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Analysis I (2012-13) Frank M¨ uller 7. Februar 2013

Analysis I (2012-13)

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Analysis I (2012-13)

Frank Muller

7. Februar 2013

Dieses Skript umfasst den Stoff der Vorlesung Analysis I gehalten imWintersemester 2012/13. Die kleingedruckten Passagen enthalten zusatzliche

Informationen (den Stoff der in fruheren Semestern angebotenen Erganzungen).Die Vorlesung wird im Sommersemester 2013 fortgesetzt.

Inhaltsverzeichnis

1 Zahlen, Folgen, Reihen 11 Zahlen und Korper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Vollstandige Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Die Definition der reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Folgen und Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Vollstandigkeit reeller Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Punktmengen in R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Die komplexen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 Konvergenzkriterien fur Reihen (in C) . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6310 Der d-dimensionale Raum und metrische Raume . . . . . . . . . . . 67

2 Funktionen und Stetigkeit 811 Beispiele und Grenzwerte von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . 812 Der Stetigkeitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883 Kompakta und gleichmaßige Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 924 Funktionenfolgen und gleichmaßige Konvergenz . . . . . . . . . . . . 94

3 Differential- und Integralrechnung 991 Differenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 992 Lokale Extrema, Mittelwertsatz, Konvexitat . . . . . . . . . . . . . . 1063 Die elementaren Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Kapitel 1

Zahlen, Folgen, Reihen

1 Zahlen und Korper

Grundlegend fur alle Mathematik sind selbstverstandlich die Zahlen. Und nach demdeutschen Mathematiker Leopold Kronecker sind die

”einzig gottlichen Zahlen“ die

naturlichen ZahlenN := 1, 2, 3, . . .

oder zusammen mit dem Nullelement 0:

N0 := N ∪ 0 = 0, 1, 2, 3, . . ..

Nehmen wir noch die negativen Zahlen hinzu, so erhalten wir die ganzen Zahlen:

Z := x : x ∈ N0 oder − x ∈ N = 0,±1,±2,±3, . . ..

(Hier sehen Sie ubrigens die drei typischen Schreibweisen von Mengen: die aufzahlen-de Schreibweise, die Definition als Vereinigung, Durchschnitt, Differenz, ... von an-deren Mengen und die Definition durch Angabe der Eigenschaften ihrer Elemente.)

Je zwei Zahlen a, b ∈ Z lassen sich verknupfen durch Addition a + b ∈ Z undMultiplikation a · b = ab ∈ Z, wie wir sie aus der Schule kennen. Bezuglich derAddition von ganzen Zahlen haben wir folgende Rechenregeln, die wir als gegebenannehmen wollen:

Axiome der Addition.

(A1) Kommutativitat: Fur alle a, b ∈ Z gilt a+ b = b+ a.

(A2) Assoziativitat: Fur alle a, b, c ∈ Z gilt (a+ b) + c = a+ (b+ c).

(A3) Existenz des Nullelements 0: Es existiert ein neutrales Element 0 ∈ Z, d.h. furalle a ∈ Z gilt a+ 0 = a.

(A4) Existenz des Negativen: Fur alle a ∈ Z existiert ein −a ∈ Z, so dass a+(−a) =0 richtig ist.

1

2 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Die Existenz des Negativen (A4) zeichnet die ganzen Zahlen gegenuber N0 aus.Zusatzlich haben wir das folgende

Distributivgesetz.

(D) Fur alle a, b, c ∈ Z gilt a · (b+ c) = a · b+ a · c.

Bemerkung: Man kann die naturlichen Zahlen mittels der Peanoschen Axiome zu-sammen mit der Addition und Multiplikation induktiv erklaren und anschließenddurch die Losung der Gleichungen n+x = 0 fur n ∈ N formal auf die ganzen Zahlenerweitern; siehe z.B. Rannachers Skript, Abschnitt 1.2.

Innerhalb der ganzen Zahlen konnen i.A. keine Gleichungen der Form

q · x = p fur gegebene p ∈ Z, q ∈ N (1.1)

gelost werden. Hierzu erweitern wir Z auf die Menge der rationalen Zahlen

Q :=x =

p

q: p ∈ Z, q ∈ N

,

wobei x = pq fur die (eindeutige) Losung der Gleichung (1.1) steht. Wir verzichten

auf die formal exakte Definition uber Aquivalenzklassen und verweisen wieder aufRannachers Skript, Abschnitt 1.2. (Mit x = p

q lost auch apaq fur jedes a ∈ N die Glei-

chung (1.1); diese”ungekurzten“ Bruche mussten identifiziert werden.) Die Arbeit

mit Aquivalenzklassen werden wir spater bei der Konstruktion der reellen Zahlenuben. Man beachte noch, dass sich fur q = 1 die Losung von (1.1) zu x = p ∈ Zergibt, d.h. wir haben Z ⊂ Q.

Wir zeigen unten in Satz 1.1, dass in Q zusatzlich zu den Gesetzen (A1)–(A4)und (D) (nun naturlich fur a, b, c ∈ Q) auch die folgenden Regeln gelten:

Axiome der Multiplikation.

(M1) Kommutativitat: Fur alle a, b ∈ Q gilt a · b = b · a.(M2) Assoziativitat: Fur alle a, b, c ∈ Q gilt (a · b) · c = a · (b · c).(M3) Existenz des Einselements 1: Es existiert ein neutrales Element 1 ∈ Q \ 0,

d.h. fur alle a ∈ Q gilt a · 1 = a.

(M4) Existenz der Inversen: Fur alle a ∈ Q \ 0 existiert ein a−1 ∈ Q, so dassa · a−1 = 1 richtig ist.

Naturlich gelten (M1)–(M3) schon in Z, wesentlich ist also die Existenz derInversen (M4). In obigen Axiomen haben wir ubrigens Addition und Multiplikationwie folgt auf Q fortgesetzt: Fur x1 =

p1q1, x2 =

p2q2

∈ Q setzen wir

x1 + x2 :=p1q2 + p2q1

q1q2∈ Q, x1 · x2 = x1x2 :=

p1p2q1q2

∈ Q. (1.2)

1. ZAHLEN UND KORPER 3

Dies scheint Ihnen naturlich aus der Schule vollig klar (Regeln der Bruchrechnung),ergibt sich aber erst aus der Definition der rationalen Zahlen und den gewunschtenRechenregeln als einzig sinnvolle Wahl!

Definition 1.1: Ein Tripel (K,+, ·) heißt Korper mit der nichtleeren GrundmengeK und den Rechenoperationen +, ·, wenn mit a, b ∈ K auch a+b ∈ K und a·b ∈ K giltund die Korperaxiome (A1)–(A4), (M1)–(M4) und (D) fur beliebige Elemente ausK erfullt sind. Wenn klar ist, welche Rechenoperationen benutzt werden, schreibenwir auch einfach K fur den betrachten Korper.

Bemerkung: In einem Korper konnen wir noch Subtraktion und Division erklaren:

a− b := a+ (−b) ∈ K fur a, b ∈ K,a

b:= a · b−1 ∈ K fur a ∈ K, b ∈ K \ 0.

Wie bereits oben behauptet haben wir den:

Satz 1.1: Die Menge Q der rationalen Zahlen ist (zusammen mit + und ·) einKorper.

Beweis: Fur den Beweis durfen wir die Rechenregeln (A1)–(A4), (M1)–(M3) und (D) nur in Zanwenden, wo wir diese ja als bekannt vorausgesetzt haben; wir schreiben dafur (A1)Z usw.

1. Wir beginnen mit den Axiomen der Addition: (A1) konnen wir direkt nachrechnen: Mitx1 = p1

q1, x2 = p2

q2haben wir wegen (A1)Z, (M1)Z und der Definition (1.2):

x1 + x2 =p1q2 + p2q1

q1q2

(A1)Z,(M1)Z=p2q1 + p1q2

q2q1= x2 + x1.

Ist zusatzlich x3 = p3q3, so finden wir weiter

(x1 + x2) + x3 =p1q2 + p2q1

q1q2+p3q3

=(p1q2 + p2q1)q3 + p3(q1q2)

(q1q2)q3

(D)Z,(M1)Z=((p1q2)q3 + (q1p2)q3) + p3(q2q1)

(q1q2)q3

(A2)Z,(M2)Z=p1(q2q3) + (q1(p2q3) + (p3q2)q1)

q1(q2q3)

(M1)Z,(D)Z=p1(q2q3) + (p2q3 + p3q2)q1

q1(q2q3)

=p1q1

+p2q3 + p3q2

q2q3= x1 + (x2 + x3),

also (A2). Zum Beweis von (A3) und (A4) sei zunachst q ∈ N beliebig. Dann gilt nach (A3)Zund (D)Z:

q · 0 = q · (0 + 0) = q · 0 + q · 0,also q · 0 = 0 nach Subtraktion von q · 0 auf beiden Seiten unter Beachtung von (A2)Z und(A4)Z. Folglich lost x = 0 die Gleichung (1.1) mit p = 0, d.h. wir haben nach der Definitionder rationalen Zahlen:

0 =0

qfur alle q ∈ N.

4 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Sei nun x = pqmit p ∈ Z, q ∈ N beliebig. Dann erhalten wir mit (1.2):

x+ 0 =p

q+

0

1=p · 1 + q · 0

q · 1(M3)Z=

p+ 0

q

(A3)Z=p

q= x,

also (A3). Schließlich folgern wir mit dem Negativen −x := −pq

∈ Q von x noch:

x+ (−x) = p

q+

−pq

=pq + (−p)q

q · q(M1)Z,(D)Z=

(p+ (−p))qq · q

(A4)Z=0

q· qq

(M3)Z=0

q= 0,

d.h. (A4) ist erfullt.

2. Die Axiome der Multiplikation: Die Gesetze (M1) und (M2) folgen in einfacher Weise aus derDefinition (1.2) und den entsprechenden Gesetzen in Z, ganz analog zum Beweis von (A1),(A2) in Teil 1. Wegen 1 = 1

1haben wir fur x = p

q:

x · 1 =p

q· 11=p · 1q · 1

(M3)Z=p

q= x,

also (M3). Das Inverse zu x = pq= 0 (d.h. p = 0) erklaren wir zu

x−1 :=

qp, falls p ∈ N

−q−p, falls − p ∈ N

∈ Q.

Im ersten Fall ist dann offenbar x · x−1 = 1, wenn man noch pp

(M3)Z= 1 fur beliebige p ∈ Nbeachtet. Im zweiten Fall benotigen wir noch die folgende Beobachtung: Fur beliebiges p ∈ Zgilt

p+ (−1) · p (M3)Z,(M1)Z= p · 1 + p · (−1)(D)Z= p · (1 + (−1)) = p · 0 = 0,

also −p = (−1)p. Damit berechnen wir

x · x−1 =p

q· −q−p

(M1)Z=p · ((−1) · q)

(−p) · q(M1)Z,(M2)Z=

(−p) · q(−p) · q = 1,

also (M4).

3. Schließlich beweisen wir das Distributivgesetz (D) in Q: Mit x1 = p1q1, x2 = p2

q2, x3 = p3

q3berechnen wir

x1 · (x2 + x3) =p1q1

· p2q3 + p3q2q2q3

(D)Z=p1(p2q3) + p1(p3q2)

q1(q2q3)

(M3)=

(p1(p2q3) + p1(p3q2))q1(q1(q2q3))q1

(D)Z,(M2)Z=((p1p2)q3)q1 + ((p1p3)q2)q1

((q1q2)q3)q1

(M2)Z,(M1)Z=(p1p2)(q1q3) + (p1p3)(q1q2)

(q1q2)(q1q3)

=p1p2q1q2

+p1p3q1q3

= x1 · x2 + x1 · x3.

Also ist Q ein Korper. q.e.d.

Es stellt sich nun heraus, dass auch der Bereich der rationalen Zahlen i.A. nichtausreicht. Z.B. besitzt die einfache Gleichung

x2 = 2 (1.3)

1. ZAHLEN UND KORPER 5

keine Losung in Q. Ware namlich x = pq eine Losung mit p ∈ Z, q ∈ N teilerfremd,

so musste also (pq )2 = p2

q2= 2 bzw. p2 = 2q2 gelten. Damit ware aber p2 und daher

auch p durch 2 teilbar, d.h. p = 2l mit einem l ∈ Z und folglich

q2 =p2

2= 2l2.

Also ware auch q2 und somit q durch 2 teilbar, im Widerspruch zur Annahme, dassp und q teilerfremd sind.

Bemerkung: Wir haben soeben ein wichtiges Beweisprinzip in der Mathematik be-nutzt, den indirekten Beweis oder Beweis durch Widerspruch: Um unter den Voraus-setzungen (V) eine Aussage (A) zu beweisen, nimmt man an, dass (A) falsch ist undzeigt, dass dann eine der Voraussetzungen (V) oder eine andere, bereits bewieseneAussage (B) nicht erfullt sein kann. Hierbei benutzt man eine der Grundannahmender Mathematik: Eine Aussage (A) ist entweder wahr oder falsch.

Aus der Schule wissen wir, dass x =√2 ein guter Kandidat zur Losung von (1.3)

ist. Nach dem eben Gesagten ist aber√2 keine rationale Zahl. Wir werden spater

Q konstruktiv durch einen Abschlussprozess auf den Bereich der reellen Zahlen Rerweitern. R entspricht dann der gesamten Zahlengeraden.

Um schließlich auch Gleichungen wie

x2 + 1 = 0

losen zu konnen, werden wir R zu den komplexen Zahlen C erweitern; diese kannman sich in der Gaußschen Zahlenebene veranschaulichen. Insgesamt haben wir alsodie Zahlenbereiche

N ⊂ Z ⊂ Q ⊂ R ⊂ C.

Die großten Bereiche Q,R,C haben die Eigenschaft, Korper im Sinne der Definiti-on 1.1 zu sein; fur Q haben wir dies bereits gezeigt, fur R und C wird dies aus derKonstruktion folgen. Hingegen sind N und Z keine Korper; beiden fehlt die Inverse,d.h. (M4) ist verletzt, den naturlichen Zahlen fehlt auch das Negative und sogar dasNullelement 0.

Ein Korper muss nach (A3) und (M3) mindestens zwei Elemente enthalten,namlich das Nullelement 0 und das Einselement 1. Umgekehrt kann man jede zwei-elementige Menge M = x, y durch geeignete Definition der Verknupfungen zueinem Korper machen:

+ x y

x x yy y x

und

· x y

x x xy x y

(1.4)

6 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Hierbei wird x als Nullelement und y als Einselement interpretiert.Wir werden nun einige Folgerungen der Korperaxiome angeben, deren Aussagen

Ihnen zum Teil offensichtlich erscheinen mogen. Allerdings gelten diese Rechenre-geln in beliebigen Korpern, also z.B. auch fur die komplexen Zahlen. Durch dieseVorgehensweise ersparen wir uns spater ermudende Wiederholungen.

Satz 1.2: In einem Korper (K,+, ·) gelten folgende Rechenregeln:

(a) Die Gleichung a + x = b besitzt fur beliebig vorgegebene a, b ∈ K genau eineLosung x ∈ K. Insbesondere sind das Nullelement 0 und das negative Elementeindeutig bestimmt.

(b) Die Gleichung ax = b besitzt fur beliebig vorgegebene a ∈ K \ 0, b ∈ K genaueine Losung x ∈ K. Insbesondere sind das Einselement 1 und das inverseElement eindeutig bestimmt.

(c) Fur alle x ∈ K gilt x · 0 = 0 und (−1) · x = −x.

(d) Fur alle x ∈ K gilt −(−x) = x und falls zusatzlich x = 0 auch (x−1)−1 = x.

(e) Fur alle x, y ∈ K \ 0 ist xy = 0 richtig.

(f) Fur alle x, y ∈ K ist −(x + y) = −x − y richtig und falls zusatzlich x, y = 0gilt auch (xy)−1 = x−1y−1.

Beweis:

(a) Wir zeigen zunachst, dass x := b+ (−a) = b− a die Gleichung a+ x = b lost,d.h. wir beweisen die Existenz einer Losung :

a+ x = a+ (b− a)(A1)= a+ ((−a) + b)

(A2)= (a+ (−a)) + b

(A4)= 0 + b

(A1)= b+ 0

(A3)= b.

Die Eindeutigkeit der Losung ergibt sich wie folgt: Angenommen es gibt zweiLosungen x1, x2, d.h.

a+ x1 = b = a+ x2.

Addieren wir von rechts auf beiden Seiten −a, so folgt

(a+ x1) + (−a) = (a+ x2) + (−a)(A1),(A2)=⇒ x1 + (a+ (−a)) = x2 + (a+ (−a))(A4)=⇒ x1 + 0 = x2 + 0(A3)=⇒ x1 = x2,

wie behauptet.

1. ZAHLEN UND KORPER 7

(b) Existenz: x := a−1b ist Losung, denn

ax = a(a−1b)(M2)= (aa−1)b

(M4)= 1 · b (M1)

= b · 1 (M3)= b.

Eindeutigkeit: Fur zwei Losungen x1, x2 hatten wir ax1 = b = ax2 und nach Multiplikationmit a−1 von rechts:

(ax1)a−1 = (ax2)a

−1

(M1),(M2)=⇒ x1(aa

−1) = x2(aa−1)

(M4)=⇒ x1 · 1 = x2 · 1(M3)=⇒ x1 = x2.

(c) x · 0 = 0: Nach (A3) gilt 0 + 0 = 0 und folglich

x · 0 + x · 0 (D)= x · (0 + 0) = x · 0.

Addition von −(x ·0) auf beiden Seiten von rechts (und Ausnutzen der Axiome(A2), (A4) und (A3)) liefert die Behauptung.

(−1) · x = −x: Es gilt

x+ (−1) · x (M3),(M1)= x · 1 + x · (−1)

(D)= x · (1 + (−1))

(A4)= x · 0 = 0.

Die Eindeutigkeit des Negativen – siehe (a) – liefert die Behauptung.

(d) −(−x) = x: Per Definition ist −(−x) erklart durch die Gleichung −x+ (−(−x)) = 0. Ande-rerseits gilt auch

−x+ x(A1)= x+ (−x) (A4)

= 0.

Da aber die Losung y ∈ K der Gleichung −x+y = 0 nach (a) eindeutig ist, folgt x = −(−x).

(x−1)−1 = x: Wegen x = 0 ist auch x−1 = 0; ware namlich x−1 = 0, so hatten wir

1 = x · x−1 = x · 0 (c)= 0,

im Widerspruch zu (M3). Also ist (x−1)−1 erklart, namlich als Losung von x−1(x−1)−1 = 1.Andererseits haben wir

x−1x(M1)= xx−1 (M4)

= 1.

Da aber die Gleichung x−1y = 1 nach (b) eine eindeutige Losung y ∈ K besitzt folgt x =

(x−1)−1.

(e) Beweis durch Widerspruch: Angenommen, es gibt x, y ∈ K \ 0 mit xy = 0.Nach Multiplikation mit y−1 (beachte y = 0) von rechts folgt

x(M3)= x · 1 (M4)

= x(yy−1)(M2)= (xy)y−1 = 0 · y−1 (c)

= 0,

also ein Widerspruch zur Voraussetzung x = 0. Somit ist die Behauptungrichtig.

8 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

(f) −(x+y) = −x−y: Per Definition ist (x+y)+(−(x+y)) = 0 richtig. Andererseits berechnenwir m.H. von (A1)-(A4):

(x+ y) + (−x− y) = x+ (y + (−y − x)) = x+ ((y + (−y))− x)

= x+ (0− x) = x+ ((−x) + 0) = x+ (−x) = 0.

Da wieder nach (a) die Gleichung (x+y)+z = 0 eindeutig losbar ist, folgt −(x+y) = −x−y.(xy)−1 = x−1y−1: Da sowohl z = (xy)−1 als auch z = x−1y−1 die Gleichung (xy)z = 1 losen– letzteres sieht man analog zur obigen Rechnung unter Benutzung von (M1)-(M4) – liefertdie Eindeutigkeitsaussage in (b) sofort (xy)−1 = x−1y−1.

q.e.d.

Bemerkung: In Mehrfachsummen und Mehrfachprodukten lassen wir i.F. die Klam-mern meist weg, also a+b+c+ . . . und a ·b ·c · . . . fur a, b, c, . . . ∈ K, denn wegen (A2)und (M2) spielt die Reihenfolge der Summierung bzw. Multiplikation keine Rolle.Ebenso konnen wir in Mehrfachsummen und Mehrfachprodukten die Reihenfolgeder Summanden bzw. Faktoren beliebig vertauschen.

Fur das in der Analysis wesentliche Rechnen mit Ungleichungen benotigen wirnoch eine

”Anordnung“, wir mussen also entscheiden konnen, ob ein Element eines

Korpers”großer“ oder

”kleiner“ als ein anderes Element ist. Hierzu verwenden wir

die folgende

Definition 1.2: Wir nennen einen Korper K angeordnet, wenn gewisse Elementex ∈ K als positiv ausgezeichnet sind (in Zeichen: x > 0), wobei folgende Regelnerfullt seien:

Anordnungsaxiome

(O1) Fur jedes x ∈ K gilt genau eine der drei Beziehungen

x > 0, x = 0, −x > 0.

Die x ∈ K mit −x > 0 heißen die negativen Elemente.

(O2) Fur alle x, y ∈ K mit x > 0 und y > 0 gilt

x+ y > 0 und xy > 0.

Bemerkungen:

1. (O1) ist das sogenannte Trichotomiegesetz, bei (O2) spricht man von der Ab-geschlossenheit von

”>“ bezuglich der Addition und Multiplikation.

2. Der Korper Q der rationalen Zahlen ist naturlich angeordnet mittels

x > 0 :⇐⇒ x =p

qmit p, q ∈ N

1. ZAHLEN UND KORPER 9

Dann sind die x = pq mit −p, q ∈ N gerade die negativen Zahlen. Dies entspricht

unserer Vorstellung der Anordung von Q auf der Zahlengeraden (vgl. auchDefinition 1.3 unten).

3. Aus der Konstruktion von R wird folgen, dass auch die reellen Zahlen einenangeordneten Korper bilden. Hingegen stellt sich C als nicht angeordneterKorper heraus.

4. Auch der Korper (x, y,+, ·) mit den in (1.4) erklarten Relationen +, · kannnicht angeordnet werden: Da x das Nullelement ist, musste fur y entweder y >x oder −y > x gelten. Per Definition ist −y ∈ x, y Losung von y+(−y) = x.Nach (1.4) ist dann aber −y = y, Widerspruch!

Definition 1.3: (Großer- und Kleinerrelation)In einem angeordneten Korper definieren wir:

x > y :⇐⇒ x− y > 0,

x < y :⇐⇒ y > x ⇐⇒ y − x > 0,

x ≥ y :⇐⇒ x > y oder x = y,

x ≤ y :⇐⇒ x < y oder x = y.

Satz 1.3: In einem angeordneten Korper K gelten folgende Aussagen:

(a) Fur je zwei Elemente x, y ∈ K gilt genau eine der Relationen

x < y, x = y, x > y.

(b) Transitivitat: Fur alle x, y, z ∈ K gilt: x < y und y < z implizieren x < z.

(c) Translationsinvarianz: Fur alle x, y, a ∈ K gilt: Aus x < y folgt x+ a < y + a.

(d) Skalierungsinvarianz: Fur alle x, y, a ∈ K mit x < y und a > 0 gilt xa < ya.

(e) Spiegelung: Fur alle x, y ∈ K mit x < y haben wir −x > −y.

(f) Fur alle x ∈ K \ 0 ist x2 > 0 richtig; insbesondere gilt 1 > 0.

(g) Fur jedes x ∈ K mit x > 0 ist x−1 > 0 erfullt.

(h) Fur alle x, y ∈ K mit 0 < x < y gilt x−1 > y−1.

Bemerkung: Wegen Satz 1.3 (a) sind in einem angeordneten Korper fur je zwei Ele-mente x, y ∈ K das Minimum und Maximum wohl definiert:

minx, y :=

x, falls x ≤ y

y, sonst, maxx, y :=

x, falls x ≥ y

y, sonst.

10 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Beweis von Satz 1.3: Wir werden die Korperaxiome und deren Folgerungen ausSatz 1.2 ohne Kommentar benutzen.

(a) Wende (O1) auf x− y an und benutze Definition 1.3.

(b) Per Voraussetzung ist y − x > 0 und z − y > 0, so dass (O2) liefert

z − x = (y − x) + (z − y) > 0 bzw. x < z.

(c) Aus der Voraussetzung y − x > 0 folgt sofort

(y + a)− (x+ a) = y − x > 0 bzw. x+ a < y + a.

(d) Wegen y − x > 0 und a > 0 liefert (O2)

ya− xa = (y − x)a > 0 bzw. xa < ya,

wie behauptet.

(e) Es gilt (−x)− (−y) = y − x > 0 nach Voraussetzung, also −x > −y.

(f) Fur x > 0 folgt x2 = x · x > 0 aus (O2).

Fur x < 0 multiplizieren wir diese Ungleichung mit −x > 0 durch und erhaltenaus (d): −x2 < 0 bzw. x2 = −(−x2) > 0 nach Definition 1.3.

Schließlich beachten wir noch 1 = 1 · 1 > 0.

(g) Es sei x > 0 und angenommen es gilt x−1 < 0, d.h. −x−1 > 0. Aus (O2) folgt dann aber

−1 = −xx−1 = x(−x−1) > 0 bzw. 1 < 0,

im Widerspruch zu (f).

(h) Wegen x > 0 und y > x erhalten wir aus (b) auch y > 0 und (O2) liefert xy > 0: Aus (g)folgt also

x−1y−1 = (xy)−1 > 0.

Wenden wir nun (d) mit a = x−1y−1 auf die Ungleichung x < y an, so folgt

y−1 = x−1y−1x(d)< x−1y−1y = x−1,

wie behauptet. q.e.d.

Wie bereits angemerkt, gibt es Korper, die nicht angeordnet werden konnen,wie etwa die komplexen Zahlen C. Manchmal kann man aber zumindest einen

”Ab-

standsbegriff“ einfuhren, die Elemente also in einem gewissen Sinne”bewerten“:

Definition 1.4: Ein Korper K heißt bewerteter Korper, wenn eine Abbildung | · | :K → K existiert, die jedem Element x ∈ K eindeutig ein Element |x| ∈ K zuordnetund fur die folgende Regeln gelten:

1. ZAHLEN UND KORPER 11

(a) Positivitat: Fur jedes x ∈ K gilt |x| ≥ 0 und |x| = 0 ⇐⇒ x = 0.

(b) Multiplikativitat: Fur alle x, y ∈ K gilt |x · y| = |x| · |y|.

(c) Dreiecksungleichung: Fur beliebige x, y ∈ K haben wir |x+ y| ≤ |x|+ |y|.

Die Abbildung | · | : K → K nennt man dann auch Betragsfunktion.

Wir werden spater sehen, dass C ein bewerteter Korper ist. Bevor wir Rechen-regeln in bewerteten Korpern ableiten wollen, zeigen wir, dass jeder angeordneteKorper auch bewertet ist; dies gilt also insbesondere fur Q und spater auch fur R:

Satz 1.4: Zu einem x ∈ K aus dem angeordneten Korper K erklaren wir den(Absolut-)Betrag als

|x| :=

x, falls x ≥ 0

−x, sonst. (1.5)

Dann ist K mit der Betragsfunktion aus (1.5) ein bewerteter Korper.

Bemerkung: Fur den in (1.5) erklarten Absolutbetrag gilt

|x| = maxx,−x fur alle x ∈ K

und folglich−|x| ≤ x ≤ |x| fur alle x ∈ K;

dies folgt sofort aus Satz 1.3 (b) und (e) .

Beweis von Satz 1.4: Wir haben die drei Eigenschaften (a)-(c) aus Definition 1.4nachzuprufen (die Regeln aus Satz 1.2 benutzen wir kommentarlos).

(a) Sowohl |x| ≥ 0 fur alle x ∈ K als auch die Aquivalenz |x| = 0 ⇐⇒ x = 0entnimmt man sofort der Definition des Betrages und Definition 1.3.

(b) Falls x ≥ 0, y ≥ 0, so gilt xy ≥ 0 gemaß (O2) und folglich auch

|xy| = xy = |x| |y|.

Falls x < 0, y ≥ 0, so folgt xy ≤ 0 nach Satz 1.3 (d); also finden wir

|xy| = −(xy) = (−x)y = |x| |y|.

Entsprechend lasst sich der Fall x ≥ 0, y < 0 behandeln.

Gelte schließlich x < 0, y < 0, also −x > 0,−y > 0. Dann liefert (O2):

xy = −(−x)y = (−x)(−y) > 0.

Also haben wir auch in diesem Fall

|xy| = xy = (−x)(−y) = |x| |y|.

12 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

(c) Wegen x ≤ |x|, y ≤ |y| haben wir nach Satz 1.3 (c):

x+ y ≤ |x|+ y ≤ |x|+ |y|.

Entsprechend folgt aus −x ≤ |x|, −y ≤ |y| auch

−(x+ y) = −x− y ≤ |x|+ |y|.

Insgesamt ergibt sich also

|x+ y| = maxx+ y,−(x+ y) ≤ |x|+ |y|,

wie behauptet. q.e.d.

Satz 1.5: (Rechnen in bewerteten Korpern)Sei K ein bewerteter Korper mit Betragsfunktion | · | : K → K.

(a) Fur jedes x ∈ K ist | − x| = |x| richtig.

(b) Fur jedes x ∈ K \ 0 ist |x−1| = |x|−1 erfullt.

(c) Fur beliebige x, y ∈ K gilt |x− y| ≥∣∣|x| − |y|

∣∣.(d) Fur alle x, y ∈ K mit y = 0 gilt

∣∣∣xy

∣∣∣ = |x||y|

.

Beweis:

(a) Die Multiplikativitat liefert fur x = y = 1 zunachst |1| = |1 · 1| = |1| · |1|bzw. 1 = |1|. Setzen wir x = y = −1 ein, so folgt 1 = |1| = |(−1)(−1)| = |−1|2.Wegen der Positivitat ist | − 1| > 0 richtig. Aufgrund von

0 = | − 1|2 − 12 = (| − 1| − 1)(| − 1|+ 1),

muss also | − 1| = 1 gelten. Fur beliebige x ∈ K finden wir nun

| − x| = |(−1)x| = | − 1| |x| = 1 · |x| = |x|,wie behauptet.

(b) Wegen xx−1 = 1 und |1| = 1 liefert die Multiplikativitat:

|x| |x−1| = |xx−1| = |1| = 1.

Also ist |x−1| das inverse Element zu |x|, d.h. |x|−1 = |x−1|.

(c) Mit der Dreiecksungleichung berechnen wir

|x| = |(x− y) + y| ≤ |x− y|+ |y| bzw. |x| − |y| ≤ |x− y|

und

|y| = |(y − x) + x|(a)

≤ |x− y|+ |x| bzw. − (|x| − |y|) ≤ |x− y|,also

|x− y| ≥ max|x| − |y|,−(|x| − |y|)

=∣∣|x| − |y|

∣∣.

2. VOLLSTANDIGE INDUKTION 13

(d) Mit der Relation (b) und der Multiplikativitat berechnen wir∣∣∣xy

∣∣∣ = |xy−1| = |x| |y−1| = |x| |y|−1 =|x||y| ,

wie behauptet. q.e.d.

Beispiel: Im Korper R erklart man das arithmetische bzw. geometrische Mittel zweier Zahlen x, y ≥ 0gemaß

mA(x, y) :=1

2(x+ y), mG(x, y) :=

√xy.

Fur diese gilt die Ungleichung mA(x, y) ≥ mG(x, y). In der Tat haben wir fur a :=√x und b :=

√y:

0 ≤ (a− b)2 = a2 − 2ab+ b2 ⇐⇒ 1

2(a2 + b2) ≥ ab,

also1

2(x+ y) ≥ √

xy.

Gleichheit tritt ubrigens genau dann auf, wenn x = y richtig ist. Das Rechnen in R, insbesonderemit rationalen Potenzen, werden wir spater genauer entwickeln.

Fur den spateren Gebrauch bemerken wir noch, dass Q sogar ein archimedischangeordneter Korper ist, d.h. neben den Ordnungsaxiomen (O1) und (O2) gilt nochFolgendes:

Archimedisches Axiom.

(O3) Zu je zwei Elementen x, y ∈ Q mit x, y > 0 existiert eine naturliche Zahln ∈ N, so dass gilt

nx > y.

Zum Beweis von (O3) in Q seien x = pq , y = r

s mit p, q, r, s ∈ N zwei beliebiggewahlte, positive rationale Zahlen. Wahlen wir dann n := rq + 1 ∈ N, so folgt

nx = (rq + 1)p

q= rp+

p

q=r

s(ps) +

p

q≥ y · 1 + x > y,

wie behauptet. Wir werden hieraus folgern, dass auch R archimedisch angeordnetist.

Bemerkung: Archimedes hat (O3) geometrisch formuliert: Hat man zwei Streckenauf einer Geraden, so kann man, in dem man die kurzere hinreichend oft abtragt,die langere ubertreffen.

2 Vollstandige Induktion

Wir lernen nun ein wichtiges Beweisprinzip kennen und anwenden, welches daraufberuht, dass jede Zahl n ∈ N0 = N ∪ 0 einen eindeutig definierten Nachfolger,

14 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

namlich n + 1 ∈ N, besitzt. Will man jetzt eine Aussage A(n) fur alle n ≥ n0 miteinem n0 ∈ N0 beweisen (d.h. man mochte eigentlich unendlich viele Aussagen A(n)in Abhangigkeit von n zeigen), dann geht man wie folgt vor:

Beweisprinzip der vollstandigen Induktion.Eine Aussage A(n) gilt fur alle n ∈ N0 mit n ≥ n0 ∈ N0, falls man folgendes beweisenkann:

(IA) Induktionsanfang: Die Aussage A(n0) ist richtig.

(IS) Induktionsschritt: Fur alle n ≥ n0 gilt: Wenn A(n) richtig ist, so ist auchA(n+ 1) richtig.

Die Wirkungsweise ist klar: Sind (IA) und (IS) erfullt und angenommen, esexistiert ein n > n0, fur das A(n) nicht gilt. Wegen (IS) ist dann auch A(n − 1)falsch und dann A(n− 2), A(n− 3) usw. Nach n− n0 Schritten wurde also folgen,dass auch A(n0) falsch ist, im Widerspruch zu (IA).

Als erste Anwendung beweisen wir den

Satz 2.1: (Bernoullische Ungleichung)Sei K ⊃ N ein angeordneter Korper und x ∈ K mit x ≥ −1 sei gewahlt. Dann giltfur alle n ∈ N0 die Ungleichung

(1 + x)n ≥ 1 + nx.

Bemerkung: Die n-te Potenz ist dabei fur a ∈ K wie folgt induktiv erklart:

a0 := 1, an+1 := an · a fur n ∈ N.

Fur a = 0 erhalten wir dann auch negative Potenzen:

a−n := (a−1)n fur alle n ∈ N.

Rechenregeln: Fur alle a, b ∈ K \ 0 und n,m ∈ Z gilt:

(i) anam = an+m.

(ii) (an)m = anm.

(iii) anbn = (ab)n.

Beweis von Satz 2.1: mittels vollstandiger Induktion.

(IA) n = 0: Wir haben zu zeigen, dass A(0) gilt, also in unserem Fall

(1 + x)0 ≥ 1 + 0 · x.

Das ist offenbar richtig.

2. VOLLSTANDIGE INDUKTION 15

(IS) n→ n+1: Es sei A(n), also (1+x)n ≥ 1+nx, fur ein n ∈ N0 richtig (genanntInduktionsvoraussetzung (IV)). Zu zeigen ist A(n+ 1), d.h.

(1 + x)n+1 ≥ 1 + (n+ 1)x.

Hierzu berechnen wir m.H. der Induktionsvoraussetzung (beachte 1 + x > 0):

(1 + x)n+1 = (1 + x)n(1 + x)(IV )

≥ (1 + nx)(1 + x)

= 1 + nx+ x+ nx2 ≥ 1 + (n+ 1)x,

d.h. A(n + 1) gilt. Also ist auch der Induktionsschritt (IS) erfullt und nachdem Prinzip der vollstandigen Induktion gilt die Aussage fur alle n ∈ N0.

q.e.d.

Satz 2.2: Fur jede naturliche Zahl n ∈ N gilt

1 + 2 + 3 + . . .+ n =n(n+ 1)

2.

Bemerkung: Die Punkte deuten an, dass die Summation in der gleichen Weise fort-gesetzt wird. Dies kann man m.H. von Summen- und Produktzeichen wie folgt kom-pakter schreiben:

Hat man viele, eventuell unendlich viele Variablen, so benutzt man statt a, b, c, . . .sinnvoller die Bezeichnungen a1, a2, a3, . . .. Die naturlichen Zahlen 1, 2, 3, . . . heißenhierbei Indizes und dienen der Unterscheidung der Variablen ak, k ∈ N.

Fur n ∈ N Variablen a1, a2, . . . , an setzen wir

n∑k=1

ak := a1 + a2 + . . .+ an (Summe),

n∏k=1

ak := a1 · a2 · . . . · an (Produkt).

Hierbei kann man die Indexmenge 1, . . . , n naturlich auch durch andere (endliche)Teilmengen von N oder allgemeiner von Z ersetzen. Die Formel in Satz 2.2 liest sichnun (ak := k fur k = 1, . . . , n):

n∑k=1

k =n(n+ 1)

2.

Beweis von Satz 2.2: mit vollstandiger Induktion.

(IA) n = 1: Offenbar gilt1∑

k=1

k = 1 und 1·(1+1)2 = 1, d.h. A(1) ist korrekt.

16 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

(IS) n→ n+1: Die Induktionsvorraussetzungn∑k=1

= n(n+1)2 gelte fur ein n ∈ N. Fur

den Beweis von (IS) berechnen wir m.H. der Induktionsvoraussetzung (IV):

n+1∑k=1

k =

n∑k=1

k + (n+ 1)(IV )=

n(n+ 1)

2+ (n+ 1)

=n(n+ 1) + 2(n+ 1)

2=

(n+ 1)(n+ 2)

2,

d.h. es folgt A(n+ 1). Somit gilt die Aussage fur alle n ∈ N. q.e.d.

Satz 2.3: (geometrische Reihe)Fur alle x ∈ K \ 1 im Korper K und alle n ∈ N gilt

n−1∑k=0

xk =1− xn

1− x.

Beweis (vollstandige Induktion):

(IA) n = 1: Es gilt∑0

k=0 xk = x0 = 1 und 1−x1

1−x = 1, also A(1).

(IS) n → n + 1: Die zu beweisende Relation gelte fur festes n ∈ N (IV). Wirberechnen dann

(n+1)−1∑k=0

xk =

n∑k=0

xk =

n−1∑k=0

xk + xn(IV )=

1− xn

1− x+ xn

=1− xn + xn(1− x)

1− x=

1− xn+1

1− x,

wie behauptet. q.e.d.

Definition 2.1: Wir erklaren fur n, k ∈ N0 die Binomialkoeffizienten(n

k

):=

k∏j=1

n− j + 1

j=n(n− 1) · . . . · (n− k + 1)

1 · 2 · . . . · k.

Bemerkung: Offenbar gilt(n

k

)=

n!

k!(n−k)! , falls k ≤ n

0, falls k > n

mit der bekannten Fakultat :

0! := 1, n! :=n∏l=1

l.

Insbesondere halten wir(n0

)= 1,

(n1

)= n und

(nk

)=

(n

n−k)fur k ≤ n fest.

2. VOLLSTANDIGE INDUKTION 17

Hilfssatz 2.1: Fur alle naturlichen Zahlen k, n ∈ N gilt die Relation(n

k

)=

(n− 1

k − 1

)+

(n− 1

k

).

(Veranschaulichung: Pascalsches Dreieck).

Beweis: Fur k ≥ n ist nach obiger Bemerkung nichts zu zeigen. Sei also k < n. Dannfinden wir (

n− 1

k − 1

)+

(n− 1

k

)=

(n− 1)!

(k − 1)!(n− k)!+

(n− 1)!

k!(n− k − 1)!

=k(n− 1)! + (n− 1)!(n− k)

k!(n− k)!

=n!

k!(n− k)!=

(n

k

),

wie behauptet. q.e.d.

Satz 2.4: (Binomischer Lehrsatz)Sei K Korper und n ∈ N0 beliebig. Dann gilt fur alle a, b ∈ K die Identitat

(a+ b)n =

n∑k=0

(n

k

)akbn−k. (2.1)

Beweis: durch vollstandige Induktion uber n.

(IA) n = 0: Wegen x0 = 1 fur alle x ∈ K haben wir

0∑k=0

(0

k

)akb0−k = 1 = (a+ b)0,

d.h. (IA) gilt.

(IS) n→ n+ 1: (2.1) gelte fur festes n ∈ N0. Wir beachten

(a+ b)n+1 = (a+ b)na+ (a+ b)nb

und formen die Terme getrennt um. Zunachst gilt

(a+ b)nb(IV )=

n∑k=0

(n

k

)akbn−k+1 =

n+1∑k=0

(n

k

)akbn−k+1,

wobei wir noch(

nn+1

)= 0 benutzt haben. Zur Behandlung des Terms (a + b)na verwenden

wir noch die offensichtliche Beziehung

n∑k=0

xk+1 =

n+1∑k=1

xk (Indexverschiebung)

18 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

fur beliebige Summanden x1, x2, . . . , xn+1 ∈ K. Wir erhalten

(a+ b)na(IV )=

n∑k=0

(n

k

)ak+1bn−k =

n+1∑k=1

(n

k − 1

)akbn−k+1.

Insgesamt ergibt sich also unter Beachtung von Hilfssatz 2.1:

(a+ b)n+1 =

n+1∑k=1

(n

k − 1

)akbn−k+1 +

n+1∑k=0

(n

k

)akbn−k+1

=

n+1∑k=1

[(n

k − 1

)+

(n

k

)]akbn−k+1 +

(n

0

)a0bn+1

HS 2.1=

n+1∑k=1

(n+ 1

k

)akbn+1−k +

(n+ 1

0

)a0bn+1−0

=

n+1∑k=0

(n+ 1

k

)akbn+1−k,

also Relation (2.1) fur n+ 1. q.e.d.

3 Die Definition der reellen Zahlen

Wir haben die Notwendigkeit der Einfuhrung der reellen Zahlen bereits erkannt, dadie Losung von x2−2 = 0 nicht rational ist, was ubrigens schon in der Antike bekanntwar. Aus der Schule wissen wir, dass die positive Losung x =

√2 eine unendliche

Dezimalbruchdarstellung besitzt

√2 = 1, 414213562 . . .

(bekannt sind ungefahr die ersten 5 Millionen Nachkommastellen!) Wenn wir dieDarstellung an der n-ten Nachkommastelle abbrechen, haben wir

xn :=

n∑k=0

ak10k

∈ Q fur n = 1, 2, . . . (3.1)

mit Zahlen ak ∈ 0, 1, 2, . . . , 9 fur alle k ∈ N0 (a0 = 1, a1 = 4, a2 = 1, . . . ).

Definition 3.1: Eine Abbildung f : N → K vermoge n 7→ xn := f(n) heißtZahlenfolge xnn∈N (oder xnn, xnn=1,2,...) im Korper K. Wir schreiben kurzxnn∈N ⊂ K. Das Element xn heißt n-tes Glied der Zahlenfolge. Fur K = Q spre-chen wir von rationalen (Zahlen-)Folgen.

Die Idee ist nun, die rationale Zahlenfolge xnn∈N mit den in (3.1) erklartenGliedern mit der irrationalen Zahl

√2 zu identifizieren. Dazu schatzen wir die

3. DIE DEFINITION DER REELLEN ZAHLEN 19

”Streuung“ der Folge wie folgt ab: Fur beliebiges N ∈ N seien m,n ≥ N undo.B.d.A. n > m. Dann folgt

|xn − xm| =

∣∣∣∣ n∑k=0

ak10k

−m∑k=0

ak10k

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣ n∑k=m+1

ak10k

∣∣∣∣Def. 1.4 (c)

≤n∑

k=m+1

∣∣∣ ak10k

∣∣∣ ≤n∑

k=m+1

10

10k=

n∑k=m+1

( 1

10

)k−1

l:=k−m−1=

n−m−1∑l=0

( 1

10

)l+m=

( 1

10

)m n−m−1∑l=0

( 1

10

)lSatz 2.3

=( 1

10

)m 1− ( 110)

n−m

1− 110

≤( 1

10

)m 1

1− 110

= 109

(110

)m≤ 10

9

(110

)N.

(3.2)

Wir benotigen nun noch folgenden

Hilfssatz 3.1: Sei b ∈ Q positiv, so gilt:

(a) Ist b > 1, so existiert zu jedem K ∈ Q mit K > 0 ein n ∈ N mit der Eigenschaftbn > K.

(b) Ist 0 < b < 1, so existiert zu jedem δ ∈ Q mit δ > 0 ein n ∈ N mit derEigenschaft bn < δ.

Beweis:

(a) Wegen b > 1 ist x := b− 1 > 0 richtig. Also ist die Bernoullische Ungleichung,Satz 2.1, anwendbar: Fur alle n ∈ N gilt

bn = (1 + x)n ≥ 1 + nx.

Nach dem Archimedischen Axiom (O3), welches ja in Q gilt, konnen wir nunn ∈ N speziell so wahlen, dass nx > K ausfallt. Dann folgt

bn ≥ 1 + nx > 1 +K > K.

(b) Wegen 0 < b < 1 ist b := 1b > 1 richtig. Nach (a) existiert zu K := 1

δ ein n ∈ Nmit

bn > K ⇐⇒ bn = (bn)−1 < K−1 = δ,

wie behauptet. q.e.d.

20 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Bemerkung: Der Beweis zeigt, dass die Aussage von Hilfssatz 3.1 richtig bleibt, wennwir Q durch einen beliebigen, archimedisch angeordneten Korper K ⊃ N ersetzen.

Wir wenden nun Hilfssatz 3.1 auf unsere Ungleichung (3.2) an mit b = 110 < 1

und δ = 910ε > 0 fur beliebig gewahltes ε ∈ Q mit ε > 0. Es existiert also ein

N = N(ε) ∈ N mit

|xn − xm| ≤10

9

( 1

10

)N<

10

9δ = ε fur alle m,n ≥ N(ε). (3.3)

Das bedeutet, die”Streuung“ der Folge xnn wird fur hinreichend große Glieder

beliebig klein.

Die Ungleichung (3.2) und damit auch (3.3) gilt ubrigens fur beliebige rationaleFolgen der Form (3.1) mit ak ∈ 0, 1, 2, . . . , 9.

Definition 3.2: Eine rationale Zahlenfolge xnn heißt Cauchyfolge, wenn gilt: Zujedem ε ∈ Q mit ε > 0 existiert ein N = N(ε) ∈ N so, dass

|xn − xm| < ε fur alle m,n ≥ N(ε)

erfullt ist.

Definition 3.3: Eine rationale Zahlenfolge xnn heißt Nullfolge, falls gilt: Zu je-dem rationalen ε > 0 existiert ein N = N(ε) ∈ N so, dass

|xn| < ε fur alle n ≥ N(ε)

richtig ist. Man sagt auch, xnn konvergiert gegen 0.

Bemerkungen:

1. Jede Nullfolge ist auch Cauchyfolge: Wahle N = N(ε) ∈ N so, dass |xn| < ε2

fur alle n ≥ N(ε) gilt. Dann folgt fur m,n ≥ N(ε):

|xn − xm| ≤ |xn|+ |xm| <ε

2+ε

2= ε.

Die Umkehrung ist naturlich falsch, wie etwa das Beispiel xnn = 1+(12)nn

zeigt.

2. Beispiel: 1nn ist Nullfolge. In der Tat existiert nach (O3) zu jedem rationalen

ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N mit Nε > 1. Also folgt∣∣∣ 1n

∣∣∣ = 1

n≤ 1

N< ε fur alle n ≥ N(ε).

3. DIE DEFINITION DER REELLEN ZAHLEN 21

Wir wollen nun die reellen Zahlen durch rationale Cauchyfolgen darstellen. Daaber einige Folgen, wie wir sehen werden, die gleiche reelle Zahl darstellen, mussenwir diese identifizieren im Sinne einer Aquivalenzrelation:

Definition 3.4: Eine Aquivalenzrelation auf einer beliebigen Menge M ist eineBeziehung zwischen je zwei ihrer Elemente a, b ∈M , in Zeichen a ∼ b, mit folgendenEigenschaften: Fur jedes geordnete Paar (a, b) ∈M ×M steht fest, ob a ∼ b richtigoder falsch ist, und es gelten:

(R) Reflexivitat: Fur alle a ∈M gilt: a ∼ a.

(S) Symmetrie: Fur alle a, b ∈M gilt: a ∼ b =⇒ b ∼ a.

(T) Transitivitat: Fur alle a, b, c ∈M gilt: a ∼ b und b ∼ c =⇒ a ∼ c.

Zwei Elemente a, b ∈ M nennen wir aquivalent, wenn a ∼ b gilt. Zu a ∈ M heißtdie Menge

[a] :=x ∈M : x ∼ a

die zugehorige Aquivalenzklasse. Ein x ∈ [a] nennen wir dann Reprasentant derAquivalenzklasse [a].

Bemerkung: Jedes Element a ∈ M gehort zu genau einer Aquivalenzklasse. Wirkonnen also M als disjunkte Vereinigung ihrer Aquivalenzklassen darstellen:

M =∪a∈M

[a].

Bevor wir auf der Menge aller rationalen Cauchyfolgen eine Aquivalenzrelationerklaren, geben wir noch ein paar einfache

Beispiele:

1. Die Gleichheitsrelation auf einem geordneten Korper K ist eine Aquivalenzre-lation. Fur je zwei Zahlen a, b ∈ K gilt namlich entweder a = b oder a = b undoffenbar sind (R), (S) und (T) erfullt.

2. Die Ungleichrelation (nicht reflexiv und transitiv), die Kleinerrelation (nicht reflexiv undsymmetrisch) und die Kleinergleichrelation (nicht symmetrisch) sind z.B. keine Aquivalenz-relationen.

3. Auf der Menge G aller Geraden in der Ebene ist durch die Relation

g1 ∼ g2 :⇐⇒ g1 ist parallel zu g2

eine Aquivalenzrelation definiert. Die Aquivalenzklasse von g ∈ G sind die zu g parallelenGeraden.

22 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

4. Fur M = Z definiert

a ∼ b :⇐⇒ a− b

2∈ Z

eine Aquivalenzrelation. Die zugehorigen Aquivalenzklassen sind die geraden und die unge-

raden Zahlen.

Satz 3.1: Auf der Menge F := xnn ⊂ Q : xnn ist Cauchyfolge der rationa-len Cauchyfolgen ist durch

xnn ∼ ynn :⇐⇒ xn − ynn ist Nullfolge

eine Aquivalenzrelation definiert. Zwei Folgen xnn, ynn sind also aquivalent,wenn zu jedem rationalen ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N existiert mit |xn − yn| < ε furalle n ≥ N .

Beweis: Wir prufen (R), (S) und (T) nach:

(R) Ist klar, denn xn − xnn = 0n ist die konstante Nullfolge.

(S) Falls xnn ∼ ynn, dann existiert also zu jedem rationalen ε > 0 ein N(ε) ∈N mit

|yn − xn| = |xn − yn| < ε fur alle n ≥ N(ε).

Somit ist auch yn − xnn Nullfolge, d.h. ynn ∼ xnn.

(T) Seien xnn ∼ ynn und ynn ∼ znn. Dann gibt es zu jedem rationalenε > 0 Zahlen N1(ε), N2(ε) ∈ N mit

|xn − yn| <ε

2fur alle n ≥ N1(ε),

|yn − zn| <ε

2fur alle n ≥ N2(ε).

Setzen wir nun N = N(ε) := maxN1(ε), N2(ε)

∈ N, so folgt

|xn − zn| ≤ |xn − yn|+ |yn − zn| <ε

2+ε

2= ε fur alle n ≥ N(ε),

also xnn ∼ znn, wie behauptet. q.e.d.

Beispiel: Die Folgen 1+ (12)nn und 1n sind z.B. aquivalent. Ebenso gilt 1

nn ∼(13)

nn, da beide und somit auch ihre Differenz Nullfolgen sind.

Wir kommen nun zur zentralen

Definition 3.5: (Die reellen Zahlen)Die Menge der reellen Zahlen R erklaren wir als die Menge aller Aquivalenzklassenrationaler Cauchyfolgen im Sinne von Satz 3.1. Jede rationale Cauchyfolge anndefiniert also genau eine reelle Zahl α ∈ R durch

α := [an] := [ann].

3. DIE DEFINITION DER REELLEN ZAHLEN 23

Bemerkung: Wir nennen α ∈ R rational, falls ein Reprasentant ann von α existiertmit an = p

q (mit p ∈ Z, q ∈ N) fur alle n ∈ N; sonst heißt α irrational.

Die konstanten rationalen Folgen sind also Reprasentanten der rationalen reellenZahlen. In diesem Sinne gilt Q ⊂ R, wir schreiben kurz p

q := [pq ]. (Hier ist ubrigens

auch die Aquivalenzklassenbildung enthalten, die wir bei der etwas laxen Definitionder rationalen Zahlen in § 1 unterschlagen haben:

”Ungekurzte“ rationale Zahlen

werden mit”gekurzten“ identifiziert, denn apaqn mit a ∈ N und pqn gehoren

offenbar zur gleichen Aquivalenzklasse.)

Im Folgenden zeigen wir uber Definition 3.5, dass R ein archimedisch angeord-neter Korper ist, wobei wir naturlich noch die Rechenoperationen und den Begriffder Positivitat in R erklaren mussen. Wir beginnen mit dem

Hilfssatz 3.2: Jede rationale Cauchyfolge xnn ist beschrankt, d.h. es existiertein rationales c > 0, so dass |xn| ≤ c fur alle n ∈ N gilt.

Beweis: Gemaß Definition 3.2 gibt es speziell zu ε = 1 ein N ∈ N mit |xn − xm| < 1fur alle n,m ≥ N . Damit folgt insbesondere fur m = N :

|xn| = |(xn − xN ) + xN | ≤ |xn − xN |+ |xN | < |xN |+ 1 fur alle n ≥ N.

Setzen wir c := max|x1|, . . . , |xN−1|, |xN |+ 1, so folgt die Behauptung.

q e.d.

Hilfssatz 3.3:

(a) Sind ann, bnn ⊂ Q Cauchyfolgen, so gilt dies auch fur an + bnn undan · bnn.

(b) Sind xnn, ynn ⊂ Q weitere Cauchyfolgen mit ann ∼ xnn und bnn ∼ynn, dann folgt

an + bnn ∼ xn + ynn und an · bnn ∼ xn · ynn.

Beweis:

(a) Es existiert zu vorgegebenem δ > 0 ein N = N(δ) ∈ N, so dass

|an − am| < δ, |bn − bm| < δ fur alle m,n ≥ N(δ).

Wahle nun ε > 0 rational beliebig. Setzen wir N1(ε) := N( ε2), so folgt

|(an + bn)− (am + bm)| ≤ |an − am|+ |bn − bm| < ε fur alle m,n ≥ N1(ε),

also ist an + bnn Cauchyfolge.

24 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Nach Hilfssatz 3.2 existiert ferner ein rationales c > 0 mit |an| ≤ c, |bn| ≤ c fur alle n ∈ N.Setzen wir nun N2(ε) := N( ε

2c), so folgt auch

|anbn − ambm| = |an(bn − bm) + bm(an − am)|≤ |an| |bn − bm|+ |bm| |an − am|

< c( ε2c

2c

)= ε fur alle m,n ≥ N2(ε),

d.h. anbnn ist Cauchyfolge.

(b) Fur den Beweis der ersten Aussage ist zu zeigen, dass (an+ bn)− (xn+ yn)nNullfolge ist. Wegen |an − xn| < ε, |bn − yn| < ε fur beliebiges ε > 0 und allen ≥ N(ε), erhalten wir

|(an + bn)− (xn + yn)| ≤ |an − xn|+ |bn − yn| < 2ε fur alle n ≥ N(ε).

Da ε > 0 beliebig war, folgt die Behauptung (gehe uber ε→ ε2).

Um zu zeigen, dass auch anbn − xnynn Nullfolge ist, beachten wir wieder|an|, |yn| ≤ c fur alle n ∈ N und mit geeignetem c > 0 gemaß Hilfssatz 3.2. Wirfinden dann

|anbn − xnyn| = |an(bn − yn) + yn(an − xn)|≤ |an| |bn − yn|+ |yn| |an − xn|< 2εc fur alle n ≥ N(ε),

wie behauptet. q.e.d.

Bemerkung: Mit Hilfssatz 3.3 konnen wir bereits Addition und Multiplikation sowiedas Negative in R erklaren; siehe Definition 3.7 unten. Um aber auch die Existenzder Inversen zu sichern, benotigen wir noch zwei weitere Hilfssatze, fur deren Beweiswir die folgende Definition nutzen:

Definition 3.6: Ist xnn ⊂ K eine Zahlenfolge und seien unendlich viele naturli-che Zahlen 1 ≤ n1 < n2 < n3 < . . . gewahlt (also nkk ⊂ N mit nk < nk+1 fur allek ∈ N). Dann heißt

xnkk∈N = xn1 , xn2 , xn3 , . . .

Teilfolge von xnn.

Hilfssatz 3.4: Es sei xnn ⊂ Q eine Cauchyfolge. Dann tritt genau einer derfolgenden Falle ein:

(a) xnn ist Nullfolge.

(b) Typ A+: Es existiert ein rationales δ > 0 und ein N ∈ N mit xn > δ fur allen ≥ N .

3. DIE DEFINITION DER REELLEN ZAHLEN 25

(c) Typ A−: Es existiert ein rationales δ > 0 und ein N ∈ N mit −xn > δ fur allen ≥ N .

Beweis: Wir zeigen, dass, falls (a) nicht gilt, genau einer der Falle (b) oder (c)eintreten muss. Sei also xnn keine Nullfolge. Dann gibt es also ein rationales δ > 0und eine Teilfolge xnk

k mit |xnk| ≥ 2δ fur alle k ∈ N. Da xnn Cauchyfolge ist,

existiert andererseits ein N ∈ N mit |xn − xm| < δ fur alle m,n ≥ N . Wahlen wirp ∈ N so groß, dass np ≥ N ist, so folgt speziell fur m = np:

|xn − xnp | < δ fur alle n ≥ N.

Wir unterscheiden nun zwei Falle:

(i) xnp ≥ 2δ: Dann folgt

xn = xnp + (xn − xnp) ≥ 2δ − |xn − xnp | > 2δ − δ = δ fur alle n ≥ N,

also gehort xnn zum Typ A+.

(ii) xnp ≤ −2δ: Dann haben wir

−xn = −xnp − (xn − xnp) ≥ 2δ − |xn − xnp | > δ fur alle n ≥ N,

d.h. xnn gehort zum Typ A−. q.e.d.

Die Definition der Inversen ergibt sich nun aus dem folgenden

Hilfssatz 3.5: Seien die Cauchyfolgen xnn, ynn ⊂ Q zueinander aquivalent undkeine Nullfolgen. Ferner gelte xn, yn = 0 fur alle n ∈ N. Dann sind auch x−1

n nund y−1

n n Cauchyfolgen, und es gilt

x−1n n ∼ y−1

n n.

Beweis:

1. Nach Hilfssatz 3.4 existiert ein δ > 0, so dass |xn| > δ, |yn| > δ fur alle n ∈ N gilt. Damitfolgt: ∣∣∣ 1

xn− 1

xm

∣∣∣ = ∣∣∣xm − xnxnxm

∣∣∣ < 1

δ2|xn − xm| fur alle m,n ∈ N.

Da xnn Cauchyfolge ist, existiert zu beliebigem ε > 0 ein N(ε) ∈ N, so dass |xn−xm| < εδ2

richtig ist. Es folgt |x−1n − x−1

m | < ε fur alle m,n ≥ N(ε), d.h. x−1n n ist Cauchyfolge. Die

entsprechenden Uberlegungen zeigen, dass auch y−1n n Cauchyfolge ist.

2. Wegen ∣∣∣ 1xn

− 1

yn

∣∣∣ = ∣∣∣yn − xnxnyn

∣∣∣ < 1

δ2|xn − yn| fur alle n ∈ N

folgt aus der Nullfolgeneigenschaft von xn − ynn sofort x−1n n ∼ y−1

n n, wie behauptet.

q.e.d.

26 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Bemerkung: Die Bedingung xn = 0 fur alle Glieder einer Nicht-Nullfolge xnnkann immer durch Ubergang zu einer aquivalenten Folge xnn mittels eventuellerAddition von 1

n zum n-ten Glied erreicht werden. Alternativ kann man das durchWegstreichen der (gemaß Hilfssatz 3.4) endlich vielen Glieder xn = 0 erreichen, denn:Jede Teilfolge einer Cauchyfolge ist zu ihr aquivalent.

Definition 3.7: (Rechenoperationen in R)

• Fur α = [an] ∈ R, β = [bn] ∈ R setzen wir

α+ β := [an + bn] ∈ R (Summe),

α · β = αβ := [anbn] ∈ R (Produkt).

• Die neutralen Elemente der Addition und Multiplikation sind erklart als

0 := [0] ∈ R, 1 := [1] ∈ R.

• Das Negative und das Inverse erklaren wir wie folgt:

– Zu α = [an] setzen wir −α := [−an] ∈ R.– Zu α = [an] = 0 mit einem Reprasentanten ann, der an = 0 fur allen ∈ N erfullt, setzen wir α−1 := [a−1

n ].

Bemerkung: Wegen der Hilfssatze 3.3 und 3.5 sind alle Großen wohl definiert. ZumBeispiel ist nach Hilfssatz 3.3 (a) mit ann und bnn auch anbnn eine rationaleCauchyfolge, also [anbn] ∈ R. Und nach Hilfssatz 3.3 (b) ist die Definition von αβunabhangig von der Wahl der Reprasentanten ann, bnn.

Definition 3.8: (Positivitat in R)Eine reelle Zahl α = [an] heißt positiv, in Zeichen α > 0, falls ann zum Typ A+

aus Hilfssatz 3.4 gehort.

Bemerkung: Da fur ein weiteres Element bnn der Aquivalenzklasse [an] die Fol-ge an − bnn Nullfolge ist, ist auch Definition 3.8 unabhangig von der Wahl desReprasentanten.

Satz 3.2: (R,+, ·) mit den in Definition 3.5, 3.7 und 3.8 erklarten reellen Zahlen,Rechenoperationen und Positivitat ist ein archimedisch angeordneter Korper.

Beweis:

1. Dass R ein Korper ist, folgt per Konstruktion aus der Tatsache, dass Q einKorper ist. Z.B. ist 1 = [1] in der Tat das neutrale Element der Multiplikation:Ist namlich α = [an], so folgt an · 1n ∼ ann, also gilt

α · 1 = [an · 1] = [an] = α fur alle α ∈ R.

4. FOLGEN UND REIHEN 27

2. R ist auch angeordnet, denn nach Hilfssatz 3.4 und Definitionen 3.7, 3.8 giltfur jede reelle Zahl α genau eine der Beziehungen α > 0, α = 0 oder −α > 0,also (O1). Und (O2) ist aus Definition 3.7 wieder offensichtlich.

Die in Definition 3.8 erklarte Positivitat auf R impliziert also in der Tat eineOrdnung. Mit ihr konnen wir wie in den Definitionen 1.3 und 1.4 die Großer-bzw. Kleinerrelationen und den Betrag erklaren.

3. Schließlich ist in R auch das Archimedische Axiom (O3) erfullt: Sind namlichα = [ak] > 0, β = [bk] > 0 gewahlt, so suchen wir n ∈ N mit nα > β.

Da α > 0 gilt, ist akk vom Typ A+, siehe Hilfssatz 3.4. Also gibt es einrationales δ > 0 und ein N ∈ N, so dass ak > δ fur alle k ≥ N richtigist. Andererseits ist bkk nach Hilfssatz 3.2 beschrankt, d.h. es existiert einrationales c > 0 mit 0 < bk < c fur alle k ≥ N .

Wir wahlen nun n ∈ N mit nδ > c (beachte: Q ist archimedisch!) und berech-nen

nak > nδ = c+ (nδ − c) > bk + (nδ − c) fur alle k ≥ N.

Wegen nδ − c > 0 ist also die Folge ckk mit ck := nak − bk vom Typ A+,d.h.

[n][ak]− [bk] = [nak − bk] > 0

und somit ist nα− β > 0 bzw. nα > β, wie behauptet. q.e.d.

4 Folgen und Reihen

Wir betrachten nun reelle Zahlenfolgen xnn ⊂ R, vgl. Definition 3.1. Analog zumrationalen Fall erklaren wir

Definition 4.1:

• Eine Folge xnn ⊂ R heißt Cauchyfolge, falls zu jedem (reellen) ε > 0 einN = N(ε) ∈ N existiert mit

|xn − xm| < ε fur alle m,n ≥ N(ε).

• Eine Folge xnn ⊂ R heißt Nullfolge, falls zu jedem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ Nexistiert mit

|xn| < ε fur alle n ≥ N(ε).

Definition 4.2: Eine Folge xnn ⊂ R nennen wir konvergent gegen α ∈ R, wennxn − αn eine Nullfolge ist. Wir schreiben dann

limn→∞

xn = α oder xn → α (n→ ∞).

α heißt der Grenzwert der Folge xnn. Schließlich nennen wir eine Folge divergent,wenn sie nicht konvergiert.

28 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Bemerkungen:

1. ∞ ist das Symbol fur den unendlich fernen Punkt oder einfach Unendlich.

2. Offenbar gilt xn → α (n→ ∞) genau dann, wenn |xn − α| → 0 (n→ ∞).

3. Geometrische Deutung: Das Intervall (α− ε, α+ ε) := x ∈ R : |x− α| < εfur α ∈ R und ε > 0 enthalt alle reellen Zahlen, die von α einen Abstandkleiner ε haben. Wir nennen (α− ε, α+ ε) eine ε-Umgebung von α. Eine Folgekonvergiert genau dann gegen α, wenn in jeder ε-Umgebung von α fast alleGlieder der Folge liegen. Dabei bedeutet

”fast alle“, alle bis auf endlich viele

Ausnahmen.

4. Der Grenzwert einer Folge xnn ⊂ R ist eindeutig bestimmt. Gabe es namlichα, β ∈ R mit xn → α und xn → β fur n → ∞, dann finden wir zu beliebigvorgegebenem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N mit |xn − α| < ε

2 und |xn − β| < ε2 fur

alle n ≥ N . Daher folgt insbesondere fur n = N :

|α− β| ≤ |α− xN |+ |β − xN | < ε.

Also muss α = β gelten.

Aus der Konstruktion der reellen Zahlen folgt nun unmittelbar der

Hilfssatz 4.1: Ist xnn eine rationale Cauchyfolge und α := [xn], so folgt xn →α (n→ ∞).

Beweis: Ist ε = [εn] ∈ R mit ε > 0 beliebig, so haben wir zu zeigen, dass ein N(ε) > 0 existiert mit|xk − α| < ε fur alle k ≥ N(ε).

Wegen ε > 0 gibt es per Definition ein δ > 0 und ein N(ε) ∈ N, so dass εn > δ fur allen ≥ N(ε) gilt. Da nun xnn Cauchyfolge ist, gibt es ein N(ε) ≥ N(ε), so dass |xk − xn| < δ

2fur

alle k, n ≥ N(ε) gilt. Also ist εn − |xk − xn|n vom Typ A+ fur jedes feste k ≥ N(ε). Und wegen|β| = [|yn|] fur beliebiges β = [yn] ∈ R erhalten wir

0 <[εn − |xk − xn|

]= [εn]−

∣∣[xk − xn]∣∣ = ε− |xk − α|,

bzw. |xk − α| < ε fur alle k ≥ N(ε). q.e.d.

Wir werden ubrigens in § 5 zeigen, dass auch jede reelle Cauchyfolge einen Grenz-wert in R besitzt.

Beim Umgang mit Grenzwerten haben wir nun folgende Rechenregeln:

Satz 4.1: Seien xnn, ynn ⊂ R zwei Folgen mit xn → α, yn → β (n→ ∞). Danngelten

(a) Es konvergieren auch xn + ynn und xnynn mit

limn→∞

(xn + yn) = α+ β, limn→∞

(xnyn) = αβ.

4. FOLGEN UND REIHEN 29

(b) Falls zusatzlich β = 0 und yn = 0 fur alle n ∈ N richtig ist, so konvergiertauch xnyn n mit

limn→∞

xnyn

β.

(c) Gilt xn ≥ yn fur alle n ≥ N mit einem N ∈ N, so ist auch α ≥ β erfullt.

(d) Jede Teilfolge xnkk ⊂ xnn (vgl. Definition 3.6) konvergiert und es gilt

limk→∞ xnk= α.

Wir halten noch die folgende direkte Konsequenz aus Satz 4.1 (a) fest:

Folgerung 4.1: Konvergieren xnn, ynn ⊂ R und sind a, b ∈ R beliebig, so kon-vergiert auch axn + bynn mit

limn→∞

(axn + byn) = a limn→∞

xn + b limn→∞

yn.

Beweis von Satz 4.1: (a) folgt analog zu den entsprechenden Aussagen uber rationaleCauchyfolgen, Hilfssatz 3.3 (a), aus der Dreiecksungleichung und der Beschranktheitkonvergenter Folgen (siehe Satz 4.2 unten). Die Beweise von (c) und (d) sind Ubungs-

aufgaben. Wir zeigen (b): Wegen |β| > 0 gibt es ein N ∈ N mit |yn − β| < |β|2 fur

alle n ≥ N . Wir folgern |yn| ≥ |β| − |yn − β| > |β|2 > 0 und somit∣∣∣xn

yn− α

β

∣∣∣ = 1

|yn| |β||βxn − αyn| ≤

2

|β|2|βxn − αyn| fur n ≥ N.

Nach (a) bzw. Folgerung 4.1 konvergiert βxn − αyn → βα − αβ = 0 (n → ∞), alsoist xnyn − α

β n Nullfolge, wie behauptet.q.e.d.

Beispiele:

1. Die konstante Folge an = a, a, a, . . . fur ein a ∈ R konvergiert trivialerweisegegen a.

2. limn→∞3nn+1

= 3. Denn es gilt fur beliebiges ε > 0:∣∣∣ 3n

n+ 1− 3∣∣∣ = ∣∣∣3n− 3(n+ 1)

n+ 1

∣∣∣ = 3

n+ 1< ε,

falls n ≥ N(ε) mit N(ε) ≥ 3ε.

3. limn→∞n2n

= 0. Mit vollstandiger Induktion zeigt man namlich 2n ≥ n2 fur alle n ≥ 4(Ubungsaufgabe). Es folgt 1

2n≤ 1

n2 bzw. n2n

≤ 1nund somit∣∣∣ n

2n− 0∣∣∣ = n

2n≤ 1

n< ε fur n ≥ N > max

3,

1

ε

.

30 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

4. Die Folge xnn = (−1)nn konvergiert nicht. Sonst musste z.B. fur ε = 1 einN ∈ N existieren mit |xn − α| < 1 fur alle n ≥ N , wobei α ∈ R der Grenzwertder Folge sei. Insbesondere fur xn und xn+1 mit n ≥ N hatten wir dann denWiderspruch

2 = |xn − xn+1| ≤ |xn − α|+ |xn+1 − α| < 2.

Also ist (−1)nn divergent.

5. limn→∞5n3+8n2

n3−4= 5. Wir kurzen

5n3 + 8n2

n3 − 4=

5 + 8 1n

1− 4n3

.

Da 1nn Nullfolge ist, konvergieren nach Satz 4.1 (a) und Folgerung 4.1 auch

5 + 8 1nn und 1− 4 1

n3 n, namlich gegen 5 bzw. 1. Satz 4.1 (b) liefert dann

limn→∞

5n3 + 8n2

n3 − 4=

limn→∞

(5 + 8 1n)

limn→∞

(1− 4n3 )

=5

1= 5.

Bevor wir weitere Beispiele untersuchen, benotigen wir noch die folgende

Definition 4.3: Eine Folge xnn ⊂ R heißt nach oben (bzw. unten) beschrankt,falls ein c ∈ R existiert mit

xn ≤ c (bzw. xn ≥ c) fur alle n ∈ N.

Falls sogar |xn| ≤ c fur alle n ∈ N gilt, heißt die Folge beschrankt.

Bemerkung: Eine Folge ist genau dann beschrankt, wenn sie nach oben und untenbeschrankt ist.

Satz 4.2: Jede konvergente Folge xnn ⊂ R ist beschrankt.

Beweis: Zu ε = 1 existiert ein N ∈ N mit |xn − α| < 1 fur alle n ≥ N , wobeiα = limn→∞ xn sei. Wir haben also

|xn| ≤ |xn − α|+ |α| < 1 + |α| fur alle n ≥ N.

Also ist xnn beschrankt mit c := max1 + |α|, |x1|, . . . , |xN−1|. q.e.d.

Bemerkung: Die Umkehrung des Satzes gilt naturlich nicht; z.B. ist (−1)nn offen-bar beschrankt aber nach obigem Beispiel 4 nicht konvergent.

4. FOLGEN UND REIHEN 31

Beispiele:

1. Fibonacci-Zahlen: f1 := 0, f2 := 1 und rekursiv fn := fn−1 + fn−2. Das gibt fnn =0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, . . ..

Die Folge fnn ist unbeschrankt: Durch vollstandige Induktion zeigt man namlich fn ≥ n−2

fur alle n ∈ N, und n− 2n ist offensichtlich nicht nach oben beschrankt. Nach Satz 4.2 ist

die Folge der Fibonacci-Zahlen also divergent.

2. Die Folge xnn fur ein x ∈ R. Das Konvergenzverhalten hangt von x ab, wirunterscheiden vier Falle.

(i) Fur |x| < 1 gilt limn→∞ xn = 0, da nach Hilfssatz 3.1 (b) – der nunnaturlich auch in R gilt – zu jedem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N existiert mit|x|N < ε und folglich

|xn − 0| = |x|n ≤ |x|N < ε fur alle n ≥ N(ε).

(ii) Fur x = 1 haben wir die konstante Folge 1nn = 1n mit limn→∞ 1n =1.

(iii) Fur x = −1 haben wir die divergente Folge (−1)nn.(iv) Fur |x| > 1 ist xnn unbeschrankt nach Hilfssatz 3.1 (a), also divergent

gemaß Satz 4.2.

Definition 4.4: (Bestimmte Divergenz)Eine Folge xnn ⊂ R heißt bestimmt divergent gegen +∞ (bzw. gegen −∞), wennzu jedem c ∈ R ein N ∈ N existiert, so dass

xn > c (bzw. xn < c) fur alle n ≥ N

richtig ist. Wir schreiben dann

limn→∞

xn = +∞ (bzw. limn→∞

xn = −∞).

Bemerkung: Offensichtlich divergiert xnn genau dann bestimmt gegen +∞, wenn−xnn bestimmt gegen −∞ divergiert.

Beispiele:

1. Die Folge nn divergiert bestimmt gegen +∞. Das erklart auch die Schreib-weise limn→∞, die nun eigentlich genauer limn→+∞ lauten musste.

2. Nach obigem Beispiel divergiert die Folge der Fibonacci-Zahlen bestimmt gegen +∞.

3. Fur b > 1 divergiert bnn bestimmt gegen +∞, vgl. Hilfssatz 3.1 (a).

32 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

4. Die Folge (−1)nnn ist divergent, aber nicht bestimmt divergent. Ist namlich (−1)nn > cfur ein n ∈ N und ein c ≥ 1

2, so folgt fur das (n+ 1)-te Glied der Folge:

(−1)n+1(n+ 1) = −(−1)nn− (−1)n < −c+ 1 ≤ c.

Satz 4.3:

(a) Es sei xnn ⊂ R bestimmt divergent gegen +∞ oder −∞. Dann gilt xn = 0fur alle n ≥ n0 mit einem n0 ∈ N, und x−1

n n≥n0 ist eine Nullfolge.

(b) Es sei xnn Nullfolge mit xn > 0 (bzw. xn < 0) fur alle n ≥ N . Dann istx−1

n n≥N bestimmt divergent gegen +∞ (bzw. gegen −∞).

Beweis: Wir zeigen nur (a) und uberlassen (b) zur Ubung.

Sei xnn bestimmt divergent gegen +∞. Dann existiert zu beliebigem ε > 0 einN(ε) ∈ N mit xn >

1ε fur alle n ≥ N(ε). Insbesondere folgt xn > 0 fur n ≥ n0 :=

N(1). Weiter finden wir

0 < x−1n < ε bzw. |x−1

n | < ε fur alle n ≥ N(ε),

d.h. x−1n n≥n0 ist Nullfolge. Gilt schließlich limn→∞ xn = −∞, so gehen wir zur

negativen Folge −xnn uber.q.e.d.

Bemerkung: Mit den Symbolen +∞,−∞ wird R zu der erweiterten ZahlengeradenR := −∞ ∪ R ∪ +∞, die wir gemaß −∞ < x < +∞ fur alle x ∈ R anordnenkonnen. Allerdings ist R kein Korper, wie auch immer Addition und Multiplikationin R erklart werden.

Definition 4.5: (Unendliche Reihen)Sei xkk ⊂ R eine Folge, so erklaren wir die zugehorigen Partialsummen

sn :=n∑k=1

xk = x1 + x2 + . . .+ xn.

Die Folge snn ⊂ R der Partialsummen heißt dann (unendliche) Reihe. Konvergiertsnn, so sagen wir, dass die zugehorige Reihe konvergiert und schreiben fur denGrenzwert

∞∑k=1

xk := limn→∞

sn = limn→∞

( n∑k=1

xk

).

4. FOLGEN UND REIHEN 33

Bemerkungen:

1. Etwas lax schreiben wir meist auch∑∞

k=1 xk fur die Folge der Partialsummen,also als Symbol fur die Reihe selbst (unabhangig von deren Konvergenz).

2. Eine Reihe ist also eine spezielle Folge, namlich die von Partialsummen. Um-gekehrt kann man jede Folge ynn auch durch eine Reihe darstellen, denn esgilt

yn = y1 +

n∑k=2

(yk − yk−1) (Teleskopsumme).

3. Aus Folgerung 4.1 angewendet auf die Folge der Partialsummen ergibt sichsofort: Konvergieren

∑∞k=1 xk und

∑∞k=1 yk und sind a, b ∈ R, so konvergiert

auch∑∞

k=1(axk + byk), und es gilt

∞∑k=1

(axk + byk) = a∞∑k=1

xk + b∞∑k=1

yk.

Beispiele:

1. Es gilt limn→∞n

n+1= limn→∞

1

1+ 1n

= 1. Setzen wir yn = nn+1

, so folgt andererseits

yk − yk−1 =k

k + 1− k − 1

k=k2 − (k2 − 1)

k(k + 1)=

1

k(k + 1)fur k ≥ 2

und somit

n

n+ 1= yn = y1 +

n∑k=2

(yk − yk−1) =1

2+

n∑k=2

1

k(k + 1)=

n∑k=1

1

k(k + 1).

Wir erhalten also

∞∑k=1

1

k(k + 1)= lim

n→∞

n∑k=1

1

k(k + 1)= lim

n→∞

n

n+ 1= 1.

2. Unendliche geometrische Reihe:∞∑k=0

xk. Fur |x| < 1 gilt nach Satz 2.3 und

einem der obigen Beispiele:

∞∑k=0

xk = limn→∞

n∑k=0

xk = limn→∞

1− xn+1

1− x=

1

1− x

(1−x lim

n→∞xn

)=

1

1− x. (4.1)

34 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

5 Vollstandigkeit reeller Zahlen

Wir widmen uns nun wieder dem Studium der reellen Zahlen. Insbesondere werdenwir die sogenannte

”Vollstandigkeit“ von R beweisen, die der eigentliche Grund fur

die Konstruktion von R war und die reellen Zahlen gegenuber den rationalen Zahlenauszeichnet. Aus der Vollstandigkeit folgt auch die Losbarkeit der Gleichung xs = cin R, wobei s ∈ N beliebig und c ∈ R positiv ist. Wir beginnen mit der

Definition 5.1: Eine Menge M ⊂ R heißt dicht in R, falls es zu jedem x ∈ R eineFolge xnn ⊂M so gibt, dass lim

n→∞xn = x gilt.

Bemerkung: Ist M ⊂ R dicht in R, so lasst sich jede reelle Zahl also beliebig gutdurch Elemente aus M approximieren. Naturlich liegt R selbst dicht in R. ErstesHauptziel des Paragraphen ist der folgende

Satz 5.1: Q liegt dicht in R.

Fur den Beweis benotigen wir noch die anschließende einfache Folgerung desArchimedischen Axioms:

Hilfssatz 5.1: Zu jeder Zahl x ∈ R existiert genau ein ν ∈ Z, so dass ν ≤ x < ν+1richtig ist.

Beweis: Ubungsaufgabe!

Beweis von Satz 5.1: Zu gegebenem x ∈ R konstruieren wir mittels vollstandigerInduktion eine Folge xnn ⊂ Q von Dezimalbruchen

xn =n∑k=0

ak · 10−k ∈ Q mit a0 ∈ Z, ak ∈ 0, 1, . . . , 9 fur k ∈ N,

so dass xn → x (n→ ∞) erfullt ist.

1. Sei zunachst 0 ≤ x < 1 richtig. Wir behaupten, dass dann eine Folge akk ⊂0, 1, . . . , 9 und eine Nullfolge ξnn ⊂ R so existieren, dass fur alle n ∈ Ngilt

x =n∑k=1

ak · 10−k + ξn und 0 ≤ ξn < 10−n. (5.1)

Offenbar folgt daraus die Behauptung mit a0 = 0.

(IA) n = 1. Wegen 0 ≤ x · 10 < 10 und Hilfssatz 5.1 existiert ein a1 ∈0, 1, 2, . . . , 9, so dass a1 ≤ x·10 < a1+1 richtig ist. Mit ξ1 := x−a1 ·10−1

haben wir dann

x = a1 · 10−1 + ξ1 und 0 ≤ ξ1 < 10−1.

5. VOLLSTANDIGKEIT REELLER ZAHLEN 35

(IS) n → n+ 1: Angenommen wir haben die Darstellung (5.1) fur ein n ∈ N.Dann ist 0 ≤ ξn ·10n+1 < 10 richtig und wieder nach Hilfssatz 5.1 existiertein an+1 ∈ 0, 1, . . . , 9 mit an+1 ≤ ξn ·10n+1 < an+1+1. Setzen wir nochξn+1 := ξn − an+1 · 10−(n+1), so finden wir

x(IV )=

n∑k=1

ak10−k + ξn =

n+1∑k=1

ak · 10−k + ξn+1

und 0 ≤ ξn+1 < 10−(n+1), wie behauptet.

2. Sei nun x ∈ R beliebig. Nach Hilfssatz 5.1 existiert ein ν ∈ Z mit ν ≤ x < ν+1.Dann gilt fur y := x − ν naturlich 0 ≤ y < 1 und nach 1) existiert eine Folgeynn mit yn =

∑nk=1 ak · 10−k, ak ∈ 0, 1, . . . , 9, so dass yn → y (n → ∞)

richtig ist. Also hat xn := ν + yn die gesuchte Form mit a0 := ν ∈ Z, und esgilt xn → x (n→ ∞), wie behauptet.

q.e.d.

Bemerkung: Der Beweis von Satz 5.1 bestatigt ubrigens unsere Vorstellung, dasssich jede reelle Zahl als (unendlicher) Dezimalbruch darstellen lasst. Wir haben hiernamlich

x = limn→∞

∞∑k=0

ak · 10−k = a0, a1a2a3 . . .

gezeigt. Allerdings ist diese Darstellung nicht eindeutig, denn z.B. lasst sich die Zahl1 sowohl als 1, 00000 . . . schreiben, als auch als

0, 999999 . . . =

∞∑n=1

9 · 10−n = 9 ·∞∑n=0

( 1

10

)n− 9

(4.1)=

9

1− 110

− 9 = 1.

Das zentrale Ergebnis dieses Paragraphen (und eigentlich des gesamten Kapitels)ist nun der folgende

Satz 5.2: (Cauchysches Konvergenzkriterium)Eine Folge xnn ⊂ R ist genau dann konvergent, wenn xnn eine Cauchyfolge ist.

Definition 5.2: Ein bewerteter Korper K heißt vollstandig, wenn jede Cauchyfolgexnn ⊂ K einen Grenzwert x ∈ K besitzt.

Bemerkungen:

1. Obiger Satz enthalt also die Aussage, dass R vollstandig ist; genau das ist diezusatzliche Eigenschaft von R gegenuber Q.

36 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

2. Wir haben Cauchyfolgen und Konvergenz bisher nur in R erklart. Hierzubenotigt man aber nur einen

”Abstandsbegriff“, der in bewerteten Korpern

erklart ist; vgl. Satz 1.4 und die anschließende Bemerkung. Insbesondere istDefinition 5.2 in C sinnvoll, vgl. § 7.

Beweis von Satz 5.2:

•”⇒“: Sei xnn konvergent mit Grenzwert x ∈ R. Dann existiert zu jedemε > 0 ein N = N(ε) ∈ N mit |xn − x| < ε

2 fur alle n ≥ N . Folglich haben wir

|xn − xm| ≤ |xn − x|+ |xm − x| < ε fur alle m,n ≥ N(ε),

d.h. xnn ist Cauchyfolge.

•”⇐“: Sei nun xnn Cauchyfolge. Dann existiert zu beliebigem ε > 0 einN = N(ε) ∈ N, so dass |xn − xm| < ε

2 fur alle m,n ≥ N(ε). Zu jedem xn,n ∈ N, existiert nach Satz 5.1 ein an ∈ Q mit |xn − an| < ε

4 . Somit folgt

|an − am| ≤ |an − xn|+ |xn − xm|+ |xm − am| < ε fur alle m,n ≥ N(ε).

Also ist ann eine rationale Cauchyfolge und nach Hilfssatz 4.1 gilt an →x (n→ ∞) mit der reellen Zahl x := [an]. Wahlen wir noch N(ε) ∈ N so groß,dass |x− an| < 3ε

4 fur alle n ≥ N(ε), so erhalten wir schließlich

|x− xn| ≤ |x− an|+ |an − xn| <3ε

4+ε

4= ε fur alle n ≥ N(ε),

d.h. die Folge xnn konvergiert gegen x. q.e.d.

So kompakt sich das Cauchysche Konvergenzkriterium auch formulieren lasst, soist es doch etwas unanschaulich. Genau umgekehrt verhalt es sich mit dem folgenden,praktischen Intervallschachtelungs-Prinzip: Zunachst benotigen wir aber noch die

Definition 5.3: (Intervalle reeller Zahlen)Zu a, b ∈ R erklaren wir:

• offenes Intervall: (a, b) := x ∈ R : a < x < b.

• abgeschlossenes Intervall: [a, b] := x ∈ R : a ≤ x ≤ b.

• halboffene Intervalle:

(a, b] := x ∈ R : a < x ≤ b, [a, b) := x ∈ R : a ≤ x < b.

Die Punkte a und b heißen Endpunkte des Intervalls.

5. VOLLSTANDIGKEIT REELLER ZAHLEN 37

Bemerkungen:

1. Fur a > b sind alle angegebenen Intervalle leer. Fur a = b sind offene undhalboffene Intervalle leer, wahrend das abgeschlossene Intervall [a, a] nur denPunkt a enthalt.

2. Es kann auch a = −∞ und b = +∞ gewahlt werden, wenn der jeweiligeEndpunkt nicht zum Intervall gehort.

3. Mit |I| = diam(I) := b − a ≥ 0 bezeichnen wie den Durchmesser oder Langeeines nichtleeren Intervalls I mit den Endpunkten a ≤ b. Offensichtlich gilt furbeliebige x, x′ ∈ I dann |x− x′| ≤ |I|.

Satz 5.3: (Intervallschachtelungsprinzip)Es sei I1 ⊃ I2 ⊃ . . . ⊃ In ⊃ In+1 ⊃ . . . eine absteigende Folge von nichtleerenabgeschlossenen Intervallen in R mit der Eigenschaft

limn→∞

|In| = 0. (5.2)

Dann gibt es genau eine reelle Zahl x mit x ∈ In fur alle n ∈ N, d.h. x =∩n∈N

In.

Bemerkung: Die Aussage scheint offensichtlich: Eine Folge von ineinander liegendenIntervallen, deren Durchmesser gegen 0 geht, zieht sich auf einen Punkt zusammen.Jedoch wird die Aussage in Q falsch, da der gemeinsame Punkt dann keine rationaleZahl sein muss.

Beweis von Satz 5.3: Schreiben wir In = [an, bn], so besagt Formel (5.2), dass zujedem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N existiert mit 0 ≤ bn− an < ε fur alle n ≥ N(ε). Sindnun m,n ≥ N , so folgt am, an ∈ IN und somit

|an − am| ≤ |IN | = bN − aN < ε fur alle m,n ≥ N(ε),

d.h. ann ist eine Cauchyfolge. Nach Satz 5.2 existiert daher ein Punkt x ∈ R mitlimn→∞ an = x.

Nun gilt am ≤ an ≤ bm fur beliebiges m ∈ N und alle n ≥ m. Gemaß Satz 4.1 (c)liefert der Grenzubergang n→ ∞ nun am ≤ x ≤ bm bzw. x ∈ Im fur alle m ∈ N.

Gabe es schließlich ein weiteres Element x′ ∈∩n∈N In, so hatten wir fur beliebiges

ε > 0:|x− x′| ≤ bN − aN < ε

mit dem oben bestimmten N = N(ε). Also folgt x = x′. q.e.d.

Bemerkung: Die Konstruktion zeigt, dass fur eine Intervallschachtelung mit In =[an, bn] und x =

∩n∈N

In gilt

limn→∞

an = x = limn→∞

bn.

38 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Satz 5.4: Sei c > 0 eine beliebige reelle Zahl. Dann besitzt die Gleichung xs = c furjedes s ∈ N genau eine positive Losung x ∈ R.

Beweis:

• Eindeutigkeit: Sind x1, x2 ∈ R zwei positive Losungen von xs1 = xs2 = c, so folgt aus derSummenformel der geometrischen Reihe:

0 = xs1 − xs2 = (x1 − x2)

s−1∑j=0

xj1xs−j−12 ,

also x1 = x2.

• Existenz:

(i) Sei zunachst c ∈ (0, 1). Wir konstruieren induktiv eine Intervallschachtelung I1 ⊃ I2 ⊃. . ., fur die gilt:

In := [an, bn], |In| =(12

)n−1

, asn ≤ c ≤ bsn fur alle n ∈ N. (5.3)

Setzen wir I1 = [a1, b1] := [0, 1], so gilt (5.3) offenbar fur n = 1. Haben wir die gesuchteSchachtelung bis zu einem n ∈ N konstruiert, so setzen wir xn := 1

2(an + bn) ∈ In und

erklaren

In+1 = [an+1, bn+1] :=

[an, xn], falls xsn ≥ c

[xn, bn], falls xsn < c.

Dann ist offenbar In+1 ⊂ In richtig, und wir haben |In+1| = 12( 12)n−1 = ( 1

2)n sowie

asn+1 ≤ c ≤ bsn+1, also (5.3) fur n+ 1.

Nach Satz 5.3 existiert nun genau ein x ∈∩

n∈N In, d.h. an ≤ x ≤ bn und somitasn ≤ xs ≤ bsn fur alle n ∈ N. Nun liefert auch Jn := [asn, b

sn] eine Intervallschachtelung,

denn offenbar gilt Jn+1 ⊂ Jn fur alle n ∈ N und wir berechnen

|Jn| = bsn − asn = (bn − an)

s−1∑j=0

ajnbs−j−1n ≤ s

(12

)n−1

→ 0 (n→ ∞).

Da aber nun c, xs ∈∩

n∈N Jn richtig ist, liefert Satz 5.3: xs = c.

(ii) Fur c = 1 lost offenbar x = 1 die Gleichung xs = c. Fur c > 1 ist c := c−1 ∈ (0, 1)erfullt. Mit der in (i) konstruierten positiven Losung x der Gleichung xs = c lost dannx := x−1 > 0 die Gleichung xs = c.

q.e.d.

Definition 5.4: Die in Satz 5.4 konstruierte eindeutige Losung x > 0 von xs = cheißt s-te Wurzel von c > 0, und wir schreiben s

√c. Ist q = r

s ∈ Q (r ∈ Z, s ∈ N)beliebig, so setzen wir fur die q-te Potenz von c > 0:

cq = crs := ( s

√c)r.

Bemerkung: Fur alle x, y > 0 und p, q ∈ Q gelten die Rechenregeln

xpyp = (xy)p, xpxq = xp+q, (xp)q = xpq.

Ebenfalls mittels Intervallschachtelung beweisen wir den fundamentalen

5. VOLLSTANDIGKEIT REELLER ZAHLEN 39

Satz 5.5: (Bolzano–Weierstraß)Jede beschrankte Folge xnn ⊂ R besitzt eine konvergente Teilfolge.

Beweis: Da xnn beschrankt ist, existiert ein c > 0 mit −c ≤ xn ≤ c fur alle n ∈ N.Wir konstruieren nun eine Intervallschachtelung I1 ⊃ I2 ⊃ . . . mit den Eigenschaften

• Ik enthalt unendlich viele Glieder der Folge xnn,

• |Ik| = 2c · (12)k−1 fur alle k ∈ N.

Wir starten dazu mit I1 := [−c, c] und definieren im k-ten Schritt Ik+1 wie folgt: IstIk = [ak, bk], so setzen wir yk :=

12(ak + bk) und erklaren

Ik+1 = [ak+1, bk+1] :=

[ak, yk], falls [ak, yk] unendlich viele Glieder

von xnn enthalt

[yk, bk], sonst

.

Wir konstruieren nun eine Teilfolge xnkk mit xnk

∈ Ik fur alle k ∈ N induktiv wiefolgt:

• Fur k = 1 setzen wir n1 = 1, also xn1 = x1 ∈ I1.

• Ist xnk∈ Ik fur ein k ∈ N, so existiert per Konstruktion ein nk+1 > nk mit

xnk+1∈ Ik+1 (da in Ik+1 wieder unendlich viele Glieder von xnn liegen).

Wir haben also ak ≤ xnk≤ bk fur alle k ∈ N. Nach Satz 5.3 und der anschließenden

Bemerkung liefert der Grenzubergang k → ∞:

x = limk→∞

ak ≤ limk→∞

xnk≤ lim

k→∞bk = x

mit einem x ∈ R. Also konvergiert xnkk gegen x, wie behauptet. q.e.d.

Definition 5.5: x ∈ R heißt Haufungswert einer Folge xnn, wenn es eine Teil-folge xnk

k gibt mit limk→∞

xnk= x.

Satz 5.5 besagt also: Jede beschrankte Folge hat einen Haufungswert.

Beispiele:

1. (−1)nn besitzt die Haufungswerte −1 und +1.

2. nn besitzt keine Haufungswerte, da jede Teilfolge unbeschrankt und damitnach Satz 4.2 divergent ist.

3. Es gibt aber auch unbeschrankte Folgen mit Haufungswerten, z.B. hat [1 +(−1)n]nn den Haufungswert 0, da gilt x2k−1 = 0 fur alle k ∈ N.

40 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Definition 5.6: Eine Folge xnn ⊂ R heißt

(i) monoton wachsend (bzw. fallend), falls xn ≤ xn+1 (bzw. xn ≥ xn+1) fur allen ∈ N gilt.

(ii) streng monoton wachsend (bzw. fallend), falls xn < xn+1 (bzw. xn > xn+1)fur alle n ∈ N richtig ist.

Bemerkung: Die Sprechweise ist leider nicht eindeutig. In der Literatur wird haufigz.B. fur monoton wachsende Folge auch

”schwach monoton wachsende“ oder

”mo-

noton nicht fallende“ Folge geschrieben.

Satz 5.6: (Monotone Konvergenz)Jede beschrankte monotone Folge xnn ⊂ R ist konvergent.

Beweis: Sei xnn monoton fallend. Da xnn beschrankt ist, existiert nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß eine konvergente Teilfolge xnkk. Aus der Relation xnk ≥ xnl fur alle k ≤ l erhaltenwir nach Grenzubergang l → ∞ die Ungleichung

xnk ≥ x := liml→∞

xnl fur alle k ∈ N.

Zu beliebigem ε > 0 gibt es nun ein k0 = k0(ε) ∈ N mit |xnk − x| < ε fur alle k ≥ k0(ε). Wir setzenN = N(ε) := nk0(ε). Fur jedes n ≥ N existiert dann ein k ≥ k0 mit nk ≤ n < nk+1. Die Monotonieliefert nun

xnk ≥ xn ≥ xnk+1 ≥ x,

bzw. xnk − x ≥ xn − x ≥ 0. Zusammen mit der Konvergenz der Teilfolge xnkk folgt

|xn − x| ≤ |xnk − x| < ε fur alle n ≥ N(ε),

wie behauptet. Der Fall einer monoton wachsenden Folge xnn ergibt sich nun durch Ubergangzur monoton fallenden Folge −xnn.

q.e.d.

Bemerkung: Satz 5.6 liefert ein handliches Konvergenzkriterium. Z.B. ist jeder De-zimalbruch monoton wachsend.; vgl. Satz 5.1. Ubrigens ist jede monoton wachsendeFolge nach unten beschrankt, namlich durch x1. Entsprechend ist jede monotonfallende Folge nach oben durch x1 beschrankt.

6 Punktmengen in R

IstM eine Menge mit endlich vielen Elementen, so kann man diese mittels 1, 2, . . . , ndurchnummerieren: M = a1, a2, . . . , an mit n =Anzahl der Elemente. Wir sagen,M ist abzahlbar. Um die Situation fur unendliche Mengen zu untersuchen, erinnernwir zunachst an den Begriff einer Bijektion oder bijektiven Abbildung f : M → Nzwischen zwei Mengen M,N :

• f ist surjektiv, falls zu jedem y ∈ N ein x ∈ M mit f(x) = y existiert,d.h. f(M) = N .

6. PUNKTMENGEN IN R 41

• f ist injektiv, falls fur x1, x2 ∈M mit x1 = x2 gilt f(x1) = f(x2).

• f ist bijektiv, wenn f surjektiv und injektiv ist.

Definition 6.1: Eine unendliche Menge M heißt (unendlich) abzahlbar, wenn eineBijektion f : N →M existiert. Anderenfalls heißt M uberabzahlbar.

Bemerkungen:

1. IstM unendlich abzahlbar, so gibt es also eine Folge xnn, so dassM = xn :n ∈ N. Wir schreiben auch kurz (und etwas unexakt) M = xnn.

2. Zwei Mengen M,N , fur die eine Bijektion f : M → N existiert, heißengleichmachtig. Eine unendlich abzahlbare Menge ist also gleichmachtig zu dennaturlichen Zahlen.

Beispiele:

1. Die Menge N der naturlichen Zahlen ist abzahlbar mit der identischen Abbil-dung f : N → N, n 7→ n.

2. Die ganzen Zahlen Z sind abzahlbar mit der Bijektion

f(n) :=

12n, falls n gerade ist

12(1− n), falls n ungerade ist

, n ∈ N.

3. Sind M und N abzahlbar, so ist auch M ∪N abzahlbar. Deutlich allgemeinergilt der folgende

Satz 6.1: Die Vereinigung abzahlbar vieler abzahlbarer Mengen Mn, n ∈ N, istabzahlbar.

Beweis: Wir schreiben Mn = xnm : m ∈ N fur n ∈ N. Die Elemente der Vereini-gungsmenge ∪

n∈NMn = xnm : m,n ∈ N

konnen wir wie folgt abzahlen:

M1 : x11 → x12 x13 → x14 . . .

M2 : x21 x22 x23 x24 . . .↓

M3 : x31 x32 x33 x34 . . .

M4 : x41 x42 x43 x44 . . .... ↓

......

...

,

42 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

also mit der Abzahlung y1 := x11, y2 := x12, y3 := x21, y4 := x31, . . . Eventuelldoppelt auftretende Elemente werden bei der Abzahlung einfach ubergangen.

q.e.d.

Folgerung 6.1: Die Menge der rationalen Zahlen ist abzahlbar.

Beweis: Wir setzen Mn := mn : m ∈ Z fur n ∈ N. Da Z abzahlbar ist, ist auchMn abzahlbar fur jedes n ∈ N. Und nach Satz 6.1 gilt dies auch fur die Vereinigung∪

n∈NMn =

mn

: m ∈ Z, n ∈ N= Q,

wie behauptet. q.e.d.

Folgerung 6.1 besagt, dass die rationalen Zahlen gleichmachtig zu den naturli-chen Zahlen sind. Diese Aussage wird fur die reellen Zahlen falsch:

Satz 6.2: Die Menge der reellen Zahlen ist uberabzahlbar.

Beweis (Cantorsches Diagonalverfahren): Wir zeigen, dass bereits die Menge (0, 1) = x ∈ R : 0 <x < 1 uberabzahlbar ist. Ware namlich (0, 1) abzahlbar, so gabe es eine Folge xnn mit (0, 1) =

xn : n ∈ N. Nach Satz 5.1 konnen wir jedes xn als Dezimalbruch darstellen: xn =∞∑

m=1

anm ·10−m

mit anm ∈ 0, 1, . . . , 9 fur alle n,m ∈ N, also

x1 = 0, a11a12a13a14 . . . ,

x2 = 0, a21a22a23a24 . . . ,

x3 = 0, a31a32a33a34 . . . ,

x4 = 0, a41a42a43a44 . . .

Wir betrachten nun y =∞∑

m=1

cm · 10−m ∈ (0, 1) mit

cm :=

amm + 2, falls amm ≤ 4,

amm − 2, falls amm > 4.

Dann gilt also |cm − amm| = 2 fur alle m ∈ N. Also unterscheidet sich y von xm an der m-tenNachkommastelle mindestens um 2, so dass folgt

|y − xm| ≥ 10−m fur alle m ∈ N

und insbesondere y ∈ xn : n ∈ N. Also war die Annahme falsch, d.h. (0, 1) und damit auch Rsind uberabzahlbar.

q.e.d.

Folgerung 6.2: Die Menge der irrationalen Zahlen R \Q ist uberabzahlbar.

Beweis: Anderenfalls ware nach Folgerung 6.1 auch (R \ Q) ∪ Q = R abzahlbar, imWiderspruch zu Satz 6.2.

q.e.d.

Wir untersuchen nun Teilmengen von R genauer und beginnen mit der

6. PUNKTMENGEN IN R 43

Definition 6.2: Eine Menge M ⊂ R heißt nach oben (bzw. unten) beschrankt,wenn ein c ∈ R existiert mit

x ≤ c (bzw. x ≥ c) fur alle x ∈M.

Man nennt dann c obere (bzw. untere) Schranke vonM . Schließlich heißt die MengeM beschrankt, wenn sie sowohl nach oben als auch nach unten beschrankt ist.

Bemerkungen:

1. M ist genau dann beschrankt, wenn ein c > 0 existiert mit |x| ≤ c fur allex ∈M .

2. Die zu einer beschrankten Folge xnn ⊂ R gehorige Menge xn : n ∈ N istoffenbar beschrankt.

Definition 6.3:

(a) Ist M ⊂ R nach oben beschrankt, so heißt σ ∈ R kleinste obere Schranke oderSupremum von M , i.Z. σ = supM , falls folgendes gilt:

(i) σ ist obere Schranke von M , d.h. x ≤ σ fur alle x ∈M .

(ii) Fur jede weitere obere Schranke σ von M gilt σ ≤ σ.

(b) Entsprechend heißt τ ∈ R großte untere Schranke oder Infimum, i.Z. τ =infM , zu einer nach unten beschrankten Menge M ⊂ R, wenn gilt

(i) τ ist untere Schranke von M .

(ii) Fur jede weitere untere Schranke τ von M gilt τ ≥ τ .

Aus der Definition ist sofort klar, dass Infimum und Supremum, wenn sie existie-ren, eindeutig bestimmt sind. Außerdem haben wir die folgende Charakterisierungvon Infimum und Supremum:

Hilfssatz 6.1: Sei M ⊂ R nach oben beschrankt. Dann gilt σ = supM genau dann,wenn σ obere Schranke ist und zu jedem ε > 0 ein x ∈ M existiert mit x ≥ σ − ε.Entsprechend ist τ = infM fur eine nach unten beschrankte Menge M ⊂ R genaudann richtig, wenn τ untere Schranke ist und zu jedem ε > 0 ein x ∈ M existiertmit x ≤ τ + ε.

Beweis: Ubungsaufgabe!

Satz 6.3: Jede nichtleere, nach oben (bzw. unten) beschrankte MengeM ⊂ R besitztein Supremum (bzw. Infimum).

44 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Beweis: Wir zeigen nur die Existenz des Supremums. Die des Infimums folgt danndurch Ubergang zur Menge −M := x ∈ R : −x ∈M.

Zum Beweis betrachten wir wieder eine Intervallschachtelung: Wir konstruierenIntervalle In = [xn, cn] mit In+1 ⊂ In fur alle n ∈ N, so dass gilt:

|In| ≤(12

)n−1(c1 − x1), xn ∈M, cn ist obere Schranke an M. (6.1)

• n = 1: DaM nichtleer und nach oben beschrankt ist, existiert ein x1 ∈M undein c1 mit x ≤ c1 fur alle x ∈M .

• n → n + 1: Sei In = [xn, cn] konstruiert mit den Eigenschaften (6.1). Dannsetzen wir yn := 1

2(xn + cn) und erklaren In+1 wie folgt:

(i) Falls M ∩ [yn, cn] = ∅, dann ist yn obere Schranke an M und wir setzenxn+1 := xn ∈M , cn+1 := yn.

(ii) Falls M ∩ [yn, cn] = ∅, so existiert ein xn+1 ≥ yn mit xn+1 ∈ M . Dannsetzen wir cn+1 := cn.

Offenbar ist dann (6.1) erfullt fur In+1 und wir haben In+1 ⊂ In.

Nach Satz 5.3 und der anschließenden Bemerkung konvergieren die Folgen xnnund cnn gegen σ ∈

∩n∈N In. Wir zeigen noch σ = supM :

Wegen x ≤ cn fur alle x ∈ M und n ∈ N liefert Grenzubergang x ≤ σ fur allex ∈ M , d.h. σ ist obere Schranke. Gabe es eine obere Schranke σ < σ, so wareσ − σ > 0. Wegen limn→∞ xn = σ existierte dann ein N ∈ N mit |xN − σ| < σ − σund folglich

xN ≥ σ − |xN − σ| > σ − (σ − σ) = σ,

im Widerspruch zu xN ∈M . q.e.d.

Beispiele:

1. Sei [a, b) ein halboffenes Intervall mit a < b. Dann gilt

inf[a, b) = a, sup[a, b) = b.

In der Tat ist a offenbar untere Schranke von [a, b) := x ∈ R : a ≤ x < b. Und jede weitereuntere Schranke a′ muss a′ ≤ a erfullen, d.h. a = inf[a, b).

Andererseits ist offenbar b obere Schranke fur [a, b). Und ist ε > 0 beliebig gewahlt, so setzenwir x := maxa, b− ε. Dann ist x ∈ [a, b) und x ≥ b− ε richtig, und nach Hilfssatz 6.1 giltb = sup[a, b).

2. Fur A := n+1n

: n ∈ N ist inf A = 1 erfullt, denn es gelten n+1n

> 1 fur alle n ∈ N undlim

n→∞n+1n

= 1, also auch n+1n

≤ 1 + ε fur beliebiges ε > 0 und hinreichend großes n ∈ N.

6. PUNKTMENGEN IN R 45

Bemerkungen:

1. Obige Beispiele zeigen, dass infM zur MengeM dazu gehoren kann oder nicht.Wenn infM ∈M gilt, so schreiben wir auch minM := infM fur das Minimumvon M . Ebenso sprechen wir vom Maximum von M , falls supM ∈M gilt undschreiben dann maxM := supM . Man beachte, dass fur Mengen mit endlichvielen Elementen immer minM = infM und maxM = supM erfullt sind.

2. Fur nach oben bzw. nach unten unbeschrankte Mengen M ⊂ R schreiben wirauch

supM = +∞ bzw. infM = −∞.

Wir wenden uns nun wieder reellen Folgen zu. In Definition 5.5 haben wir denBegriff des Haufungswertes einer Folge xnn als Grenzwert einer Teilfolge xnk

kerklart. Betrachtet man alle Haufungswerte einer Folge, wird man auf die folgendenBegriffe gefuhrt:

Definition 6.4: Sei xnn ⊂ R eine beschrankte Folge und bezeichne H die Mengeihrer Haufungswerte. Wir setzen dann

lim infn→∞

xn := infH (Limes inferior),

lim supn→∞

xn := supH (Limes superior).

Bemerkung: Offenbar ist H beschrankt, wenn xnn beschrankt ist. Man beachtenoch

lim infn→∞

(−xn) = − lim supn→∞

xn, lim supn→∞

(−xn) = − lim infn→∞

xn.

Beispiel: Die Folge xnn = (−1)n + 1nn ist offenbar beschrankt und wir haben

die konvergenten Teilfolgen

x2k = 1 +1

2k→ 1 (k → ∞), x2k−1 = −1 +

1

2k − 1→ −1 (k → ∞).

Also gilt H = −1, 1 und lim infn→∞ xn = −1, lim supn→∞ xn = 1. Man beachte,dass lim infn→∞ xn und lim supn→∞ xn zu H gehoren. Dies ist immer so:

Satz 6.4: lim infn→∞ xn ist der kleinste, lim supn→∞ xn der großte Haufungswerteiner beschrankten Folge xnn ⊂ R, d.h.

lim infn→∞

xn = minH, lim supn→∞

xn = maxH.

46 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Beweis: Wir haben zu zeigen, dass ξ := lim infn→∞ xn = infH ∈ H richtig ist, also eine Teilfolgexnkk mit limk→∞ xnk = ξ existiert. Angenommen es gabe keine solche Teilfolge. Dann existiertalso ein ε > 0 und ein N ∈ N, so dass

|ξ − xn| ≥ ε fur alle n ≥ N (6.2)

erfullt ist. Andererseits ist ξ = infH, nach Hilfssatz 6.1 gibt es also ein y ∈ H mit

ξ ≤ y ≤ ξ +ε

2. (6.3)

Zum Haufungswert y ∈ H existiert eine Teilfolge xnkk von xnn mit xnk → y (k → ∞).

Wir wahlen nun k so groß, dass nk ≥ N und |xnk− y| < ε

2gilt. Wegen ξ ≤ y haben wir dann

ξ − xnk≤ y − xn

k< ε

2und folglich liefert (6.2) sogar ξ ≤ xn

k− ε. Aus (6.3) folgt schließlich

xnk<ε

2+ y

(6.3)

≤ ξ + ε ≤ xnk− ε+ ε = xn

k,

also der Widerspruch xnk< xn

k. Somit muss doch lim infn→∞ xn ∈ H gelten. Durch Ubergang zur

Folge −xnn folgt schließlich noch lim supn→∞ xn ∈ H.q.e.d.

Satz 6.5: (Charakterisierung von lim sup)Sei xnn ⊂ R eine beschrankte Folge und η ∈ R. Dann ist η = lim supn→∞ xngenau dann erfullt, wenn gilt:

(i) η ist Haufungswert von xnn.

(ii) Fur alle ε > 0 existiert ein N = N(ε) ∈ N, so dass gilt

xn < η + ε fur alle n ≥ N(ε).

Beweis:

•”⇒“: Sei also η = lim supn→∞ xn. Nach Satz 6.4 ist dann η ∈ H, also (i) erfullt.Ware (ii) falsch, so gabe es ein ε > 0 und eine Teilfolge x′kk = xnk

k mit

x′k ≥ η + ε fur alle k ∈ N. (6.4)

Da x′kk beschrankt ist, existiert nach dem Satz von Bolzano–Weierstraß eineweitere Teilfolge x′kll ⊂ x′kk ⊂ xnn und ein ζ ∈ R mit x′kl → ζ (l → ∞).Also ist ζ ∈ H und somit ζ ≤ η. Andererseits liefert aber (6.4) angewendet aufx′kll nach Grenzubergang l → ∞: ζ ≥ η + ε, Widerspruch!

•”⇒“: Seien nun (i) und (ii) erfullt. Ware η = lim supn→∞ xn = maxH, so gabees ein ζ ∈ H mit ζ > η. Wir setzen ε := ζ−η

2 . Fur die Teilfolge xnkk mit

limk→∞ xnk= ζ existiert dann ein k ∈ N, so dass nk ≥ N(ε) und |xn

k− ζ| < ε

richtig ist. Aus (ii) fur n = nk erhalten wir dann

xnk< η + ε = η +

ζ − η

2= ζ − ζ − η

2= ζ − ε < xnk

,

Widerspruch! Also ist η = maxH, wie behauptet. q.e.d.

7. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN 47

Wir halten noch die entsprechende Aussage fur den Limes inferior fest:

Satz 6.6: (Charakterisierung von lim inf)Sei xnn eine beschrankte Folge und ξ ∈ R. Dann ist ξ = lim infn→∞ xn genaudann erfullt, wenn gilt:

(i) ξ ist Haufungswert von xnn.

(ii) Fur alle ε > 0 existiert ein N = N(ε) ∈ N, so dass gilt

xn > ξ − ε fur alle n ≥ N(ε).

Bemerkungen:

1. Ohne Beweis notieren wir die Identitaten

lim supn→∞

xn = limn→∞

(supxk : k ≥ n

),

lim infn→∞

xn = limn→∞

(infxk : k ≥ n

).

Diese Darstellungen werden haufig auch als Definition von lim sup und lim infverwendet. Sie sind zwar etwas unanschaulich, haben aber den Vorteil, dasssie auch fur unbeschrankte Folgen Sinn machen: Ist xnn etwa nach obenunbeschrankt, so ist supxk : k ≥ n = +∞ fur alle n ∈ N. Dann setzen wir

lim supn→∞

xn = +∞.

Entsprechend ist fur eine nach unten unbeschrankte Folge

lim infn→∞

xn = −∞.

2. Als Ubungsaufgabe zeige man: Eine Folge xnn ⊂ R ist genau dann konver-gent gegen α ∈ R, wenn sie beschrankt ist und wenn gilt

lim infn→∞

xn = α = lim supn→∞

xn.

7 Die komplexen Zahlen

Ausgehend von der reellen Ebene R2 = R×R der geordneten Paare z = (x, y) ∈ R2,wollen wir nun den Korper der komplexen Zahlen C definieren. Hierzu erklaren wirAddition und Multiplikation wie folgt: Fur z1 = (x1, y1), z2 = (x2, y2) setzen wir

z1 + z2 := (x1 + x2, y1 + y2) (komplexe Addition),

z1 · z2 = z1z2 := (x1x2 − y1y2, x1y2 + x2y1) (komplexe Multiplikation).(7.1)

Geometrisch entspricht die Addition in C der Vektoraddition in R2. Eine geometri-sche Deutung der komplexen Multiplikation folgt erst im 3.Kapitel.

48 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Satz 7.1: (R2,+, ·) ist ein Korper mit

Nullelement: 0 := (0, 0),

Einselement: 1 := (1, 0),

negativem Element: zu z = (x, y) setzen wir −z := (−x,−y),inversem Element: zu z = (x, y) = 0 setzen wir z−1 :=

(x

x2+y2, −yx2+y2

).

Wir schreiben (C,+, ·) oder einfach C fur den Korper der komplexen Zahlen.

Beweis:

1. Die Axiome (A1) und (A2) sind offensichtlich, indem man die entsprechenden Gesetze furR komponentenweise benutzt. Ebenso folgt auch (A3) mit dem oben erklarten Nullelement.Schließlich haben wir fur z = (x, y):

z + (−z) (7.1)=(x+ (−x), y + (−y)

)= (0, 0) = 0,

also (A4).

2. (M1) ist wieder klar, da die komplexe Multiplikation symmetrisch bezuglich der Vertau-schungen x1 ↔ x2 und y1 ↔ y2 ist. Zum Beweis von (M2) betrachten wir z1 = (x1, y1),z2 = (x2, y2), z3 = (x3, y3) und berechnen

(z1z2)z3 = (x1x2 − y1y2, x1y2 + x2y1) · (x3, y3)=((x1x2 − y1y2)x3 − (x1y2 + x2y1)y3, (x1x2 − y1y2)y3 + (x1y2 + x2y1)x3

)und

z1(z2z3) = (x1, y1) · (x2x3 − y2y3, x2y3 + x3y2)

=(x1(x2x3 − y2y3)− y1(x2y3 + x3y2), x1(x2y3 + x3y2) + y1(x2x3 − y2y3)

).

Ein Vergleich der rechten Seiten zeigt (M2). Mit dem oben erklarten Einselement (1, 0) habenwir fur beliebiges z = (x, y) ∈ C:

z · 1 = (x, y) · (1, 0) = (x · 1− y · 0, x · 0 + y · 1) = (x, y) = z,

also (M3). Schließlich gilt auch (M4), denn wir berechnen mit der Inversen zu z = (x, y) = 0:

zz−1 = (x, y) ·( x

x2 + y2,

−yx2 + y2

)=

(x

x

x2 + y2− y

−yx2 + y2

, x−y

x2 + y2+ y

x

x2 + y2

)= (1, 0) = 1.

3. Das Distributivgesetz lasst sich leicht als Ubungsaufgabe nachrechnen. q.e.d.

Bemerkungen:

1. Wir konnen wieder Subtraktion und Division erklaren:

z1 − z2 := z1 + (−z2),z1z2

:= z1 · z−12 , falls z2 = 0.

7. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN 49

2. Es gelten alle fur beliebige Korper abgeleiteten Rechenregeln. Insbesonderesind Null- und Einselement sowie negatives und inverses Element eindeutigbestimmt.

Wir wollen nun den Korper R als Unterkorper von C identifizieren: Hierzu be-trachten wir die Teilmenge

CR :=z = (x, y) ∈ C : y = 0

.

Fur beliebige z1 = (x1, 0), z2 = (x2, 0) ∈ CR erhalten wir dann aus (7.1):

(x1, 0) + (x2, 0) = (x1 + x2, 0),

(x1, 0) · (x2, 0) = (x1 · x2, 0).

Also sind mit z1, z2 ∈ CR auch z1 + z2, z1 · z2 ∈ CR. Ferner gilt 0, 1 ∈ CR. Und mitz ∈ CR ist offenbar auch −z ∈ CR und fur z = 0 auch z−1 ∈ CR richtig. Also ist CRein Unterkorper von C, d.h. eine Teilmenge von C, die bez. der Rechenoperationenin C einen Korper bildet.

Da außerdem die komplexe Addition und Multiplikation von Elementen aus CRin der ersten Komponente den reellen Operationen entsprechen, konnen wir CR mitR identifizieren durch den Korperisomorphismus:

i : R → CR, x 7→ (x, 0).

In diesem Sinne gilt alsoR ⊂ C.

Geometrisch: In der komplexen Ebene C werden die Zahlen auf der x-Achse alsreelle Zahlen aufgefasst; man spricht daher von der reellen Achse. Die y-Achse heißtimaginare Achse.

Die wichigste komplexe Zahl ist die imaginare Einheit

i := (0, 1).

Sie hat die Eigenschaft

i2 = (0, 1) · (0, 1) = (−1, 0) = −1, (7.2)

d.h. z = i ist Losung der Gleichung

z2 + 1 = 0.

Mit i berechnen wir fur beliebige z = (x, y) ∈ C:

x+ iy = (x, 0) + (0, 1)(y, 0) = (x, y) = z.

50 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Die linke Seite dieser Gleichung werden wir i.F. als Schreibweise fur die komplexeZahl z verwenden, also

z = x+ iy, x, y ∈ R.

Dabei heißt x Realteil und y Imaginarteil von z, und wir schreiben

x = Re z, y = Im z.

Zwei Zahlen z1, z2 ∈ C stimmen genau dann uberein, wenn sowohl ihr Real- als auchihr Imaginarteil ubereinstimmen.

Wir bemerken, dass man mit komplexen Zahlen wie mit reellen rechnen kann,wenn man (7.2) beachtet. Z.B. ist

z2 = (x+ iy)2 = x2 + 2ixy + (iy)2

= x2 + 2ixy + i2y2(7.2)= x2 + 2ixy − y2

richtig, also

Re(z2) = x2 − y2, Im(z2) = 2xy.

Schließlich sei angemerkt, dass C nicht angeordnet werden kann: Gabe es namlichden Begriff der Positivitat, so dass (O1) und (O2) aus Definition 1.2 erfullt sind, sofolgte daraus z.B. fur i = 0 nach Satz 1.3 (f): i2 > 0. Wegen Formel (7.2) ist aberi2 = −1 < 0, denn es gilt 1 = 12 > 0, Widerspruch! Wir werden aber gleich sehen,dass wir C bewerten konnen.

Definition 7.1: Sei z = x+ iy ∈ C, so heißt

z := x− iy

die konjugiert komplexe Zahl zu z; Sprechweisen:”z konjugiert“ oder

”z quer“. Mit

|z| :=√x2 + y2

bezeichnen wir den Betrag von z.

Bemerkungen:

1. Die Konjugation z 7→ z entspricht geometrisch einer Spiegelung an der reellenAchse. Es gelten die Rechenregeln

Re z =1

2(z + z), Im z =

1

2i(z − z) (7.3)

sowie

z = z, z1 + z2 = z1 + z2, z1 · z2 = z1 · z2. (7.4)

7. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN 51

2. Der Betrag |z| von z ∈ C entspricht geometrisch dem Abstand zum Nullpunkt(gemessen in der euklidischen Metrik). Es gilt

|z|2 = z · z, |z| = |z|. (7.5)

Satz 7.2: Der Betrag in C hat folgende Eigenschaften:

(a) Es gilt |z| ≥ 0 fur alle z ∈ C und |z| = 0 ⇔ z = 0.

(b) Fur alle z1, z2 ∈ C ist |z1z2| = |z1| |z2| erfullt.

(c) Fur alle z1, z2 ∈ C ist |z1 + z2| ≤ |z1|+ |z2| richtig.

Also ist C ein bewerteter Korper im Sinne von § 1.

Bemerkung: Die geometrische Deutung der komplexen Addition als Vektoradditionim R2 erklart nun auch den Begriff Dreiecksungleichung fur die Relation (c).

Beweis von Satz 7.2:

(a) |z| ≥ 0 fur alle z ∈ C ist per Definition klar. Und wir bemerken |z| =√x2 + y2 = 0 gdw. x2 + y2 = 0 gdw. x = y = 0 gdw. z = 0.

(b) Fur z1, z2 ∈ C berechnen wir

|z1z2| =√

|z1z2|2(7.5)=

√(z1z2)(z1z2)

(7.4)=

√(z1z2)(z1 z2)

=√

(z1z1)(z2z2)(7.5)=

√|z1|2|z2|2 = |z1| |z2|,

wie behauptet.

(c) Wir beachten |z| ≥ |Re z| fur beliebige z ∈ C. Damit erhalten wir

|z1 + z2|2(7.5)= (z1 + z2)(z1 + z2)

(7.4)= z1z1 + (z1z2 + z2z1) + z2z2

(7.4),(7.5)= |z1|2 + (z1z2 + z1z2) + |z2|2

(7.3)= |z1|2 + 2Re(z1z2) + |z2|2

(b),(7.5)

≤ |z1|2 + 2|z1| |z2|+ |z2|2 = (|z1|+ |z2|)2,

und die Behauptung folgt. q.e.d.

Wir wollen nun Punktfolgen znn im Korper C betrachten und erklaren inAnalogie zu den Definitionen 4.1-4.3:

52 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Definition 7.2: Eine Folge znn ⊂ C heißt

• beschrankt, falls ein c > 0 existiert mit |zn| ≤ c fur alle n ∈ N.

• Cauchyfolge, falls fur alle ε > 0 ein N(ε) ∈ N existiert mit

|zn − zm| < ε fur alle m,n ≥ N(ε).

• konvergent gegen z ∈ C, falls fur alle ε > 0 ein N(ε) ∈ N existiert mit

|zn − z| < ε fur alle n ≥ N(ε).

Wir schreiben limn→∞

zn = z oder zn → z (n→ ∞).

• Nullfolge, falls znn gegen 0 konvergiert.

Bemerkung: Nennen wir ζ ∈ C : |z−ζ| < ε wieder eine ε-Umgebung von z ∈ C, sokonvergiert znn genau dann gegen z, wenn in jeder (noch so kleinen) ε-Umgebungvon z fast alle Glieder der Folge liegen. In C ist eine ε-Umgebung von z, geometrischgesehen, eine (offene) Kreisscheibe um z vom Radius ε > 0; wir schreiben daherauch

Kε(z) :=ζ ∈ C : |z − ζ| < ε

.

Wir wollen nun zeigen, dass C auch vollstandig ist. Zur Vorbereitung notierenwir den folgenden

Hilfssatz 7.1: Eine Folge znn ⊂ C ist genau dann konvergent (bzw. Cauchyfolge,Nullfolge, beschrankt), wenn die reellen Folgen Re(zn)n und Im(zn)n konvergent(bzw. Cauchyfolgen, Nullfolgen, beschrankt) sind. Fur konvergente Folgen znn gilt

limn→∞

zn = limn→∞

Re(zn) + i limn→∞

Im(zn).

Beweis: Die Aussagen ergeben sich sofort aus den Relationen

|Re z| ≤ |z|, |Im z| ≤ |z|, |z| ≤ |Re z|+ |Im z|,

die man leicht als Ubungsaufgabe bestatigt. q.e.d.

Satz 7.3: (Cauchysches Konvergenzkriterium in C)Eine Folge znn ⊂ C ist genau dann konvergent, wenn sie Cauchyfolge ist. Insbe-sondere ist C ein vollstandiger (bewerteter) Korper.

8. KONVERGENZKRITERIEN FUR REIHEN (IN C) 53

Beweis: Aus Hilfssatz 7.1 und dem Cauchyschen Konvergenzkriterium in R folgernwir:

znn ist konvergentHS 7.1⇐⇒ Re(zn)n, Im(zn)n ⊂ R sind konvergent

Satz 5.2⇐⇒ Re(zn)n, Im(zn)n ⊂ R sind Cauchyfolgen

HS 7.1⇐⇒ znn ist Cauchyfolge,

wie behauptet. q.e.d.

Als Ubung beweist man noch den folgenden

Satz 7.4: (Rechenregeln fur komplexe Grenzwerte)

• Ist znn ⊂ C eine konvergente Folge, so konvergiert auch znn und es gilt

limn→∞

zn = limn→∞

zn.

• Ist ζnn ⊂ C eine weitere konvergente Folge, so konvergieren auch zn+ζnnund zn · ζnn mit

limn→∞

(zn + ζn) = limn→∞

zn + limn→∞

ζn,

limn→∞

(zn · ζn) =(limn→∞

zn)·(limn→∞

ζn).

• Gilt schließlich noch ζn = 0 fur alle n ∈ N und limn→∞ ζn = 0, so konvergiertauch znζn n mit

limn→∞

(znζn

)=

limn→∞

zn

limn→∞

ζn.

8 Konvergenzkriterien fur Reihen (in C)

In § 4 haben wir Reihen in R definiert und den Begriff der Konvergenz einer Reiheeingefuhrt. Mit dem in § 7 gegebenen Konvergenzbegriff fur Folgen in C sagen wirnun entsprechend: Ist zkk∈N ⊂ C, so heißt die Reihe

∑∞k=1 zk konvergent, wenn

die Folge der Partialsummen snn mit sn :=∑n

k=1 zk, n ∈ N, konvergiert. Wirschreiben wieder

∑∞k=1 zk sowohl fur die Reihe als auch, wenn existent, fur den

Grenzwert

limn→∞

sn = limn→∞

( n∑k=1

zk

)=:

∞∑k=1

zk,

54 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

also den Wert oder die Summe der Reihe. Wenden wir Hilfssatz 7.1 auf die Folgesnn der Partialsummen an, so folgt noch: Die komplexe Reihe

∑∞k=1 zk konvergiert

genau dann, wenn∑∞

k=1Re(zk) und∑∞

k=1 Im(zk) konvergieren, und es gilt

∞∑k=1

zk =∞∑k=1

Re(zk) + i∞∑k=1

Im(zk).

Wenn die Reihe∑∞

k=1 zk nicht konvergent ist, heißt sie divergent. Wenn zk =xk ∈ R fur alle k ∈ N und

limn→∞

sn = ±∞

gilt, so heißt die Reihe bestimmt divergent (gegen ±∞).

Es sei schließlich angemerkt, dass wir naturlich auch Reihen der Form∑∞

k=k0zk

mit einem k0 ∈ N0 (oder sogar k0 ∈ Z) betrachten konnen (und werden). Fallsklar ist, uber welche k summiert wird, schreiben wir auch kurz

∑k zk fur die Reihe

bzw. ihren Wert.

Im vorliegenden Paragraphen werden wir eine Anzahl wichtiger Konvergenzkri-terien fur Reihen kennenlernen, die wir (soweit sinnvoll) in C formulieren und dieals Spezialfall naturlich auch fur reelle Reihen gelten. Wir beginnen mit dem

Satz 8.1: (Cauchysches Konvergenzkriterium fur Reihen)Eine Reihe

∑∞k=1 zk in C konvergiert genau dann, wenn fur beliebige ε > 0 ein

N = N(ε) ∈ N existiert, so dass gilt∣∣∣∣ n∑k=m+1

zk

∣∣∣∣ < ε fur alle n > m ≥ N(ε). (8.1)

Beweis: Wir bemerken

|sn − sm| =∣∣∣∣ n∑k=1

zk −m∑k=1

zk

∣∣∣∣ = ∣∣∣∣ n∑k=m+1

zk

∣∣∣∣ fur alle n > m.

Also ist (8.1) aquivalent dazu, dass snn eine Cauchyfolge bildet und somit nachSatz 7.3 auch aquivalent zur Konvergenz der Folge snn bzw. der Reihe

∑k zk.

q.e.d.

Bemerkung: Satz 8.1 zeigt ubrigens auch: Die Reihe∑∞

k=1 zk konvergiert (bzw. di-vergiert) genau dann, wenn fur beliebige k0 ∈ N die Reihe

∑∞k=k0

zk konvergiert(bzw. divergiert). Die ersten endlich vielen Glieder beeinflussen das Konvergenzver-halten der Reihe also nicht (aber naturlich ihren Wert).

Das folgende Kriterium eignet sich eher zum Ausschluss der Konvergenz:

8. KONVERGENZKRITERIEN FUR REIHEN (IN C) 55

Satz 8.2: Wenn∑∞

k=1 zk (zk ∈ C fur alle k ∈ N) konvergiert, so muss gelten

limk→∞

zk = 0.

Beweis: Sei∑

k zk konvergent und ε > 0 beliebig gewahlt. Nach Satz 8.1 existiertdann ein N(ε) ∈ N mit |zn| < ε fur alle n > N(ε) (wende (8.1) mit m = n− 1 an).Also ist znn Nullfolge.

q.e.d.

Zum Beispiel divergiert also die Reihe∑∞

k=1(−1)k, da (−1)kk keine Nullfol-ge ist. Wie wir am Beispiel der harmonischen Reihe jetzt sehen werden, ist dasKriterium aus Satz 8.2 nicht hinreichend:

Beispiel: Harmonische Reihe∞∑k=1

1k .

Zwar bildet 1kk eine Nullfolge, aber die Reihe ist nicht konvergent. In der Tat gilt

fur beliebiges m ∈ N:

∣∣∣∣ 2m∑k=m+1

1

k

∣∣∣∣ ≥ 2m∑k=m+1

1

2m=

m

2m=

1

2.

Also ist das Cauchysche Konvergenzkriterium (8.1) fur ε < 12 nicht erfullbar.

Fur reelle Reihen mit nichtnegativen Eintragen gilt der folgende

Satz 8.3: Die Reihe∑∞

k=1 xk mit xk ∈ R und xk ≥ 0 fur alle k ∈ N konvergiertgenau dann, wenn die zugehorige Folge der Partialsummen beschrankt ist.

Bemerkung: Falls die Folge der Partialsummen einer (komplexen) Reihe∑∞

k=1 zkbeschrankt ist, sagen wir die Reihe ist beschrankt und schreiben∣∣∣∣ ∞∑

k=1

zk

∣∣∣∣ < +∞.

Die Folge∑∞

k=1(−1)k ist ein Beispiel einer beschrankten, aber nicht konvergentenReihe.

Beweis von Satz 8.3: Wegen xk ≥ 0 ist die Folge der Partialsummen sn =∑n

k=1 xkmonoton wachsend. Satz 5.6 uber die monotone Konvergenz liefert also die Konver-genz der Reihe, wenn wir ihre Beschranktheit voraussetzen. Umgekehrt ist naturlichjede konvergente Reihe auch beschrankt.

q.e.d.

56 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Im Falle sogenannter alternierender Reihen haben wir die folgende Aussage:

Satz 8.4: (Konvergenzkriterium von Leibniz)

Ist xkk ⊂ R eine monoton fallende Nullfolge, so konvergiert die Reihe∞∑k=1

(−1)kxk.

Wir verzichten an dieser Stelle auf einen Beweis, da sich Satz 8.4 als Spezialfallvon Satz 9.3 ergeben wird.

Beispiel: Die Reihen

∞∑k=1

(−1)k

k( alternierende harmonische Reihe),

∞∑k=0

(−1)k

2k + 1(Leibnizreihe)

konvergieren offenbar nach Satz 8.4. Wir werden spater berechnen

∞∑k=1

(−1)k

k= − log 2,

∞∑k=0

(−1)k

2k + 1=π

4.

Definition 8.1: Eine komplexe Reihe∑∞

k=1 zk heißt absolut konvergent, wenn dieReihe

∑∞k=1 |zk| konvergiert.

Bemerkungen:

1. Jede absolut konvergente Reihe konvergiert auch im gewohnlichen Sinn: Dennnach der Dreiecksungleichung in C gilt∣∣∣∣ n∑

k=m+1

zk

∣∣∣∣ ≤ n∑k=m+1

|zk| fur alle n > m,

und Satz 8.1 liefert die Behauptung.

2. Es gibt Reihen, die zwar im gewohnlichen Sinn aber nicht absolut konvergieren,z.B. die alternierende harmonische Reihe.

3. Sind∑∞

k=1 zk und∑∞

k=1 ζk zwei absolut konvergente Reihen, so ist auch jede(komplexe) Linearkombination

∑∞k=1(αzk + βζk) mit α, β ∈ C absolut kon-

vergent; dies folgt aus Satz 7.4 angewendet auf die Folge der Partialsummen.Entsprechendes gilt naturlich auch fur Linearkombinationen konvergenter Rei-hen.

8. KONVERGENZKRITERIEN FUR REIHEN (IN C) 57

Eines der wichtigsten Konvergenzkriterien enthalt nun der folgende

Satz 8.5: (Majorantenkriterium)Zwei Folgen zkk ⊂ C und µkk ⊂ R mit

|zk| ≤ µk fur alle k ∈ N

seien gegeben. Dann gilt: Konvergiert die Reihe∑∞

k=1 µk, so konvergiert∑∞

k=1 zkabsolut. Die Reihe

∑k µk heißt Majorante von

∑k zk.

Beweis: Zu beliebigem ε > 0 existiert nach Satz 8.1 ein N(ε) ∈ N mit

n∑k=m+1

|zk| ≤n∑

k=m+1

µk < ε fur alle n > m ≥ N(ε).

Wiederum nach Satz 8.1 konvergiert also auch∑

k |zk|, d.h.∑

k zk konvergiert abso-lut.

q.e.d.

Folgerung 8.1: (Minorantenkriterium)Sind xkk, µkk ⊂ R gegeben mit

xk ≥ µk ≥ 0 fur alle k ∈ N

und divergiert∑∞

k=1 µk, so divergiert auch∑∞

k=1 xk. Die Reihe∑

k µk heißt Mino-rante von

∑k xk.

Beweis: Ware namlich∑

k xk konvergent, so ware∑

k µk nach Satz 8.5 ebenfallskonvergent, Widerspruch!

q.e.d.

Beispiele:

1. Die Reihe∑∞

k=0 zk konvergiert absolut fur |z| < 1 und divergiert fur |z| > 1.

Ersteres folgt aus Satz 8.5, da

∞∑k=0

|z|k (4.1)=

1

1− |z|

eine konvergente Majorante ist. Und letzteres aus Satz 8.2, da zkk keineNullfolge ist fur |z| > 1.

2. Die Reihe∑∞

k=11kα konvergiert (absolut) fur rationales α ≥ 2. Wir haben namlich

0 <1

kα≤ 1

k2≤ 2

k(k + 1)fur alle k ∈ N,

also ist∑∞

k=12

k(k+1)eine Majorante, die gemaß des vorletzten Beispiels in § 4 konvergiert

mit∞∑

k=1

2

k(k + 1)= 2

∞∑k=1

1

k(k + 1)= 2.

58 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Sehr nutzlich ist auch der folgende

Satz 8.6: (Quotientenkriterium)Es sei

∑∞k=1 zk eine komplexe Reihe mit zk = 0 fur alle k ∈ N. Dann gilt:

(a) Existiert ein q ∈ (0, 1) und ein k0 ∈ N mit∣∣∣zk+1

zk

∣∣∣ ≤ q < 1 fur alle k ≥ k0,

so konvergiert die Reihe∑∞

k=1 zk absolut.

(b) Existiert ein k0 ∈ N, so dass gilt∣∣∣zk+1

zk

∣∣∣ ≥ 1 fur alle k ≥ k0,

dann divergiert die Reihe.

Beweis:

(a) Es gilt|zk| ≤

(|zk0 |q−k0

)qk fur alle k ≥ k0,

wie man leicht mit vollstandiger Induktion zeigt. Nach Satz 8.5 konvergiertalso die Reihe

∑k zk absolut, da sie (ab dem k0-ten Glied) die konvergente

Majorante∞∑

k=k0

(|zk0 |q−k0

)qk =

(|zk0 |q−k0

) ∞∑k=k0

qk

besitzt.

(b) Offensichtlich gilt |zk| ≥ |zk0 | > 0 fur alle k ≥ k0. Also bildet zkk keineNullfolge, nach Satz 8.2 ist somit

∑k zk divergent.

q.e.d.

Bemerkung:Wir konnen in Satz 8.6 (a) die Voraussetzung nicht durch die schwachereBedingung ∣∣∣zk+1

zk

∣∣∣ < 1 fur alle k ≥ k0

ersetzen, wie das Beispiel der divergenten harmonischen Reihe∑∞

k=11k zeigt.

Umgekehrt ist die dort angegebene Bedingung aber auch keine notwendige Be-dingung, denn z.B.

∑∞k=1

1k2

konvergiert wie oben gesehen, aber es gilt∣∣∣zk+1

zk

∣∣∣ = k2

(k + 1)2→ 1 (k → ∞).

8. KONVERGENZKRITERIEN FUR REIHEN (IN C) 59

Beispiele:

1. Die Reihe∑∞

k=1k2

2kkonvergiert, denn mit xk :=

k2

2khaben wir∣∣∣xk+1

xk

∣∣∣ = (k + 1)2

2k+1

2k

k2=

(k + 1)2

2k2=

1

2

(1 +

1

k

)2≤ 8

9< 1 fur alle k ≥ 3.

Satz 8.6 (a) liefert die Behauptung.

2. Die Reihe∑∞

k=1kk

k! divergiert, denn mit xk =kk

k! gilt∣∣∣xk+1

xk

∣∣∣ = (k + 1)k+1

(k + 1)!

k!

kk=

(k + 1

k

)k≥ 1 fur alle k ∈ N,

wir konnen also Satz 8.6 (b) anwenden.

3. Die komplexe Exponentialreihe∑∞

k=0zk

k! konvergiert absolut fur beliebiges z ∈C. Mit zk :=

zk

k! gilt namlich∣∣∣zk+1

zk

∣∣∣ = |z|k+1

(k + 1)!

k!

|z|k=

|z|k + 1

≤ 1

2fur alle k ≥ 2|z| − 1.

Als Ubungsaufgabe beweise man noch den folgenden

Satz 8.7: (Wurzelkriterium)Es sei

∑∞k=1 zk eine komplexe Reihe. Dann gilt:

(a) Existiert ein q ∈ (0, 1) und ein k0 ∈ N mit

k√

|zk| ≤ q < 1 fur alle k ≥ k0,

so konvergiert∑∞

k=1 zk absolut.

(b) Giltlim supk→∞

k√

|zk| > 1,

so divergiert die Reihe.

Wir wenden uns nun dem Produkt von absolut konvergenten Reihen zu:

Satz 8.8: (Cauchyscher Produktsatz)Es seien

∑∞k=1 zk,

∑∞l=1 ζl komplexe, absolut konvergente Reihen. Setzen wir

cj :=

j∑k=1

zkζj−k+1 fur j ∈ N,

60 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

so konvergiert auch die Reihe∑∞

j=1 cj absolut, und es gilt die Cauchysche Produkt-formel ( ∞∑

k=1

zk

)( ∞∑l=1

ζl

)=

∞∑j=1

cj .

Beweis:

1. Wir erklaren die Partialsummen

rn :=

n∑k=1

zk, sn :=

n∑l=1

ζl, tn :=

n∑j=1

cj .

Dann gilt

rnsn =

( n∑k=1

zk

)( n∑l=1

ζl

)=

n∑k=1

( n∑l=1

zkζl

)=:

n∑k,l=1

zkζl.

Diese Schreibweise fur eine (endliche)Doppelsumme ist offenbar sinnvoll, da die Reihenfolgeder Summation irrelevant ist. Setzen wir

Qn :=(k, l) ∈ N× N : 1 ≤ k ≤ n, 1 ≤ l ≤ n

,

so haben wirrnsn =

∑(k,l)∈Qn

zkζl. (8.2)

Die Definition der cj lasst sich auch schreiben als

cj =∑

k+l=j+1k,l∈N

zkζl,

so dass sich fur die n-te Partialsumme der cj ergibt

tn =∑

(k,l)∈Dn

zkζl; (8.3)

hierbei haben wir noch

Dn :=(k, l) ∈ N× N : k + l ≤ n+ 1

gesetzt. Da nun Dn ⊂ Qn fur jedes n ∈ N richtig ist, haben wir insgesamt

rnsn − tn =∑

(k,l)∈Qn\Dn

zkζl fur alle n ∈ N. (8.4)

2. Setzen wir noch

r∗n :=

n∑k=1

|zk|, s∗n :=

n∑l=1

|ζl|,

so finden wir wie in (8.2):

r∗ns∗n =

∑(k,l)∈Qn

|zk| |ζl|, n ∈ N. (8.5)

Nun beachten wir Q2n \ D2n ⊂ Q2n \ Qn, da Qn ⊂ D2n fur alle n ∈ N richtig ist. Damitkonnen wir abschatzen

|r2ns2n − t2n|(8.4)=

∣∣∣∣ ∑(k,l)∈Q2n\D2n

zkζl

∣∣∣∣ ≤∑

(k,l)∈Q2n\D2n

|zk| |ζl|

≤∑

(k,l)∈Q2n\Qn

|zk| |ζl|(8.5)= |r∗2ns∗2n − r∗ns

∗n| → 0 (n→ ∞),

8. KONVERGENZKRITERIEN FUR REIHEN (IN C) 61

da∑

k |zk| und∑

k |ζk| konvergieren, also auch das Produkt ihrer Partialsummen r∗ns∗nneine Cauchyfolge bildet. Ganz entsprechend folgt aus Q2n−1 \D2n−1 ⊂ Q2n−1 \Qn auch

|r2n−1s2n−1 − t2n−1| ≤ |r∗2n−1s∗2n−1 − r∗ns

∗n| → 0 (n→ ∞).

Da schließlich |r2ns2n − r2n−1s2n−1| → 0 (n → ∞) gilt (denn rnsnn konvergiert), habent2nn und t2n−1n den gleichen Grenzwert, namlich

limn→∞

tn = limn→∞

(rnsn) = ( limn→∞

rn)( limn→∞

sn),

wie behauptet.

3. Zum Beweis der absoluten Konvergenz von∑

j cj betrachten wir noch

t∗n :=

n∑j=1

|cj |, n ∈ N.

Wie in (8.3) erhalten wir dann

0 ≤ t∗n ≤∑

(k,l)∈Dn

|zk| |ζl| ≤∑

(k,l)∈Qn

|zk| |ζl|(8.5)= r∗ns

∗n ≤ K fur alle n ∈ N

mit K := (∑

k |zk|)(∑

l |ζl|) < +∞. Also ist t∗nn beschrankt, monoton wachsend und nachSatz 5.6 somit auch konvergent.

q.e.d.

Schließlich untersuchen wir das Verhalten von Reihen unter Umordnungen.

Definition 8.2: Sei∑∞

k=1 zk eine komplexe Reihe. Dann heißt∑∞

k=1 ζk eine Um-ordnung von

∑∞k=1 zk, wenn es eine bijektive Abbildung σ : N → N gibt, so dass

gilt

ζn = zσ(n) fur alle n ∈ N.

σ heißt unendliche Permutation der Reihenglieder.

Fur endliche Summen ist die Reihenfolge der Summation bekanntlich irrelevantfur das Ergebnis; jede Umordnung einer endlichen Summe liefert also den gleichenWert. Bei unendlichen Reihen muss das nicht gelten:

Definition 8.3: Wir nennen eine komplexe konvergente Reihe∑∞

k=1 zk unbedingtkonvergent, wenn jede ihrer Umordnungen ebenfalls konvergiert und den gleichenWert wie die ursprungliche Reihe besitzt. Anderenfalls heißt

∑∞k=1 zk bedingt kon-

vergent.

Satz 8.9: (Dirichletscher Umordnungssatz)Eine komplexe konvergente Reihe ist genau dann unbedingt konvergent, wenn sieabsolut konvergent ist.

62 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Beweis: Wir zeigen nur, dass jede absolut konvergente Reihe auch unbedingt konvergent ist. Dieumgekehrte Aussage folgt aus dem anschließenden Satz 8.10.

Sei also∑∞

k=1 zk absolut konvergent, d.h.∑∞

k=1 |zk| < +∞. Dann existiert nach Satz 8.1 zujedem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N , so dass

N+p∑k=N+1

|zk| <ε

2fur alle p ∈ N (8.6)

richtig ist. Ist nun∑∞

k=1 ζk eine beliebige Umordnung von∑

k zk, so existiert ein K ∈ N mitK ≥ N ,so dass gilt

z1, . . . , zN ⊂ ζ1, . . . , ζK. (8.7)

Es bezeichne sn :=∑n

k=1 zk bzw. tn :=∑n

k=1 ζk die n-ten Partialsummen der beiden Reihen. Aus(8.6) und (8.7) folgt dann

|sn − tn| <ε

2+ε

2= ε fur alle n > K ≥ N,

da sich die Terme z1, . . . , zN aufheben und die ubrigen Terme in den Summen sn bzw. tn jeweilsdurch (8.6) abgeschatzt werden konnen. Es folgt also limn→∞ |sn − tn| = 0. Bezeichnet nun s denWert von

∑k zk, so folgt

|tn − s| ≤ |tn − sn|+ |sn − s| → 0 (n→ ∞),

d.h. auch∑

k ζk konvergiert gegen s, wie behauptet. q.e.d.

Satz 8.10: (Riemannscher Umordnungssatz)Ist die reelle Reihe

∑∞k=1 xk konvergent, aber nicht absolut konvergent, so gibt es zu

jedem t ∈ R eine Umordnung∑∞

k=1 ξk der Reihe, so dass t =∑∞

k=1 ξk gilt.

Bemerkungen:

1. Ist∑

k zk eine komplexe, unbedingt konvergente Reihe, so sind auch∑

k Re(zk)und

∑k Im(zk) unbedingt konvergent. Nach Satz 8.10 mussen die reellen Rei-

hen absolut konvergent sein, also ist auch∑

k zk absolut konvergent. Das ver-vollstandigt den Beweis von Satz 8.9.

2. Man kann sogar Umordnungen∑

k ξk einer beliebigen reellen konvergenten,aber nicht absolut konvergenten Reihe konstruieren, so dass

∑k ξk = ±∞ gilt

(Ubungsaufgabe).

Beweis von Satz 8.10:

1. Zu xkk setzen wir

pk := max0, xk, qk := −min0, xk, k ∈ N.

Dann giltpk, qk ≥ 0, xk = pk − qk, |xk| = pk + qk fur alle k ∈ N.

Da∑

k xk konvergiert, muss |xk| → 0 (k → ∞) gelten und folglich auch

limk→∞

pk = limk→∞

qk = 0. (8.8)

9. POTENZREIHEN 63

Außerdem haben wir ∑k

pk =∑k

qk = +∞. (8.9)

Ware namlich z.B.∑

k pk < +∞, so konvergiert auch∑k

qk =∑k

(pk − xk) =∑k

pk −∑k

xk.

Dann ware aber auch∑

k |xk| =∑

k(pk+qk) konvergent, im Widerspruch zur nicht absolutenKonvergenz der Reihe

∑k xk. Entsprechend zeigt man

∑k qk = +∞.

2. Wir zerlegen nun die Folge xkk in die Teilfolgen der positiven Glieder akk und nichtpo-sitiven Glieder bkk. Nach (8.8) und (8.9) bilden beide Nullfolgen und es gilt∑

k

ak = +∞,∑k

bk = −∞.

Nun wahlen wir n1 als kleinste naturliche Zahl, so dass zu unserem vorgegebenen t ∈ R gilt

n1∑k=1

ak > t.

Dann wahlen wir n2 als kleinste naturliche Zahl, so dass

n1∑k=1

ak +

n2∑k=1

bk < t

richtig ist. Danach bestimmen wir ein kleinstes n3 > n1 wiederum so, dass gilt

n1∑k=1

ak +

n2∑k=1

bk +

n3∑k=n1+1

ak > t.

Es ist klar, wie dieses Verfahren fortgesetzt und welche Umordnung der ursprunglichen Reihedabei erstellt wird. Da n1, n2, n3, . . . jeweils minimal gewahlt waren, muss gelten

n1−1∑k=1

ak ≤ t,

n1∑k=1

ak +

n2−1∑k=1

bk ≥ t, . . .

(ersteres nur, falls t ≥ 0 ist). Somit haben die zugehorigen Teilsummen hochstens einenAbstand von an1 , bn2 , an3 , bn4 , . . . zu t. Da aber sowohl akk als auch bkk Nullfolgen sind,konvergieren die Partialsummen der umgeordneten Reihe gegen t, wie behauptet.

q.e.d.

9 Potenzreihen

Wir wollen nun noch spezielle komplexe Reihen betrachten, namlich Reihen derForm

P(z) =∞∑k=0

akzk

mit den Koeffizienten ak ∈ C (k ∈ N0) und der Variablen z ∈ C. Die PartialsummenPn(z) :=

∑nk=0 akz

k einer Potenzreihe sind fur alle n ∈ N komplexe Polynome.Wir kennen bereits zwei Beispiele von Potenzreihen, welche wohl auch die beiden

wichtigsten sind:

64 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

• Geometrische Reihe:∞∑k=0

zk, d.h. ak = 1 fur alle k ∈ N0.

• Exponentialreihe:∞∑k=0

zk

k! , d.h. ak =1k! fur alle k ∈ N0.

Wahrend letztere fur alle z ∈ C absolut konvergiert, konvergiert die geometrischeReihe absolut fur |z| < 1 und divergiert fur |z| > 1. I.A. hangt also das Konvergenz-verhalten einer Potenzreihe von der Wahl der Variablen z ab. Genauer haben wirden folgenden

Satz 9.1: (Cauchy-Hadamard)Fur eine Potenzreihe P(z) =

∑∞k=0 akz

k setzen wir α := lim supk→∞k√

|ak| ∈[0,+∞) ∪ +∞. Erklaren wir dann

R :=

+∞, falls α = 0

α−1, falls α ∈ (0,+∞)

0, falls α = +∞, (9.1)

so konvergiert P(z) fur |z| < R absolut und divergiert fur |z| > R.

Bemerkungen:

1. Die in (9.1) erklarte Große R ∈ [0,+∞) ∪ +∞ heißt Konvergenzradius derReihe P(z). Die Kreisscheibe KR := z ∈ C : |z| < R nennen wir dasKonvergenzgebiet.

2. Wir setzen folgende Regeln fur das Rechnen mit +∞ fest:

1

0= +∞,

1

+∞, (+∞) · x = +∞ fur x ∈ R mit x > 0.

Dann liest sich (9.1) also R = 1α .

Beweis von Satz 9.1: Offenbar gilt |z| < R (bzw. |z| > R) genau dann, wenn |z|α < 1(bzw. |z|α > 1) also

lim supk→∞

k

√|akzk| < 1 (bzw. > 1)

richtig ist. Wegen Satz 6.5 ist fur lim supk→∞k√

|akzk| < 1 der Fall (a) aus Satz 8.7gultig, d.h.

∑k akz

k konvergiert absolut. Im Fall lim supk→∞k√

|akzk| > 1 divergiertP(z) =

∑k akz

k nach Satz 8.7 (b).q.e.d.

Als sehr praktisch erweist sich der folgende

9. POTENZREIHEN 65

Satz 9.2: Ist P(z) =∑∞

k=0 akzk im Punkt z0 ∈ C \ 0 konvergent, so konvergiert

P(z) absolut fur alle z ∈ C mit |z| < |z0|.

Beweis: Da∑

k akzk0 konvergiert, gilt limk→∞ |akzk0 | = 0. Insbesondere ist |akzk0 |k

beschrankt, es gibt also ein c > 0 mit |akzk0 | ≤ c fur alle k ∈ N0. Sei nun z ∈ C mit|z| < |z0| bzw. q := | zz0 | ∈ [0, 1) beliebig gewahlt. Dann folgt

|akzk| = |akzk0 |∣∣∣ zz0

∣∣∣k ≤ cqk fur alle k ∈ N0.

Wegen q ∈ [0, 1) konvergiert die Reihe∑

k cqk = c

∑k q

k = c1−q und nach dem

Majorantenkriterium, Satz 8.5, konvergiert auch P(z) absolut fur |z| < |z0|, wiebehauptet.

q.e.d.

Wir wollen nun einen Satz beweisen, der u.a. Aussagen uber das Konvergenz-verhalten auf dem Rand des Konvergenzgebietes macht und außerdem das Konver-genzkriterium von Leibniz als Spezialfall enthalt. Wir beginnen mit dem

Hilfssatz 9.1: Sei zkk∈N0 ⊂ C eine Folge, so dass∑∞

k=0 zk beschrankt ist, und seiakk ⊂ R eine monoton fallende Nullfolge. Dann konvergiert die Reihe

∑∞k=0 akzk.

Beweis: Wir wollen Satz 8.1 anwenden, also den Ausdruck |∑n

k=m+1 akzk| fur hinreichend großem,n ∈ N0 mit n > m klein bekommen. Dazu setzen wir fur festes m ∈ N0: sn :=

∑nk=m+1 zk fur

n > m. Mit vollstandiger Induktion zeigt man dann leicht die Relation

n∑k=m+1

akzk = snan +

n−1∑k=m+1

sk(ak − ak+1) fur alle n > m.

Da akk eine monoton fallende Nullfolge ist, gilt ak ≥ ak+1 ≥ 0 fur alle k ∈ N0. Daher konnen wirabschatzen ∣∣∣∣ n∑

k=m+1

akzk

∣∣∣∣ ≤ |sn|an +

n−1∑k=m+1

|sk|(ak − ak+1)

≤ max|sm+1|, . . . , |sn|

[an +

n−1∑k=m+1

(ak − ak+1)

]= am+1 ·max

|sm+1|, . . . , |sn|

fur n > m.

Da nun akk Nullfolge ist, existiert zu jedem ε > 0 ein N(ε) ∈ N, so dass 0 ≤ ak < ε fur allek ≥ N(ε) richtig ist. Ferner gibt es ein c > 0 mit |sn| ≤ c fur alle n ∈ N, denn snn ist beschranktnach Voraussetzung. Insgesamt folgt∣∣∣∣ n∑

k=m+1

akzk

∣∣∣∣ < cε fur alle n > m ≥ N(ε),

also nach Satz 8.1 die Konvergenz der Reihe. q.e.d.

Satz 9.3: Ist akk∈N0eine monoton fallende Nullfolge, so konvergiert die Potenz-reihe P(z) =

∑∞k=0 akz

k fur alle z ∈ C \ 1 mit |z| ≤ 1.

66 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Beweis: Aus der Summenformel der geometrischen Reihe, Satz 2.3, erhalten wir furbeliebige z ∈ C \ 1 mit |z| ≤ 1:∣∣∣∣ n∑

k=0

zk∣∣∣∣ = ∣∣∣1− zn+1

1− z

∣∣∣ ≤ 1 + |z|n+1

|1− z|≤ 2

|1− z|fur alle n ∈ N.

Somit ist∑

k zk fur solche z beschrankt, Hilfssatz 9.1 liefert also die Konvergenz von

P(z).q.e.d.

Bemerkung: Setzen wir in Satz 9.3 speziell z = −1 ein, so folgt die Konvergenz derReihe

∑∞k=0 ak(−1)k. Dies ist gerade die Aussage des Leibnizschen Konvergenzkri-

teriums, Satz 8.4.

Satz 9.4: (Cauchyscher Produktsatz fur Potenzreihen)Sind die Potenzreihen

∑∞k=0 akz

k und∑∞

k=0 bkzk fur |z| < R absolut konvergent, so

gilt dies auch fur die Potenzreihe∑∞

k=0 ckzk mit den Koeffizienten

ck :=k∑l=0

albk−l, k ∈ N0,

und wir haben die Identitat( ∞∑k=0

akzk

)( ∞∑k=0

bkzk

)=

( ∞∑k=0

ckzk

).

Beweis: Dies ergibt sich nach einer Indexverschiebung k → k+1 aus Satz 8.8, wennman noch

k∑l=0

(alzl)(bk−lz

k−l) =

( k∑l=0

albk−l

)zk = ckz

k

beachtet. q.e.d.

Bemerkung: Alle Resultate lassen sich direkt auf komplexe Potenzreihen der Form

Pz0(z) :=∞∑k=0

ak(z − z0)k

ubertragen. Das Konvergenzgebiet von Pz0(z) ist dann eine Kreisscheibe KR(z0) =z ∈ C : |z−z0| < R vom Radius R ∈ [0,+∞)∪+∞ um den Entwicklungspunktz0 ∈ C. Die bisher betrachteten Potenzreihen P(z) sind also Spezialfalle von Pz0(z)mit z0 = 0.

10. DER D-DIMENSIONALE RAUM UND METRISCHE RAUME 67

10 Der d-dimensionale reelle Raum Rd und metrischeRaume

Fur den Umgang mit Funktionen in den folgenden Kapiteln benotigen wir nocheinige topologische Begriffe. Da wir Funktionen sowohl in R als auch C (also furPunkte aus R2) betrachten wollen, fuhren wir an dieser Stelle allgemeiner den d-dimensionalen (reellen) Raum Rd mit d ∈ N ein:

(i) Wir betrachten die Menge aller d-Tupel x = (x1, . . . , xd) ∈ Rd := R× . . .×R,wobei zwei Punkte x = (x1, . . . , xd), y = (y1, . . . , yd) ∈ Rd gleich heißen, wennihre Koordinaten ubereinstimmen, d.h. xk = yk fur alle k = 1, . . . , d. DasElement 0 = (0, . . . , 0) ∈ Rd heißt Nullpunkt oder Ursprung des Rd.

(ii) Sind x, y ∈ Rd beliebig, so erklaren wir die Addition auf Rd gemaß

x+ y := (x1 + y1, . . . , xd + yd) ∈ Rd.

Ist ferner λ ∈ R gewahlt, so definieren wir die skalare Multiplikation durch

λx := (λx1, . . . , λxd) ∈ Rd.

Bemerkungen:

1. Den R2 veranschaulichen wir uns wie ublich in der Ebene, den Punkten x =(x1, x2) ∈ R2 entsprechen die Vektoren x = (x1, x2). Dann entspricht die Ad-dition in R2 der Vektoraddition und die skalare Multiplikation der Skalierungeines Vektors.

2. Die Addition in Rd, d ∈ N, genugt den Axiomen (A1)-(A4) aus § 1 mit demneutralen Element 0 = (0, . . . , 0) ∈ Rd und dem negativen Element −x :=(−x1, . . . ,−xd) ∈ Rd. Zusammen mit der skalaren Multiplikation spricht mandann von einer Vektorraumstruktur, d.h. Rd ist ein (reeller) Vektorraum. Hierzumussen – was bei uns offenbar der Fall ist – zusatzlich folgende Axiome erfulltsein:

(S1) λ(µx) = (λµ)x fur alle λ, µ ∈ R, x ∈ Rd,

(S2) λ(x+ y) = λx+ λy, (λ+ µ)x = λx+ µx fur alle λ, µ ∈ R, x, y ∈ Rd,

(S3) 1 · x = x fur alle x ∈ Rd.

3. Wahrend man R1 und R2 mit einer Korperstruktur ausstatten kann, namlichmit der von R bzw. C, ist das fur d ≥ 3 nicht mehr moglich. Trotzdem konnenwir (wie in R und C) einen Abstandsbegriff erklaren m.H. der folgenden

68 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Definition 10.1: Seien x, y ∈ Rd, so erklaren wir deren (euklidisches) Skalarpro-dukt oder auch inneres Produkt als

⟨x, y⟩ = x · y :=

d∑j=1

xjyj . (10.1)

Die (euklidische) Lange oder den Betrag von x ∈ Rd definieren wir als

|x| :=√

⟨x, x⟩ =( d∑j=1

x2j

) 12

.

Schließlich heißt

|x− y| =( d∑j=1

(xj − yj)2

) 12

der (euklidische) Abstand zweier Punkte x, y ∈ Rd.

Bemerkungen:

1. (Rd, ⟨·, ·⟩) heißt euklidischer Vektorraum; wir schreiben kurz Rd und stellenuns diesen mit dem euklidischen Abstandsbegrif ausgestattet vor. Es sei aberangemerkt, dass es viele weitere Abstandsbegriffe im Rd gibt.

2. Das in (10.1) erklarte Skalarprodukt hat die Eigenschaften

⟨x, y⟩ = ⟨y, x⟩ (Symmetrie) (10.2)

⟨λx+ µy, z⟩ = λ⟨x, z⟩+ µ⟨y, z⟩ (Bilinearitat) (10.3)

⟨x, x⟩ ≥ 0, ⟨x, x⟩ = 0 ⇔ x = 0 (Positivitat) (10.4)

fur beliebige x, y, z ∈ Rd und λ, µ ∈ R (Ubungsaufgabe).

3. Im R2 entspricht der Betrag gerade dem in C erklarten Betrag, in R1 dem inR erklarten Absolutbetrag.

Der Abstand | · | hat sehr ahnliche Eigenschaften wie der Betrag in R oder C(das erklart auch das verwendete Symbol):

Satz 10.1: Fur alle x, y ∈ Rd und λ ∈ R gilt

(i) |x| ≥ 0 und |x| = 0 ⇔ x = 0.

(ii) |λx| = |λ| |x|.

(iii) |x+ y| ≤ |x|+ |y| (Dreiecksungleichung).

10. DER D-DIMENSIONALE RAUM UND METRISCHE RAUME 69

Bemerkung: Also unterscheidet sich nur (ii) von der entsprechenden Eigenschaft|xy| = |x| |y| des Betrages in R bzw. C. Dies ist im Rd i.A. falsch, es gilt aber derberuhmte

Satz 10.2: (Cauchy-Schwarzsche Ungleichung)Sind x, y ∈ Rd beliebig, so gilt

|⟨x, y⟩| ≤ |x| |y|. (10.5)

Gleichheit tritt genau dann ein, wenn x = ty oder y = tx mit einem t ∈ R gilt,d.h. wenn x, y linear abhangig sind.

Beweis: Falls y = 0 gilt, ist nichts zu zeigen. Sei also y = 0. Dann folgt

0(10.4)

≤ |x+ ty|2 (10.2),(10.3)= |x|2 + 2t⟨x, y⟩+ t2|y|2 fur alle t ∈ R.

Das ist bekanntlich genau dann der Fall, wenn ⟨x, y⟩2 ≤ |x|2|y|2 gilt, und nachWurzelziehen erhalten wir (10.5). Andererseits hat die Gleichung

0 = |x+ ty|2 = |x|2 + 2t⟨x, y⟩+ t2|y|2

bekanntlich genau dann eine Losung t ∈ R, wenn ⟨x, y⟩2 ≥ |x|2|y|2 gilt. Wegen (10.5)ist also |x+ ty| = 0 fur ein t ∈ R genau dann erfullt, wenn ⟨x, y⟩2 = |x|2|y|2 richtigist, wie behauptet. q.e.d.

Beweis von Satz 10.1: (i) entspricht (10.4), und (ii) folgt unmittelbar aus (10.2),(10.3). Zum Beweis von (iii) berechnen wir

|x+ y|2 = |x|2 + 2⟨x, y⟩+ |y|2(10.5)

≤ |x|2 + 2|x| |y|+ |y|2

= (|x|+ |y|)2,

also nach Wurzelziehen die behauptete Dreiecksungleichung. q.e.d.

Bemerkung: Aus der Dreiecksungleichung folgt wie in Satz 1.5 (c) noch die umge-kehrte Dreiecksungleichung

|x− y| ≥∣∣|x| − |y|

∣∣ fur alle x, y ∈ Rd.

Mit Hilfe des Betrages im Rd konnen wir nun auch die Begriffe fur Folgen in Rbzw. C auf den Rd ubertragen:

Definition 10.2: Eine Folge xnn∈N ⊂ Rd mit den Gliedern xn = (xn1, . . . , xnd) ∈Rd fur n ∈ N heißt

70 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

• beschrankt, falls ein c > 0 existiert mit |xn| ≤ c fur alle n ∈ N,

• Cauchyfolge, wenn fur alle ε > 0 ein N(ε) ∈ N existiert mit |xn− xm| < ε furalle m,n ≥ N(ε),

• konvergent gegen den Grenzwert x ∈ Rd, wenn es fur alle ε > 0 ein N(ε) ∈ Ngibt mit |xn − x| < ε fur alle n ≥ N(ε); Schreibweise limn→∞ xn = x oderxn → x (n→ ∞),

• Nullfolge, wenn xnn gegen 0 ∈ Rd konvergiert.

Ferner heißt y ∈ Rd Haufungswert von xnn, wenn eine Teilfolge xnkk ⊂ xnn

existiert mit limk→∞ xnk= y.

Z.B. ist also xnn ⊂ Rd gegen x ∈ Rd konvergent, wenn in jeder ε-UmgebungBε(x) := y ∈ Rd : |y − x| < ε fast alle Glieder der Folge liegen. Man beachte,dass Bε(x) in R = R1 ein offenes Intervall, in R2 eine Kreisscheibe um x vom Radiusε > 0 und in Rd fur d ≥ 3 eine Kugel um x vom Radius ε > 0 ist.

Bemerkung: Zur Ubung beweise man folgende Rechenregeln fur Grenzwerte im Rd:Sind xnn, ynn ⊂ Rd konvergente Folgen mit limn→∞ xn = x und limn→∞ yn = y,so folgt

• Sind α, β ∈ R beliebig, so konvergiert auch αxn + βynn mit αxn + βyn →αx+ βy (n→ ∞).

• Es gilt ⟨xn, yn⟩ → ⟨x, y⟩ und |xn| → |x| fur n→ ∞.

• Ist αnn ⊂ R eine Folge mit αn → α (n→ ∞), so gilt αnxn → αx (n→ ∞).

Satz 10.3: (Cauchysches Konvergenzkriterium in Rd)Eine Folge xnn ⊂ Rd ist genau dann konvergent, wenn xnn Cauchyfolge ist.

Der Beweis erfolgt genau wie der des Cauchyschen Konvergenzkriteriums in C,Satz 7.3, in dem man die Aussage auf die Komponentenfolgen xnjn, j = 1, . . . , d,zuruckfuhrt mittels des folgenden

Hilfssatz 10.1: Eine Folge xnn ⊂ Rd ist genau dann beschrankt (bzw. kon-vergent, Cauchyfolge, Nullfolge), wenn alle Komponentenfolgen xnjn ⊂ R, j =1, . . . , d, beschrankt (bzw. konvergent, Cauchyfolgen, Nullfolgen) sind. Fur konver-gente Folgen xnn gilt

limn→∞

xn =(limn→∞

xn1, . . . , limn→∞

xnd).

10. DER D-DIMENSIONALE RAUM UND METRISCHE RAUME 71

Beweis: Als Ubungsaufgabe zeigt man: Ist y = (y1, . . . , yd) ∈ Rd beliebig, so geltendie Ungleichungen

|yj | ≤ |y| fur j = 1, . . . , d, |y| ≤d∑

k=1

|yk|.

Hieraus ergeben sich sofort die Behauptungen. q.e.d.

Satz 10.4: (Bolzano-Weierstraß in Rd)Jede beschrankte Folge xnn ⊂ Rd besitzt eine konvergente Teilfolge.

Beweis: Vollstandige Induktion uber die Raumdimension d ∈ N.

• d = 1: Das ist die Aussage von Satz 5.5.

• d → d + 1: Die Aussage sei fur beschrankte Folgen xnn ⊂ Rd mit einemd ∈ N erfullt.

Sei nun xnn ⊂ Rd+1 beschrankt mit den Folgengliedern

xn = (xn1, . . . xnd, xn,d+1) = (xn, ξn) mit xn := (xn1, . . . , xnd), ξn := xn,d+1.

Damit sind auch xnn ⊂ Rd und ξnn ⊂ R beschrankt. Nach Induktionsvor-aussetzung existiert also eine konvergente Teilfolge x′kk = xnk

k von xnnmit limk→∞ x′k = x ∈ Rd. Die entsprechende Teilfolge ξ′kk = ξnk

k ⊂ Rvon ξnn muss zwar nicht konvergieren, ist aber sicher beschrankt. Also gibtes nach Satz 5.5 eine weitere Teilfolge ξ′kll ⊂ ξ′kk mit liml→∞ ξ′kl = ξ ∈ R.Die entsprechende Teilfolge x′kll ⊂ x′kk konvergiert auch gegen x, so dassschließlich fur x′kll gilt

liml→∞

x′kl = liml→∞

(x′kl , ξ′kl)HS 10.1

= (x, ξ),

wie behauptet. q.e.d.

Bemerkung: Satz 10.4 fur d = 2 liefert auch: Jede beschrankte Folge xnn ⊂ Cbesitzt eine konvergente Teilfolge. Denn die Betrage in R2 und C stimmen uberein.

Wir wollen nun Teilmengen M ⊂ Rd betrachten und beginnen mit der

Definition 10.3: Eine Teilmenge M ⊂ Rd nennen wir

• offen, wenn zu jedem x0 ∈M ein r > 0 existiert, so dass gilt

Br(x0) = x ∈ Rd : |x− x0| < r ⊂M.

72 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

• abgeschlossen, wenn fur jede konvergente Folge xnn ⊂M gilt

x0 := limn→∞

xn ∈M.

Beispiele:

1. Intervalle in R:

• Das offene Intervall (a, b) = x ∈ R : a < x < b ist im Sinne von Definition 10.3offen.

Ist namlich x0 ∈ (a, b) gewahlt, so setzen wir r := minx0 − a, b − x0 > 0. Furx ∈ Br(x0) folgt dann

x = x0 + (x− x0) ≥ x0 − |x− x0| > x0 − r ≥ x0 − (x0 − a) = a,

also x > a und entsprechend x < b, also x ∈ (a, b) und somit Br(x0) ⊂ (a, b).

• Das abgeschlossene Intervall [a, b] = x ∈ R : a ≤ x ≤ b ist abgeschlossen im Sinnevon Definition 10.3.

Ist namlich xnn ⊂ [a, b] konvergent mit xn → x0 (n → ∞), so folgt a ≤ xn ≤ b und

nach Grenzubergang n→ ∞ auch a ≤ x0 ≤ b, also x0 ∈ [a, b].

• Das halboffene Intervall [a, b) ist weder offen noch abgeschlossen.

Denn die konvergente Folge b− 1nn≥N ⊂ [a, b) mit hinreichend großem

N ∈ N hat den Grenzwert limn→∞(b− 1n) = b ∈ [a, b). Und fur a ∈ [a, b)

gilt offenbar Br(a) ⊂ [a, b) fur alle r > 0.

2. Kugeln in Rd:

• BR(ξ) ⊂ Rd ist offen fur beliebige R > 0, ξ ∈ Rd.Ist namlich x0 ∈ BR(ξ) beliebig, so ist r := R − |x0 − ξ| > 0. Furx ∈ Br(x0) haben wir dann die Abschatzung

|x− ξ| ≤ |x− x0|+ |x0 − ξ| < r + |x0 − ξ| = R,

also x ∈ BR(ξ) und somit Br(x0) ⊂ BR(ξ).

Man bezeichnet daher BR(ξ) auch als offene Kugel im Rd.• Im Gegensatz dazu ist BR(ξ) := x ∈ Rd : |x − ξ| ≤ R abgeschlossen

und heißt abgeschlossene Kugel im Rd.Ist namlich xnn ⊂ BR(ξ) mit xn → x0 (n → ∞) beliebig, so liefertGrenzubergang n→ ∞ in der Ungleichung |xn − ξ| ≤ R fur alle n ∈ N:

R ≥ limn→∞

|xn − ξ| =∣∣ limn→∞

(xn − ξ)∣∣ = |x0 − ξ|,

also x0 ∈ BR(ξ).

10. DER D-DIMENSIONALE RAUM UND METRISCHE RAUME 73

• Die Kugelschale Sϱ,R(ξ) := BR(ξ)\Bϱ(ξ) = x ∈ Rd : ϱ ≤ |x−ξ| < R mit 0 < ϱ < Rist weder offen noch abgeschlossen.

Fur x0 ∈ Sϱ,R(ξ) mit |x0 − ξ| = ϱ gilt namlich Br(x0) ⊂ Sϱ,R(ξ) fur alle r > 0, da

z.B. y := x0 + ε ξ−x0|ξ−x0|

fur hinreichend kleines ε ∈ (0, r) zwar in Br(x0) aber nicht in

Sϱ,R(ξ) liegt, d.h. Sϱ,R(ξ) ist nicht offen. Und andererseits finden wir fur konvergentes

xnn ⊂ Sϱ,R(ξ) mit |xn−ξ| = R− 1n, n ≥ N , die Relation limn→∞ xn =: x0 ∈ Sϱ,R(ξ),

d.h. Sϱ,R(ξ) ist auch nicht abgeschlossen.

3. Q ist weder offen noch abgeschlossen.

4. Rd und ∅ sind die einzigen Teilmengen von Rd, die sowohl offen als auch ab-geschlossen sind.

Wir erinnern an den Begriff der Komplementarmenge oder des Komplementseiner Menge M ⊂ Rd, namlich

M c := Rd \M = x ∈ Rd : x ∈M.

Satz 10.5: Eine Menge M ⊂ Rd ist genau dann offen, wenn ihr Komplement M c

abgeschlossen ist. Weiter ist M genau dann abgeschlossen, wenn M c offen ist.

Beweis: Es genugt, die erste Aussage zu beweisen. Die zweite folgt dann unmittelbaraus der Relation (M c)c =M .

•”⇒“: Sei M ⊂ Rd offen. Ware dann M c nicht abgeschlossen, so gabe es einekonvergente Folge xnn ⊂ M c mit xn → x0 ∈ M c (n → ∞). Das heißt aberx0 ∈ M , und da M offen ist, gabe es eine Kugel Br(x0) ⊂ M mit geeignetemRadius r > 0. Da andererseits |xn − x0| → 0 (n → ∞) gilt, musste aberxn ∈ Br(x0) ⊂ M fur hinreichend großes n ∈ N erfullt sein, im Widerspruchzu xnn ⊂M c. Also ist M c abgeschlossen.

•”⇐“: Sei nun M c abgeschlossen. Ware M nicht offen, so gabe es ein x0 ∈ Mmit Br(x0) ⊂ M fur alle r > 0. Wahlen wir insbesondere r = 1

n , so gabe esalso xn ∈ B 1

n(x0) mit xn ∈ M c fur alle n ∈ N. Fur die so gewahlte Folge

xnn ⊂ M c golte dann aber |xn − x0| < 1n → 0 (n → ∞). Und da M c

abgeschlossen ist, musste x0 ∈M c folgen, Widerspruch! Also ist M offen.q.e.d.

Notation: Meist werden wir offene Mengen mit dem (ggf. indizierten) Symbol Ω ⊂Rd und abgeschlossene Mengen mit A ⊂ Rd bezeichnen.

Satz 10.6:

(a) Sind Ω1, . . . ,Ωn ⊂ Rd offen, so gilt dies auch furn∩j=1

Ωj.

74 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

(b) Sind A1, . . . , An ⊂ Rd abgeschlossen, so ist auchn∪j=1

Aj abgeschlossen.

(c) Sei J eine beliebige Indexmenge und Ωjj∈J eine Familie offener Mengen.Dann ist auch die Vereinigung

∪j∈J

Ωj := x ∈ Rd : x ∈ Ωj fur ein j ∈ J

offen.

(d) Ist Ajj∈J eine Familie abgeschlossener Mengen mit beliebiger IndexmengeJ , so ist auch der Durchschnitt

∩j∈J

Aj := x ∈ Rd : x ∈ Aj fur alle j ∈ J

abgeschlossen.

Beweis: Wegen Satz 10.5 und der allgemeinen Relationen( ∪j∈J

Mj

)c=

∩j∈J

M cj ,

( ∩j∈J

Mj

)c=

∪j∈J

M cj

genugt es die (nahezu trivialen) Aussagen (a) und (c) zu beweisen (Ubungsaufgabe).

q.e.d.

Definition 10.4: SeiM ⊂ Rd eine beliebige Menge. Dann heißt ein Punkt x0 ∈ Rd:

• innerer Punkt von M , wenn ein r > 0 mit Br(x0) ⊂M existiert.

• Randpunkt von M , wenn zu jedem r > 0 Punkte y ∈ M und z ∈ M c mity, z ∈ Br(x0) existieren.

• Haufungspunkt von M , wenn zu jedem r > 0 ein x ∈ M \ x0 existiert mitx ∈ Br(x0).

• isolierter Punkt von M , wenn x0 ∈M gilt und x0 kein Haufungspunkt von Mist.

Die Menge der inneren Punkte von M ⊂ Rd heißt das Innere von M ; wir schreibenintM oder M . Die Menge der Randpunkte heißt Rand von M und wird mit ∂Mbezeichnet. Schließlich heißt M :=M ∪ ∂M der Abschluss von M .

Bemerkungen: Ein Punkt x0 ∈ Rd ist offenbar genau dann Haufungspunkt vonM ⊂ Rd, wenn eine Folge xnn ⊂ M \ x0 existiert mit xn → x0 (n → ∞).Ferner ist x0 genau dann Randpunkt von M , wenn zwei Folgen ynn ⊂ M undznn ⊂M c existieren mit yn → x0, zn → x0 (n→ ∞).

10. DER D-DIMENSIONALE RAUM UND METRISCHE RAUME 75

Satz 10.7: Fur eine beliebige Menge M ⊂ Rd gelten die folgenden Aussagen:

(i) ∂M = ∂(M c).

(ii) M ist genau dann offen, wenn M = intM gilt.

(iii) M = intM ∪ ∂M , ∂M =M \ intM .

(iv) Ist xnn ⊂M konvergent, so gilt limn→∞ xn =: x0 ∈M .

(v) M ist abgeschlossen ⇔ ∂M ⊂M ⇔ M =M .

Beweis: (i) und (ii) sind aus den Definitionen sofort klar. Wir beweisen (iii)-(v):

(iii) Wir zeigen M \ intM ⊂ ∂M . In der Tat: Ist x0 ∈ M \ intM , so gilt Br(x0) ⊂ M fur aller > 0. D.h. fur jedes r > 0 existieren y := x0 ∈ M , z ∈ Mc mit y, z ∈ Br(x0), also folgtx0 ∈ ∂M . Aus der Definition von M folgt nun

M =M ∪ ∂M = (M \ intM) ∪ intM ∪ ∂M = intM ∪ ∂M

und damit auch ∂M =M \ intM , wie behauptet.

(iv) Sei xnn ⊂ M konvergent und x0 = limn→∞ xn. Falls x0 ∈ intM gilt, ist nichts zu zeigenwegen intM ⊂ M ⊂ M . Sei also x0 ∈ intM , d.h. es gilt Br(x0) ⊂ M fur alle r > 0. Alsoexistiert zu jedem n ∈ N ein zn ∈Mc mit |zn −x0| < 1

n, d.h. zn → x0 (n→ ∞). Nach obiger

Bemerkung folgt x0 ∈ ∂M ⊂M , also die Behauptung.

(v) Zunachst ist ∂M ⊂ M ⇔ M = M wieder per Definition klar. Wir beweisen die ersteAquivalenz:

”⇒“: Sei M abgeschlossen und x0 ∈ ∂M gewahlt. Dann existiert eine Folge xnn ⊂M mit

xn → x0 (n → ∞). Und es folgt x0 ∈ M wegen der Abgeschlossenheit von M , also∂M ⊂M .

”⇐“: Sei umgekehrt ∂M ⊂ M . Und sei eine konvergente Folge xnn ⊂ M gewahlt. Nach

(iv) gilt dann x0 := limn→∞ xn ∈M =M ∪ ∂M =M , also ist M abgeschlossen.

q.e.d.

Beispiel: Fur die offene Kugel BR(ξ) im Rd gilt:

intBR(ξ) = BR(ξ),

BR(ξ) = x ∈ Rd : |x− ξ| ≤ R = BR(ξ),

∂BR(ξ) = x ∈ Rd : |x− ξ| = R =: SR(ξ).

Mit Sd−1 := x ∈ Rd : |x| = 1 = S1(0) bezeichnen wir die Einheitssphare im Rd.

Definition 10.5: Eine Teilmenge M ⊂ Rd heißt

• beschrankt, falls ein R > 0 existiert mit M ⊂ BR(0); anderenfalls nennen wirM unbeschrankt.

• kompakt, falls M beschrankt und abgeschlossen ist.

76 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Bemerkung: Ist M nichtleer und beschrankt, so ist der Durchmesser

diamM := sup|x− y| : x, y ∈M

wohl definiert, d.h. diamM ist endlich und eindeutig bestimmt.

Satz 10.8: Eine Teilmenge K ⊂ Rd ist genau dann kompakt, wenn jede Folgexnn ⊂ K eine konvergente Teilfolge xnl

l enthalt mit liml→∞

xnl=: x0 ∈ K.

Bemerkung: Eine Menge K nennt man folgenkompakt, wenn jede Folge xnn ⊂ Keine Teilfolge xnl

l enthalt mit xnl→ x0 ∈ K (l → ∞). Satz 10.8 besagt also, dass

fur Teilmengen des Rd Kompaktheit und Folgenkompaktheit aquivalent sind. FurTeilmengen aus

”unendlich dimensionalen“ (metrischen) Raumen gilt dies i.A. nicht

mehr, siehe aber Satz 10.10 unten. In solchen Raumen wird der Begriff der Kompakt-heit abweichend von Definition 10.5, namlich durch die

”Heine-Borel-Eigenschaft“,

erklart. Im Rd ist auch diese Eigenschaft aquivalent zu unserer Definition; vgl. Ana-lysis 2.

Beweis von Satz 10.8:

”⇒“: Sei K beschrankt und abgeschlossen. Eine beliebige Folge xnn ⊂ K ist dann

beschrankt und nach Satz 10.4 existiert eine konvergente Teilfolge xnll ⊂ K.

Da nun K abgeschlossen ist, gilt liml→∞ xnl=: x0 ∈ K.

”⇐“: Nun sei K folgenkompakt. Dann ist K offenbar abgeschlossen. Ware K nicht

beschrankt, so gabe es zu jedem n ∈ N ein xn ∈M mit xn ∈ Bn(0). Somit gilt|xn| > n fur alle n ∈ N, d.h. aus xnn konnen wir keine konvergente Teilfolgeauswahlen, Widerspruch! Also ist K kompakt.

q.e.d.

Definition 10.6: Eine Teilmenge S ⊂ M heißt dicht in M ⊂ Rd, wenn zu jedemx0 ∈M eine Folge xnn ⊂ S existiert mit xn → x0 (n→ ∞).

Zum Beispiel liegt Qd dicht in Rd, denn zu beliebigem x0 = (x01, . . . , x0d) ∈ Rdkonnen wir nach Satz 5.1 Folgen xnjn ⊂ Q, j = 1, . . . , d, finden mit xnj → x0j (n→∞) und folglich

Qd ∋ xn := (xn1, . . . , xnd) → (x01, . . . , x0d) = x0 fur n→ ∞.

Abschließend wollen wir den Begriff des metrischen Raumes angeben und kurzdiskutieren:

Definition 10.7: Sei X eine beliebige Menge und zu je zwei Punkten x, y ∈ Xexistiere eine reelle Zahl d(x, y) mit den folgenden Eigenschaften:

10. DER D-DIMENSIONALE RAUM UND METRISCHE RAUME 77

(a) d(x, y) > 0 fur alle x, y ∈ X mit x = y; d(x, x) = 0 fur alle x ∈ X.

(b) d(x, y) = d(y, x) fur alle x, y ∈ X.

(c) Dreiecksungleichung: d(x, y) ≤ d(x, z) + d(z, y) fur alle x, y, z ∈ X.

Dann nennen wir (X, d) einen metrischen Raum und die Abbildung d = d(x, y) :X ×X → R die Metrik oder den Abstand auf X.

Beispiele:

1. Jede Teilmenge X ⊂ Rd ist ein metrischer Raum mit der Metrik

d(x, y) := |x− y|, x, y ∈ X,

wie sofort aus Satz 10.1 folgt.

2. Sei X ein beliebiger linearer Vektorraum uber R und es existiere eine Abbil-dung ∥ · ∥ : X → R, genannt Norm auf X, mit folgenden Eigenschaften:

(a) ∥x∥ ≥ 0 fur alle x ∈ X; ∥x∥ = 0 ⇔ x = 0.

(b) ∥λx∥ = |λ| ∥x∥ fur alle x ∈ X, λ ∈ R.

(c) Dreiecksungleichung: ∥x+ y∥ ≤ ∥x∥+ ∥y∥ fur alle x, y ∈ X.

Dann nennt man X, oder genauer (X, ∥ · ∥), einen normierten Vektorraum;z.B. ist also der euklidische Raum Rd mit der euklidischen Lange ∥ · ∥ := | · |ein normierter Vektorraum. Aus (a)-(c) folgt wie in Beispiel 1 wieder, dass jedeTeilmenge Y ⊂ X eines normierten Vektorraumes auch metrischer Raum istmit der Metrik

d(x, y) := ∥x− y∥, x, y ∈ Y.

Wir werden spater”Funktionenraume“ als Beispiele normierter Vektorraume

kennenlernen. Diese sind, anders als der Rd, i.A. unendlich dimensional.

3. Wir konnen jede beliebige Menge X zu einem metrischen Raum machen mitder diskreten Metrik

d(x, y) :=

1, falls x = y

0, falls x = y, x, y ∈ X.

Die Beispiele 1 und 2 zeigen also, dass man Mengen mit verschiedenen Metri-ken ausstatten kann; die folgenden topologischen Begriffe hangen dann ganzwesentlich von der gewahlten Metrik ab.

78 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN

Die Begriffe Konvergenz und Cauchyfolge fur Folgen xnn ⊂ Rd aus Defi-nition 10.2 lassen sich nun sofort auf Folgen xnn ⊂ X aus einem metrischenRaum (X, d) ubertragen, indem man den Abstand |x − y| durch d(x, y) ersetzt;z.B. heißt xnn ⊂ X konvergent (bzgl. d) gegen x ∈ X, wenn zu jedem ε > 0 einN = N(ε) ∈ N existiert mit

d(xn, x) < ε fur alle n ≥ N.

x heißt dann wieder Grenzwert oder Limes der Folge und wir schreiben xn → x (n→∞) oder x = limn→∞ xn. Man rechnet leicht nach, dass wieder jede konvergente Folgein (X, d) auch Cauchyfolge ist. Die Umkehrung gilt jedoch i.A. nicht, sondern nurin vollstandigen metrischen Raumen, vgl. Definition 5.2.

Die topologischen BegriffeOffenheit undAbgeschlossenheit, innerer Punkt, Rand-punkt, Haufungspunkt und isolierter Punkt sowie Inneres, Rand und Abschluss ausden Definitionen 10.3, 10.4 ubertragen sich nun wortlich auf Teilmengen metrischerRaume, wenn wir noch die r-Umgebung oder r-Kugel um x0 ∈ X gemaß

Br(x0) := x ∈ X : d(x, x0) < r

erklaren. Bezeichnet M c := X \M das Komplement einer Teilmenge M ⊂ X, sohaben wir

Satz 10.9: Mit den oben erklarten Begriffen bleiben die Aussagen der Satze 10.5-10.7 in jedem metrischen Raum (X, d) richtig.

Beweis: Durch wortliches Ubertragen der Beweise. q.e.d.

Der Begriff der Beschranktheit einer Menge aus Definition 10.5 macht in einemmetrischen Raum (X, d) wenig Sinn, da X kein ausgezeichnetes Element 0 enthal-ten muss. Wir nutzen daher den Begriff des Durchmessers, vgl. die Bemerkung imAnschluss an Definition 10.5:

Definition 10.8: Ist (X, d) metrischer Raum, so erklaren wir den Durchmesser vonM ⊂ X gemaß

diamM := supd(x, y) : x, y ∈M, diam ∅ := 0.

Gilt diamM < +∞, so heißt M beschrankt, sonst unbeschrankt.

Wie bereits im Anschluss an Satz 10.8 bemerkt, gilt dieser in metrischen Raumeni.A. nicht mehr. Erklaren wir den Begriff Folgenkompaktheit wieder analog zum Rd,so haben wir jedoch den

Satz 10.10: Jede folgenkompakte Teilmenge M eines metrischen Raumes (X, d) istabgeschlossen und beschrankt.

10. DER D-DIMENSIONALE RAUM UND METRISCHE RAUME 79

Beweis:

• Abgeschlossenheit: Ist xnn ⊂ M konvergent gegen x0 ∈ X, so konvergiert auch jede Teil-folge xnkk ⊂ xnn gegen x0. Die Folgenkompaktheit liefert also x0 ∈M .

• Beschranktheit: Ware M unbeschrankt, also supd(x, y) : x, y ∈M = +∞ erfullt, so gabees Punkte xn, yn ∈ M mit d(xn, yn) ≥ n fur alle n ∈ N. Zu beliebigem x0 ∈ M konnen wirdann zu einer Teilfolge z′kk ⊂M von xnn oder ynn ubergehen mit d(z′k, x0) ≥ k fur allek ∈ N. Dann enthalt aber z′kk offenbar keine in M konvergente Teilfolge, im Widerspruchzur Folgenkompaktheit.

q.e.d.

Kapitel 2

Funktionen und Stetigkeit

1 Beispiele und Grenzwerte von Funktionen

Definition 1.1:

• Es sei D ⊂ Rn (n ∈ N) eine beliebige, nichtleere Menge. Jedem Punkt x ∈ Dwerde vermoge der Funktion f : D → Rd (d ∈ N) genau ein Wert y = f(x) ∈Rd zugeordnet. Man schreibt auch x 7→ f(x) oder f = f(x) oder y = f(x)fur die Funktion. In Koordinaten haben wir d Funktionen f1(x1, . . . , xn), . . . ,fd(x1, . . . , xn), x = (x1, . . . , xn) ∈ D, mit

(y1, . . . , yd) = y = f(x) =(f1(x1, . . . , xn), . . . , fd(x1, . . . , xn)

).

• Die Menge D ⊂ Rn heißt Definitionsbereich der Funktion f : D → Rd, dieMenge

W := f(x) : x ∈ D =: f(D)

ist der Wertebereich von f . Schließlich ist der Graph von f erklart als

graph f :=(x, f(x)) : x ∈ D

⊂ Rn × Rd = Rn+d.

Bemerkungen:

1. Eine Funktion ist also eine Abbildung zwischen Teilmengen n- bzw. d-dimen-sionaler reeller Raume, namlich f : D →W ,D ⊂ Rn,W ⊂ Rd. Daher sprechenwir gleichwertig von Funktionen und Abbildungen.

2. Gilt speziell n = 2 oder/und d = 2, so konnen wir D bzw. W mit einerkomplexen Struktur ausstatten, d.h. D ⊂ C bzw. W ⊂ C auffassen. So kannz.B. jede Funktion f : D → R2 als Funktion f : D → C interpretiert werden.In diesem Sinne sind Funktionen f : D → R also Spezialfalle von Funktionenf : D → C.

81

82 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

3. Analog konnen wir naturlich Funktionen zwischen metrischen Raumen er-klaren: Seien (X, d), (Y, δ) zwei metrische Raume und D ⊂ X eine nicht-leere Teilmenge. Dann ordnet f : D → Y jedem x ∈ D einen eindeuti-gen Wert y = f(x) ∈ Y zu. Die Begriffe Definitionsbereich, Wertebereichund Graph ubertragen sich wortlich; eine komponentenweise Darstellung istnaturlich i.A. nicht moglich.

Definition 1.2: Eine Funktion f : D → Rd heißt beschrankt, wenn ein c ∈ R soexistiert, dass gilt

|f(x)| ≤ c fur alle x ∈ D.

Anderenfalls heißt die Funktion unbeschrankt.

Bemerkung: Eine Funktion f : D → Rd ist also genau dann beschrankt, wenn ihrWertebereich W = f(D) ⊂ Rd beschrankt ist. Letztere Eigenschaft definiert auchbeschrankte Funktionen zwischen metrischen Raumen.

Beispiele:

1. Fur den Fall d = 1 lasst sich der Graph von f : D → R, also die Punkte(x, f(x)) ∈ Rn+1, x ∈ D, als Hohenfunktion uber D ⊂ Rn veranschaulichen(→ Berglandschaft). Alternativ (fur n ≥ 2) kann man sich die Funktion durchNiveaumengen veranschaulichen. Hierzu skizziert man

Γf (c) := x ∈ D : f(x) = c,

die Niveaumenge zum Niveau c ∈ R.

Zum Beispiel skizziere man die Niveaumengen (hier Niveaulinien) fur f =(x1, x2) := x21 − x22, x = (x1, x2) ∈ R2. Man beachte, dass f unbeschrankt ist,da Γ(c) = ∅ fur alle c ∈ R gilt.

Konvention: Fur n = 2, d = 1 schreibt man haufig x1 =: x, x2 =: y undy =: z, also z = f(x, y).

2. Eine Funktion f : D → Rd, d ≥ 2, kann man als Vektorfeld interpretieren,indem man an jeden Punkt x ∈ D ⊂ Rn den Vektor f(x) ∈ Rd

”anheftet“.

Diese Interpretation spielt vor allem in der Physik eine Rolle, etwa bei derBeschreibung von Kraftfeldern.

3. Weiter lasst sich f : D → Rd, d ≥ 2, fur D ⊂ Rn mit n = 1 als Kurve und furn = 2 als Flache im Rd interpretieren. Ist allgemeiner 2 ≤ n < d, so sprichtman von einer n-dimensionalen Flache im Rd. Dabei heißt m := d−n ∈ N dieCodimension der Flache.

1. BEISPIELE UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN 83

Speziell lasst sich fur g : D → R mit D ⊂ Rn, n ≥ 2, der Graph von g alsn-dimensionale Flache im Rn+1 interpretieren:

f(x) := (x, g(x)) : D → Rn+1.

In diesem Fall ist also die Codimension m = (n+1)−n = 1; man spricht dannvon einer Hyperflache.

4. Jedes komplexe Polynom

f(z) = anzn + an−1z

n−1 + . . .+ a1z + a0 (a0, . . . , an ∈ C)

ist eine Funktion f : C → C. Auch Potenzreihen

P(z) =

∞∑k=0

akzk (al ∈ C fur alle l ∈ N0)

sind komplexe Funktionen P : KR(0) → C, wobei R ∈ [0,+∞) ∪ +∞ denKonvergenzradius der Reihe bezeichne. Alle nichtkonstanten Polynome sindunbeschrankt!

5. Funktionen mussen keine geschlossene Darstellung besitzen. Beispiele sind dieSignumfunktion

sgn(x) :=

−1, x < 0

0, x = 0

+1, x > 0

: R → R

oder die Dirichletsche Sprungfunktion

f(x) :=

1, x ∈ Q0, x ∈ R \Q

: R → R.

Beide Funktionen sind beschrankt.

6. Die wohl wichtigsten Beispiele von Funktionen auf metrischen Raumen sinddurch Integrale gegeben. Z.B. werden wir insbesondere fur stetige Funktionenf : [a, b] → R, −∞ < a < b < +∞, das Riemann-Integral erklaren:

I(f) :=

b∫a

f(x) dx.

Es wird sich zeigen, dass der Raum C0([a, b]) der auf [a, b] stetigen, reellwerti-gen Funktionen ein normierter und damit ein metrischer Raum ist. Also stelltI : C0([a, b]) → R eine Funktion auf C0([a, b]) dar. Reellwertige Funktionenauf metrischen Raumen nennt man Funktionale.

84 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

Definition 1.3: Sei D ⊂ Rn und x0 ein Haufungspunkt von D. Zu der Funktionf : D → Rd gabe es ein a ∈ Rd, so dass fur alle ε > 0 ein δ = δ(ε) > 0 existiere mitder Eigenschaft

|f(x)− a| < ε fur alle x ∈ D mit 0 < |x− x0| < δ. (1.1)

Dann heißt a der Grenzwert oder Limes der Funktion f = f(x) im Punkt x0 undwir schreiben

limx→x0

f(x) = a oder f(x) → a (x→ x0).

Man sagt auch: f(x) konvergiert gegen a, wenn x gegen x0 strebt.

Geometrisch: Es gilt limx→x0 f(x) = a genau dann, wenn fur alle ε > 0 ein δ =δ(ε) > 0 existiert, so dass f(x) ∈ Bε(a) fur alle x ∈ B′

δ(x0) ∩ D richtig ist. Hierbezeichnet

B′δ(x0) := Bδ(x0) \ x0

die punktierte Kugel.

Satz 1.1: Fur f : D → Rd, x0 Haufungspunkt von D ⊂ Rn, gilt f(x) → a (x→ x0)genau dann, wenn fur jede Folge xpp ⊂ D \ x0 mit xp → x0 (p → ∞) dieBeziehung limp→∞ f(xp) = a gilt.

Beweis:

•”⇒“: Sei also limx→x0 f(x) = a erfullt und xpp ⊂ D \ x0 eine Folge mitxp → x0 (p → ∞). Zu beliebig vorgegebenem ε > 0 wahlen wir δ = δ(ε) > 0wie in Definition 1.3 und N = N(ε) ∈ N so, dass gilt

0 < |xp − x0| < δ(ε) fur alle p ≥ N(ε).

Dann folgt aus Formel 1.1

|f(xp)− a| < ε fur alle p ≥ N(ε),

also limp→∞ f(xp) = a.

•”⇐“: Sei nun limp→∞ f(xp) = a richtig fur jede Folge xpp ⊂ D \ x0mit limp→∞ xp = x0. Angenommen es gilt nicht limx→x0 f(x) = a, d.h.: Esgibt ein ε > 0, so dass fur alle δ > 0 ein x ∈ D existiert mit 0 < |x −x0| < δ und |f(x) − a| ≥ ε. Wahlen wir speziell δ = 1

p , so finden wir also

xp ∈ D mit 0 < |xp − x0| < 1p und |f(xp) − a| ≥ ε > 0 fur alle p ∈ N. Da

dann aber fur die Folge xpp ⊂ D \ x0 gilt limp→∞ xp = x0, musste nachVoraussetzung |f(xp) − a| → 0 (p → ∞) erfullt sein, Widerspruch! Also giltdoch limx→x0 f(x) = a.

q.e.d.

1. BEISPIELE UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN 85

Satz 1.2: (Rechenregeln fur Funktionsgrenzwerte)Seien Funktionen f, g : D → Rd erklart mit limx→x0 f(x) = a, limx→x0 g(x) = b,wobei x0 Haufungspunkt von D ⊂ Rn sei. Dann gelten die Rechenregeln:

limx→x0

[λf(x) + µg(x)] = λa+ µb fur alle λ, µ ∈ R,

limx→x0

⟨f(x), g(x)⟩ = ⟨a, b⟩

und fur d = 2, also f, g : D → C, auch

limx→x0

[λf(x) + µg(x)] = λa+ µb fur alle λ, µ ∈ C,

limx→x0

f(x)g(x) = ab,

limx→x0

f(x)

g(x)=a

b, falls g = 0 in D und b = 0 ist.

Beweis: Mit Satz 1.1 ergeben sich die Aussagen sofort aus den entsprechenden Re-chenregeln fur Folgengrenzwerte. Zur Ubung kann man die Aussagen auch direktuber die

”ε-δ-Definition“ 1.1 beweisen.

q.e.d.

Bemerkung: Die Definition und Schreibweise von Grenzwerten aus Definition 1.3ubertragt sich wieder auf Funktionen f : D → Y , D ⊂ X, zwischen metrischenRaumen (X, d), (Y, δ), indem man |x − x0| durch d(x, x0) und |f(x) − a| durchδ(f(x), a) ersetzt. Die geometrische Deutung bleibt also wortlich erhalten. AuchSatz 1.1 bleibt naturlich richtig. Hingegen machen die Rechenregeln aus Satz 1.2 nurfur Y = Rd bzw. Y = C Sinn, die Linearitat auch in normierten Raumen Y .

Wir betrachten noch einige spezielle Grenzprozesse fur Funktionen einer reellenVeranderlichen:

Definition 1.4: Es seien D ⊂ R und f : D → Rd gegeben.

(i) Gilt (x0, x0 + α) ⊂ D und gibt es ein a ∈ Rd, so dass fur alle ε > 0 einδ = δ(ε) ∈ (0, α) existiert mit

|f(x)− a| < ε fur alle x0 < x < x0 + δ,

so heißt a der rechtsseitige Limes von f an der Stelle x0; wir schreiben dann

f(x0+) := limx→x0+

f(x) = a oder f(x) → a (x→ x0+).

(ii) Gilt (x0 − α, x0) ⊂ D und gibt es ein a ∈ Rd, so dass fur alle ε > 0 einδ = δ(ε) ∈ (0, α) existiert mit

|f(x)− a| < ε fur alle x0 − δ < x < x0,

86 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

so heißt a der linksseitige Limes von f an der Stelle x0; wir schreiben dann

f(x0−) := limx→x0−

f(x) = a oder f(x) → a (x→ x0−).

(iii) Gilt (β,+∞) ⊂ D, so sagen wir, f(x) konvergiert gegen b ∈ Rd fur x→ +∞,wenn f(1t ) → b (t→ 0+) gilt; wir schreiben dann

limx→+∞

f(x) = b oder f(x) → b (x→ +∞).

(iv) Ist schließlich (−∞, β) ⊂ D, so sagen wir, f(x) konvergiert gegen b ∈ Rd furx→ −∞, wenn f(1t ) → b (t→ 0−) richtig ist; wir schreiben dann

limx→−∞

f(x) = b oder f(x) → b (x→ −∞).

Bemerkung: Ist f : D → Rd, D ⊂ R und (x0 − α, x0 + α) \ x0 ⊂ D, so besitzt fin x0 genau dann den Grenzwert limx→x0 f(x) =: a, wenn gilt

limx→x0−

f(x) = a = limx→x0+

f(x).

Beispiele:

1. Fur die Signumfunktion sgn(x) : R → R gilt in x0 = 0:

limx→0−

sgn(x) = −1, limx→0+

sgn(x) = +1.

Also besitzt sgn(x) in x0 = 0 keinen Grenzwert.

2. Fur die Funktion f(x) := 1x : (0,+∞) → R gilt limx→+∞ f(x) = 0, denn wir

haben f(1t ) = t→ 0 (t→ 0+).

Definition 1.5: Sei D ⊂ Rn und x0 ∈ D Haufungspunkt. Wir sagen, eine Funktionf : D → R konvergiert gegen +∞ (bzw. −∞) fur x→ x0, wenn zu jedem c > 0 einδ > 0 existiert mit

f(x) > c (bzw. f(x) < −c) fur alle x ∈ B′δ(x0) ∩D.

Wir schreiben

limx→x0

f(x) = ±∞ oder f(x) → ±∞ (x→ x0).

1. BEISPIELE UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN 87

Bemerkungen:

1. Man erweitert entsprechend fur Funktionen f : D → R, D ⊂ R, die einseitigenGrenzwerte aus Definition 1.4 auf Werte ±∞. Auch die Verallgemeinerung derDefinitionen 1.4 bzw. 1.5 auf metrische Raume im Bild- bzw. Urbildbereich istoffensichtlich.

2. Wie in Satz 4.3 aus Kap. 1 sieht man leicht: Sei f : D → R, D ⊂ Rn, x0Haufungspunkt von D, mit f(x) > 0

”nahe“ x0. Dann gilt

limx→x0

f(x) = +∞ ⇔ limx→x0

1

f(x)= 0.

Entsprechendes gilt im Falle n = 1 fur die einseitigen Grenzwerte.

Beispiele:

1. limx→0+√x = 0. Ist namlich ε > 0 beliebig, so wahlen wir δ = δ(ε) := ε2 > 0

und erhalten 0 <√x < ε fur 0 < x < δ(ε). Nach der letzten Bemerkung folgt

noch limx→+∞√x = +∞, denn

limx→+∞

1√x

Def. 1.4 (iii)= lim

t→0+

√t = 0.

2. Wir wissen bereits 1x → 0 (x → +∞). Somit liefern die Rechenregeln aus

Satz 1.2:

limx→+∞

7x− 2

3x+ 1= lim

x→+∞

7− 2x

3 + 1x

=7

3.

3. Fur beliebiges a ∈ R gilt limx→+∞(√x+ a −

√x) = 0, denn fur positives x > −a folgt aus

Beispiel 1

0 ≤ |√x+ a−

√x| =

|(√x+ a−

√x)(

√x+ a+

√x)|√

x+ a+√x

=|a|√

x+ a+√x

<|a|√x

→ 0 (x→ +∞).

4. limx→+∞x3+1x2+1

= +∞. Denn wir haben

limx→+∞

x2 + 1

x3 + 1= lim

x→+∞

1

x· limx→+∞

1 + 1x2

1 + 1x3

= 0 · 1 = 0,

also die Behauptung aus obiger Bemerkung.

88 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

2 Der Stetigkeitsbegriff

Definition 2.1: Seien D ⊂ Rn, x0 ∈ D und eine Funktion f : D → Rd gegeben.Dann heißt f in x0 stetig, wenn zu jedem ε > 0 ein δ = δ(ε) > 0 existiert, so dassgilt

|f(x)− f(x0)| < ε fur alle x ∈ D mit |x− x0| < δ.

Anderenfalls heißt f in x0 unstetig.

Bemerkungen:

1. Ist x0 ∈ D isolierter Punkt von D, so ist offenbar jede Funktion f : D → Rdin x0 stetig.

2. Die Stetigkeit ist eine”lokale Eigenschaft“, d.h.: Ist f in x0 stetig (bzw. un-

stetig) und andern wir f in D \Br(x0) fur ein r > 0 beliebig ab, so bleibt dieresultierende Funktion in x0 stetig (bzw. unstetig).

3. Definition 2.1 ubertragt sich wortlich auf Funktionen f : D → Y , D ⊂ X,zwischen metrischen Raumen (X, d), (Y, δ), wenn man |f(x) − f(x0)| durchδ(f(x), f(x0)) und |x − x0| durch d(x, x0) ersetzt. Auch der folgende Satzbleibt richtig:

Satz 2.1: (Charakterisierung der Stetigkeit)Sei f : D → Rd auf D ⊂ Rn erklart und sei x0 ∈ D Haufungspunkt. Dann sindfolgende Aussagen aquivalent:

(i) f ist stetig in x0.

(ii) Es gilt limx→x0

f(x) = f(x0).

(iii) Fur jede Folge xpp ⊂ D mit xp → x0 (p→ ∞) gilt limp→∞

f(xp) = f(x0).

Beweis: Sofort aus den Definitionen 1.3 und 2.1 sowie Satz 1.1. In (iii) kann dieForderung xp = x0 aus Satz 1.1 offenbar fallen gelassen werden. q.e.d.

Satz 2.2: (Rechenregeln)

(a) Sind f, g : D → Rd stetig in x0 ∈ D, so gilt dies auch fur das Skalarprodukt⟨f, g⟩ und jede Linearkombination λf + µg mit λ, µ ∈ R.

(b) Sind f, g : D → C stetig in x0 ∈ D, so gilt dies auch fur jede Linearkombina-tion λf +µg mit λ, µ ∈ C, das Produkt fg und, falls g = 0 in D, auch fur denQuotienten f

g .

Beweis: Sofort aus Satz 1.2 und Satz 2.1. q.e.d.

2. DER STETIGKEITSBEGRIFF 89

Beispiele:

1. Polynomfunktionen p(z) =∑n

k=0 akzk mit Koeffizienten a0, . . . , an ∈ C sind

in jedem Punkt z0 ∈ C stetig nach Satz 2.2, da dies fur die konstante f1(z) :=c ∈ C und die lineare Funktion f2(z) := z erfullt ist.

2. Die Dirichletsche Sprungfunktion

f(x) :=

1, x ∈ Q0, x ∈ R \Q

ist in keinem Punkt aus R stetig. Die Funktion

f(x) :=

x, x ∈ Q0, x ∈ R \Q

ist in x = 0 und nur dort stetig (→ Ubungsaufgaben).

3. Die Signumfunktion

sgn(x) :=

−1, x < 0

0, x = 0

1, x > 0

ist fur alle x ∈ R \ 0 stetig und in x = 0 unstetig.

Satz 2.3: (Komposition stetiger Funktionen)Seien Funktionen f : D → Rd und g : E → Rm gegeben mit D ⊂ Rn, E ⊂ Rd undf(D) ⊂ E. Weiter seien f in x0 ∈ D und g in y0 = f(x0) ∈ E stetig. Dann ist auchdie Komposition h := g f : D → Rm in x0 stetig.

Beweis: Da fur isolierte Punkte x0 ∈ D nichts zu zeigen ist, konnen wir annehmen,dass x0 Haufungspunkt von D ist. Sei nun xpp ⊂ D \ x0 mit xp → x0 (p → ∞)eine beliebige Folge. Nach Satz 2.1 gilt dann

limp→∞

f(xp) = f(x0) = y0.

Somit folgt wiederum nach Satz 2.1

limp→∞

h(xp) = limp→∞

g(f(xp)) = g(y0) = h(x0),

also die behauptete Stetigkeit von h = g f . q.e.d.

Definition 2.2: Eine Funktion f : D → Rd, D ⊂ Rn, nennen wir stetig (auf D),wenn f in allen Punkten x ∈ D stetig ist. Mit C0(D,Rd) bezeichnen wir die Klassealler auf D stetigen Funktionen. Fur d = 1 schreiben wir auch kurz C0(D) :=C0(D,R) und fur d = 2 auch C0(D,C) := C0(D,R2).

90 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

Bemerkung: Gemaß Satz 2.2 wird C0(D,Rd) durch die Verknupfungen

(f + g)(x) := f(x) + g(x), (λf)(x) := λf(x) fur x ∈ D

zu einem (unendlich dimensionalen) Vektorraum.

Wir wollen nun die Umkehrfunktion zu einer injektiven Funktion f : D → Rdmit D ⊂ Rn betrachten, d.h. die Funktion f−1 :W → Rn mit W := f(D), die durchdie Forderung

f(x) = y ⇔ f−1(y) = x fur x ∈ D, y ∈W

eindeutig bestimmt ist.

Satz 2.4: (Stetigkeit der Umkehrfunktion)Sei K ⊂ Rn kompakt und f : K → Rd sei stetig und injektiv mit WertebereichW := f(K). Dann ist auch die Umkehrfunktion f−1 :W → Rn von f stetig auf W .

Beweis: Sei y0 ∈ W beliebig gewahlt und sei ypp ⊂ W mit yp → y0 (p → ∞). Zuzeigen ist dann

xp := f−1(yp) → f−1(y0) =: x0 (p→ ∞).

Die Folge xpp ⊂ K ist beschrankt, da K beschrankt ist. Sei nun ξ ∈ Rn einbeliebiger Haufungspunkt von xpp und xpkk eine Teilfolge mit xpk → ξ (k → ∞).Da K abgeschlossen ist, gilt ξ ∈ K. Die Stetigkeit von f liefert also f(xpk) →f(ξ) (k → ∞). Andererseits wissen wir

f(xpk) = f(f−1(ypk)) = ypk → y0 (k → ∞),

also f(ξ) = y0 = f(x0), so dass die Injektivitat von f liefert ξ = x0 fur alle Haufungs-punkte von xpp. Das bedeutet lim

p→∞xp = x0, wie behauptet.

q.e.d.

Bemerkung: Auch die Satze 2.3 und 2.4 bleiben fur Funktionen zwischen metrischenRaumen richtig, wenn man in Satz 2.4 noch

”kompakt“ durch

”folgenkompakt“ er-

setzt; vgl. Kap. 1, § 10.

Wir wollen uns nun der Frage nach der Existenz einer stetigen Umkehrfunktionfur reellwertige Funktionen einer reellen Veranderlichen widmen. Wir beginnen miteinem Satz, der von unabhangigem Interesse ist:

Satz 2.5: (Zwischenwertsatz von Bolzano-Weierstraß)Sei f : [a, b] → R stetig mit f(a) = f(b). Dann existiert zu jedem Wert c zwischenf(a) und f(b) mindestens ein ξ ∈ (a, b) mit f(ξ) = c.

2. DER STETIGKEITSBEGRIFF 91

Beweis: Wir konnen f(a) < c < f(b) annehmen; anderenfalls gehen wir zu −f und−c uber. Wir betrachten nun die Menge

M := x ∈ [a, b] : f(x) < c,

die offenbar nichtleer und beschrankt ist. Setzen wir ξ := supM , so gibt es eineFolge xpp ⊂ M mit xp → ξ (p → ∞); vgl. Hilfssatz 6.1 aus Kap. 1. Die Stetigkeitvon f liefert also f(ξ) = limp→∞ f(xp) ≤ c, und nach Voraussetzung folgt ξ < b.

Ware nun f(ξ) < c, so gabe es wegen der Stetigkeit von f ein δ ∈ (0, b − ξ), sodass gilt

f(x) < c fur alle x ∈ [ξ, ξ + δ),

im Widerspruch zur Wahl von ξ = supM . Also folgt f(ξ) = c. q.e.d.

Folgerung 2.1: Sei I ⊂ R ein beliebiges, nicht notwendig beschranktes Intervallund f : I → R eine stetige Funktion. Dann ist auch f(I) ⊂ R ein Intervall.

Beweis: Wir setzen I∗ = f(I) und

ξ := inf I∗ ∈ R ∪ −∞, η := sup I∗ ∈ R ∪ +∞.

Wir zeigen nun (ξ, η) ⊂ I∗: Ist namlich y ∈ (ξ, η) beliebig, so gibt es gemaß Hilfssatz 6.1 aus Kap. 1Zahlen a, b ∈ I mit

ξ ≤ f(a) < y < f(b) ≤ η.

Nach dem Zwischenwertsatz existiert nun ein x ∈ (a, b) ⊂ I mit f(x) = y, d.h. y ∈ I∗.Wir erhalten, dass I∗ eines der folgenden Intervalle sein muss:

(ξ, η), [ξ, η), (ξ, η] oder [ξ, η].

Sonst gabe es namlich ein z ∈ I∗ mit z < ξ oder z > η, im Widerspruch zur Definition von ξ und η.

q.e.d.

Definition 2.3: Eine Funktion f : D → R, D ⊂ R, heißt monoton wachsend(bzw. fallend), wenn

f(x) ≤ f(y) (bzw. f(x) ≥ f(y)) fur alle x, y ∈ D mit x < y

erfullt ist. f heißt streng monoton wachsend (bzw. fallend), wenn gilt

f(x) < f(y) (bzw. f(x) > f(y)) fur alle x, y ∈ D mit x < y.

Satz 2.6: Sei I ⊂ R ein nichtleeres Intervall. Dann besitzt jede stetige, streng mo-notone Funktion f : I → R eine stetige, streng monotone Umkehrfunktion f−1 :I∗ → R mit dem Intervall I∗ := f(I).

Beweis: Zunachst ist eine streng monotone Funktion offensichtlich injektiv. Also existiert die Um-kehrfunktion f−1 : I∗ → R, und nach Folgerung 2.1 ist I∗ ein Intervall. O.B.d.A. sei nun f strengmonoton wachsend, sonst gehen wir zu −f uber. Dann ist auch f−1 streng monoton wachsend. Zuzeigen bleibt also die Stetigkeit von f−1:

92 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

• Sei dazu zunachst y0 ∈ int I∗. Dann ist auch x0 := f−1(y0) ∈ int I aufgrund der Monotonie.Also existiert ein ε > 0 mit [x0 − ε, x0 + ε] ⊂ I, und nach Satz 2.4 ist f−1 stetig auff([x0 − ε, x0 + ε]), also insbesondere in f(x0) = y0.

• Sei nun y0 ∈ int I∗. Dann ist y0 ein Endpunkt von I∗, sagen wir der linke Endpunkt. Somitmuss, wieder wegen der Monotonie, auch x0 := f−1(y0) linker Endpunkt von I sein. Es gibtdann ein ε > 0, so dass gilt [x0, x0+ε] ⊂ I und nach Satz 2.4 ist f−1 stetig auf f([x0, x0+ε])und insbesondere in f(x0) = y0.

q.e.d.

3 Stetige Funktionen auf Kompakta, gleichmaßige Ste-tigkeit

Wir haben in Paragraph 2 gesehen, dass stetige, injektive Funktionen auf kompaktenTeilmengen des Rn eine stetige Umkehrfunktion besitzen. In diesem Paragraphenwollen wir weitere Eigenschaften kennenlernen, die Kompakta als Definitionsgebieteauszeichnen. Wir beginnen mit dem

Satz 3.1: Ist K ⊂ Rn kompakt und f ∈ C0(K,Rd), dann ist auch f(K) ⊂ Rdkompakt.

Beweis: Sei ypp ⊂ f(K) eine beliebige Folge. Zu jedem yp gibt es (mindestens) einxp ∈ K mit f(xp) = yp. Da K kompakt ist, konnen wir nach Kap. 1, Satz 10.8 ausxpp ⊂ K eine konvergente Teilfolge xpll auswahlen mit liml→∞ xpl =: x0 ∈ K.Die Stetigkeit von f ergibt nun

ypl = f(xpl) → f(x0) =: y0 ∈ f(K) fur l → ∞.

Wiederum Satz 10.8 aus Kap. 1 liefert die behauptete Kompaktheit von f(K).

q.e.d.

Eines der wichtigsten Hilfsmittel der Analysis enthalt der folgende

Satz 3.2: (Weierstraßscher Hauptlehrsatz)Sei K ⊂ Rn kompakt und nichtleer und sei f ∈ C0(K,R). Dann gibt es Punktex, x ∈ K, so dass gilt

f(x) ≤ f(x) ≤ f(x) fur alle x ∈ K. (3.1)

Bemerkung: Relation (3.1) konnen wir auch schreiben als

f(x) = inf f(K) =: infx∈K

f(x) = infKf,

f(x) = sup f(K) =: supx∈K

f(x) = supKf.

3. KOMPAKTA UND GLEICHMASSIGE STETIGKEIT 93

Das heißt: Eine stetige, auf einem Kompaktum erklarte Funktion nimmt dort ihrInfimum (=Minimum) bzw. Supremum (=Maximum) an. Die Aussage wird offenbarfalsch, wenn man eine der Voraussetzungen fallen lasst.

Beweis von Satz 3.2: Nach Satz 3.1 ist f(K) ⊂ R beschrankt und abgeschlossen.Inbesondere existieren also

m := infKf ∈ R, m := sup

Kf ∈ R.

Nach Hilfssatz 6.1 aus Kap. 1 gibt es nun zwei Folgen xpp, xpp ⊂ K mit

f(xp) → m, f(xp) → m (p→ ∞). (3.2)

Da K kompakt ist, konnen wir andererseits konvergente Teilfolgen xpll, xpllauswahlen mit x := liml→∞ xpl ∈ K und x := liml→∞ xpl ∈ K. Die Stetigkeit von fliefert dann

f(xpl) → f(x), f(xpl) → f(x) (l → ∞). (3.3)

Ein Vergleich von (3.2) und (3.3) ergibt also

f(x) = m ≤ f(x) ≤ m = f(x) fur alle x ∈ K,

wie behauptet. q.e.d.

Fur die Formulierung des dritten grundlegenden Resultats benotigen wir nochdie folgende Verscharfung des Stetigkeitsbegriffs:

Definition 3.1: Sei D ⊂ Rn und f : D → Rd gegeben. Dann heißt f gleichmaßigstetig auf D, wenn zu jedem ε > 0 ein δ = δ(ε) > 0 existiert, so dass gilt

|f(x)− f(x′)| < ε fur alle x, x′ ∈ D mit |x− x′| < δ. (3.4)

Bemerkung: Fur eine stetige Funktion f ∈ C0(D,Rd) gilt (3.4) ebenfalls, jedochmit einem i.A. von x, x′ ∈ D abhangigen δ = δ(ε, x, x′). Jede gleichmaßig stetigeFunktion ist also stetig. Die Umkehrung gilt jedoch nicht, wie etwa das Beispielf(x) := 1

x , x ∈ (0, 1], zeigt: Angenommen es gabe z.B. fur ε = 1 ein δ > 0, sodass |f(x)− f(x′)| < 1 fur alle x, x′ ∈ (0, 1] mit |x− x′| < δ richtig ist. Speziell fur0 < x < minδ, 12 und x′ = 2x folgte dann aber |x−x′| = x < δ und |f(x)−f(x′)| =| 1x − 1

2x | =12x > 1, Widerspruch!

Satz 3.3: (Heine)Ist K ⊂ Rn kompakt und f ∈ C0(K,Rd), so ist f gleichmaßig stetig.

94 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

Beweis: Angenommen, f ist nicht gleichmaßig stetig. Dann gibt es also ein ε > 0,so dass fur alle δ > 0 Punkte x, x′ ∈ K mit |x − x′| < δ existieren, fur die gilt|f(x)− f(x′)| ≥ ε. Wahlen wir insbesondere δ = 1

p , p ∈ N, so finden wir also Folgen

xpp, x′pp ⊂ K mit

|xp − x′p| <1

pfur alle p ∈ N (3.5)

und

|f(xp)− f(x′p)| ≥ ε fur alle p ∈ N. (3.6)

Da nun K kompakt ist, existiert nach Satz 10.8 aus Kap. 1 eine konvergente Teilfolgexpll ⊂ xpp mit liml→∞ xpl = x0 ∈ K. Fur die entsprechende Teilfolge x′pll ⊂x′pp liefert (3.5) ebenfalls liml→∞ x′pl = x0. Und aus der Stetigkeit von f und (3.6)folgern wir

0 = |f(x0)− f(x0)| =∣∣∣ liml→∞

f(xpl)− liml→∞

f(x′pl)∣∣∣ = lim

l→∞|f(xpl)− f(x′pl)| ≥ ε > 0,

also einen Widerspruch! q.e.d.

Bemerkungen:

1. Im obigen Beispiel f(x) = 1x , x ∈ (0, 1], ist zwar f stetig aber (0, 1] nicht

kompakt.

2. Die drei Satze dieses Paragraphen bleiben fur Funktionen auf kompakten Teil-mengen metrischer Raume richtig, wenn man den Kompaktheitsbegriff nachHeine-Borel benutzt. Fur den Beweis verwendet man, dass dieser in metrischenRaumen aquivalent zur Folgenkompaktheit ist.

4 Funktionenfolgen und gleichmaßige Konvergenz

Wir betrachten nun Folgen fnn von Funktionen fn : D → Rd, die alle auf ein undderselben nichtleeren Menge D ⊂ Rm erklart seien.

Definition 4.1: Eine Funktionenfolge fnn mit fn : D → Rd, n ∈ N, heißt punkt-weise konvergent auf D ⊂ Rm, wenn die Punktfolge fn(x)n ⊂ Rd fur jedes x ∈ Dkonvergent ist. Die Grenzwerte

f(x) := limn→∞

fn(x), x ∈ D,

definieren dann eine Funktion f : D → Rd, den sogenannten punktweisen Limes derFunktionenfolge fnn. Schreibweise: fn → f (n→ ∞) auf D.

4. FUNKTIONENFOLGEN UND GLEICHMASSIGE KONVERGENZ 95

Beispiele:

1. D = [0, 1] ⊂ R, fn(x) := xn. fnn konvergiert bekanntlich punktweise gegendie Funktion

f(x) :=

0, x ∈ [0, 1)

1, x = 1.

2. D = [0,+∞), gn(x) := x1n . Dann konvergiert gnn punktweise gegen

g(x) :=

1, x ∈ (0,+∞)

0, x = 0.

Die Beispiele zeigen, dass der punktweise Limes einer Folge stetiger Funktionennicht wieder stetig sein muss. Um beim Grenzubergang in der Klasse der stetigenFunktionen zu bleiben, benotigen wir einen starkeren Konvergenzbegriff, der aufWeierstraß zuruckgeht:

Definition 4.2: Eine Folge fnn von Funktionen fn : D → Rd mit D ⊂ Rm heißtgleichmaßig konvergent gegen f : D → Rd, in Zeichen fn →→ f (n → ∞) auf D,wenn zu jedem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N existiert mit

|fn(x)− f(x)| < ε fur alle x ∈ D und n ≥ N(ε). (4.1)

Bemerkung: Formel (4.1) gilt naturlich auch fur den punktweisen Limes einer Funk-tionenfolge, allerdings mit einem i.A. von x ∈ D abhangigen N = N(ε, x) ∈ N.

Satz 4.1: (Weierstraßscher Konvergenzsatz)Die Folge fnn stetiger Funktionen fn : D → Rd konvergiere auf D ⊂ Rm gleichma-ßig gegen f : D → Rd. Dann ist f stetig auf D.

Beweis: Nach Definition 4.2 gibt es zu beliebig gewahltem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ Nmit

|fN (x)− f(x)| < ε

3fur alle x ∈ D. (4.2)

Sei nun x0 ∈ D gewahlt. Da fN stetig ist, finden wir ein δ = δ(ε) > 0, so dass gilt

|fN (x)− fN (x0)| <ε

3fur alle x ∈ D mit |x− x0| < δ. (4.3)

Mit der Dreiecksungleichung erhalten wir nun aus (4.2) und (4.3)

|f(x)− f(x0)| ≤ |f(x)− fN (x)|+ |fN (x)− fN (x0)|+ |fN (x0)− f(x0)|

3+ε

3+ε

3= ε fur alle x ∈ D mit |x− x0| < δ,

96 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

wie behauptet. q.e.d.

Der nachste Satz besagt insbesondere, dass der”Raum der stetigen Funktionen“

im unten zu prazisierenden Sinne vollstandig ist:

Satz 4.2: (Cauchys Konvergenzkriterium bei gleichmaßiger Konvergenz)Sei fnn eine Folge von Funktionen fn : D → Rd, D ⊂ Rm. Dann konvergiertfnn genau dann gleichmaßig (gegen ein f : D → Rd), wenn zu jedem ε > 0 einN = N(ε) ∈ N existiert mit

|fn(x)− fk(x)| < ε fur alle x ∈ D und n, k ≥ N(ε). (4.4)

Beweis:

•”⇒“: Sei fn →→ f (n → ∞) auf D erfullt. Dann existiert zu beliebigem ε > 0ein N(ε) ∈ N mit |fn(x) − f(x)| < ε

2 fur alle x ∈ D und n ≥ N(ε). Mit derDreiecksungleichung folgt dann (4.4).

•”⇐“: Sei umgekehrt (4.4) erfullt. Wegen der Vollstandigkeit des Rd existiertdann der punktweise Limes f(x) = limk→∞ fk(x), x ∈ D. Wenden wir (4.4)auf ε

2 statt ε an und gehen zur Grenze k → ∞ uber, so folgt

|fn(x)− f(x)| = limk→∞

|fn(x)− fk(x)| ≤ε

2< ε fur alle x ∈ D, n ≥ N(ε),

also fn →→ f (n→ ∞) auf D. Q.e.d.

Definition 4.3: Auf dem (Vektor)-Raum der stetigen, beschrankten Funktionen

C0b (D,Rd) := f ∈ C0(D,Rd) : f ist beschrankt

fur nichtleeres D ⊂ Rm erklaren wir die Supremumsnorm

∥f∥D := supx∈D

|f(x)| < +∞.

Bemerkungen:

1. Falls D = K ⊂ Rm kompakt ist, ist nach Satz 3.2 jede Funktion f ∈ C0(K,Rd)beschrankt.

2. Als Ubungsaufgabe pruft man nach, dass die Supremumsnorm tatsachlich eineNorm mit den Eigenschaften (a)-(c) auf V = C0

b (D,Rd) ist; vgl. Kap. 1, § 10.Also ist (V, ∥ · ∥D) ein normierter und damit auch ein metrischer Raum.

3. Fur Funktionenfolgen fnn ⊂ V = C0b (D,Rd) gilt:

4. FUNKTIONENFOLGEN UND GLEICHMASSIGE KONVERGENZ 97

• fn →→ f ∈ V (n→ ∞) auf D ⇔ ∥fn − f∥D → 0 (n→ ∞).

• Eigenschaft (4.4) ist aquivalent zu ∥fn − fk∥D < ε fur alle n, k ≥ N(ε).

Wir erhalten die

Folgerung 4.1: Der Vektorraum V = C0b (D,Rd) der stetigen, beschrankten Funk-

tionen auf D ⊂ Rm ist vollstandig bez. der Supremumsnorm, d.h. (V, ∥ · ∥D) ist einvollstandiger normierter Raum oder Banachraum.

Beweis: Sofort aus den Satzen 4.1 und 4.2. q.e.d.

Wir wollen nun, analog zu komplexen Reihen, Funktionenreihen untersuchen:

Definition 4.4: Ist fkk eine Folge von Funktionen fk : D → C, D ⊂ Rm, so heißtdie zugehorige Funktionenreihe

∑∞k=1 fk =

∑k fk gleichmaßig konvergent, wenn die

Folge der Partialsummen

sn(x) :=

n∑k=1

fk(x), x ∈ D,

gleichmaßig konvergiert.

Bemerkungen:

1. Gilt fkk ⊂ C0(D,C), so ist auch snn ⊂ C0(D,C). Konvergiert also∑∞k=1 fk gleichmaßig, so ist die Grenzfunktion (=Wert der Funktionenreihe)

eine stetige Funktion nach Satz 4.1.

2. Wir beschranken uns hier auf komplexwertige Funktionenreihen, da wir bis-her nur komplexe Reihen betrachtet haben. Man kann die Aussagen leichtauf Rd-wertige Funktionenreihen ubertragen, indem man die entsprechendenErgebnisse aus Kap. 1, § 8 auf Reihen in Rd erweitert.

Satz 4.3: (Majorantenkriterium fur Funktionenreihen)Sei D ⊂ Rm und fkk eine Folge von Funktionen fk : D → C. Ferner sei ckk ⊂ Reine Punktfolge mit der Eigenschaft

|fk(x)| ≤ ck fur alle x ∈ D. (4.5)

Falls dann∑∞

k=1 ck konvergiert, so konvergiert∑∞

k=1 fk gleichmaßig auf D. DieReihe

∑k ck heißt Majorante von

∑k fk.

98 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT

Beweis: Sei ε > 0 gewahlt. Satz 8.1 aus Kap. 1 und (4.5) liefern zunachst

n∑k=m+1

|fk(x)| ≤n∑

k=m+1

ck < ε fur alle x ∈ D und n > m ≥ N(ε)

mit geeignetem N(ε) ∈ N. Aus der Dreiecksungleichung folgt dann

|sn(x)− sm(x)| =∣∣∣∣ n∑k=m+1

fk(x)

∣∣∣∣ ≤ n∑k=m+1

|fk(x)| < ε

fur alle x ∈ D und n > m ≥ N(ε). Satz 4.2 liefert also die Behauptung. q.e.d.

Als Folgerung halten wir das folgende wichtige Resultat fest:

Satz 4.4: Es seien akk ⊂ C, R ∈ (0,+∞) ∪ +∞ und P(z) :=∑∞

k=0 akzk eine

in KR(0) = z ∈ C : |z| < R konvergente Potenzreihe. Dann ist P : KR(0) → Cstetig.

Beweis: Sei z0 ∈ KR(0) beliebig, so folgt z0 ∈ KR0(0) mit R0 := 12(|z0| + R) < R.

Nun ist fur D := KR0(0) die Folge akzkk ⊂ C0(D,C) durch |ak|Rk0k ⊂ Rmajorisiert im Sinne von (4.5), und nach Satz 9.2 aus Kap. 1 konvergiert

∑k |ak|Rk0 .

Satz 4.3 liefert also die gleichmaßige Konvergenz der Potenzreihe P auf D. Und nachSatz 4.1 ist P stetig auf D, also insbesondere auch im Punkt z0 ∈ D. Da z0 ∈ KR(0)beliebig war, folgt P ∈ C0(KR(0),C), wie behauptet.

q.e.d.

Folgerung 4.2: Die komplexe Exponentialfunktion

exp z = ez :=∞∑k=0

zk

k!

ist auf ganz C stetig.

Wir werden exp z genauer im nachsten Kapitel untersuchen und hieraus auchdie weiteren elementaren Funktionen wie Sinus, Cosinus, Hyperbelfunktionen, Lo-garithmus und allgemeine Potenz ableiten.

Kapitel 3

Differential- undIntegralrechnung in einer reellenVeranderlichen

1 Differenzierbarkeit

Wir untersuchen Funktionen einer reellen Veranderlichen f : I → Rd fur d ∈ N.Hier und im Folgenden sei I ⊂ R ein (nicht notwendig beschranktes) Intervall. Wirbeginnen mit einem der wichtigsten Begriffe der Analysis uberhaupt:

Definition 1.1: Eine Funktion f : I → Rd heißt differenzierbar an der Stelle t0 ∈ I,falls der Grenzwert

f ′(t0) := limh→0

f(t0 + h)− f(t0)

h= lim

t→t0

f(t)− f(t0)

t− t0(1.1)

existiert. f ′(t0) heißt (erste) Ableitung oder Differentialquotient von f an der Stellet0. Alternativ schreiben wir auch

df

dt(t0), Df(t0) oder f(t0)

fur die Ableitung. Falls t0 ein Randpunkt von I ist, so ist der Grenzwert h → 0 in(1.1) als einseitiger Grenzwert h→ 0+ bzw. h→ 0− aufzufassen.

Die Funktion f : I → Rd heißt differenzierbar (auf I), wenn f in jedem Punktt0 ∈ I differenzierbar ist.

99

100 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Bemerkungen:

1. Geometrische Interpretationen:

(a) Der Differenzenquotient

∆hf(t0) :=f(t0 + h)− f(t0)

h

einer Funktionf : I → R ist die Steigung der Sekante an graph f durch(t0, f(t0)) und (t0 + h, f(t0 + h)). Bei Grenzubergang h → 0 geht dieSekante in die Tangente

T :=(t, y) ∈ R2 : y = f ′(t0)(t− t0) + f(t0)

an graph f im Punkt (t0, f(t0)) uber; f

′(t0) ist die Steigung der Tangente.

(b) Fur eine Kurve f : I → Rd im Rd sind ∆hf(t0) Sekantenvektoren inRd und f ′(t0) wird als Tangentenvektor an die Kurve im Punkt f(t0)interpretiert (und abgetragen).

2. Zum Beispiel sind die Funktionen f(t) := t, g(t) := c mit einer Konstantenc ∈ R fur alle t ∈ R differenzierbar und es gilt

f ′(t) = 1, g′(t) = 0 fur alle t ∈ R.

3. Falls f : I → Rd differenzierbar ist, so kann man die Zuordnung t 7→ f ′(t)wieder als Funktion f ′ : I → Rd interpretieren. Ist f ′ differenzierbar in t0 ∈ I,so konnen wir f ′′(t0) := (f ′)′(t0) bilden, die zweite Ableitung von f an derStelle t0, mit den alternativen Schreibweisen

f ′′(t0) =d2f

dt2(t0) = D2f(t0) = f(t0).

Ist f ′ auf ganz I differenzierbar, so fassen wir f ′′ : I → Rd wiederum alsFunktion auf.

Falls allgemein die (n−1)-te Ableitung f (n−1) : I → Rd fur ein n ∈ N definiertund in t0 ∈ I differenzierbar ist, wobei f (0) := f gesetzt wird, so erklaren wirdie n-te Ableitung von f in t0 als f (n)(t0) := (f (n−1))′(t0). Wir schreiben dannauch

f (n)(t0) =dnf

dtn(t0) = Dnf(t0).

Wenn die n-te Ableitung f (n) auf ganz I existiert, so heißt f n-mal differen-zierbar.

1. DIFFERENZIERBARKEIT 101

Satz 1.1: Ist f : I → Rd gegeben, so sind die folgenden Aussagen aquivalent:

(i) f ist in t0 ∈ I differenzierbar.

(ii) Es existiert ein a ∈ Rd und eine in t0 stetige Funktion φ : I → Rd mitφ(t0) = 0, so dass gilt

f(t) = f(t0) + (t− t0)a+ (t− t0)φ(t) fur alle t ∈ I. (1.2)

Beweis:

•”⇒“: Sei f in t0 differenzierbar. Wir setzen dann a := f ′(t0) und

φ(t) :=

f(t)− f(t0)

t− t0− a, falls t ∈ I \ t0

0, fur t = t0

.

Offenbar ist dann φ in t0 stetig mit φ(t0) = 0, und Umstellen liefert diegesuchte Darstellung (1.2).

•”⇐“: Haben wir umgekehrt (1.2), so liefert Umstellen fur t = t0:

f(t)− f(t0)

t− t0= a+ φ(t) → a (t→ t0),

also die Differenzierbarkeit von f in t0. q.e.d.

Bemerkung: Der Beweis zeigt, dass a eindeutig bestimmt ist und dass gilt a = f ′(t0).Die Darstellung (1.2) liefert also eine lineare Approximation von f durch

L(t) := f(t0) + (t− t0)f′(t0), t ∈ R.

Setzen wir noch ψ(t) := a + φ(t) fur t ∈ I, so haben wir die zu (1.2) aquivalenteDarstellung

f(t) = f(t0) + (t− t0)ψ(t), t ∈ I, (1.3)

wobei nun ψ : I → Rd in t0 stetig ist und ψ(t0) = f ′(t0) erfullt.

Folgerung 1.1: Eine in t0 ∈ I differenzierbare Funktion f : I → Rd ist in t0 stetig.

Beweis: Sofort aus Darstellung (1.2) oder (1.3). q.e.d.

Bemerkungen:

1. Die Umkehrung von Folgerung 1.1 gilt nicht, wie etwa das Beispiel f(t) := |t| imPunkt t0 = 0 zeigt. Es gibt sogar stetige, nirgends differenzierbare Funktionen;siehe S.Hildebrandt: Analysis 1 (Springer-Verlag), S. 192.

102 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

2. Eine Funktion f = (f1, . . . , fd) : I → Rd ist genau dann in t0 ∈ I differenzier-bar, wenn alle Komponentenfunktionen f1, . . . , fd in t0 differenzierbar sind;dann gilt

f ′(t0) =(f ′1(t0), . . . , f

′d(t0)

).

3. Wie die Stetigkeit ist auch die Differenzierbarkeit (in einem Punkt) eine lokaleEigenschaft.

Fur komplexwertige Funktionen gelten folgende Rechenregeln:

Satz 1.2: Sind f, g : I → C in t0 ∈ I differenzierbar, so gilt dies auch fur λf + µgmit beliebigen λ, µ ∈ C, f · g und, falls g = 0 auf I, auch fur f

g , und wir haben:

(λf + µg)′(t0) = λf ′(t0) + µg′(t0) fur λ, µ ∈ C, (1.4)

(fg)′(t0) = f ′(t0)g(t0) + f(t0)g′(t0) (Produktregel), (1.5)(f

g

)′(t0) =

f ′(t0)g(t0)− f(t0)g′(t0)

g(t0)2(Quotientenregel). (1.6)

Beweis: Nach Satz 1.1 und der anschließenden Bemerkung haben wir die Darstellun-gen

f(t) = f(t0) + (t− t0)ψ(t), g(t) = g(t0) + (t− t0)χ(t),

mit in t0 stetigen Funktionen ψ, χ : I → C, die ψ(t0) = f ′(t0), χ(t0) = g′(t0) erfullen.Damit folgen

λf(t) + µg(t) = [λf(t0) + µg(t0)] + (t− t0)[λψ(t) + µχ(t)],

f(t) · g(t) = [f(t0)g(t0)] + (t− t0)[ψ(t)g(t0) + f(t0)χ(t) + (t− t0)ψ(t)χ(t)

],

f(t)

g(t)=

f(t0)

g(t0)+ (t− t0)

ψ(t)g(t0)− f(t0)χ(t)

g(t)g(t0).

Wiederum Satz 1.1 liefert die Behauptung. q.e.d.

Bemerkung: Eine (1.4) entsprechende Regel gilt naturlich auch fur Funktionen f, g :I → Rd, dann mit λ, µ ∈ R. Formel (1.5) ist fur solche Funktionen durch die Relation

⟨f, g⟩′(t0) = ⟨f ′(t0), g(t0)⟩+ ⟨f(t0), g′(t0)⟩ (1.7)

zu ersetzen (Ubungsaufgabe).

1. DIFFERENZIERBARKEIT 103

Beispiele:

1. ddx

(xn) = nxn−1 fur n ∈ N0 und beliebiges x ∈ R.Denn fur n = 0, 1 ist die Aussage klar und durch Induktionsschluss n → n + 1 haben wir:Mit xn ist nach Satz 1.2 auch xn+1 = xn · x differenzierbar und es gilt

d

dx(xn+1) =

d

dx(xn · x) (1.5)

= (xn)′x+ xnx′

(IV )= nxn−1x+ xn · 1 = (n+ 1)xn.

2. ddx

(x−n) = −nx−n−1 fur n ∈ N und x ∈ R \ 0.Denn nach Beispiel 1 und Satz 1.2 ist x−n = 1

xn in R \ 0 differenzierbar, und es gilt

d

dx(x−n)

(1.6)=

(1)′ · xn − 1 · (xn)′

x2n= −nx−n−1.

Insgesamt haben wir also

d

dx(xν) = νxν−1 fur alle ν ∈ Z und x ∈ R \ 0.

Definition 1.2: Fur beliebige k ∈ N0 erklaren wir den Vektorraum Ck(I,Rd) allerk-mal stetig differenzierbaren Funktionen f : I → Rd, die auf I Ableitungen bis zurk-ten Ordnung besitzen und fur die f (k) : I → Rd stetig ist. Weiter erklaren wir

C∞(I,Rd) :=∩k∈N0

Ck(I,Rd),

den Vektorraum der unendlich oft stetig differenzierbaren Funktionen.

Schließlich schreiben wir auch Ck(I) bzw. Ck(I,C) fur die reell- bzw. komplex-wertigen k-mal stetig differenzierbaren Funktionen (k ∈ N0 ∪ ∞) auf I.

Bemerkung: Dass Ck(I,Rd) ein Vektorraum ist fur alle k ∈ N0 ∪ ∞, folgt ausSatz 1.2. Nach Folgerung 1.1 sind alle Ableitungen f(= f (0)), f ′(= f (1)), . . . , f (k)

einer Funktion f ∈ Ck(I,Rd) stetig auf I. Insbesondere folgt

Ck(I,Rd) ⊂ C l(I,Rd) fur l ≤ k.

Wir untersuchen nun die Komposition zweier differenzierbarer Funktionen:

Satz 1.3: (Kettenregel)Seien I, J ⊂ R Intervalle und f : I → R, g : J → Rd zwei Funktionen mit f(I) ⊂ J .Falls f in x0 ∈ I und g in y0 := f(x0) ∈ J differenzierbar sind, so ist auch dieKomposition h := g f : I → Rd in x0 differenzierbar, und es gilt

h′(x0) = g′(f(x0))f′(x0). (1.8)

104 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Beweis: Aus Satz 1.1 und der anschließenden Bemerkung entnehmen wir

f(x) = f(x0) + (x− x0)ψ(x), g(y) = g(y0) + (y − y0)χ(y)

mit in x0 bzw. y0 = f(x0) stetigen Funktionen ψ : I → R, χ : J → Rd, fur die ψ(x0) = f ′(x0)bzw. χ(y0) = g′(y0) gilt. Es folgt also

g(f(x)) = g(f(x0)) +(f(x)− f(x0)

)χ(f(x))

= g(f(x0)) + (x− x0))[χ(f(x))ψ(x)

].

Und da die Funktion χ(f(x))ψ(x) nach Satz 2.3 aus Kap. 2 wieder stetig ist in x0, ist h = g f nachSatz 1.1 differenzierbar und es gilt

h′(x0) = χ(f(x))ψ(x)∣∣x=x0

= g′(f(x0))f′(x0),

wie behauptet. q.e.d.

Wir wenden uns nun wieder der Untersuchung der Umkehrfunktion einer injek-tiven Funktion f : I → R zu:

Satz 1.4: (Ableitung der Umkehrfunktion)Sei f : I → R eine stetige Funktion, die das Intervall I ⊂ R bijektiv auf I∗ := f(I)abbilde. Ist dann f in x0 ∈ I differenzierbar und gilt f ′(x0) = 0, so ist auch dieUmkehrfunktion g := f−1 : I∗ → R in y0 := f(x0) differenzierbar und es gilt

g′(y0) =1

f ′(x0). (1.9)

Beweis: Da f streng monoton ist, ist I∗ nach Satz 2.6 aus Kap. 2 wieder ein Intervallund g = f−1 stetig auf I∗. Ist also ynn ⊂ I∗\y0 eine beliebige (nun existierende)Folge mit limn→∞ yn = y0, so gilt

limn→∞

g(yn) = g(y0) = x0.

Setzen wir noch xn := g(yn) ∈ I \ x0 fur n ∈ N, so haben wir

g(yn)− g(y0)

yn − y0=

xn − x0f(xn)− f(x0)

=[f(xn)− f(x0)

xn − x0

]−1, n ∈ N. (1.10)

Da f in x0 differenzierbar ist mit f ′(x0) = 0, konnen wir in (1.10) zur Grenze n→ ∞ubergehen und erhalten

limn→∞

g(yn)− g(y0)

yn − y0=

1

f ′(x0).

Nach Satz 1.1 aus Kap. 2 existiert also der Grenzwert limy→y0g(y)−g(y0)y−y0 = g′(y0) und

es gilt (1.9).q.e.d.

1. DIFFERENZIERBARKEIT 105

Beispiel: Die Funktion f(x) := xn, n ∈ N, bildet [0,+∞) bijektiv auf [0,+∞) abmit der Umkehrfunktion g(y) = f−1(y) = n

√y. Fur x > 0 gilt f ′(x) = nxn−1 > 0, so

dass Satz 1.4 liefert (n√y)′=

1

n( n√y)n−1

=1

ny

1n−1.

Fur die Potenzfunktion f(x) := xq, x > 0, mit einem q = rs ∈ Q (r ∈ Z, s ∈ N) folgt

somit nach der Kettenregel:

f ′(x) =d

dx( s√x)r =

[r( s√x)r−1

][1sx

1s−1

]= qxq−1.

Wir beschließen den Paragraphen mit der Untersuchung einer Funktionenfolgefn : I → Rd, n ∈ N. In § 5 (dort noch einmal als Satz 5.7 angegeben) werden wirfolgende Aussage beweisen:

Satz 1.5: Sei I = [a, b] und fnn eine Folge von Funktionen fn ∈ C1(I,Rd) furalle n ∈ N. Falls dann gilt

fn → f (n→ ∞), f ′n →→ g (n→ ∞) auf I,

so folgt fur den punktweisen Limes f ∈ C1(I,Rd), und es gilt f ′ = g auf I.

Falls also fnn punktweise und die Ableitungen f ′nn gleichmaßig konvergieren(auf einem kompakten Intervall), dann konnen wir Limesbildung und Differentiationvertauschen (Vertauschung zweier Grenzprozesse! ):

limn→∞

( d

dxfn(x)

)=

d

dx

(limn→∞

fn(x))

auf I.

Wir wenden Satz 1.5 nun auf Potenzreihen an:

Satz 1.6: Es sei f(x) :=∑∞

k=0 akxk, ak ∈ C, eine Potenzreihe mit Konvergenzradi-

us R ∈ (0,+∞) ∪ +∞. Dann gehort f : (−R,R) → C zur Klasse C1((−R,R),C)und es gilt

f ′(x) =

∞∑k=1

kakxk−1, x ∈ (−R,R).

Bemerkung: Die formal durch gliedweises Differenzieren der Reihe erhaltene Po-tenzreihe hat also den gleichen Konvergenzradius und stimmt mit der tatsachlichenAbleitung der Reihe uberein.

Beweis von Satz 1.6:Wir zeigen, dass die formal differenzierte Reihe, also g(x) :=∑∞

k=1 kakxk−1, fur

jedes R0 ∈ (0, R) gleichmaßig auf [−R0, R0] konvergiert: In der Tat majorisiert ja∑∞

k=1 k|ak|Rk−10

die Reihe g(x) in [−R0, R0] und nach dem Wurzelkriterium konvergiert letztere:

lim supk→∞

k

√k|ak|Rk−1

0 = R0 · lim supk→∞

( k√k

k√R0

k√

|ak|)=R0

R< 1.

106 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Satz 4.3 aus Kap. 2 liefert also die gleichmaßige Konvergenz gn →→ g (n → ∞) auf [−R0, R0], wobeiwir noch gn(x) :=

∑nk=1 kakx

k−1 fur die n-te Partialsumme gesetzt haben. Da naturlich fn →f (n → ∞) auf [−R0, R0] richtig ist (sogar gleichmaßig nach Satz 4.3 aus Kap. 2) und da f ′

n = gnfur alle n ∈ N gilt, liefert Satz 1.5 nun f ∈ C1([−R0, R0],C) sowie

f ′(x) = g(x) =

∞∑k=1

kakxk−1 auf [−R0, R0].

Da schließlich R0 ∈ (0, R) beliebig war, folgt die Behauptung. q.e.d.

Folgerung 1.2: Die Reihe f(x) =∑∞

k=0 akxk (ak ∈ C fur k ∈ N0) konvergiere auf

(−R,R) fur ein R ∈ (0,+∞) ∪ +∞. Dann folgt f ∈ C∞((−R,R),C) und fur dien-te Ableitung gilt

f (n)(x) =∞∑k=n

k(k − 1)(k − 2) . . . (k − n+ 1)akxk−n auf (−R,R). (1.11)

Beweis: Nach Satz 1.6 ist f ∈ C1((−R,R),C) und f ′ ist wieder eine (auf R einge-schrankte) Potenzreihe mit Konvergenzradius R > 0. Wenden wir Satz 1.6 sukzes-sive auf f ′, f ′′, f ′′′, . . . an, so folgt f ∈ C∞((−R,R),C). Formel (1.11) beweist manschließlich mit vollstandiger Induktion.

q.e.d.

2 Lokale Extrema, Mittelwertsatz, Konvexitat

Ein wichtiges Teilgebiet der Analysis ist die Behandlung von Extremwertaufgaben.Hierfur grundlegend ist die

Definition 2.1: Es sei f : I → R auf dem Intervall I ⊂ R erklart. Wir sagen, fhat in x0 ∈ I ein lokales Minimum (bzw. lokales Maximum), wenn ein r > 0 soexistiert, dass gilt

f(x) ≥ f(x0) (bzw. f(x) ≤ f(x0)) fur alle x ∈ I ∩ (x0 − r, x0 + r). (2.1)

Gilt in (2.1) die strikte Ungleichung fur x = x0, so hat f in x0 ein striktes lokalesMinimum (bzw. Maximum). Falls schließlich (2.1) fur alle x ∈ I gilt, sprechen wirvon einem globalen Minimum (bzw. globalen Maximum).

Bemerkung: Zusammenfassend heißen lokale Minima und Maxima auch lokale Ex-trema und x0 wird lokale Minimal-, Maximal- oder Extremalstelle genannt (entspre-chend im globalen Fall). Als Synonym fur

”lokal“ wird auch relativ verwendet, statt

”global“ sagen wir auch absolut.

Satz 2.1: (Fermat; notwendige Extremalbedingung 1.Ordnung)Besitzt f : I → R in einem inneren Punkt x0 ∈ int I des Intervalls I ⊂ R ein lokalesExtremum und ist f in x0 differenzierbar, so folgt f ′(x0) = 0.

2. LOKALE EXTREMA, MITTELWERTSATZ, KONVEXITAT 107

Beweis: O.B.d.A. sei f in x0 minimal (sonst gehen wir zu −f uber). Da x0 innererPunkt ist, gibt es ein ε > 0, so dass (x0 − ε, x0 + ε) ⊂ I gilt. Somit folgt

0 ≥ limx→x0−

f(x)− f(x0)

x− x0= f ′(x0) = lim

x→x0+

f(x)− f(x0)

x− x0≥ 0,

also f ′(x0) = 0. q.e.d.

Bemerkungen:

1. Betrachte f(x) := x, I = [0, 1]. Dann ist x0 = 0 (sogar globales) Minimum,aber es gilt f ′(0) = 1. Also darf x0 in Satz 2.1 kein Randpunkt sein.

2. Die Bedingung f ′(x0) = 0 ist nicht hinreichend fur ein Extremum, wie etwadas Beispiel f(x) := x3, x ∈ (−1, 1), mit f ′(0) = 0 zeigt.

Definition 2.2: Ist f : I → R im inneren Punkt x0 ∈ int I differenzierbar und giltf ′(x0) = 0, so heißt x0 stationarer oder kritischer Punkt von f .

Bemerkung: Satz 2.1 besagt also: Jede innere lokale Extremalstelle von f ist stati-onar. Geometrisch bedeutet dies, dass die Tangente T = (x, y) : y = f(x0) +f ′(x0)(x− x0) an graph f im Punkt (x0, f(x0)) parallel zur x-Achse verlauft.

Satz 2.2: (Satz von Rolle)Sei f : [a, b] → R stetig in [a, b] und differenzierbar in (a, b). Gilt zusatzlich f(a) =f(b), so existiert ein ξ ∈ (a, b) mit der Eigenschaft f ′(ξ) = 0.

Beweis: Falls f ≡ const gilt, folgt f ′ ≡ 0 auf [a, b]. Sei also f ≡ const auf [a, b].Dann existiert ein x0 ∈ (a, b) mit f(x0) = f(a), also o.B.d.A. f(x0) > f(a). Damitfolgt sup[a,b] f > f(a) = f(b). Nach dem Weierstraßschen Hauptlehrsatz, Satz 3.2aus Kap. 2, nimmt also f ihr (globales) Maximum in einem inneren Punkt ξ ∈ (a, b)an und nach Satz 2.1 gilt f ′(ξ) = 0.

q.e.d.

Wir konnen nun den Satz von Rolle zum Beweis eines der meistgebrauchtenSatze der Differential- und Intergalrechnung nutzen, namlich von

Satz 2.3: (Mittelwertsatz)Es sei f : [a, b] → R stetig in [a, b] und differenzierbar in (a, b). Dann gibt es einξ ∈ (a, b), so dass gilt

f(b)− f(a) = f ′(ξ)(b− a). (2.2)

Bemerkung: Geometrisch heißt das, dass ein ξ ∈ (a, b) so existiert, dass die Tangentean (ξ, f(ξ)) parallel zur Sekante durch (a, f(a)) und (b, f(b)) verlauft.

Satz 2.3 ergibt sich sofort als Spezialfall aus dem folgenden

108 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Satz 2.4: (Allgemeiner Mittelwertsatz)Gegeben seien zwei stetige Funktionen f, g : [a, b] → R, die differenzierbar auf (a, b)seien. Weiter gelte g′ = 0 auf (a, b). Dann existiert ein ξ ∈ (a, b), so dass gilt

f(b)− f(a)

g(b)− g(a)=f ′(ξ)

g′(ξ).

Beweis: Nach dem Rolleschen Satz gilt g(a) = g(b). Wir betrachten die Hilfsfunktion

φ(x) := f(x)− f(b)− f(a)

g(b)− g(a)[g(x)− g(a)], x ∈ [a, b].

Offenbar ist φ stetig in [a, b], differenzierbar in (a, b) und es gilt φ(a) = φ(b) = f(a).Wieder nach dem Rolleschen Satz existiert somit ein ξ ∈ (a, b) mit

0 = φ′(ξ) = f ′(ξ)− f(b)− f(a)

g(b)− g(a)g′(ξ),

also nach Umstellen die Behauptung. q.e.d.

Folgerung 2.1: (Monotonieverhalten)Ist f ∈ C0([a, b]) differenzierbar in (a, b), so haben wir:

(i) Gilt f ′(x) > 0 (bzw. f ′(x) ≥ 0, f ′(x) < 0, f ′(x) ≤ 0) auf (a, b), so ist fstreng monoton wachsend (bzw. monoton wachsend, streng monoton fallend,monoton fallend) auf [a, b].

(ii) Ist umgekehrt f monoton wachsend (bzw. monoton fallend) auf [a, b], so giltf ′(x) ≥ 0 (bzw. f ′(x) ≤ 0) auf (a, b).

(iii) Es gilt f ′(x) ≡ 0 in (a, b) genau dann, wenn f(x) ≡ const auf [a, b] richtig ist.

Bemerkung: Strenge Monotonie impliziert nicht f ′(x) > 0 bzw. f ′(x) < 0 auf (a, b).Beispiel: f(x) = x3, x ∈ (−1, 1).

Beweis von Folgerung 2.1:

(i) Wir betrachten nur den Fall f ′(x) > 0 auf (a, b); die anderen Aussagen folgenanalog. Seien x1, x2 ∈ [a, b] mit x1 < x2 gewahlt. Nach Satz 2.3 existiert dannein ξ ∈ (x1, x2) mit

f(x2)− f(x1) = f ′(ξ)(x2 − x1) > 0,

also f(x1) < f(x2), wie behauptet.

2. LOKALE EXTREMA, MITTELWERTSATZ, KONVEXITAT 109

(ii) Sei f monoton wachsend (bzw. fallend). Dann gilt fur beliebiges x0 ∈ (a, b)und hinreichend kleines h = 0:

f(x0 + h)− f(x0)

h≥ 0 (bzw. ≤ 0).

Grenzubergang h→ 0 liefert die Behauptung.

(iii) Ist f konstant, so verschwindet die Ableitung bekanntlich identisch. Ist umge-kehrt f ′(x) ≡ 0 auf (a, b), so ist f nach (i) sowohl monoton wachsend als auchfallend auf [a, b] und somit konstant.

q.e.d.

Folgerung 2.2: Sei f ∈ C0([a, b]) in (a, b) differenzierbar und x0 ∈ (a, b) sei kriti-scher Punkt von f . Dann gelten:

(i) Falls f ′(x) < 0 (bzw. f ′(x) > 0) in (a, x0) und f ′(x) > 0 (bzw. f ′(x) < 0) in(x0, b) richtig ist, so hat f in x0 ein striktes globales Minimum (bzw. Maxi-mum).

(ii) Falls f ′(x) < 0 oder f ′(x) > 0 fur alle x ∈ (a, b) \ x0 gilt, so ist x0 wederMinimum noch Maximum von f .

Beweis: Folgerung 2.1 (i) entnehmen wir

f ′(x)<> 0 fur a < x < x0 ⇒ f(x0)<> f(x) fur a ≤ x < x0,

f ′(x)<> 0 fur x0 < x < b ⇒ f(x0)>< f(x) fur x0 < x ≤ b.

Das liefert unmittelbar die Behauptungen. q.e.d.

Beispiel: Unter allen Rechtecken gegebenem Umfangs hat das Quadrat den großten Flacheninhalt.

Denn: Es ist F = ab der Flacheninhalt des Rechtecks mit Seitenlangen a, b > 0. Und U = 2(a+ b)ist der fixierte Umfang. Setzen wir b = U

2− a in F ein, so erhalten wir

F = F (a) = a(U2

− a), a ∈

[0,U

2

].

Wegen F ′(a) = 12(U − 4a) ist a0 = U

4einziger kritischer Punkt fur F . Außerdem gilt F ′(a) > 0

in (0, a0) und F ′(a) < 0 in (a0,U2). Also hat F nach Folgerung 2.2 in a0 = U

4ihr striktes globales

Maximum uber [0, U2]. Schließlich beachten wir noch b0 := U

2−a0 = a0, d.h. F wird fur das Quadrat

mit Seitenlange a0 = U4maximal.

Satz 2.5: (Hinreichende Extremalbedingung)Es sei f ∈ C1(I,R) (I ⊂ R Intervall) und in x0 ∈ int I sei f zweimal differenzierbarmit

f ′(x0) = 0 und f ′′(x0) > 0 (bzw. f ′′(x0) < 0).

Dann besitzt f in x0 ein striktes relatives Minimum (bzw. Maximum).

110 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Bemerkung: Die oben angegebene Bedingung ist nicht notwendig, wie das Beispielf(x) = x4, x ∈ R, mit dem strikten Minimum x0 = 0 zeigt.

Beweis von Satz 2.5: Es gelte f ′′(x0) = limx→x0f ′(x)−f ′(x0)

x−x0 > 0 (der Fall f ′′(x0) < 0

ergibt sich nach Ubergang zu −f). Dann existiert ein ε > 0, so dass [x0−ε, x0+ε] ⊂ Iund

f ′(x)− f ′(x0)

x− x0> 0 fur alle x ∈ (x0 − ε, x0 + ε) \ x0

erfullt ist. Wegen f ′(x0) = 0 bedeutet dies

f ′(x) < 0 fur alle x ∈ (x0 − ε, x0),

f ′(x) > 0 fur alle x ∈ (x0, x0 + ε).

Nach Folgerung 2.2 hat f in x0 ein striktes Minimum auf [x0 − ε, x0 + ε], also einstriktes lokales Minimum.

q.e.d.

Folgerung 2.3: (Notwendige Extremalbedingung 2.Ordnung)Sei f ∈ C1(I,R) auf dem Intervall I ⊂ R gegeben und sei x0 ∈ Int I eine relativeMinimalstelle (bzw. Maximalstelle) von f . Dann gilt f ′′(x0) ≥ 0 (bzw. f ′′(x0) ≤ 0).

Beweis: Ist x0 relative Minimalstelle und golte f ′′(x0) < 0, so ware x0 nach Satz 2.5auch strikte relative Maximalstelle, Widerspruch! Also muss doch f ′′(x0) ≥ 0 gelten.Entsprechend folgt die Aussage fur Maximalstellen.

q.e.d.

Wir wollen noch eine Folgerung des allgemeinen Mittelwertsatzes angeben, diesehr hilfreich bei der Berechnung von Grenzwerten ist:

Satz 2.6: (L’Hospitalsche Regel)Es seien f, g : I → R zwei differenzierbare Funktionen auf dem Intervall I = (a, b).Es gelte g′ = 0 auf I, und es existiere der Limes

limx→a+

f ′(x)

g′(x)=: c ∈ R.

Dann folgt:

(i) Falls limx→a+ f(x) = limx→a+ g(x) = 0 gilt, so ist g = 0 auf I richtig und esgilt

limx→a+

f(x)

g(x)= c.

(ii) Falls limx→a+ f(x) = ±∞, limx→a+ g(x) = ±∞ gilt, so existiert ein x0 ∈ (a, b)mit g = 0 fur x ∈ (a, x0] und es gilt

limx→a+

f(x)

g(x)= c.

2. LOKALE EXTREMA, MITTELWERTSATZ, KONVEXITAT 111

Analoge Aussagen haben wir fur den Grenzwert x→ b−.

Beweis:

(i) Zunachst konnen wir f und g stetig (zu 0) in den Punkt x = a fortsetzen. Der Satz von Rolleliefert dann g = 0 auf (a, b), und nach dem allgemeinen Mittelwertsatz gibt es zu jedemhinreichend kleinen h > 0 ein ϑ = ϑ(h) ∈ (0, 1) mit der Eigenschaft

f(a+ h)

g(a+ h)=f(a+ h)− f(a)

g(a+ h)− g(a)=f ′(a+ ϑh)

g′(a+ ϑh).

Fur h→ 0+ (und somit a+ϑh→ a+) erhalten wir die Existenz des Grenzwertes limx→a+f(x)g(x)

und die Relation

limx→a+

f(x)

g(x)= lim

h→0+

f(a+ h)

g(a+ h)= lim

h→0+

f ′(a+ ϑh)

g′(a+ ϑh)= c,

wie behauptet.

(ii) Wir fixieren zunachst x1 ∈ (a, x0] beliebig. Zu beliebigem x ∈ (a, x1) existiert dann nachdem allgemeinen Mittelwertsatz ein ξ ∈ (x, x1) mit

f ′(ξ)

g′(ξ)=f(x)− f(x1)

g(x)− g(x1)=f(x)

g(x)m(x), (2.3)

wobei wir

m(x) :=1− f(x1)

f(x)

1− g(x1)g(x)

, x ∈ (a, x1),

gesetzt haben. Fur festgehaltenes x1 sehen wir m(x) → 1 und damit auch 1m(x)

→ 1 furx→ a+.

Wir wahlen nun zu vorgegebenem ε > 0 zunachst x1 so nahe an a, dass gilt∣∣∣f ′(t)

g′(t)− c∣∣∣ < ε fur alle t ∈ (a, x1), (2.4)

also insbesondere fur t = ξ ∈ (x, x1). Dann wahlen wir δ > 0 so klein, dass gilt a + δ ≤ x1und ∣∣∣ 1

m(x)− 1∣∣∣ < ε fur alle x ∈ (a, a+ δ). (2.5)

Damit erhalten wir∣∣∣f(x)g(x)

− c∣∣∣ (2.3)

=∣∣∣ 1

m(x)

f ′(ξ)

g′(ξ)− c∣∣∣ ≤ 1

m(x)

∣∣∣f ′(ξ)

g′(ξ)− c∣∣∣+ ∣∣∣ 1

m(x)− 1∣∣∣ |c|

(2.4),(2.5)< ε(1 + ε+ |c|) fur alle x ∈ (a, a+ δ),

also limx→a+f(x)g(x)

= c, wie behauptet. q.e.d.

Bemerkung: Satz 2.6 lasst sich noch erweitern: Einerseits gilt die entsprechende Aus-sage auch fur c = ±∞, andererseits auch fur a = −∞ bzw. b = +∞ (Ubungsaufgabe).

Definition 2.3: Eine Funktion f : I → R, I ⊂ R Intervall, heißt konvex, wenn furalle x1, x2 ∈ I und alle λ ∈ (0, 1) gilt

f(λx1 + (1− λ)x2) ≤ λf(x1) + (1− λ)f(x2). (2.6)

Die Funktion f heißt konkav, wenn −f konvex ist. Gilt schließlich in (2.6) die strikteUngleichung fur x1 = x2, so heißt f streng konvex; gilt dies fur −f , so nennen wirf streng konkav.

112 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Satz 2.7: Sei I ⊂ R ein Intervall und f : I → R ∈ C2(I). Dann ist f genau dannkonvex, wenn f ′′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ I gilt.

Bemerkung: Es folgt sofort: f ∈ C2(I) ist genau dann konkav, wenn f ′′(x) ≤ 0 aufI gilt. Eine Verscharfung

”f ∈ C2(I) streng konvex ⇔ f ′′ > 0“ von Satz 2.7 gilt

ubrigens nicht, wie das Beispiel f(x) = x4, x ∈ R, zeigt; siehe aber Folgerung 2.4unten.

Beweis von Satz 2.7:

•”⇐“: Sei zunachst f ′′(x) ≥ 0 in I erfullt. Nach Folgerung 2.1 ist dann f ′ : I → R monotonwachsend. Seien x1, x2 ∈ I und λ ∈ (0, 1) gewahlt, so konnen wir o.B.d.A. x1 < x2 annehmenund setzen x := λx1 + (1− λ)x2 ∈ (x1, x2). Nach dem Mittelwertsatz finden wir ξ1 ∈ (x1, x)und ξ2 ∈ (x, x2) mit

f(x)− f(x1)

x− x1= f ′(ξ1) ≤ f ′(ξ2) =

f(x2)− f(x)

x2 − x.

Beachten wir noch x− x1 = (1− λ)(x2 − x1) und x2 − x = λ(x2 − x1), so folgt

f(x)− f(x1)

1− λ≤ f(x2)− f(x)

λ

und nach Umstellen schließlich (2.6), d.h. f ist konvex.

•”⇒“: Sei nun f : I → R konvex und wir nehmen an, dass nicht f ′′(x) ≥ 0 auf I gilt. Dannexistiert ein x0 ∈ int I mit f ′′(x0) < 0. Wir erklaren nun die Hilfsfunktion

φ(x) := f(x)− f ′(x0)(x− x0), x ∈ I.

Offenbar gilt φ ∈ C2(I) und φ′(x0) = 0, φ′′(x0) = f ′′(x0) < 0. Nach Satz 2.5 besitztalso φ in x0 ein striktes lokales Maximum, und insbesondere finden wir ein h > 0, so dass[x0 − h, x0 + h] ⊂ I sowie

φ(x0 − h) < φ(x0), φ(x0 + h) < φ(x0)

erfullt sind. Hieraus erhalten wir

f(x0) = φ(x0) >1

2

(φ(x0 − h) + φ(x0 + h)

)=

1

2

(f(x0 − h) + f(x0 + h)

). (2.7)

Setzen wir schließlich x1 := x0−h, x2 := x0+h und λ = 12, so haben wir x0 = λx1+(1−λ)x2

und (2.7) besagt

f(λx1 + (1− λ)x2) > λf(x1) + (1− λ)f(x2),

was ein Widerspruch zur vorausgesetzten Konvexitat von f ist. Also gilt doch f ′′(x) ≥ 0 aufI.

q.e.d.

Der Beweis der Richtung”⇐“ in Satz 2.7 lasst sich offenbar so modifizieren, dass

man das nachstehende Ergebnis erhalt:

Folgerung 2.4: Gilt f ∈ C2(I,R) und f ′′(x) > 0 (bzw. < 0) auf dem IntervallI ⊂ R, so ist f streng konvex (bzw. streng konkav) auf I.

3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 113

3 Die elementaren Funktionen

In Kap. 2, Folgerung 4.2 haben wir die komplexe Exponentialfunktion oder kurz e-Funktion

ez = exp z :=

∞∑k=0

zk

k!, z ∈ C,

erklart und als stetig auf ganz C erkannt. In diesem Paragraphen werden wir Eigen-schaften von ez untersuchen und weitere sogenannte

”elementare Funktionen“ aus

ihr erklaren.

Satz 3.1: (Funktionalgleichung der e-Funktion)Fur beliebige z1, z2 ∈ C gilt die Identitat

exp(z1 + z2) = exp z1 · exp z2.

Beweis: Da die Exponentialreihe fur beliebige z ∈ C absolut konvergiert, liefern dieCauchysche Produktformel und der Binomische Satz:

exp z1 · exp z2 =

( ∞∑k=0

zk1k!

)( ∞∑k=0

zk2k!

)=

∞∑k=0

( k∑l=0

zl1l!

zk−l2

(k − l)!

)

=

∞∑k=0

1

k!

( k∑l=0

(k

l

)zl1z

k−l2

)=

∞∑k=0

(z1 + z2)k

k!= exp(z1 + z2),

wie behauptet. q.e.d.

Definition 3.1: Die Zahl

e := exp 1 =∞∑k=0

1

k!∈ R

wird Eulersche Zahl genannt.

Bemerkung: Mit der Funktionalgleichung zeigt man leicht

epq = exp

(pq

)fur alle p ∈ Z, q ∈ N. (3.1)

Dies erklart auch die Schreibweise der Exponentialfunktion als Potenz.

Wir konzentrieren uns nun auf die Einschrankungen von exp z auf die reellebzw. imaginare Achse:

114 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Satz 3.2: Die reelle Exponentialfunktion ex = expx :=∑∞

k=0xk

k! , x ∈ R, gehortzur Klasse C∞(R) und es gilt

exp′ x =d

dxexpx = expx, x ∈ R. (3.2)

Beweis: Gemaß Kap. 1, § 8 ist die Exponentialreihe fur alle x ∈ R konvergent. NachFolgerung 1.2 gilt also exp ∈ C∞(R) und wir haben

exp′ x(1.6)=

∞∑k=1

k1

k!xk−1 =

∞∑k=1

1

(k − 1)!xk−1 =

∞∑l=0

xl

l!= expx,

wie behauptet. q.e.d.

Satz 3.3: Die reelle Exponentialfunktion ex = expx, x ∈ R, bildet R auf (0,+∞)ab, ist streng monoton wachsend, streng konvex und erfullt

limx→−∞

expx = 0, exp 0 = 1, limx→+∞

expx = +∞. (3.3)

Beweis: Offensichtlich ist f(x) := ex, x ∈ R, reellwertig, da die definierende Reihe nur reelle Koef-fizienten besitzt. Insbesondere gilt e0 = 1. Ferner haben wir

expx = 1 +∞∑

k=1

xk

k!> 0 fur alle x ∈ [0,+∞)

und nach Satz 3.1 auch

expx =1

exp(−x) > 0 fur alle x ∈ (−∞, 0),

also insgesamt f(R) ⊂ (0,+∞). Zum Beweis von (3.3) beachten wir

limx→+∞

expx ≥ limx→+∞

(1 + x) = +∞

und

limx→−∞

expx = limx→−∞

1

exp(−x)ξ:=−x= lim

ξ→+∞

1

exp ξ= 0.

Ist nun y ∈ (0,+∞) beliebig, so existieren also x1 < 0, x2 > 0 mit ex1 < y < ex2 . Nach demZwischenwertsatz, Satz 2.7 aus Kap. 2, existiert ein x ∈ (x1, x2) mit f(x) = y, d.h. y ∈ f(R) undinsgesamt f(R) = (0,+∞).

Schließlich gilt nach Satz 3.2: exp′ x = expx > 0 fur alle x ∈ R, also ist expx nach Folgerung 2.1streng monoton wachsend. Und wiederum Satz 3.2 in Verbindung mit Folgerung 2.4 liefert die strengeKonvexitat wegen exp′′ x = exp′ x = expx > 0.

q.e.d.

Definition 3.2: Die Umkehrfunktion von exp : R → R nennen wir (naturliche)Logarithmusfunktion log : (0,+∞) → R. Fur x > 0 heißt y = log x Logarithmusvon x.

3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 115

Satz 3.4: Die Funktion log : (0,+∞) → R ist streng monoton, streng konkav,beliebig oft differenzierbar und wir haben

log′ x =d

dxlog x =

1

xfur alle x > 0. (3.4)

Ferner gelten die Funktionalgleichung

log(x1x2) = log x1 + log x2 fur alle x1, x2 > 0 (3.5)

sowie

limx→0+

log x = −∞, log 1 = 0, log e = 1, limx→+∞

log x = +∞. (3.6)

Beweis: Zunachst gehort log x nach Satz 1.4 als Umkehrfunktion von x = exp y zurKlasse C1((0,+∞),R) und es gilt

log′ x =1

exp′(log x)=

1

exp(log x)=

1

xfur x > 0.

Wegen 1x ∈ C∞((0,+∞),R) ist nun auch log x ∈ C∞((0,+∞),R) richtig. Außerdem

ist log x offenbar streng monoton wachsend, und (3.4) liefert log′′ x = − 1x2< 0 fur

alle x ∈ (0,+∞), d.h. nach Folgerung 2.4 ist log x streng konkav.Zum Beweis von (3.5) seien x1, x2 > 0 beliebig gewahlt. Wir erhalten dann aus

Satz 3.1exp(log x1 + log x2) = exp(log x1) · exp(log x2) = x1x2.

Nehmen wir auf beiden Seiten den Logarithmus, so folgt die Behauptung (3.5).Schließlich ist naturlich log 1 = log(e0) = 0 und log e = log(e1) = 1 richtig. Und

die Grenzwerte in (3.6) ergeben sich direkt aus der Monotonie und der Relationlog((0,+∞)) = R. Damit ist alles gezeigt.

q.e.d.

Definition 3.3: Fur beliebiges α ∈ R erklaren wir die (allgemeine) Potenzfunktionx 7→ xα, x ∈ (0,+∞), durch die Formel

xα := eα log x = exp(α log x).

Satz 3.5: Die allgemeine Potenzfunktion f(x) := xα erfullt f ∈ C∞((0,+∞),R)und es gelten die Relationen

xαyα = (xy)α, xαxβ = xα+β, (xα)β = xαβ , (3.7)

log(xα) = α log x, (3.8)

d

dx(xα) = αxα−1 (3.9)

fur alle x, y > 0 und beliebige α, β ∈ R.

116 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Beweis: Nach Ketten- und Produktregel ist f ∈ C∞((0,+∞),R) als Komposition zweier C∞-Funktionen. Die Relationen (3.7) ergeben sich leicht unter Benutzung der Funktionalgleichungenfur Exponential- und Logarithmusfunktion; z.B. berechnen wir

xαyα = eα log xeα log y = eα(log x+log y) = eα log(xy) = (xy)α.

Formel (3.8) folgt sofort aus der Definition der Potenzfunktion durch Logarithmieren. Schließlichentnehmen wir der Kettenregel

d

dx(xα) =

d

dx(eα log x) = eα log x · d

dx(α log x) = xαα

1

x

(3.7)= αxα−1,

wie behauptet. q.e.d.

Bemerkung: Wir konnen auch die allgemeine Exponentialfunktion x 7→ cx = ex log c

fur festes c > 0 betrachten. Es gilt f(x) := cx ∈ C∞(R,R) und

f ′(x) = cx · log c, x ∈ R.

Fur c > 1 ist also f ′ > 0 und f : R → (0,+∞) bijektiv. Die zugehorige Umkehrfunk-tion heißt Logarithmus zur Basis c > 1 und wird mit logc : (0,+∞) → R bezeichnet.Der Logarithmus zur Basis e > 1 ist der naturliche Logarithmus (→ Ubungen).

Definition 3.4: Wir erklaren die Cosinusfunktion cos : R → R und die Sinusfunk-tion sin : R → R gemaß

cosx :=1

2(eix + e−ix) = Re (eix),

sinx :=1

2i(eix − e−ix) = Im (eix), x ∈ R.

Satz 3.6: Die Funktionen cos und sin gehoren zur Klasse C∞(R,R) mit den Ablei-tungen

cos′ x =d

dxcosx = − sinx,

sin′ x =d

dxsinx = cosx, x ∈ R.

(3.10)

Es gilt die Eulersche Formel

eix = cosx+ i sinx, x ∈ R, (3.11)

und die Additionstheoreme

cos(x1 + x2) = cosx1 cosx2 − sinx1 sinx2,

sin(x1 + x2) = cosx1 sinx2 + sinx1 cosx2, x1, x2 ∈ R.(3.12)

Die Cosinusfunktion ist gerade, die Sinusfunktion ist ungerade, d.h.

cos(−x) = cosx, sin(−x) = − sinx, x ∈ R. (3.13)

3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 117

Schließlich haben wir die Potenzreihendarstellungen

cosx =∞∑l=0

(−1)l

(2l)!x2l, sinx =

∞∑l=0

(−1)l

(2l + 1)!x2l+1, x ∈ R, (3.14)

wobei beide Reihen absolut konvergieren.

Beweis: cos, sin ∈ C∞(R,R) ist per Definition klar, da exp(±ix) ∈ C∞(R,C) giltgemaß Satz 1.6. Mit d

dx(e±ix) = ±ie±ix berechnen wir

cos′ x =1

2(ieix − ie−ix) = − 1

2i(eix − e−ix) = − sinx,

sin′ x =1

2i(ieix + ieix) =

1

2(eix + e−ix) = cosx,

also (3.10).Die Eulersche Formel (3.11) ist direkte Konsequenz der Definition von cos und sin. Und die Funk-tionalgleichung der Exponentialfunktion liefert in Verbindung mit der Eulerschen Formel:

cos(x1 + x2) + i sin(x1 + x2) = ei(x1+x2) = eix1eix2

= (cosx1 + i sinx1)(cosx2 + i sinx2)

= (cosx1 cosx2 − sinx1 sinx2) + i(cosx1 sinx2 + sinx1 cosx2).

Real- und Imaginarteil dieser Gleichung entsprechen gerade den Formeln (3.12). Formel (3.13)entnimmt man wieder direkt der Definition von cos und sin. Zum Beweis von (3.14) berechnen wirschließlich

cosx+ i sinx = eix =

∞∑k=0

1

k!ikxk =

∑k gerade

1

k!ikxk +

∑k ungerade

1

k!ikxk

=

∞∑l=0

1

(2l)!i2lx2l +

∞∑l=0

1

(2l + 1)!i2l+1x2l+1

=

∞∑l=0

(−1)l

(2l)!x2l + i

∞∑l=0

(−1)l

(2l + 1)!x2l+1.

Vergleich von Real-und Imaginarteil dieser Identitat liefert (3.14). Damit ist alles gezeigt.q.e.d.

Bemerkung:Wegen eix = e−ix gilt |eix|2 = eixe−ix = 1 fur alle x ∈ R. Der EulerschenFormel entnehmen wir daher die beruhmte Relation

1 = cos2 x+ sin2 x fur alle x ∈ R.

Geometrisch stellt f(x) := eix, x ∈ R, eine gleichformige Bewegung mit Geschwin-digkeit 1 auf der Einheitskreislinie dar, denn es gilt

|f(x)| ≡ 1, |f ′(x)| = |ieix| ≡ 1.

118 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Cosinus- und Sinusfunktion sind nach Definition die Projektionen dieser Kreisbewe-gung auf die reelle bzw. imaginare Achse, weshalb man sie auch als Kreisfunktionenbezeichnet.

Wir wollen nun die Nullstellen der Kreisfunktionen untersuchen und beginnenmit dem

Satz 3.7: Die Gleichung cosx = 0 besitzt im Intervall [0, 2] genau eine Losung.Diese kleinste positive Nullstelle von cos bezeichnen wir mit π

2 . Es gilt dann

cosx > 0 fur alle x ∈[0,π

2

), cos

π

2= 0.

Beweis: Zunachst gilt per Definition cos 0 = Re (e0) = 1. Und aus der Reihendarstellung von cosermitteln wir

cosx = 1− x2

2!+x4

4!− x6

6!+x8

8!− x10

10!+x12

12!−+ . . .

=(1− x2

2!+x4

4!

)− x6

6!

(1− x2

7 · 8

)− x10

10!

(1− x2

11 · 12

)− . . .

Fur x = 2 erhalten wir also

cos 2 = −1

3− 26

6!

(1− 4

7 · 8

)− 210

10!

(1− 4

11 · 12

)− . . . < −1

3.

Nach dem Zwischenwertsatz, Satz 2.5 aus Kap. 2, existiert also ein ξ ∈ (0, 2) mit cos ξ = 0. Weiterentnehmen wir der Reihendarstellung von sin:

cos′ x = − sinx = −x+x3

3!− x5

5!+x7

7!− x9

9!+x11

11!−+ . . .

= −x(1− x2

2 · 3

)− x5

5!

(1− x2

6 · 7

)− x9

9!

(1− x2

10 · 11

)− . . . < 0

fur x ∈ (0, 2). Nach Folgerung 2.1 ist also cos in [0, 2] streng monoton fallend und somit injektiv.Insbesondere ist die Nullstelle ξ =: π

2eindeutig bestimmt und der Satz damit bewiesen.

q.e.d.

Folgerung 3.1: Die Sinusfunktion ist im Intervall [−π2 ,

π2 ] streng monoton wach-

send und es gilt

sin(− π

2

)= −1, sin 0 = 0, sin

π

2= 1.

Die Cosinusfunktion ist im Intervall [0, π] streng monoton fallend und es gilt

cos 0 = 1, cosπ

2= 0, cosπ = −1.

Beweis: Da cos gerade ist, gilt nach Satz 3.7: sin′ x = cosx > 0 in (−π2, π2), d.h. sin ist in [−π

2, π2]

streng monoton wachsend nach Folgerung 2.1. Ferner gilt sin 0 = Im (e0) = 0 und

1 = cos2(± π

2

)+ sin2

(± π

2

)= sin2

(± π

2

),

3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 119

also wegen der Monotonie sin(−π2) = −1, sin π

2= 1. Schließlich erhalten wir die Aussagen uber den

Cosinus aus den Regeln der Phasenverschiebung

cos(π2− x)= sinx, sin

(π2− x)= cosx, x ∈ R, (3.15)

die man nun sofort aus den Additionstheoremen gewinnt. q.e.d.

Satz 3.8: Die Funktionen cos und sin sind 2π-periodisch, d.h. es gilt

cos(x+ 2π) = cosx, sin(x+ 2π) = sinx fur alle x ∈ R. (3.16)

Ferner haben wir

cos(x+ π) = − cosx, sin(x+ π) = − sinx fur alle x ∈ R. (3.17)

Schließlich gilt fur die Nullstellenmengen der Funktionen

x ∈ R : cosx = 0 =π2+ kπ : k ∈ Z

,

x ∈ R : sinx = 0 = kπ : k ∈ Z.(3.18)

Beweis: Wir bemerken zunachst eiπ2 = cos π

2+ i sin π

2= i nach Folgerung 3.1. Damit folgt

eiπ = (eiπ2 )2 = i2 = −1, e2iπ = (eiπ)2 = (−1)2 = 1,

alsocosπ = −1, sinπ = 0; cos(2π) = 1, sin(2π) = 0.

Die Aussagen (3.16) und (3.17) folgen nun wieder unmittelbar aus den Additionstheoremen (3.12).Ferner wissen wir bereits cosx > 0 fur alle x ∈ (−π

2, π2) und cos π

2= 0. Also folgt die Aussage

(3.18) fur den Cosinus aus Formel (3.17). Die Nullstellenmenge des Sinus lasst sich daraus m.H. derPhasenverschiebung (3.15) ablesen.

q.e.d.

Folgerung 3.2: Alle Losungen der Gleichung eix = 1 haben die Form x = 2kπ miteinem k ∈ Z.

Beweis: Wir beachten

sinx

2=

1

2i

(ei

x2 − e−i

x2)=e−i

x2

2i(eix − 1).

Also gilt eix = 1 ⇔ sin x2 = 0. Die Behauptung ergibt sich nun aus (3.18).

q.e.d.

Satz 3.9: (Polarkoordinaten)Jede komplexe Zahl z ∈ C besitzt eine Darstellung

z = reiφ = r(cosφ+ i sinφ) (3.19)

mit einem φ ∈ R und r = |z|. Fur z = 0 ist die Darstellung (3.19) eindeutig, wennwir φ ∈ [0, 2π) fordern.

120 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Beweis:

1. Fur z = 0 ist r = |z| = 0 und (3.19) gilt mit beliebigem φ ∈ R. Sei alsoz = x+ iy = 0. Dann folgt r := |z| > 0 und ξ := x

r , η := yr sind wohldefiniert.

Es gilt dannz = r(ξ + iη), ξ2 + η2 = 1. (3.20)

Insbesondere ist ξ ∈ [−1, 1] = [cosπ, cos 0] erfullt. Nach dem Zwischenwertsatzexistiert also ein α ∈ [0, π] mit cosα = ξ. Hieraus folgt noch

η = ±√

1− ξ2 = ±√

1− cos2 α = ± sinα.

Man beachte sinα ≥ 0 wegen (3.18) und sin π2 = 1.

• 1. Fall: Fur y ≥ 0 ist η ≥ 0, also η = sinα. Dann wahlen wir φ :=α ∈ [0, π] und erhalten ξ = cosφ, η = sinφ, also aus (3.20) die gesuchteDarstellung (3.19).

• 2. Fall: Fur y < 0 folgt α ∈ (0, π) und η = − sinα. Mit φ := 2π − α ∈(π, 2π) erhalten wir dann aus den Symmetrieeigenschaften (3.13) und derPeriodizitat (3.16):

ξ = cosα = cos(2π − φ) = cosφ,

η = − sinα = − sin(2π − φ) = sinφ,

also wieder (3.19).

2. Man beachte, dass der in Teil 1 des Beweises erklarte Winkel φ in [0, 2π) liegt.Gabe es ein weiteres ψ ∈ [0, 2π) mit z = reiψ, so folgte eiφ = eiψ bzw. ei(φ−ψ) =1. Folgerung 3.2 liefert also φ − ψ = 2kπ. Aus |φ − ψ| < 2π folgt nun k = 0bzw. φ = ψ, wie behauptet.

q.e.d.

Bemerkungen:

1. φ ∈ [0, 2π) misst den Winkel zwischen der positiven reellen Achse und demVektor z = (x, y), gemessen in mathematisch positivem Sinn. Er wird Argu-ment von z genannt und mit φ = arg z bezeichnet. Seine Berechnung gelingtmit Hilfe der Arcus-Funktionen; siehe Bemerkung 1 im Anschluss an Satz 3.11unten.

2. Auch mit der Forderung φ ∈ [φ0, φ0+2π) fur beliebiges φ0 ∈ R ist φ eindeutigfestgelegt; vergleiche Teil 2 des obigen Beweises. Aufgrund der Periodizitat voncos und sin folgt dann φ = arg z+2kπ mit einem (eindeutigen) k ∈ Z. φ misstalso wieder den Winkel zur positiven x-Achse, wobei nun zusatzlich k-mal umden Ursprung gelaufen wird. Analog fuhrt auch die Forderung φ ∈ (φ0, φ0+2π]zu einer eindeutigen Festlegung von φ.

3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 121

3. Die Polarkoordinatendarstellung erlaubt uns eine einfache Interpretation derkomplexen Multiplikation: Sind namlich z1 = |z1|eiφ1 und z2 = |z2|eiφ2 mitφ1, φ2 ∈ [0, 2π) gegeben, so folgt aus der Funktionalgleichung der Exponenti-alfunktion:

z1 · z2 = |z1| |z2| ei(φ1+φ2).

Bei der Multiplikation werden also die Betrage multipliziert und die Argumente(=Winkel) addiert.

Definition 3.5: Wir erklaren die Funktionen

tanx :=sinx

cosx, x = π

2+ kπ, k ∈ Z (Tangens),

cotx :=cosx

sinx, x = kπ, k ∈ Z (Cotangens).

Satz 3.10: Tangens und Cotangens sind in ihren Definitionsgebieten beliebig oftdifferenzierbar und es gelten

tan′ x =d

dxtanx = 1 + tan2 x =

1

cos2 x, x = π

2+ kπ, k ∈ Z,

cot′ x =d

dxcotx = −(1 + cot2 x) = − 1

sin2 x, x = kπ, k ∈ Z.

(3.21)

Ferner haben wir

tan(x+ π) = tanx, cot(x+ π) = cotx

undtan

(π2− x

)= cotx, cot

(π2− x

)= tanx

sowie die Additionstheoreme

tan(x1 + x2) =tanx1 + tanx21− tanx1 tanx2

, x1, x2, x1 + x2 =π

2+ kπ, k ∈ Z,

cot(x1 + x2) =−1 + cotx1 cotx2cotx1 + cotx2

, x1, x2, x1 + x2 = kπ, k ∈ Z.

Schließlich ist tan in (−π2 ,

π2 ) streng monoton wachsend mit

limx→−π

2+tanx = −∞, tan 0 = 0, lim

x→π2−tanx = +∞.

Und cot ist in (0, π) streng monoton fallend mit

limx→0+

cotx = +∞, cot(π2

)= 0, lim

x→π−cotx = −∞.

122 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG

Beweis: Direkt aus den Aussagen uber die Cosinus-und Sinusfunktion. q.e.d.

Aufgrund des Monotonieverhaltens von sin, cos, tan und cot konnen wir nunauch die entsprechenden Umkehrfunktionen erklaren, wenn wir uns auf geeigneteMonotonieintervalle beschranken: Wir wahlen die Bereiche

y = sinx, −π2≤ x ≤ π

2⇒ −1 ≤ y ≤ 1,

y = cosx, 0 ≤ x ≤ π ⇒ −1 ≤ y ≤ 1,

y = tanx, −π2< x <

π

2⇒ −∞ < y < +∞,

y = cotx, 0 < x < π ⇒ −∞ < y < +∞.

Die zugehorigen Umkehrfunktionen heißen Arcus Sinus, Arcus Cosinus, Arcus Tan-gens bzw. Arcus Cotangens und werden mit

arcsin := sin−1 : [−1, 1] → R, arccos := cos−1 : [−1, 1] → R,arctan := tan−1 : R → R, arccot := cot−1 : R → R

bezeichnet.

Satz 3.11: Es gelten arcsin, arccos ∈ C∞((−1, 1)) und arctan, arccot ∈ C∞(R) undwir haben

arcsin′ y =1√

1− y2, arccos′ y = − 1√

1− y2, y ∈ (−1, 1),

arctan′ y =1

1 + y2, arccot′y = − 1

1 + y2, y ∈ R.

(3.22)

Ferner gelten die Relationen

arcsin y + arccos y =π

2fur alle y ∈ [−1, 1],

arctan y + arccoty =π

2fur alle y ∈ R.

(3.23)

Beweis: Da die ersten Ableitungen von sin, tan auf (−π2, π2) und von cos, cot auf (0, π) nicht ver-

schwinden, sind die Umkehrfunktionen in den angegebenen Bereichen einmal differenzierbar nachSatz 1.4 und es gelten

arcsin′ y =1

sin′(arcsin y)=

1√1− sin2(arcsin y)

=1√

1− y2, |y| < 1,

arctan′ y =1

tan′(arctan y)=

1

1 + tan2(arctan y)=

1

1 + y2, y ∈ R.

Entsprechend erhalten wir die ersten Ableitungen fur arccos und arccot. Da die Funktionen 1√1−y2

,

y ∈ (−1, 1), und 11+y2 , y ∈ R, beliebig oft differenzierbar sind, folgen die behaupteten Regularitats-

eigenschaften der Arcusfunktionen.

3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 123

Zum Beweis der ersten Relation in (3.23) wenden wir arccos auf die Relation y = sinx =cos(π

2− x), x ∈ [−π

2, π2], an:

arccos y =π

2− x =

π

2− arcsin y, y ∈ [−1, 1].

Entsprechend wenden wir arccot auf y = tanx = cot(π2− x), x ∈ R, an und erhalten die zweite

Relation in (3.23).q.e.d.

Bemerkungen:

1. Die Konstruktion im Beweis von Satz 3.9 und die obige Definition von arccoszeigen, dass sich das Argument arg z einer Zahl z = x + iy = 0 wie folgtbestimmen lasst:

arg z =

arccos

( x

|z|

), falls y ≥ 0

2π − arccos( x

|z|

), falls y < 0

∈ [0, 2π).

2. Ausgehend von der komplexen Exponentialfunktion konnen wir auch die kom-plexe Cosinus- bzw. Sinusfunktion erklaren:

cos z :=1

2(eiz + e−iz), sin z :=

1

2i(eiz − e−iz), z ∈ C.

Fur z = x ∈ R erhalten wir dann die reellen Kreisfunktionen. Fur z = −ix,x ∈ R, erhalten wir die (reellen) Hyperbelfunktionen

coshx := cos(−ix) = 1

2(ex + e−x) (Cosinus hyperbolicus),

sinhx := sin(−ix) = 1

2(ex − e−x) (Sinus hyperbolicus).

Wahrend (cosx, sinx) eine Parametrisierung der Einheitskreislinie liefert, er-gibt (coshx, sinhx) eine Parametrisierung des rechten Astes der Hyperbel(x, y) ∈ R2 : x2 − y2 = 1. Wir verzichten hier auf eine Diskussion derHyperbelfunktionen und verweisen auf die Literatur und die Ubungen.