, und vermutlich auch genau deswegen, ist sie nun mittendrin. Sie selber sagt über ihre Arbeit am MPIfG: „Ich habe hier meinen Traumjob.“ Aus der Grundfinanzierung heraus forschen zu können, ermögliche eine große Freiheit.

Der Neoliberalismus konnte sich durchaus als Antwort auf Probleme präsentieren, die auch von seinen Gegnern wahrgenommen wurden.

Zum Weiterlesen

Leendertz, A.:Die pragmatische Wende: Die Max-Planck-Gesellschaft und die Sozial-wissenschaften 1975–1985.Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010.

Leendertz, A.:US-Außenminister John Kerry und der Krieg. Essay über biographische Kontinuität und amerikanische Poli-tik. Zeitgeschichte-online, 2016/2017.https://tinyurl.com/leendertz-kerry

Leendertz, A. und W. Meteling (Hg.): Die neue Wirklichkeit: Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er-Jahren. Campus, Frankfurt a.M. 2016.

Leendertz, A.: Das Komplexitätssyndrom: Gesell-schaftliche „Komplexität“ als intellek-tuelle und politische Herausforderung in den 1970er-Jahren. MPIfG Discussion Paper 15/7. Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2015.

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Nachrichten GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18

Nachrichten

Akos Rona-Tas ist Scholar in Residence 2018

Akos Rona-Tas, Professor am Depart-ment of Sociology der University of Cali-fornia San Diego, ist als Scholar in Res-idence am MPIfG zu Gast. Während seines Aufenthalts hielt er im Juni 2018 eine dreiteilige Vortragsreihe zum The-ma „Predicting the Future: From Augurs to Algorithms“. Darin beschäftigte er sich mit der Vorhersehbarkeit zukünftiger Er-

eignisse und dem Einsatz von Prognosen als strategische In-strumente. Die Vorträge sind als Podcast verfügbar. Das MPIfG lädt jährlich eine führende Wissenschaftlerin oder einen füh-renden Wissenschaftler aus den Politik-, Wirtschafts- oder So-zialwissenschaften für drei bis sechs Monate an das Insti tut ein. Scholars in Residence verfolgen ein Forschungsprojekt, das thematisch an die Schwerpunkte der Forschung am MPIfG an-schließt.

Podcasts der Scholar in Residence Lectures 2018www.mpifg.de/aktuelles/Veranstaltungen/SiR_podcasts_de.asp

Dynamiken des Kapitalismus: Konferenz zum 200. Geburtstag von Karl Marx

Eine gemeinsame Konferenz des Hamburger Instituts für So-zialforschung (HIS) und des MPIfG thematisierte vom 3. bis 5. Mai 2018 anlässlich des zweihundertsten Geburtstags von Karl Marx die zentralen Aspekte der marxistischen politischen Ökonomie. Anhand der verschiedenen kapitalistischen Leitbil-der wie Geld, Arbeit, Profit, Wert, Markt, Gewalt, Technolo-gie, Eigentum und Klasse wurde diskutiert, inwiefern die Lehre von Marx für heutige Wirtschaftsordnungen noch von Bedeu-tung ist. Die zehn Beiträge zur Konferenz sind als Podcasts ver-fügbar, darunter die Vorträge von Thomas Piketty, Wolfgang Streeck, Axel Honneth und Friedrich Lengner sowie die Prä-sentationen von Jens Beckert, Kean Birch, Marion Fourcade, Greta Krippner, Dave Elder-Vass und Aaron Sahr.

Alle Vorträge als Video-Podcastswww.mpifg.de/projects/marx200/livestreams.aspEindrücke von der Konferenz S. 31

fünf Jahre MaxPo: Jubiläumskonferenz in ParisDas Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies (MaxPo) feierte am 12. und 13. Januar 2018 mit rund 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern sein fünfjäh-riges Bestehen mit einer Konferenz in Paris. In insgesamt fünf Panels präsentierten renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre aktuellen Forschungsarbeiten rund um die Themen Instabilität und Ungleichheiten in kapitalistischen Gesellschaften. Das Center wird von der Max-Planck-Gesell-schaft und der Sciences Po zu gleichen Teilen finanziert. Die Finanzierung ist nach einer erfolgreichen Evaluation im Jahr 2017 um weitere fünf Jahre verlängert worden.

Eindrücke von der Konferenz S. 32

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Wachstumsmodelle und makroökonomische Politikgestaltung

Vom 23. bis 25. Mai 2018 widmete sich eine internationale Kon-ferenz am MPIfG der Rolle von Wachstumsmodellen und den Dimensionen makroökonomischer Politikgestaltung. In fünf Pa-neldiskussionen wurden die verschiedenen Facetten der Thema-tik beleuchtet: Wie sind Wachstumsmodelle politisch fundiert? Was sind Schlüsselsektoren und Wachstumstreiber? Wie kann die Wachstumsmodellagenda mit Blick auf die theoretische Viel-falt weiterentwickelt werden? 24 Vertreterinnen und Vertreter aus dem Feld der Politischen Ökonomie nahmen an der von Lucio Baccaro und Alexander Spielau organisierten Konferenz teil.

Konferenzbericht S. 27

feldanalytische forschung im fokus

Wie lassen sich transnationale Vergesellschaftungsprozesse und damit einhergehende neue Formen des Regierens aus der Perspektive einer Politischen Soziologie verstehen und erklä-ren? Vom 20. bis 22. Juni 2018 fand hierzu der dritte Work-shop des Netzwerks „Politische Soziologie transnationaler Fel-der“ mit dem Titel „Analyzing Transnationalism from a Field Perspective“ am MPIfG statt. In dem von der Deutschen For-schungsgemeinschaft (DFG) geförderten wissenschaftlichen Netzwerk sind 18 junge Soziologinnen und Soziologen aus ganz Deutschland organisiert.

Konferenzbericht S. 33

Tagung: „Stottert die liberalisierungsmaschine?“Im Januar 2018 tagte der Projektverbund „Europäische Wirt-schafts- und Sozialintegration“ am MPIfG. Unter der Leit frage „Stottert die Liberalisierungsmaschine?“ beleuchteten Wissen-schaftler verschiedener Institutionen den Stand der Reformen der Wirtschafts- und Währungsunion, etwa im Hinblick auf die in Entstehung begriffene Kapitalmarktunion. Der Projektver-bund ist eine auf mehrere Jahre angelegte Kooperation zwischen Forschungsprojekten, die sich mit Problemen der europäischen Integration aus politökonomischer Perspektive befassen.

Tagungsbericht S. 30

Auftakt-Workshop für Max-Planck-Partnergruppe in WarschauEin zweitägiger Workshop gab am 15. und 16. Februar 2018 den offiziellen Startschuss für die Arbeit der Max-Planck-Partner gruppe für die Soziologie des Wirtschaftslebens (Max Planck Partner Group for the Sociology of Economic Life) in Warschau. Unter dem Leitthema „Contested Futures and Tem-poralities of Capitalism: Theories and Ethnographies of Expec-tations“ beschäftigten sich rund 20 Forscherinnen und For-scher der Soziologie und Anthropologie aus Polen, Deutsch-land, Chile und den Vereinigten Staaten mit der Rolle von Er-wartungen im wirtschaftlichen und sozialen Leben.

Konferenzbericht S. 28

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Nachrichten GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18

Daniel Elazar Distinguished federalism Scholar Award für fritz W. Scharpf

Fritz W. Scharpf erhält für seine weg-weisende Forschung zur Politikverflech-tungsfalle und zur Mehrebenenpolitik der Europäischen Union den Daniel Ela-zar Distinguished Federalism Scholar Award. Der Preis honoriert hervorragen-de wissenschaftliche Arbeiten in den Fel-dern Föderalismus und intergouverne-mentale Beziehungen. Er wird jährlich

von der Sektion „Federalism and Intergovernmental Relations“ der American Political Science Association (APSA) vergeben. Seit Mitte der 1980er-Jahre beobachtet Scharpf, Direktor eme-ritus am MPIfG, die Entwicklung der Effektivität und Legitimi-tät europäischer Mehrebenenpolitik.

Otto-hahn-Medaille 2018 für Ana Alfinito Vieira

Ana Carolina Alfini-to Vieira wird für ih-re Dissertation „So-cial Movements and Institutional Change: The Pro-Indigenous Struggle for Land Tenure and Citizen-ship in Brazil (1968–2016)“ mit der Otto-

Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) ausge-zeichnet. In ihrer Arbeit beschäftigt sich Alfinito Vieira mit der Frage, wie kollektive Mobilisierung zu institutionellen Entste-hungs- und Wandlungsprozessen beiträgt. Die Otto-Hahn-Me-daille wird jährlich an ausgewählte junge Wissenschaftler der MPG für herausragende wissenschaftliche Leistungen im Zu-sammenhang mit ihrer Doktorarbeit verliehen. Ana Carolina Alfinito Vieira war von 2012 bis 2016 Doktorandin an der In-ternational Max Planck Research School on the Social and Politi-cal Constitution of the Economy (IMPRS-SPCE). Heute forscht sie am Brazilian Center for Analysis and Planning ( CEBRAP) in São Paulo.

lukas haffert in Junge Akademie gewähltMPIfG-Alumnus Lukas Haffert wird neues Mitglied in der Jun-gen Akademie. Die Junge Akademie an der Berlin-Branden-burgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina ist eine interdiszipli-näre Forschungsplattform für den wissenschaftlichen Nach-wuchs. Jedes Jahr werden zehn herausragende Nachwuchsfor-scher in die Akademie gewählt. Eine exzellente Promotion ist hierfür mitentscheidend. Haffert war von 2010 bis 2014 Dok-torand an der International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy (IMPRS-SPCE). Heute ist Haffert Oberassistent am Lehrstuhl für Schweizer Po-litik und Vergleichende politische Ökonomie der Universität Zürich.

Sebastian Kohl erhält Bengt Turner AwardFür seinen Beitrag zur Konferenz des European Network of Housing Research erhielt Sebastian Kohl im Juni 2018 den zweiten Preis des Bengt Turner Awards für sein Paper „More Mortgages, Less Housing? On the Paradoxical Effects of Housing Financialization on Housing Supply and Residential Capital Formation“. Kohl war bis 2014 Doktorand an der Inter-national Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy (IMPRS-SPCE) und im Anschluss Postdoktorand am MPIfG. Nach einer zweijährigen Tätigkeit an der Universität Uppsala in Schweden ist Kohl heute wissen-schaftlicher Mitarbeiter am MPIfG.

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GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18 Nachrichten

Verleihung des leibniz-Preises 2018 an Jens Beckert

Am 19. März 2018 erhielt MPIfG-Direk-tor Jens Beckert im Rahmen einer Fest-veranstaltung in der Berlin-Brandenbur-gischen Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit zehn weiteren Forsche-rinnen und Forschern die höchste wis-senschaftliche Auszeichnung Deutsch-lands. Der Gottfried-Wilhelm-Leib-niz-Preis wird jährlich von der Deut-schen Forschungsgemeinschaft (DFG) verliehen und ist mit jeweils bis zu 2,5 Millionen Euro dotiert. Das Preisgeld fließt in zukünftige Forschungsprojekte am MPIfG. Jens Beckert forscht auf dem Gebiet der Neuen Wirtschaftssoziologie, die die Einbettung von ökonomischen Prozes-sen und Entscheidungen in den sozialen Handlungskontext betont – eine Sicht-weise, die in der ökonomischen Theorie bisher wenig Aufmerksamkeit erhalten hat. Beckerts Forschung setzt im Schnitt-feld von Soziologie und Wirtschaftswis-senschaften an. Der Leibniz-Preis wurde ihm für seine Arbeiten zur Erneuerung einer interdisziplinären Perspektive in den Sozialwissenschaften verliehen. Für Beckert ist wirtschaftliches Handeln ei-ne Form des sozialen Handelns: Wirt-schaftliche Entscheidungen von Akteu-ren, so Beckert, sind nur dann zu ver-stehen, wenn soziale und politische Hin-tergründe mit in den Blick genommen werden.

In seiner Laudatio unterstrich DFG-Prä-sident Prof. Dr. Peter Strohschneider, Beckert verhelfe den beiden Diszipli-nen – Soziologie und Wirtschaftswis-senschaften – zu einem neuen, ertrag-reichen Bezug aufeinander. Eine Per-spektive, die hochaktuell sei, werde doch spätestens seit der Finanzkrise ab 2008 in der Fachwelt und auch in der Öffent-lichkeit intensiv diskutiert, dass sich Tei-le der Wirtschaftswissenschaften mit ih-

rem isolierten Ansatz eines stets rational agierenden homo oeconomicus in eine Sackgasse manövriert haben. Jens Beckerts ambitioniertes, stark theo-retisch orientiertes Forschungsprogramm schließt an die neueren Ansätze der Wirtschaftssoziologie in den USA an, geht aber zugleich über sie hinaus. Im Mittelpunkt seiner aktuellen Forschung steht die Frage, wie Akteure in der Wirt-schaft mit fundamentaler Ungewissheit umgehen. Wie treffen Akteure Entschei-dungen, wenn es nicht möglich ist zu wissen, welche die beste Handlungsal-ternative ist? Beckert orientiert sich da-bei an einem Handlungsmodell, das auf der Tradition des amerikanischen Prag-matismus fußt.

Diese Überlegungen sind auch der Aus-gangspunkt seines jüngsten Buches „Imaginierte Zukunft: Fiktionale Erwar-tungen und die Dynamik des Kapitalis-mus “ (Suhrkamp, 2018). Hier diskutiert Beckert die Nichtvorhersagbarkeit der Zukunft und die Auswirkungen, die diese Ungewissheit auf das Handeln von öko-nomischen Akteuren hat. Er entwickelt damit einen neuartigen Beitrag zur Ka-pitalismustheorie. Im Mittelpunkt seines Ansatzes stehen die sogenannten „fik-tionalen Erwartungen“ – Imaginationen darüber, was die Zukunft bringt. Mit den Instrumenten der Soziologie und der Li-teraturtheorie liefert er eine umfassende Charakterisierung dieser Erwartungen, untersucht ihre Funktionsweisen in Be-reichen wie Geld, Investitionen, Innova-tion und Konsum und zeigt, wie mäch-tig sie sind: Fiktionale Erwartungen sind der Treibstoff der Ökonomie, ohne sie wäre Innovation kaum möglich. Wenn sie als hohle Narrative entlarvt werden, können sie die Wirtschaft jedoch, wie im Jahr 2008 geschehen, in Krisen stürzen.

leibniz-PreisDer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft verliehene Gottfried-Wilhelm-Leib-niz-Preis ist der höchstdotierte deutsche Forschungspreis. Ziel des 1985 eingerichteten Leibniz-Programms ist es, die Arbeitsbedingungen herausragender Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftler zu verbessern, ihre Forschungsmöglichkeiten zu erweitern, sie von administrativem Arbeitsaufwand zu entlasten und ihnen die Beschäftigung besonders qualifizierter jüngerer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu erleich-tern. Der Preis ist mit bis zu 2,5 Millionen Euro dotiert.

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Neuerscheinungen Gesellschaftsforschung 1.18

MPIfG Bücher

Jens BeckertImaginierte Zukunft: Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp, 2018 | 569 Seiten ISBN 978-3-518-58717-1 | 42,00 EuroIm Original erschienen unter dem Titel Imagined Futures: Fictional Expectations and Capitalist Dynamics (Harvard University Press, 2016).

Im kapitalistischen Wirtschaftssystem richten Konsumenten, Investoren und Unternehmerinnen ihr Handeln auf die Zukunft aus. Diese birgt Chancen und Risiken, ist aber vor allem eines: ungewiss. Wie gehen die Akteure mit dieser Un­gewissheit um? Ökonomen beantworten diese Frage mit verschiedenen Theorien, die auf die Berechenbarkeit des Marktes setzen. Dadurch wird die Nichtvorhersag­barkeit der Zukunft unterschätzt.

Jens Beckert nimmt die temporale Ordnung des modernen Wirtschaftslebens ernst und entwickelt einen neuen Blick auf die Dynamik des Kapitalismus. Im Mittelpunkt seiner Untersu­chung stehen die fiktionalen Erwartungen der Akteure – Imagi­nationen und Narrative darüber, was die Zukunft bringt. Mit den Instrumenten der Soziologie und der Literaturtheorie liefert

er eine umfassende Typologie dieser Erwartungen, untersucht ihre Funktionsweisen in Bereichen wie Geld, Innovation und Konsum und zeigt vor allem, wie mächtig sie sind. Fiktionale Er­wartungen sind der Treibstoff der Ökonomie, können diese aber auch in tiefe Krisen stürzen, wenn sie als hohle Narrative entlarvt werden. Dann platzt die Blase. Ein fulminantes Buch.

Jens Beckert und Richard Bronk (Hg.)Uncertain Futures: Imaginaries, Narratives, and Calculation in the Economy.Oxford: Oxford University Press, 2018 | 352 SeitenISBN 978-0-1988-2080-2 | £55.00 (Hard-cover)

Annina T. HeringKinder – oder nicht? Geburten in Deutschland im Spannungsfeld unsicherer Partnerschaften und prekärer Beschäftigung. Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Band 90.Frankfurt a.M.: Campus, 2018 | 269 SeitenISBN 978-3-593-50883-2 | 39,95 Euro (broschiert)ISBN 978-3-593-43856-6 | 35,99 Euro (E-Book, PDF)

Bücher, Journal articles und Discussion Papers

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NeuerscheinungenGESEllSchAfTSForSchuNg 1.18

MPIfG Journal ArticlesAbstracts und Download www.mpifg.de/pu/journal_articles_de.asp

Timothy Blackwell und Sebastian KohlUrban Heritages: How History and Housing Finance Matter to Housing Form and Homeownership Rates. In: Urban Studies, published online March 6, 2018.

Benjamin BraunCentral Banking and the Infrastructural Power of Finance: The Case of ECB Support for Repo and Securitization Markets. In: Socio-Economic Review, published online February 20, 2018.

Benjamin Braun, Daniela Gabor und Marina HübnerGoverning through Financial Markets: Towards a Critical Political Economy of Capital Markets Union. In: Competition & Change 22(2), 2018, 101–116.

Benjamin Braun, Sebastian Schindler und Tobias WilleRethinking Agency in International Relations: Performa-tivity, Performances and Actor-Networks. In: Journal of International Relations and Development, published online April 25, 2018.

Nina Engwicht „It Can Lift Someone from Poverty“: Imagined Futures in the Sierra-Leonean Diamond Market. In: The Extractive Industries and Society 5(2), 2018, 260–266.

Julian Hamann und Lisa SuckertTemporality in Discourse: Methodological Challenges and a Suggestion for a Quantified Qualitative Approach. In: Forum Qualitative Sozialforschung 19(2), 2018.

Martin Höpner und Mark LutterThe Diversity of Wage Regimes: Why the Eurozone Is Too Heterogeneous for the Euro. In: European Political Science Review 10(1), 2018, 71–96.

Martin Höpner und Alexander SpielauBetter Than the Euro? The European Monetary System (1979–1998). In: New Political Economy 23(2), 2018, 160–173.

Sebastian Kohl More Mortgages, More Homes? The Effect of Housing Financialization on Homeownership in Historical Perspective. In: Politics & Society 46(2), 2018, 177–203.

Philipp KoromInherited Advantage: Comparing Households that Receive Gifts and Bequests with Non-Receiving House-holds across the Distribution of Household Wealth in 11 European Countries. In: European Sociological Review 34(1), 2018, 79–91.

Mark Lutter, Daria Tisch und Jens BeckertSocial Explanations of Lottery Play: New Evidence Based on National Survey Data. In: Journal of Gambling Studies, published online February 21, 2018.

Karlijn Roex, Tim Huijts und Inge SiebenAttitudes towards Income Inequality: „Winners“ versus „Losers“ of the Perceived Meritocracy. In: Acta Sociologica, published online January 11, 2018.

Martin Seeliger Why Do (Some) European Trade Unions Reject Minimum Wage Regulation? In: Culture, Practice & Europeanization 3(1), 2018, 37–46.

Martin Seeliger Ambivalences of the Countermovement: A Proposal on How to Study International Trade Unionism. In: Transnational Social Review, published online June 18, 2018.

MPIfG Discussion PapersAbstracts und Download www.mpifg.de/pu/discpapers_de.asp

Fritz W. Scharpf There Is an Alternative: A Two-Tier European Currency Community. MPIfG Discussion Paper 18/7.

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Neuerscheinungen GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18

Sebastian KohlA Small History of the Homeownership Ideal. MPIfG Discussion Paper 18/6.

Lea Elsässer, Svenja Hense und Armin SchäferGovernment of the People, by the Elite, for the Rich: Unequal Responsiveness in an Unlikely Case. MPIfG Discussion Paper 18/5.

Mark Lutter, Karlijn Roex und Daria TischAnomie or Imitation? The Werther Effect of Celebrity Suicides on Suicide Rates in 34 OECD Countries, 1960–2014. MPIfG Discussion Paper 18/4.

Donato Di Carlo Does Pattern Bargaining Explain Wage Restraint in the German Public Sector? MPIfG Discussion Paper 18/3.

Daniel Kinderman und Mark LutterExplaining the Growth of CSR within OECD Countries: The Role of Institutional Legitimacy in Resolving the Institutional Mirror vs. Substitute Debate. MPIfG Discussion Paper 18/2.

Fritz W. ScharpfInternational Monetary Regimes and the German Model. MPIfG Discussion Paper 18/1.

Benjamin Braun und Marina HübnerFiscal Fault, Financial Fix? Capital Markets Union and the Quest for Macroeconomic Stabilization in the Euro Area. MPIfG Discussion Paper 17/21.

MaxPo Discussion PapersAbstracts und Download www.maxpo.eu/publications.asp

Jenny Andersson und Olivier Godechot (Hg.)Destabilizing Orders – Understanding the Conse-quences of Neoliberalism: Proceedings of the MaxPo Fifth-Anniversary Conference Paris, January 12–13, 2018. MaxPo Discussion Paper 18/1.

IMPRS-SPcE Dissertation SeriesStudies on the Social and Political Constitution of the Economy

Abstracts und Download imprs.mpifg.de/imprs_dissertation_series.asp

Alexander SpielauDie Politische Ökonomie von Wechselkursanpassungen: Auf- und Abwertungen in Deutschland und Frankreich. Studies on the Social and Political Constitution of the Economy. IMPRS-SPCE, Cologne 2018.DOI: 10.17617/2.2376519

Ana Carolina Alfinito VieiraSocial Movements and Institutional Change: The Pro- Indigenous Struggle for Land Tenure and Citizenship in Brazil (1968–2016). Studies on the Social and Political Constitution of the Economy. IMPRS-SPCE, Cologne 2017. DOI: 10.17617/2.2385250

Aktuelle Publikationen des MPIfG www.mpifg.de/pu/mpifg_pub_de.asp

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Growth Models and the Politics of Macroeconomic PolicyKonferenz24. und 25. Mai 2018

Im Mai 2018 befasste sich eine interna-tionale Konferenz am MPIfG in fünf Paneldiskussionen mit der Rolle von Wachstumsmodellen und den Dimen-sionen makroökonomischer Politikge-staltung. Das Ziel der Veranstaltung war es, eine Forschungsagenda über den Per-spektivwechsel von der Angebots- zur Nachfrageseite in der Politischen Öko-nomie anzustoßen. Im Zentrum der Be-trachtung standen jene institutionellen Bedingungen, die zur Wettbewerbsfä-higkeit und zu Innovationskapazitäten von Ländern, zum Niveau und zur Zu-sammensetzung der gesamtwirtschaft-lichen Nachfrage sowie zur Ungleich-heit und deren Einfluss auf die Gesamt-nachfrage beitragen. Organisiert wurde die Konferenz von Lucio Baccaro und Alexan der Spielau (beide MPIfG).

Im ersten Panel wurde nach der poli-tischen Fundierung von Wachstums-modellen gefragt. Für Lucio Baccaro (MPIfG) und Jonas Pontusson (Univer-sität Genf) gründen Wachstumsmodelle auf dominanten „Sozialen Blöcken“. Als Soziale Blöcke werden in Anlehnung an Antonio Gramsci Koalitionen von so-zialen Akteuren bezeichnet, die quer zu Klassenkonflikten liegen und von Schlüs-selsektoren der nationalen Ökonomien abhängen, etwa der Automobil- oder Fi-nanzindustrie. Peter Hall (Harvard Uni-versity) konstatierte, dass Wachstums-regime nicht dem Wandel ökonomischer Bedingungen, sondern auch dem Wandel von Einstellungen in der Wählerschaft und den daraus folgenden Konsequenzen im Parteiensystem unterworfen sind. Für Lucy Barnes (University College London) hingegen ist die politische Debatte von Inhalten nachfrageseitiger Wirtschafts-politik und den spezifischen Ausprägun-gen nationaler Wachstumsmodelle ge-kennzeichnet.

Das zweite Panel diskutierte die Rolle von Schlüsselsektoren und Wachstums-treibern. Martin Höpner (MPIfG) be-leuchtete das historisch gewachsene Ex-portregime Deutschlands, das seit den 1950er-Jahren auf einer politisch ge-schaffenen Unterbewertung der Wäh-rung beruht und systematisch einen Bei-trag zur internationalen makroökonomi-schen Instabilität leistet. Sebastian Kohl und Alexander Spielau (beide MPIfG) untersuchten die Bedeutung von Bautä-tigkeit im Immobiliensektor für Wachs-tumsstrategien seit den 1970er-Jahren und stellten drei Entwicklungspfade im Kontext von Bautätigkeit, Immobilien-preisen und Kreditvergabe heraus. Bruno Palier (Sciences Po, Paris) und Anke Has-

sel (Wirtschafts- und Sozialwissenschaft-liches Institut, Düsseldorf) setzten die Entwicklung verschiedener Wachstums-modelle in den Kontext wohlfahrtsstaat-licher Reformen.

Das dritte Panel thematisierte die Rolle von Finanzmärkten für die makroökono-mische Politikgestaltung sowie nationale Wachstumsstrategien. Aidan Regan (Uni-versity College Dublin) zeigte am Beispiel

von Irland und Ungarn, wie politische Netzwerke aus Staat und Wirtschaft zur Herausbildung von differenzierten, auf ausländischen Direktinvestitionen basie-renden Wachstumsstrategien beitragen. Daniela Gabor (University of the West of England, Bristol) verknüpfte makroöko-nomische Politikregime mit langen Su-perzyklen und kurzen Konjunkturzyk-len. Costas Lapavitsas (SOAS, University of London) legte dar, dass die Finanz-krise von 2007 in vielerlei Hinsicht einen Bruch in der Bedeutung von Banken für das US-Wachstum darstellt.

Im vierten Panel wurde erörtert, welche Denkschule der Makroökonomie am ge-eignetsten sei, um Wachstumsmodelle

zu theoretisieren. David Soskice (Lon-don School of Economics) debattierte dabei einen Beitrag aus Sicht neukeyne-sianischer Theorie. Engelbert Stockham-mer (Kingston University London) in-tegrierte postkeynesianische Theorie mit den Spielarten des Kapitalismus. Özlem Onaran (University of Greenwich) argu-mentierte in ihrem Beitrag, dass öffent-liche Ausgaben als Nachfragestimulus der Schlüssel zur Beschäftigungsschaf-

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fung sein können, wenn die Produktivi-tätsentwicklung berücksichtigt wird. Ro-bert Boyer (Institut des Amériques, Pa-ris) plädierte für die Überwindung von traditionellen makroökonomischen An-sätzen hin zu einer Profilierung von spe-zifischen Wachstumsmodellen in Zeit und Raum.

Das Ziel des fünften Panels war es, eine Brücke zwischen Vergleichender und In-ternationaler Politischer Ökonomie zu schlagen. Mark Blyth (Brown University) regte an, anstelle von nationalen Ökono-mien als Analyseeinheit vielmehr von in-tegrierten, wechselseitig abhängigen und sich entwickelnden Wachstumsmodel-len auf regionaler Ebene auszugehen.

Oddný Helgadóttir (Brown University) hinterfragte die Schwächen dominanter makroökonomischer Theorien und Kon-zepte im Lichte der ökonomischen Rea-litäten seit der Weltwirtschaftskrise und plädierte dafür, Heterogenität, Endoge-nität und Nichtlinearität in diesen Theo-rien zusammenzuführen. Thomas Sattler (Universität Genf) zeigte auf, dass sich die Kapazität einzelner Länder für das Verfolgen konsumgeleiteter Wachstums-modelle mit anhaltenden Leistungsbi-lanzdefiziten aufgrund ihrer variieren-den Kreditwürdigkeit substanziell von-einander unterscheidet.

Die Konferenz schloss mit einer inten-siven Diskussion über die Frage ab, wie

die Wachstumsmodellagenda in Anbe-tracht der theoretischen Vielfalt fortzu-entwickeln ist. Die Zusammensetzung und Rolle von Sozialen Blöcken für na-tionale Wachstumsmodelle und ihre Auswirkungen auf die Formulierung von (makroökonomischen) Policypro-grammen standen dabei im Mittelpunkt. Die Beiträge dieser Konferenz wur-den von Wolfgang Streeck, Fritz Scharpf, Alexander Spielau (alle MPIfG), Paul Marx (University of Southern Denmark, Odense) und Till van Treeck (Universität Duisburg-Essen) korreferiert.

Alexander Spielau

contested futures and Temporalities of capitalism:Theories and Ethnographies of ExpectationsAuftakt-Workshop der Max Planck Partner Group for the Sociology of Economic Life15. und 16. Februar 2018

Ein zweitägiger Workshop gab im Fe-bruar den offiziellen Startschuss für die Arbeit der neuen Max-Planck-Partner-gruppe für die Soziologie des Wirt-schaftslebens in Warschau. Zum Auftakt diskutierten rund 20 Nachwuchswissen-schaftlerinnen und Nachwuchswissen-schaftler aus Soziologie und Anthropolo-gie in der Pol nischen Akademie der Wis-senschaften über die Rolle von Erwar-tungen in kapitalistischen Gesellschaften.

Ausgangspunkt des Workshops war Jens Beckerts programmatischer Vorschlag, fiktionale Erwartungen und Zukunfts-vorstellungen ins Zentrum wirtschafts-soziologischer Untersuchungen zu stel-len. Dem folgend fragten die Teilnehme-rinnen und Teilnehmer, inwieweit ima-

ginierte Zukünfte auch im Kontext ihres eigenen Forschungsprojekts von Bedeu-tung sind. Insgesamt zielte der Work-shop darauf ab, die temporale Struk-tur des Kapitalismus anhand ethnografi-scher Fallbeispiele nachzuzeichnen.

Im ersten Beitrag diskutierte Dennis Mwaura (MPIfG) die Praxis des Social Freezing aus einer intersektionalen Per-spektive. Er zeigte, dass mit dem Wan-del vom kritischen zum neoliberalen Feminismus das Einfrieren von Eizel-

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len als legitime Lösung für potenzielle Work-Life-Konflikte entdeckt wurde. Am Beispiel zweier Online-Plattformen referierte Mikołaj Lewicki (Universität Warschau) über die Zeitlichkeit von Wa-ren und erörterte, wie aus anfänglichen Abfallprodukten wieder Wert geschaffen wird. Mateusz Halawa (Polnische Aka-demie der Wissenschaften) argumen-tierte, dass die Verbreitung des Schwei-zer Franken auf dem polnischen Hypo-thekenmarkt eng mit dem Versprechen eines besseren Lebens verbunden sei.

Einblicke in Lateinamerikas größten Tex-tilmarkt La Salada gab Matías Dewey (MPIfG). Auf Grundlage seiner ethnogra-fischen Erkundung beschrieb er, wie auf dem argentinischen Schwarzmarkt Hoff-nungen fabriziert und unternehmerische Aspirationen geweckt werden. Auf Basis ihrer Beobachtung von Praktiken bei der Erstellung von Wettervorhersagen ent-wickelte Phaedra Daipha (Allstate Insur-ance Company) eine Systematik unter-schiedlicher Zeitregime und damit kor-respondierender Entscheidungskriterien. Marta Olcoń-Kubicka (Polnische Akade-mie der Wissenschaften) erläuterte, wie Paare aus der Warschauer Mittelschicht im gemeinsamen Haushalt über Geld ver-handeln und welchen Gerechtigkeitsvor-stellungen sie dabei folgen.

Im öffentlichen Abendvortrag widmete sich Jens Beckert (MPIfG) zentralen Ver-sprechungen des Neoliberalismus und argumentierte, dass der Glaube an die automatische Überlegenheit des Marktes vor dem Hintergrund sich zuspitzender ökonomischer, politischer und ökologi-scher Krisen allmählich verblasse. Ob-wohl der Neoliberalismus als dominante Leitidee zunehmend an Legitimität ein-gebüßt habe, sei derzeit noch keine über-zeugende Alternative erkennbar.

Den zweiten Tag eröffnete Marcin Sera-fin (Polnische Akademie der Wissen-schaften) mit der Frage nach den Ursa-chen erfolgreicher Zukunftsnarrative. Am Beispiel des Warschauer Taximark-tes legte er dar, dass die Überzeugungs-kraft von Erwartungen auf einer macht-

vollen Sprecherposition und spezifi-schen Erzählkonstruktion basiert. Daniel Fridman (University of Texas, Austin) skizzierte in seinem Vortrag, wie in der Ratgeberliteratur und in Selbsthilfegrup-pen der Traum von finanzieller Frei-heit propagiert wird und so zur Formie-rung unternehmerischer Subjekte bei-trägt. Hadas Weiss (MPI für ethnologi-sche Forschung) hingegen folgerte für den deutschen Fall, dass Verbraucherin-nen und Verbraucher in Seminaren zur finanziellen Allgemeinbildung eher zur schwäbischen Hausfrau als zum Homo oeconomicus erzogen werden.

Felipe González (Zentraluniversität Chile) kritisierte in seinem Beitrag bisherige Er-klärungsversuche zur Finanzialisierung des Konsums und schlussfolgerte, dass sich die steigenden Konsumschulden in Chile aus einer Differenz zwischen tat-sächlichem und angestrebtem Einkom-men ergäben. Welche Rolle fiktionale Erwartungen für institutionelle Dyna-miken spielen, führte Krzysztof Niedział-kowski (Polnische Akademie der Wissen-schaften) am Beispiel der Auswilderung

von Wisenten in Polen aus. Im Streit um die richtige Strategie im Umgang mit der vom Aussterben bedrohten Spezies wür-den Akteure jeweils unterschiedliche Vi-sionen der Zukunft mobilisieren. Indem sie auf theorieimmanente Verzerrungen in der Soziologie der Ungewissheit und des Nichtwissens aufmerksam mach-ten, warfen Adriana Mica und Mikołaj Pawlak (beide Universität Warschau) zu-letzt noch kritische Fragen zur Episte-mologie des Forschungsfeldes auf.

Anhand verschiedenster Wirtschafts-bereiche und Länder unterstrich der Workshop die gesellschaftliche Bedeu-tung von Zukunftsvorstellungen und Erwartungen. Die abschließende Dis-kussion verdeutlichte zudem, dass zwi-schen den empirischen Einzelbeiträgen interessante Verbindungslinien beste-hen. Hierfür gilt es nun, weitere theoreti-sche Grundlagen zu erarbeiten – ein kla-rer Auftrag also für die zukünftige For-schung am MPIfG und in der neuen Partnergruppe.

Daniel Meyer

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Max-Planck-Partnergruppe für die Soziologie des WirtschaftslebensGemeinsam mit dem Institut für Philosophie und Soziologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften (IFiS PAN) in Warschau gründete das MPIfG 2017 eine internationale Part-nergruppe unter der Leitung von MPIfG-Alumnus Marcin Serafin. Die Max Planck Partner Group for the Sociology of Eco-nomic Life erforscht die soziale und institutionelle Einbettung wirtschaftlichen Handelns. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Weiterentwicklung des Konzepts der „fiktionalen Erwartungen“, ein anderer auf dem Thema Digitale Ökonomie. Mit Partnergruppen fördert die Max-Planck-Gesell-schaft Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler, die an Max-Planck-Instituten geforscht haben und in ihr Herkunftsland zurückkehren.

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heraus aus dem Krisenmodus?Tagung des Projektverbunds zur „Europäischen Wirtschafts- und Sozialintegration“11. und 12. Januar 2018

Wie hat die Eurokrise die Europäische Union verändert? Stockt der Motor der europäischen Integration? Welche Wege kann die EU gehen, um der Wirtschafts-integration eine soziale Integration an die Seite zu stellen? Diese und weitere Fragen diskutierten die Teilnehmerin-nen und Teilnehmer der Tagung des Pro-jektverbunds zur „Europäischen Wirt-schafts- und Sozialintegration“ im Januar 2018 am MPIfG.

Bei dem Projektverbund handelt es sich um eine Kooperation von Forschungs-projekten, die sich aus der Perspekti-ve der Vergleichenden Politischen Öko-nomie mit Problemen der europäischen Integration befassen. Die Teilnehmerin-nen und Teilnehmer des Verbunds tref-fen sich jährlich, um aktuelle Befunde in einem frühen Stadium zu diskutieren und sich gegenseitig in forschungsprak-tischen Fragen zu beraten. Derzeit sind Projekte der Universität Bremen, der Freien Universität Berlin, der Universität Tübingen, des Düsseldorfer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung sowie des MPIfG in dem Verbund vertreten.

Mehrere Vorträge behandelten makro-ökonomische Ungleichgewichte in his-torischer Perspektive. So verglich Fabian Lindner (Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Düsseldorf) die in weiten Teilen Europas ausgeübte Austeritätspolitik mit der Wirtschaftspo-litik, die in der Spätphase der Weimarer Republik zur Anwendung kam. Lindners besonderes Interesse galt dabei den wirt-schaftspolitischen Konzepten der dama-ligen Arbeiterparteien und der Gewerk-schaften. Martin Höpner (MPIfG) ver-glich die realen Wechselkursverzerrun-gen der heutigen Eurozone mit jenen im Bretton-Woods-Regime, das nach

dem Zweiten Weltkrieg errichtet wur-de und das im Jahr 1973 zerbrach. Unter Bretton Woods, so Höpner, entwickel-te sich Deutschland zu einem Unterbe-wertungsregime, das seine Inflationsra-ten hinter denen seiner Nachbarn zu-rückhielt, gleichzeitig aber korrigieren-de Wechselkursanpassungen minimierte und verzögerte.

Daniel Seikel (Wirtschafts- und Sozial-wissenschaftliches Institut, Düsseldorf) analysierte die Veränderungen der Go-vernance der Eurozone seit Beginn der Eurokrise. Er zeigte auf, dass sich der Trend zu mehr technokratischer Über-wachung wirtschafts- und sozialpoli-tischer Entscheidungen mit der Ab-schwächung der Eurokrise nicht um-kehrte. Die Überwachungsverfahren wurden vielmehr auf Dauer gestellt. In dieser Hinsicht befindet sich die Euro-zone daher, trotz deutlich verbesserter Wachstumsraten, weiterhin im Krisen-modus.

Ein anderer Schwerpunkt der Tagung lag auf dem Zusammenwirken der europäi-schen und nationalen Rechtsprechung. Susanne K. Schmidt (Universität Bre-men) legte dar, wie stark die Ausgestal-tung der europäischen Arbeitnehmer-freizügigkeit durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) geprägt wurde. Sie skizzierte vor diesem Hintergrund den Konflikt um den An-spruch von EU-Bürgern auf das deut-sche Arbeitslosengeld II und die Sozial-hilfe. Hierüber hatte das Bundessozialge-richt ein Urteil gefällt, das die Ansprüche von EU-Bürgern im Anschluss an die EuGH-Rechtsprechung deutlich auswei-tete, aber gleichzeitig erhebliche Wider-stände aufseiten der Regierung und auf-seiten untergeordneter Gerichte hervor-rief.

Auch der Vortrag von Benjamin Werner (Universität Bremen) hatte das im Ent-stehen begriffene europäische Freizü-gigkeitsregime zum Thema. Er erör-terte, dass die stark von Gerichtsent-scheidungen geprägte Ordnung der Arbeit nehmerfreizügigkeit nationalen Ausgestaltungen deutliche Spielräume lässt und dass die Einzelheiten der Ge-währung von Lohnersatzleistungen und Sozialhilfe stark von den jeweiligen so-zialstaatlichen Traditionen abhängen. Andreas Hofmann (Freie Universität Ber-lin) lenkte den Blick von den Gerichten auf die Kläger und analysierte die Be-weggründe, Klagen vor dem EuGH an-zustrengen. Er kam zu dem Ergebnis, dass ein bemerkenswerter Anteil von Klagen „ideologische“ Ziele verfolgt. Das ist der Fall, wenn Kläger bestimmte Er-gebnisse erreichen möchten, ohne an diesen ein direktes materielles Eigenin-teresse zu haben.

Die nächste Tagung des Projektverbunds ist für den 24. und 25. Januar 2019 an der Universität Bremen geplant.

Martin Höpner

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The Dynamics of capitalism: Inquiries to Marx on the Occasion of his 200th Birthday

Konferenz mit dem Hamburger Institut für Sozialforschung3. bis 5. Mai 2018

Was hat die Marx’sche Theorie uns heute noch zu sagen? Anlässlich des zweihundertsten Geburtstags von Karl Marx organisierte das MPIfG gemein-sam mit dem Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) eine dreitägige Konferenz in Hamburg. Hier wurden die zentralen Aspekte der marxistischen politischen Ökonomie anhand von verschiedenen kapitalistischen Leitbil-dern wie Geld, Arbeit, Profit, Wert, Markt, Gewalt, Technologie, Eigentum und Klasse diskutiert. Im Zentrum aller Beiträge stand die Frage, inwiefern die Lehre von Marx für heutige Wirtschaftsordnungen noch von Bedeutung ist und was sie zur Erforschung der kapitalistischen Moderne beitragen kann.

Die zehn Konferenzbeiträge sind als Video-Podcasts verfügbar, darunter die Vorträge von Thomas Piketty, Wolfgang Streeck, Axel Honneth und Friedrich Lengner sowie die Präsentationen von Jens Beckert, Kean Birch, Marion Fourcade, Greta Krippner, Dave Elder-Vass und Aaron Sahr. Alle Vorträge sind in englischer Sprache.

Themen unter anderem:

Thomas PikettyRising Inequality and the Changing Structure of Political Conflict

Wolfgang StreeckDriving Forces: Social Theory as a Theory of History

Jens BeckertValue with and without Marx

Axel Honneth„Capitalism“: Economy, Society or a Form of Life? Greatness and Limits of Marx’ Theory of Society

Marion FourcadeThe Rise of the Artificially Intelligent Classes

Video-Podcasts unter: www.mpifg.de/projects/marx200/livestreams.asp

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Destabilizing Orders – Understanding the consequences of NeoliberalismMaxPo’s Fifth-Anniversary International Conference12. bis 13. Januar 2018

Das Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societ-ies (MaxPo) feierte im Januar 2018 sein fünfjähriges Bestehen mit einer internationalen Konferenz in Paris. In fünf Panels präsentierten Soziologen und Politikwissenschaftler ihre aktuellen Forschungsarbeiten rund um die Themen Instabilität und Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften. Das Themenspektrum spiegelte die Forschungsfragen und methodologischen Ansätze des MaxPo, dessen Projekte die Auswirkungen zunehmender Libera-lisierung, technischen Fortschritts und kultureller Veränderungen auf die Stabilität westlicher Industriegesellschaften untersuchen. In der abschließen-den Podiumsdiskussion unter der Leitfrage „Social Science at the Crossroads“ standen zukünftige Herausforderungen und Aufgaben der Sozialwissen-schaften im Fokus. Gastgeber der Konferenz waren die Direktorin und der Direktor des MaxPo Jenny Andersson und Olivier Godechot sowie die MPIfG-Direktoren Jens Beckert und Lucio Baccaro.

Die Ergebnisse der Konferenz sind gebündelt im MaxPo Discussion Paper 18/1, mit Essays von Mark Blyth, Lucas Chancel, William Davies, Marion Fourcade, Dorit Geva, Olivier Godechot, Adam Goldstein, Jacob S. Hacker, Colin Hay, Donald MacKenzie, Gerassimos Moschonas, Stephanie L. Mudge, Paul Pierson, Dylan Riley, Marie-Laure Salles-Djelic, Armin Schäfer, Stefan Svallfors, Wolfgang Streeck und Cornelia Woll.

Themen unter anderem:

Donald MacKenzieThe Mundane Political Economy of Finance

Colin HayBrexit and the (Multiple) Paradoxes of Neoliberalism

Jacob S. Hacker and Paul PiersonAmerica’s Peculiar Mix of Plutocracy and Populism

Armin SchäferThe Poor Representation of the Poor

Stephanie L. MudgeCan Progressive Experts Make Progressives?

Cornelia WollOn the Role of the Social Sciences: What Crisis Are We Facing?

Andersson, J. und O. Godechot (Hg.):Destabilizing Orders – Understanding the Consequences of Neoliberalism: Proceedings of the MaxPo Fifth-Anniversary Conference. Paris, January 12–13, 2018. MaxPo Discussion Paper 18/1. Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies, Paris 2018.

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Analyzing Transnationalism from a field PerspectiveWorkshop des wissenschaftlichen Netzwerks „Politische Soziologie transnationaler Felder“20. bis 22. Juni 2018

Politische und soziale Dynamiken wer-den zunehmend von Transnationalisie-rungsprozessen geprägt. So werden bei-spielsweise wirtschaftliche oder politi-sche Interessen und Handlungsoptio-nen nicht mehr ausschließlich national, sondern grenzüberschreitend, im Zu-sammenspiel verschiedener Ebenen und Akteure definiert. Der dritte Workshop des DFG-Netzwerks „Politische Sozio-logie transnationaler Felder“, der im Ju-ni 2018 am MPIfG stattfand, adressierte das Phänomen Transnationalismus so-wie die verbundenen Probleme und Ri-siken aus einer feldtheoretischen Per-spektive. Organisiert wurde der dreitägi-ge Workshop von Lisa Suckert (MPIfG), Christian Schmidt-Wellenburg (Univer-sität Potsdam) und Stefan Bernard (In-stitut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-schung, Nürnberg).

Richard Münch (Universität Bamberg) illustrierte am ersten Konferenztag den Wandel der Schule von einer pädagogi-schen zu einer ökonomischen Institu-tion – ein Prozess, der mit stärkerer Kontrolle und Standardisierung einher-geht und von einer transnationalen Bera-tungsindustrie befördert wird. Christian Schmidt-Wellenburg (Universität Pots-dam) zeichnete in seinem Vortrag die Genese akademischer Märkte mittels in-ternationaler Rankings nach. Sigrid Har-tong (Universität der Bundeswehr Ham-burg) ergänzte die Diskussion mit einer Untersuchung der nationalen und trans-nationalen Standardisierung des Bil-dungssektors durch die Anwendung ei-ner kritischen Policy-Network-Analyse am Fallbeispiel der USA.

An nächsten Tag wurden feldtheoreti-sche Konzepte im Hinblick auf die trans-nationale Ebene weiterentwickelt. Laris-sa Buchholz (Northwestern University) präsentierte am Beispiel des wachsen-

den Markts für zeitgenössische chinesi-sche Kunst die interdependente Struktur von nationalen, regionalen und globalen Feldern. Daniel Witte (Käte Hamburger Kolleg „Recht als Kultur“, Bonn) und An-dreas Schmitz (Universität Bonn) erwei-terten Bourdieus nationalstaatszentrierte Feldanalyse um Luhmanns Perspektive der Weltgesellschaft. Sören Carlson (Eu-ropa-Universität Flensburg) diskutierte das Konzept eines transnationalen Ha-bitus kritisch und untermauerte seinen Ansatz mit Interviewauszügen.

Didier Bigo (King’s College London und Sciences Po Paris) legte sein Konzept des transnationalen Feldes der Macht, seiner Dynamik und Dispositionen, dar. Am Beispiel der Kooperation verschiedener Geheimdienste erörterte er, wie transna-tionale Machtfelder entstehen, die nicht

mehr an (national-)staatliche Kontrollen gebunden sind. Jens Maeße (Universität Gießen) präsentierte eine Analyse inter-nationaler Diskursstrategien im Kontext der griechischen Staatsschuldenkrise und belegte so die zunehmende Hetero-genität ökonomischer Narrative.

Den dritten Konferenztag eröffnete Karim Fertikh (SAGE Université de Strasbourg) mit einer detaillierten Analyse der Anfänge und Entwicklun-

gen europäi scher Sozialgesetzgebung und der aus der Verbindung nationaler und internatio naler Interessen resultie-renden Konflikte. Lisa Suckert (MPIfG) zeigte anhand einer quantitativen Inhalt-sanalyse nationaler Reformprogramme vor und nach der Finanzkrise, auf welch ähnliche Weise sich ökonomische Zukunftsnarra tive einzelner EU-Staaten veränderten. Didier Georgakakis (Uni-versité Paris I – Panthéon-Sorbonne) be-schrieb die zunehmende Orientierung europäischer Bürokraten („Eurokraten“) am Idealtyp des Wirtschaftsberaters und die daraus resultierende graduelle Ent-politisierung der EU.

In der Abschlussdiskussion wurden Sys-tem- und Feldtheorie verglichen und die häufig unzureichende Definition des Feldbegriffs und dessen konzeptionelle

Breite ebenso wie einige der Annahmen, die mit Bourdieus Theorie einhergehen, problematisiert. Zudem wurde auf die größtenteils negative Bewertung von Wandel hinge wiesen, die die meisten Konferenzbeiträge kennzeichnete, und die Frage aufgeworfen, ob im 21. Jahr-hundert nicht jedes zu analysierende Feld zu einem gewissen Grad transnatio-nal sei.

Laura Einhorn und Laura Gerken

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Wie ich ans MPIfG gekommen bin? Weil Ingeborg Tömmel, bei der ich European Studies studiert habe und die meine Ab-schlussarbeit betreut hat, mich anrief und mir sagte, ich solle nach Köln fahren, um mich dort vorzustellen. Dann ging alles schnell, und noch bevor mein Studium in Osnabrück ganz abgeschlossen war, begann die Arbeit in der Projektgrup-pe „Neues Regieren und Soziales Euro-pa? Zu Theorie und Praxis von Mindest-harmonisierung und Soft Law im euro-päischen Mehrebenensystem“. Unter der Leitung von Gerda Falkner und gemein-sam mit Simone Leiber und Oliver Treib habe ich die Implementation von sechs arbeitsrechtlichen EU-Richtlinien in den damals 15 Mitgliedstaaten untersucht und dabei gelernt, durch den systemati-schen Vergleich von Ländern und Richt-linien wissenschaftliche Erkenntnis zu sichern – ein Ansatz, der bis heute meine Arbeit prägt.

Im Jahr 2003 promovierte ich dann über die Implementation europäischer So-zialpolitik in den südeuropäischen und frankophonen Mitgliedsländern und die „Kontrolle der nationalen Rechtsdurch-setzung durch die Europäische Kom-mission“. Wichtiger als meine eigene Promotion war der Beitrag des Gesamt-

projekts zur aufkommenden Debatte um die Rückwirkungen der Europäischen Integration auf die Nationalstaaten, den wir in dem gemeinsam verfassten Buch „Complying with Europe: EU Minimum Harmonisation and Soft Law in the Member States“ (2005 CUP) bündelten.

Über die prägende Gruppenarbeit hin-aus erinnere ich mich, außer an die un-glaublichen Ressourcen und die außer-gewöhnliche Serviceorientierung des MPIfG (nie wieder so eine Verwaltung, so eine Bibliothek, so eine EDV, so ei-ne gute Seele), vor allen Dingen an zwei „weiche“ Institutionen: das Doktoran-denkolloquium, zu dem wir (damals et-wa zwölf) Doktoranden uns montags im Erdgeschoss versammelten und aus dem wir nach gnadenlosen Fragen und kriti-schen Diskussionen – rechts Wolfgang Streeck, links Fritz Scharpf, die immer die ersten Fragen stellten – analytisch und inhaltlich so bereichert herausgin-gen, dass ich auch großen internationa-len Konferenzen mit relativer Gelassen-heit entgegenblicken konnte. Und an die tägliche Espressorunde, zu der sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ver-sammelten und in der ich erfuhr, wer ge-rade zu welchem Thema arbeitete oder grübelte (eine Art tacit knowledge, um

Fragen zu adressieren) und dass Karrie-rewege immer nur von außen glatt aus-sehen.

Was ich vom MPIfG mitgenommen ha-be? Ein Wissenschaftsverständnis, bei dem sich Forschungsfragen nicht ein-fach aus einer Lücke in der Literatur er-geben, sondern vor dem Hintergrund (aktueller) gesellschaftlicher Problemla-gen relevant sein sollen, ein Ringen um Europäische Integration als Spannungs-verhältnis einer großartigen Idee und ih-ren demokratietheoretisch und sozialpo-litisch immensen Herausforderungen und viele Freunde, die bis heute wichtig sind: Armin Schäfer und Simone Leiber, die immer wissen, warum Politikwis-senschaft notwendig ist; Martin Höpner und Susanne Schmidt, die den Kern ei-ner kleinen Gruppe bilden, die sich jähr-lich trifft, um gemeinsam mit unseren Doktoranden die Wirtschafts- und So-zialintegration Europas besser zu verste-hen; Arne Baumann, Anke Hassel, Stef-

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Was macht eigentlich …Miriam hartlapp

Professorin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin mit dem Schwerpunkt Deutschland und Frankreich im Vergleich

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am MPIfG von 2000 bis 2003

Freunde und Ehemalige GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18

Karrierewege sehen immer nur von außen glatt aus.

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Freunde und Ehemalige

fen Ganghof und Henrik Enderlein, die ebenfalls in Berlin gelandet sind und hier mit Rat und Tat zur Seite stehen, sowie das Wichtigste: meinen Mann, Rainer Zugehör.

Nach der Promotion entsandte mich das MPIfG mit einem Brückenstipen-dium der Volkswagenstiftung für ein Jahr zur ILO (International Labour Or-ganization) nach Genf. Mir war in der Dissertation aufgefallen, dass die EU keine Kompetenzen hatte, (ineffizien-te) nationale Verwaltungen zu regulie-ren – Minimumharmonisierung in EU-Mitgliedstaaten erfolgte über den Um-weg einer internationalen Arbeitsnorm (C81). Die eigentliche Motivation war aber die Praxis: Nachdem ich drei Jahre „nur“ Papier vollgeschrieben hatte, woll-te ich „richtig“ arbeiten. Es war toll (das MPIfG-Netzwerk reichte bis dort, Lucio Baccaro war damals Direktor des Inter-national Institute for Labour Studies bei der ILO), aber am Ende wusste ich: Ich wollte zurück in die Wissenschaft und Professorin werden. Ich hatte gelernt, wie wertvoll es ist, selbst eine Fragestel-lung wählen zu können, eigenständig zu entscheiden, wie tief diese zu bearbeiten und wann sie (so gut als möglich) beant-wortet ist – eine notwendige Bedingung für intrinsische Motivation.

Der Wechsel zwischen Wissenschaft und Praxis ist in Deutschland noch im-mer unüblich. Trotzdem hatte ich Glück und erhielt eine Postdoc-Stelle am Wis-senschaftszentrum Berlin für Sozialfor-schung (WZB). Ich arbeitete zunächst in der Abteilung von Günther Schmid, um zu untersuchen, warum Länder unter-schiedlich erfolgreich in der Beschäfti-gung älterer Arbeitnehmer sind, und an-schließend als unabhängige Nachwuchs-gruppenleiterin. In der Projektgruppe am MPIfG hatte ich von Gerda Falkner gelernt, wie man empirisch anspruchs-volle Forschungsdesigns entwickelt und umsetzt – das konnte ich nun gut ge-brauchen. Ausgangspunkt war ein echtes „Problem“: Warum war der Vorschlag für die Bolkestein-Richtlinie zur Dienst-

leistungsfreiheit so marktliberal gewe-sen? Gab es innerhalb der Kommission keine anderen Positionen oder konn-ten sich die Ressorts für Sozial- und Be-schäftigungspolitik nicht gegen den Bin-nenmarktkommissar durchsetzen? Sechs Jahre forschte ich zu Macht und Konflikt in der EU-Kommission. Ein Schumpe-ter-Fellowship der VW-Stiftung ermög-lichte dabei – ganz unüblich für diese Karrierephase in Deutschland – größt-mögliche Eigenständigkeit, aber auch viel Verantwortung in Management und Personalführung, und eine mittelfristi-ge Beschäftigungsperspektive. Diese er-leichterte die Familiengründung unge-mein – wir bekamen drei Töchter – und erlaubte mir, mit mehr Ruhe Erfahrun-gen und Publikationen zu sammeln; bei-des war von großem Wert in der dann folgenden Bewerbungsphase.

2013 erhielt ich einen Ruf auf eine W2-Professur für Organisations- und Governanceforschung an die Universität Bremen (wo ich viele ehemalige MPIfG-Kolleginnen und Kollegen wiedertraf: Philip Manow, Philipp Genschel und Susanne Schmidt hatten Professuren in Bremen und auch viele ihrer Mitarbei-ter, wie Holger Döring oder Julia Sievers, kannte ich über das MPIfG). Schon 2014 wechselte ich auf eine W2-Professur für Mehrebenengovernance nach Leipzig.

Und eben weil Lebensläufe nur von au-ßen glatt aussehen, gehört zu diesem ra-schen Wechsel gesagt, dass Pendeln mit drei kleinen Kindern eine Herausforde-rung ist: Leipzig war von Berlin in 60 Minuten mit dem ICE zu erreichen. Seit 2017 bin ich Professorin für Vergleichen-de Politikwissenschaft mit dem Schwer-punkt Deutschland und Frankreich an der Freien Universität Berlin. Als Verant-wortliche für drei Doppeldiplomstudien-gänge – ein MA mit der École des Hau-tes Études Commerciales (HEC) Paris sowie ein BA und ein MA mit Sciences Po Paris (wo sich Fragen in Studienange-legenheiten leicht mit der Vizepräsiden-tin Cornelia Woll, einer guten Bekannten aus der Kölner Doktorandenzeit, klären ließen) – gibt es viel Arbeit, aber bemer-kenswert kluge und fleißige Studierende. Und: Ich glaube, es gibt keinen spannen-deren Zeitpunkt, um eine Stelle mit die-sem Profil zu übernehmen. Deutschland und Frankreich stehen angesichts von Polarisierung und Populismus vor ähn-lichen Herausforderungen: Welche Poli-tics-, Polity- und Policy-Antworten fin-den sie, und gelingt es, diese mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen vom Was und Wie der Europäischen Integra-tion zu verbinden?

Mehr zur Personhttps://tinyurl.com/Miriam-Hartlapp

Page 36: Aktuelle Themen und Nachrichten · 1 2018 Aktuelle Themen und Nachrichten. 2 Impressum GESEllSchAfTSForSchuNg 1.18 Impressum Mit dem Forschungsmagazin Gesellschaftsforschung informiert

Vorschau 2018/2019

Öffentliche Vorträge im Wintersemester 2018/2019Katja Langenbucher, Goethe-Universität Frankfurt (7. November 2018 | 17 Uhr) | Cathie Jo Martin, Boston University (4. Dezember 2018 | 17 Uhr) | Mark Roodhouse, University of York (23. Januar 2019 | 17 Uhr) | Bruno Amable, Universität Paris-Sorbonne (tbd)

15. und 16. November 2018Institutstag des MPIfGInstabile Ordnungen: Destabilisierung und Unsicherheit in Politik und Gesellschaft

MPIfG Lectures zum NachhörenÖffentliche Vorträge und weitere Veranstaltungen des MPIfG als Audio-Podcastswww.mpifg.de/aktuelles/Veranstaltungen/podcasts_de.asp

Aktuelle Veranstaltungen am MPIfGwww.mpifg.de/aktuelles/veranstaltungen_de.asp

Podiumsdiskussionen am Max-Planck-TagAm 14. September 2018 findet das deutschlandweite Wissenschaftsfestival der Max-Planck-Gesellschaft statt. In einer großen, gemeinsamen Aktion werden Max-Planck-Institute ihre Forschung präsentieren.

Die vier Kölner Max-Planck-Institute und die Stadtbibliothek Köln laden wissenschaftsinteressierte Bürge-rinnen und Bürger zu einer Abendveranstaltung in die Zentralbibliothek am Kölner Neumarkt ein. In der Reihe „wissenswert – Gespräche am Puls der Zeit“ diskutieren Max-Planck-Forscherinnen und -Forscher mit Gästen aus Wissenschaft und Praxis zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen. Dabei stehen Fra-gen rund um die Gestaltung eines sozialen Europa sowie naturwissenschaftliche, ethische und rechtliche Perspektiven der Gentechnikmethode CRISPR/Cas9 im Zentrum. Diskutieren Sie mit uns und gewinnen Sie einen Einblick in die grundlagenorientierte Forschungsarbeit unserer Institute.

Alle Veranstaltungen des Wissenschaftsfestivals finden Sie hier: www.wonachsuchstdu.de