20
ANTIPHASE Der Bund der Hexenmeister Beginne mit Band 1 Anna Tulke M i t I l l u s t r a t i o n e n d e r A u t o r i n

AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

AntiphAseDer Bund

der HexenmeisterBeginne mit Band 1

Anna TulkeM

it Illu

stra

tion

en d

er A

utor

in

Page 2: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

3

PROLOGEin Anfang

Gegen den Himmel lehnte es sich, das riesige Gebäude, wel-ches sie so angstvoll mit ihren Blicken einfing. Gegen den Him-mel und immer ferner schien es zu rücken und machte ihr den Weg erschwerlich weit, während sie sich, das Kreuz durchge-drückt, immer weiter darauf zu bewegte, den Bauch vornweg. Überanstreng‘ dich nicht!, hörte sie die Stimme ihres Mannes in ihrem Kopf. Es wird unser einziges Kind sein. Doch egal, wie oft er es ihr auch gesagt hatte, nie hatte sie darauf Acht gegeben. Und außerdem konnte sie etwas absolut nicht akzeptieren: die Regelung, ihr Kind weggeben zu müssen, für so lange Zeit, das war ihr unbegreiflich. Wer glaubte schon daran, dass es dem klei-nen Ding helfen würde besser aufzuwachsen, wenn man es von seiner Mutter wegnahm!? Sie jedenfalls nicht.

Doch auch, wenn sie schon immer eine Art Rebellin gewesen war und ihre Meinung stets preisgab, konnte sie sich jetzt nicht vorstellen, sich dagegen zu sträuben. Wie auch? Ihr ganzer Kör-per schmerzte, jeder einzelne Schritt wurde zur Qual und dass das Baby in ihr auch noch versuchte herauszukommen, machte die Sache nicht besser. Bleib lieber drin, dann wirst du nicht weggeholt. Vorsichtig fuhr sie sich über den gewölbten Bauch, musste jedoch sogleich die Augen schließen, um den Schmerz, der sie durchfuhr, ertragen zu können. Dann ein Lächeln. Du wirst wohl auch nie auf die anderen hören, nehme ich an.

Page 3: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

4

Page 4: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

5

Die rotierende Kugel

Wir leben Anfang des 22. Jahrhunderts und es hat sich nicht viel getan – nun, vielleicht doch, denn jetzt gibt es einen neuen Typ Mensch. Ja, ich weiß, das klingt wirklich seltsam aber früher glaubte man auch die Menschen biologisch unterscheiden zu können. Man sprach damals von drei Typen: das sind Mongolide, Negride und Europide. Und obwohl das schon vor über hundert Jahren als veraltet galt, kommt es jetzt wieder auf. Denn jetzt gibt es neue Menschen: die Unken. Ich finde es unpassend sie so zu nennen, denn Unken sind Tiere, gehören zu den Lurchen und sind auch nicht sonderlich hübsch. Aber die Unken-Menschen, die sind eigentlich ganz normal – so wie alle anderen auch. Sie haben kohlefarbene Haut, die etwas ledrig ist und ein feuriges Temperament. Sie ähneln auch keinem anderen Typ vom Ausse-hen her, sind ein bisschen gemischt und haben von allem etwas. Das finde ich eigentlich ganz cool, denn sie sind etwas Besonde-res. Außerdem ist mein bester Freund ein Unk und ich finde sie gehören einfach zu unserer Gesellschaft.

Als Anne Ledfeld den Aufsatz beiseite legte, schüttelte sie nur verständnislos den Kopf. Diese kurzen Worte und ungenauen Formulierungen bildeten doch keine Hausarbeit. Sie wusste ge-nau, dass sie in diesem Alter nie so gewesen war wie die Kinder heute. Sie hätte sich gar nicht getraut Umgangssprache zu ver-wenden, jene war und blieb unprofessionell. Sie wusste einfach nicht mehr, was in den jungen Menschen vorging, warum waren manche so faul?

Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und versuchte alles um sich herum zu vergessen. Dann jedoch tauchte sie zu-rück in die Realität: das alles musste fertig werden! Also betrach-tete sie die Arbeit noch einmal nachdenklich. Grey Tibeus Meier war als Name an den obersten Rand des Papiers gequetscht. Was dachten sich die Leute eigentlich dabei, solche Namensattentate zu begehen? Vor einigen Jahren hatte sie sogar Namen wie Or-lando Legolas in der Tageszeitung gelesen. Nun war zwar nichts

Page 5: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

6

dagegen zu sagen, dass Der Herr der Ringe seit Ewigkeiten ein Klassiker war, doch von maßloser Übertreibung hielt Anne Led-feld genau so wenig, wie von billiger Qualität. Also langte sie über den Tisch zu ihrem roten Korrigierstift und begann mit der Bewertung, ohne weiter über Namensattentate oder die Jugend nachzudenken. Bewertet wurden alle gleich und auch Grey Ti-beus Meier würde keine Extrawurst bekommen, nur weil sie ihn schon seit der fünften Klasse unterrichtete und eine Freundin sei-ner Mutter war.

Grey würde ebenso Punkte abgezogen bekommen, wie alle anderen auch, die weniger als drei Seiten zum Thema des Unter-richts beigetragen hatten. Es fiel ihr nicht schwer dem Jungen eine Fünf zu geben.

ھھھ

Die Schwimmhalle war der letzte Ausweg und der Sprung ins kalte Wasser tat so gut – so konnte er vielleicht alles verges-sen: die schlechte Note und den Stress, die Idioten in der Schule und die Wut, die sich gegen seine Lehrerin angehäuft hatte. Eine Fünf. Warum eine Fünf? Weil du nicht einmal ordentliche Sätze formulieren kannst, darum! In seinem Kopf hallten die Worte von Frau Ledfeld immer und immer wieder nach, so, als hätte sie sich wie eine kleine Version in sein Ohr gesetzt und wür-de Spaß daran finden ihn mit seiner miesen Arbeit aufzuziehen. Grey machte einen kräftigen Zug und drückte die Wassermassen von sich weg, um weiter voranzukommen. Doch die Sache mit der Fünf ließ ihn irgendwie nicht sofort los.

Eigentlich war das ja keineswegs sein Stil, etwas so unvoll-kommen abzugeben, aber an diesem Tag war es gar nicht an-ders gegangen, selbst wenn er gewollt hätte. Denn an diesem Tag passierten so viele Dinge auf einmal, dass seine ganze Planung durcheinander kam. Seine Eltern hatten spontan beschlossen ein-fach einmal ihre Familie zu feiern; das Ganze mit einem ausführ-lichen Kochkurs und einem anschließenden Vier-Gänge-Menü. Diese seltsame Quälerei dauerte mehrere Stunden, um dann mit

Page 6: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

7

einem vollgestopften Magen endlich ein Ende zu finden. Doch da Paul, Greys bester Freund, das Talent hatte in den ungüns-tigsten Momenten aufzutauchen, klingelte kurz darauf das Tele-fon, bevor das andere Ende sich unbedingt über Sciencefiction unterhalten wollte. Und egal, wie oft Grey den Mund aufmach-te, um seinen vom Übersinnlichen besessenen Freund davon zu überzeugen, dass morgen ein besserer Tag für so etwas war, Paul war nicht zu bremsen. So hatte Grey während des Telefonats den Aufsatz geschrieben, krakelte Zeile für Zeile, antwortete ab und zu mit ja oder nein und kam kein Stück voran, bis Paul irgend-wann eine neue Website entdeckte, die sich mit dem Beherrschen von Elementen beschäftigte und die ihn so in den Bann zog, dass er natürlich alles stehen und liegen ließ, das Gespräch beendete und Grey gegen Mitternacht endlich seiner Arbeit überließ.

Und dann, als alles fertig war und die drei Seiten ordentlich geschrieben vor ihm lagen, schlief Grey erschöpft und mit einem schwirrenden Kopf über seiner Arbeit ein. Aber Meggie, seine kleine, elfjährige und bösartig veranlagte Schwester, hatte es ge-schafft alle Seiten unter seinem Gesicht hervorzuziehen und sie irgendwohin zu bringen, wo er sie nie wieder fand. Aus diesem Grund war am nächsten Morgen auch die 150-Wörter-Version der Hausarbeit im Halbschlaf entstanden. Man konnte Meggie ebenso wenig bremsen wie Paul und sie stand zudem unter väter-lichem Schutz.

„Hey du! Denk nich’ so viel nach, das macht faltig!“, die Stim-me, die zu ihm ans Wasser drang, veranlasste ihn die sich über-schlagenden Gedankengänge fallen zu lassen. Er schwamm mit einem leichten Grinsen zum Beckenrand.

„Na, Mona“, Grey blickte zu ihr auf und kniff die Augen etwas zusammen. Die Sonne, die durch das Glasdach der Schwimm-halle schien, fiel dem Mädchen, was sich nun im Schneidersitz vor ihm auf die Fließen setzte, genau in den Rücken. Irgendwie schien sie so zu strahlen. „Radioaktiv“, murmelte Grey nur – Mona hob eine Augenbraue.

„Komm mal wieder zurück, Roter. Ich brauch dich hier bei was Wichtigem.“

Page 7: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

38

Page 8: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

39

Eine dunkle Hand

Das Licht – es war verschwunden. Stattdessen schien die Fins-ternis Pauls Gesicht mit all ihrer Kraft nach unten zu drücken, ins Nirgendwo. Er fiel immer weiter. Immer weiter, bis der Mo-ment erreicht war, an dem man nicht tiefer sinken konnte und seine rabenschwarzen Hände aufstießen. Er wusste nicht, wo sie es taten, doch das Nichts der Dunkelheit hatte ihn freigegeben und zwar ganz eindeutig. Das Licht schmerzte in seinen blauen Augen, als er sie öffnete – er schnappte nach Luft. Was war pas-siert?

Sein ganzer Körper war nach vorn gebeugt, zitternd, sich nicht bewusst, wie er so eine Geschwindigkeit verarbeiten sollte. Den Kopf hielt Paul demütig gesenkt und betrachtete den Boden un-ter sich. Es war keiner, den er zu kennen glaubte: in dunkle Töne getaucht, braun und schwarz, manchmal weich, dann fester. Während er zu sehen begann, strich ein eigenartiger Windhauch über sein Gesicht, der einen Duft mit sich brachte, den er nicht einzuordnen wusste. Seine Ohren vernahmen ein Rascheln, wie es ihm schier unbekannt war und ihm schien es, als würde er fremde Gesänge vernehmen.

All diese Dinge ließen sich mit nichts in seinem Kopf verbin-den. All diese Dinge waren nur so umschlungen von Ungewöhn-lichkeit und umso irrealer wirkte es, als es ihm nun doch in sei-ner vollkommenen Verwirrung war, als würde etwas Bekanntes bei ihm sein.

Ein Namensrufer. „Paul!“Diese Stimme – der Unk hob langsam den Kopf, er blickte

in eine unglaubliche Wucht aus Grün. Dann erst nahm er sei-nen Mitreisenden wahr. Grey sah ihn an, weniger durcheinander, doch sichtlich erschöpft von all dem Irrealen, was sich abzuspie-len begann. Was passierte, schien ihm nicht gut zu tun.

„Ich glaube, wir sind da“, murmelte er bloß, Pauls Blick wurde schärfer. Er erinnerte sich, wusste, dass sie, durch welche Kraft auch immer, mit Hilfe der Website hierher gelangt waren.

Page 9: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

40

Ihm wurde klar, dass dies der Ort sein musste, an dem er sei-ne ganz eigene Macht beherrschen lernen würde und er spürte, wie eine unglaubliche Energie in seinem Körper aufkam. Es war so viel, dass der Boden unter seinen Händen immer heißer und heißer wurde. Und während er sich nach oben drückte, krochen Rauchwolken neben ihm entlang und kleine Funken sprühten. Dann erhob er sich zu seiner vollen Größe, der selbst ernannte König des Feuers.

Grey tat das Getue mit einem Kopfschütteln ab, doch der über-dimensionale Brandfleck, den sein Freund im Boden hinterlas-sen hatte, missfiel ihm irgendwie.

Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er.

Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu schnell und ein Schwindelgefühl hatte sich in ihm ausgebreitet. Er warf ei-nen Blick gen Himmel, ein fliegendes Etwas, mit leuchtend blau-en Federn glitt über sie hinweg. Was Grey Paul voraus hatte, war die Tatsache, dass er wusste, wo sie sich befanden oder zumin-dest konnte er den Überfluss an Grün, das Rascheln, die Gesänge und den Untergrund zuordnen. Eine Seltenheit war es, sowohl von der Existenz eines Waldes, denn es war genau ein solcher, zu wissen, als auch sich in einem zu befinden. Kaum noch gab es Wälder, Bäume, Vögel – selbst der Garten der Meiers war nichts anderes, als ein Betonplatz hinter dem Haus. Doch sowohl Gabi, als auch Rick brachten ihren Kindern bei, was Natur bedeutete. Aus diesem Grund auch baute Greys Vater an dem Bus herum, aus diesem Grund wollten sie so dringend unabhängig leben, weder sesshaft, noch unflexibel. Sie wollten es so, um an die Orte zu fahren, wo es noch Wälder gab, Vögel, die sangen, Tiere, die nicht hinter Käfigstangen hockten. Denn in den Zoos liefen die Bewohner durch projizierte 5D-Welten, die für den normalen Zoobesucher nicht sichtbar waren. Ein normaler Zoobesucher bezahlte auch Geld, um das Tier zu sehen, nicht die Umgebung. Grey seufzte – was war nur los mit den Menschen …

War es nicht viel schöner, wenn ein Wesen hier in einem saftig

Page 10: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

41

grünen und gesunden Wald lebte, hier geboren war und nie wie-der aus der Heimat herausgerissen wurde? Grey fand das schon. Auch er hing an seinem Zuhause, selbst, wenn es eines war, wel-ches aus betonierten Straßen und hoch aufragenden Stadthäusern bestand.

Er ließ den Gedanken fallen. Paul, der sich ausgiebig umgese-hen hatte, wollte nun endlich das Hochhaus finden. Sie machten sich also auf die Suche …

ھھھ

„Komm da runter, Jay!“, die Stimme des Mädchens drang nur unterbewusst zu dem Vogel hinauf, der in den Wipfeln der Bäu-me saß. Aber ein kleines Rucken durchzog trotz allem seinen gefiederten Kopf.

Wie sie zu ihm herauf sah, das dunkle Gesicht mit den scho-kobraunen Augen, die krausen Haare, die ihre Zöpfe kugelig wirken ließen und auch die steilen Augenbrauen, die so wütend wirkten, als hätte er sonst etwas verbrochen – all das gefiel ihm. Er mochte ihr Temperament und ihren Namen: Lysann. Zucker-süß schmeckte er, als Jay ihn fröhlich immer wieder vor sich hin zwitscherte. Das Mädchen verschränkte nur die Arme, doch er hatte einen Narren an ihr gefressen.

Hungrig klackerte der Eichelhäher ein paar Mal mit dem Schnabel, plusterte sein recht prächtiges blau und braun ge-schecktes Gefieder auf und stieß sich vom Ast nach unten ab. Direkt auf sie zu.

Seicht landete er nun auf ihrer Schulter, schmiegte sein wei-ches Köpfchen an ihre Wange.

„Jay!“, ihre dunklen Augen waren ihm so nah … „Jetzt hör auf Vögelchen zu spielen, für so was haben wir echt keine Zeit!“

Erst wollte er protestieren, doch dann begann er zu lächeln, so fern das einem Vogel überhaupt möglich war. Er lächelte im-mer und immer mehr, bis ein Grinsen sein Eichelhähergesicht endgültig auseinander riss. Seine ganze Gestalt veränderte sich, er begann zu wachsen und zu wachsen, die Federn von sich zu

Page 11: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

42

werfen, die Flügel zurück in den Leib zu ziehen. Die Krallen platzten auf, dunkle Beine traten hervor, statt der Flügel bildeten sich Arme und der ganze Körper formte sich zu einem mensch-lichen, bis schließlich auch das Grinsen zu den vollen Lippen gehörte und alleinig nur noch der Kopf auf Lysanns schmalen Schultern ruhte.

„Ich habe auf dich gehört! Meine Belohnung?“, Jays Stimme wandelte sich noch, während er sprach. Erst schien sie dem ho-hen Vogelgezwitscher zu ähneln, dann jedoch nahm sie einen angenehmen Basston an.

Lysann warf einen kurzen Seitenblick zu ihm, er war ihr un-gewohnt nahe und sie spürte zu ihrem eigenen Entsetzen, dass ihr Herz unweigerlich einen Moment aussetze. Doch als Jay nun die Lippen spreizte und genüsslich die Augen dabei schloss, kam die Wut über ihn wieder zurück, ohne jedoch stark genug zu sein, ihre Regungslosigkeit unterbrechen zu können.

Nur eine einzige Stimme hätte sie aus dem Ganzen herausrei-ßen können – die des Mannes, der ihnen einen Auftrag gegeben hatte. Einen Auftrag, der bald beginnen sollte.

Jay und Lysann waren mit einem winzigen Gerät ausgestattet. Es trug keinen Namen, denn es gab eindeutig zu viele Erfindun-gen, als dass alle benannt werden konnten. Dieses kleine Ding jedenfalls, was einer Art Sensor glich, diente dazu Nachrichten in Form von Gedanken zu übermitteln. Besonderheit: Es wurden nur jene Sätze übermittelt, die mit dem Auftrag zu tun hatten. Wie dies funktionieren sollte, war für keinen der Auftragnehmer von Bedeutung. Ihnen war nur bewusst, dass jedes Detail der zu absolvierenden Aufgaben im Beisein des Gerätes besprochen wurde. Der Sensor schien die Informationen aufzunehmen und dann jedes Mal selbst zu entscheiden, ob die Nachricht übermit-telt werden sollte oder nicht.

Just also in diesem Moment, als Lysann zweifelte, was sie als nächstes tun würde, traf eine solche Gedankennachricht bei ih-nen beiden ein.

„Sie sind da!“, und das war alles. (Im Übrigen auch das Einzi-ge, worauf sie gewartet hatten.)

Page 12: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

43

Sofort löste sich Lysanns Körper aus der misslichen Situation, denn dieser eine Satz, übermittelt über ein Gerät, das sie nicht erklären konnte, ließ sie wieder sie selbst werden. Sie warf Jay einen kurzen Blick zu: „Ich hätte dich sowieso nicht geküsst!“

Er lächelte nur: „Ich sollte mich wieder verwandeln, dann sind wir eindeutig unauffälliger.“

Auch ihm war bewusst, dass er sich jetzt um die Aufgabe kümmern musste, die Eroberung des Mädchens wurde verscho-ben. Aber er war glücklich, den Auftrag mit ihr zusammen be-kommen zu haben und sonderlich schwer würde es auch nicht werden. Was war schon dabei, zwei Neuankömmlinge zu bewa-chen, während man nur Acht gab, dass sie in die richtige Rich-tung liefen.

„Ich verstehe gar nicht, warum ausgerechnet du einer der we-nigen sein sollst?“, Lysann riss ihn aus seinen Gedanken, doch er verstand ihre Worte nicht ganz, fragend sah er zu ihr und sie fuhr fort: „Ich meine, nur zwei Prozent der Erdbändiger auf der ganzen Welt können sich verwandeln! Und nicht einmal die, die es theoretisch können müssten, beherrschen es komplett, so wie du!“

Er lächelte wieder, was sie sagte, klang fast wie ein Kompli-ment.

„Nun“, begann er. „Ich bin eben etwas ganz Beson–“„Jetzt beeilt euch!“, Jay fuhr bei den plötzlichen Worten in

seinem Ohr zusammen. Lysann antwortete stattdessen dem Auf-traggeber mit einem klaren: „Ja, Herr Kamusella!“

Sie wandte sich noch einmal ihrem Mitmenschen zu, ihre Au-gen drängten nun mit einem Na-mach-schon-Blick darauf, dass er sich endlich verwandelte, damit sie anfangen konnten. Ohne zu warten rannte sie dann jedoch los und unweigerlich setzte sich Jay auch in Bewegung. Er dachte noch einen Moment dar-über nach, was seine seltene Fähigkeit für ihn bedeuten könnte. Doch seine Umgebung forderte schließlich seine vollkommene Aufmerksamkeit. Das Bild des Waldes rauschte an ihm vorbei, aggressiv raschelnd, unglaublich schnell und in einem grell grü-nen Farbspiel. Je mehr er an Geschwindigkeit gewann, desto

Page 13: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

44

schneller schien sein Herz zu rasen, desto mehr drängte der Ei-chelhäher in ihm.

Fest drückte sich der junge Erdbändiger vom Boden ab, den Kopf nach vorn, die Arme gerade noch von sich streckend, vollzog sich die Verwandlung ein erneutes Mal. Ein kleines er-sticktes Vogelkreischen entsprang seiner Kehle, dann der erste Flügelschlag – er war in der Luft. Die Geschwindigkeit haltend folgte er Lysann, flog wild einmal neben ihr, dann hinter und vor ihr, wechselte ständig die Position, tauchte unter einer nach oben gewölbten Wurzel hindurch und raste geradewegs auf eine Lichtung zu.

Erst viel zu spät bemerkte er, dass das Mädchen abgebremst hatte und stehen geblieben war. Mit einem Zwitschern sah er sich noch zu ihr um, dann überflog er, nicht ohne einen kurzen Schrecken, zwei fremde Gestalten.

Der Auftrag, dachte er schluckend, bevor er feststellen muss-te, dass einer der beiden den Kopf mit den feuerroten Haaren hob und zu ihm aufsah. Versucht unauffällig flog Jay zur Krone eines Kastanienbaumes, bevor er sich niederließ. Von hier aus, so war er sich sicher, konnte er perfekt und vor allem unauffällig beobachten.

ھھھ

Der Rothaarige wandte sich wieder dem Anderen zu. „Und jetzt?“, Greys Stimme war voller Zweifel. Er war sich

zwar sicher, dass der Wald, in dem sie sich befanden, nicht allzu groß sein konnte (Der größte Wald Deutschlands umfasste gera-de einmal 3600 Hektar.), aber dennoch: Die ganze Geschichte war ihm nicht geheuer. Wer wusste schon, was noch alles auf sie zukommen würde oder wie viele abartige Wesen hier hinter den Büschen lauerten? Vielleicht gab es ja noch mehr, als nur Hexen-meister: andere Kreaturen. Nur ein kurzer Moment reichte und Grey schienen unzählige einzufallen, von denen er gehört oder gelesen hatte. Wie wäre es mit: einem Werwolf, einer Harpyie, einem Kobold und einem Zwerg; mit Vampiren und Zentauren

Page 14: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

45

oder einem Mantikor? All das behagte ihm gar nicht. Er dach-te immer weiter darüber nach, starrte fast wie eine Hülle seines Selbst vor sich hin und kehrte erst wieder zurück, als er Pauls Hand vor seinem Gesicht herumfuchteln sah. Er blinzelte.

„Ich denke, wir gehen da entlang. Richtung Osten ist immer gut!“, der Unk grinste.

Grey nickte erst, schob dann aber die Augenbrauen zusammen, während sie gerade losliefen: „Warum ist Osten immer gut?“

„Na, im Osten geht eben die Sonne auf!“„Ach so“, Grey konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, er

musste unweigerlich daran denken, wie Mona wohl reagiert hät-te. Sie hätte sicherlich erklärt, dass die aufgehende Sonne Sym-bol für etwas neu Anbrechendes war, egal, ob es sich nur um ei-nen Tag handelte oder eben eine neue Zeit, ein neues Abenteuer, ein neues Leben.

Seine grauen Augen starrten einen Moment lang ins Leere, er wollte doch gar kein neues Leben und doch wusste er nicht, was als nächstes geschah und wie viel sich verändern würde. Darauf-hin fiel ihm etwas ein.

„Ich hab gehört, wie du mit Jennie telefoniert hast!“, vielleicht sprach er es an, um sich abzulenken. Wenn er Paul in ein Ge-spräch verwickelte, würde dieser nicht so schnell wieder aufhö-ren können zu reden. Vielleicht ließ sich so sein Zweifel däm-men.

Die Antwort jedoch fiel nur knapp aus: „Ach ja?“Der Rote stutzte: „Ja … du hast sie Zuckerschneckchen ge-

nannt.“„Ich weiß.“Versucht locker grinste Grey: „Wolltest du mir dein Schneck-

chen etwa verheimlichen?“Paul sah ihn blöd an: „Gerade jetzt fängst du mit so was an.

Jetzt, wo wir fast da sind und unser ödes Dahingedümpel ein Ende hat. Jetzt, wo wir etwas erleben können!“

„Du meinst, jetzt, wo du etwas erleben kannst!“„Nein, wir! Ich mach mir zumindest keine Gedanken mehr

um das, was Zuhause ist. Und mit meiner Fähigkeit gehöre ich

Page 15: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

46

da auch nicht mehr hin. Ich will was aus dem Ganzen machen, Jennie würde das gar nicht verstehen! Warum es ihr dann erklä-ren?“

„Jennie hat dich erst auf die Idee mit den Elementen gebracht!“, doch Paul hörte gar nicht zu.

Verärgert presste Grey die Zähne aufeinander, bis ein leises Knirschen erklang. Wie konnte man nur so egoistisch sein und alle anderen einfach im Stich lassen wollen – ein Wunder, dass ihm, Grey, überhaupt von der Website erzählt wurde. Vielleicht würde er sich sonst auch fragen, wo sein bester Freund auf ein-mal abgeblieben war. Wütend überlegte er sich ein paar feuri-ge Worte, damit er den König der Flammen mit seinen eigenen Waffen schlagen konnte. Doch plötzlich blieb Paul stehen.

Grey blickte auf, für einen kurzen Moment hielt er den Atem an, doch es war noch nicht das, worauf sie dachten zuzugehen.

Ein hochgewachsenes Maisfeld lag vor ihnen, ragte über ihre Köpfe und schien ihnen fast undurchdringlich. Das Meer aus gelbgrünen Stauden ließ Grey seinen Ärger für einen Moment vergessen. Unsicher, wie er war, konnte er es sich nicht verknei-fen: „Sind wir hier wirklich richtig?“

Paul warf einen kurzen Blick zurück – ein Rascheln erklang zwischen den Sträuchern, durch die sie gerade noch gegangen waren. Einen kurzen Moment lang lief ein Schauer seinen Rü-cken hinunter. Auch er hatte schon überlegt, ob hier vielleicht auch andere Wesen hausten und die Vorstellung, so etwas wie ein Werwolf könnte es auf sie abgesehen haben, behagte selbst dem König des Feuers nicht.

„Besser durch das Feld, als zurück in den Wald“, beschloss er laut. „Ich meine, wenn die Sonne einmal untergegangen ist, wird es unmöglich die Orientierung zu halten. Und wie groß kann so ein Feld schon sein!? Da sind wir locker durch, bis es dunkel wird!“

Grey nickte leicht und musterte das Feld noch eine Weile, auch er hatte das Rascheln gehört. Wenn da wirklich etwas war, wäre es dumm den Weg durch das Feld zu nehmen. Wenn der Weg einmal gebahnt war, war erstens die Spur für den Verfol-

Page 16: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

47

ger unfehlbar und zweitens jegliches Laufhindernis genommen. Eine Flucht konnte eigentlich kaum gelingen. Das ungute Gefühl breitete sich noch weiter aus als er ein Zischen hörte.

„Ich glaube, es ist –“, der Gedanke verlor sich, als er erkannte, dass es niemanden mehr gab, der ihn aufnehmen konnte. Hastig warf er einen Blick hinter sich, dann Richtung Feld. Die nieder-getretenen Pflanzen verrieten ihn. Es war schon zu spät, Paul war bereits in der gelbgrünen Falle verschwunden und Grey folgte ihm, weil sie allein noch weniger Chancen haben würden und weil er ein Freund war. Wieder war da ein Geräusch, direkt hinter ihnen – er schauderte und je weiter sie in das Feld vor-drangen, desto mehr konnte man ihre Nervosität spüren. Beide konnten das ständige Umdrehen nicht unterlassen, beide hatten das Gefühl, dass etwas hinter ihnen war.

Und sie hatten Recht.Sie versuchten schneller voranzukommen, drückten die Stau-

den beiseite, traten sie nieder, verfielen ins Rennen und eine Wucht aus Gelb flog an ihnen vorbei. Immer schneller, immer schneller, bis ihnen die Luft wegblieb, bis es nicht mehr schnel-ler ging und sie mit jedem verwackelten Blick nach hinten eine dunkle Hand erkannten. Eine, die sich nach ihnen ausstreckte, die nach ihnen verlangte. Stockend stieß Paul einen Schrei aus, dann die Arme nach vorn – „Mach Feuer!“, Greys Stimme! Der Andere nahm sich zusammen, der Atem stoßweise, die Energie kaum nahbar – und doch, und doch kam es. Das Feuer. Mit ihm eine unglaubliche Hitzewelle. Flammen preschten nach vorn – es half. Sie konnten beschleunigen. Der erste Triumph.

Dann der zweite. Unter ihnen war Wasser. Immer mehr, zu glitschig für die dunkle Hand. Sie rutschte, fiel zurück. Doch die anderen rasten weiter, Minuten um Minuten, unbeirrt.

Die Beine wurden ihnen schwer, doch sie liefen. Die Luft schien ihnen zu entweichen, die Flammenhitze sie zu überman-nen, das Gewirr aus Pflanzen sie zu umzingeln und der Gestank des Qualms sie zu ersticken. Aber die Angst, sie war viel stärker. Viel mehr – übermächtig. Und schließlich, schließlich rannten sie, das Wasser hinter sich lassend, das Feld sich vor den Flam-

Page 17: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

48

men lichten, bis es vollkommen verschwand und sie nach drau-ßen stürzten.

Paul ging sofort zu Boden, die glühend heißen Hände in das feuchte Gras gedrückt, den Körper nach vorn gebeugt. Grey stützte die Hände auf die Knie, versuchte zur Ruhe zu kommen. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, sein Herz immer noch bis zum Hals schlagen; es ging alles so schnell.

Aber als er sich noch einmal umdrehte, war da: nichts. Kein Rascheln, kein Zischen, keine dunkle Hand, die nach ihnen grei-fen konnte. Erleichtert atmete er auf und begann nach vorn zu blicken.

Sein Körper erstarrte. Fünf riesenhaft große Männer kamen direkt auf sie zu. Alle-

samt mit dunkler Haut, die lehmig braun und rau wirkte. Allein ihre Art die Schritte zu wählen und die Tatsache, dass sie ne-beneinander liefen, ließ sie wie eine undurchdringliche Mauer wirken, erweckte den Eindruck von purer Aggressivität. Doch anstatt sich nun vor den beiden eher schmächtigen Jungen aufzu-bauen, zwängten sie sich mit einer großprotzigen Ignoranz vor-bei und ließen einen herablassenden Blick auf den Unk fallen, der mit den verloren blauen Augen zu ihnen hinauf blickte.

„Na los, haut ab!“, blaffte einer. „Verdammte Feuerunken.“Dann verschwanden sie im Feld, teilten sich auf. Nur einer

hockte sich direkt hinter ihnen auf den Boden, fuhr mit bedäch-tiger Miene über die gebrandmarkten Pflanzen. Vorsichtig hob er eine ein Stück nach oben, schien sie fast liebkosend zu strei-cheln. Aber das verkümmerte Etwas in seinen Händen war nur noch eine Hülle und doch, je länger er darauf wartete, dass etwas passierte, je länger der Mann mit der lehmfarbenen Haut ihr leise Worte zuflüsterte, desto mehr glaubte Grey zu sehen, wie sie sich veränderte. Irgendwie schien sie sich zu bewegen, dann rasselnd aufzuatmen und all ihr Leiden von sich zu stoßen, bevor etwas Neues hervorbrach. Aus der schwarzen Staude wand er sich her-aus, der kleine Sprössling. Er drängte ans Licht, genährt von den Worten des Hexenmeisters dehnte er sich aus und wuchs; reckte den saftig grünen Stängel gen Himmel und vollendete sein neu

Page 18: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

49

entstandenes Leben mit einem kleinen, elliptischen Blatt, wel-ches er seicht aus sich hinaus sprießen ließ.

„Hammer“, hörte Grey den Unk sagen und nickte zustimmend, bevor er sich zu dem anderen umdrehte. Er allein hatte einer auf-gehenden Sonne zugesehen, Paul ließ sich schon auf einen ganz neuen Teil der Welt ein, die sie betreten hatten. Dieser Teil ge-hörte nicht nur zu dem, wo sie hin gewollt hatten, nein, es schien, als wäre es noch viel mehr als das. Vorsichtig gingen sie beide ein paar Schritte weiter hinein, in diese neue Welt. Es war ver-blüffend, wie lang das Gras hier war, keineswegs zu vergleichen mit den hellgelben Stoppeln im Park ihrer Heimatstadt. Dieses hier war viel weicher, schöner – gesund. Es erstreckte sich bis kurz vor den Horizont, stieß dann sanft an die ersten Stauden von den anderen Feldern, wiegte genüsslich im Wind, während es ein angenehm ruhiges Lied sang. Ein seichtes Rauschen in den Ohren der Fremden und Grey schloss für einen Moment die Augen, atmete ein.

Paul hingegen sah sich weiter um, er war der genaue Gegen-satz zu seinem Freund. Während die Umgebung in jenem eine unbegreifliche Ruhe auslöste, kam in dem Unk eine ihm wohl bekannte Energie hoch, die er weder zu bremsen, noch zu kont-rollieren wusste. Er wollte nur vorankommen. Es gab viel mehr, als nur die Natur.

Mitten auf der saftigen Wiese erhob es sich, so hoch, dass man glaubte, es würde an den Wolken kratzen können. Mit seiner schneeweißen Fassade wirkte es fast irreal, ganz anders als die Gebäude, die sie kannten, denn Weiß war keine Farbe mehr für ein Haus. Wie oft hatte Pauls Vater davon gesprochen, dass die verschmutzte Luft kein Haus lange so aussehen ließ. Er zeigte ihnen Beispiele, an denen der Ruß und der Dreck am Werk ge-wesen waren und er hatte ihnen erklärt, dass diese beiden Feinde sich tiefer hineinfraßen als alles andere.

Aber hier auf dem Stützpunkt der Hexenmeister schien es we-der Ruß noch Dreck, noch irgendeinen verschmutzten Luftpar-tikel zu geben. Das Weiß blieb weiß und so strahlte das hohe Haus mit seinem hellen Antlitz zu ihnen herunter. Es zeigte sich

Page 19: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

50

in seiner vollen Pracht, als wollte es beweisen, dass es außerge-wöhnlich war.

Grey fiel auf, dass es mit seinen besonders hervorgehobenen Steinen an den Kanten, die abwechselnd länger und kürzer in das Innere der Hausseite vordrangen, etwas von einem Stadthaus hat-te. Dazu kam, dass die Fenster in jedem Stockwerk ein anderes Steingewand zu tragen schienen. Einmal mit halb runden oder dreieckigen Überdachungen, dann mit anderen Gewänderprofi-len oder Entlastungsbögen. Unzählige Varianten bauten sich vor ihm auf und all diese in ein Haus einzuarbeiten war fast verrückt und doch konnte er kaum die Augen davon lassen.

„Wir müssen da unbedingt ’rein!“, drängte Paul, während er die Leute betrachtete, die draußen ihrer Wege gingen. Ein feuri-ges Kribbeln durchzog seinen Bauch, als er daran dachte, dass es alles Hexenmeister waren, und er fragte sich, wie viele davon er wohl einmal in Aktion sehen würde.

Das, was er jedoch nun als nächstes sah, war die riesige Masse von ihnen.

Denn als sie die breiten, weißen Treppen nach oben stiegen und Paul die rotbraune Flügeltür aufdrückte, übermannte sie nicht nur ein Sturm aus unterschiedlichen Stimmen, sondern auch ein Gewirr aus Körpern gepaart mit einer Last aus Eindrücken. Bunt durcheinander gemischt standen sie in den Gängen, unterhielten sich, tratschten, lachten und interessierten sich dabei kein Stück dafür, ob ihnen jemand zuhörte oder nicht. Keiner blickte auf, als Grey und Paul sich einen Weg durch das Gewühl bahnten, keiner beachtete ihre mit Fremdartigkeit gezeichneten Gesichter.

Keiner, bis auf ein Mann mit roten Bartstoppeln am Kinn, der augenblicklich begann zu denken.

ھھھ

„Ihr habt sie aus den Augen verloren. Sie sind hier!“, uner-träglich laut hallte Kamusellas Stimme in ihren Ohren wieder. Lysann blickte auf.

Jay, der vor ihr hockte und die Hände auf ihr geschwollenes

Page 20: AntiphAse - amicus · 2011-08-18 · Paul sah kurz zu ihm, dann völlig gebannt auf den schwarzen Fleck. „Wow“, wisperte er. Grey beachtete ihn nicht, sein Herz raste viel zu

51

Bein gelegt hatte, hob ebenfalls den Kopf. Natürlich hatten sie sie aus den Augen verloren, Lysann war schließlich gestürzt. Jay schüttelte die krausen Haare, er hätte sie nie allein gelassen. Aber anstatt Kamusella davon zu erzählen, ließ er nur vorsichtig die Finger über Lysanns Knie gleiten.

„Sie sind gerissen, alle beide“, murmelte er.„Das solltet ihr auch sein! Wenn ihr nicht auf Komplikatio-

nen reagieren könnt, wieso habe ich euch dann überhaupt aus-gewählt!?“

Ein weißes Licht breitete sich unter der Handfläche des jungen Erdbändigers aus. Lysann zuckte kurz zusammen, doch nicht etwa, weil Jay ihr Schmerzen zufügte, es war eher Kamusella, der sie mit seinen Worten demütigte.

„Ich dachte …“, begann sie mehr verzweifelt, als alles andere. „Eine Flucht durch die Felder wäre aussichtslos für beide. Ich dachte, sie wüssten gar nicht mit der Fähigkeit umzugehen.“

Ihr Auftraggeber schwieg und Jay sah sich um. Das Wasser sickerte langsam in den erdigen Boden. Aber das Feuer des Unks hatte gefressen, zu viel, viel zu viel, denn es würde eine Heiden-arbeit werden, alles wieder herzurichten. Wahrscheinlich würde das ihre Strafe dafür sein, dass sie versagt hatten. Jay hob nur die Schultern, es war ihm egal.

„Ich übernehme jetzt“, war das letzte, was an ihre Ohren drang. Dann knisterte es und der Sensor gab einen durchgehend tiefen Ton von sich, bevor er von ihnen abfiel. Auf dem Boden ange-kommen grub er sich in die braune Erde ein – er hatte sich selbst für tot erklärt und den Auftrag für beendet …