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Archiv für Diplomatik Schriftgeschichte Siegel- und Wappenkunde Begründet durch EDMUND E. STENGEL Herausgegeben von WALTER KOCH und THEO KÖLZER 52. Band " 2006 (0 BÖHLAU VERLAG KÖLN " WEIMAR " WIEN

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Archiv für Diplomatik Schriftgeschichte

Siegel- und Wappenkunde

Begründet durch

EDMUND E. STENGEL

Herausgegeben von

WALTER KOCH und THEO KÖLZER

52. Band " 2006

(0

BÖHLAU VERLAG KÖLN " WEIMAR " WIEN

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Die ottonische Kanzlei in neuem Licht

von

WOLFGANG HUSCHNER

Ende Juli 1001 erwirkte Markgraf Odelrich-Manfred von Turin im mittel- italienischen Paterno ein Diplom Ottos III. für sich selbst. Der Kaiser bestätigte dem Markgrafen darin zahlreiche Besitzungen, die man in zwei Güterlisten unterteilte, und verlieh dafür die Immunität. Das Original die-

ser gut erhaltenen Kaiserurkunde wird heute im Staatsarchiv Turin auf- bewahrt'. Dort befand es sich schon, als man im letzten Viertel des

19. Jahrhunderts die Edition der Diplome Ottos III. im Rahmen der

Monumenta Germaniae Historica (MGH) vorbereitete. Man nahm die

Urkunde für den Turiner Markgrafen in die Edition auf und stufte sie als Original ein2. Trotzdem war das Diplom in den Augen der MGH-Edito-

ren mit verschiedenen Makeln behaftet. Es wurde vor allem deshalb von geringerer Qualität als andere ottonische Herrscherurkunden angesehen, weil es ohne Beteiligung eines �Kanzleinotars"

komplett von einem ande- ren Urkundenschreiber verfaßt und geschrieben worden war. Dessen Hand ließ sich nur dieses eine Mal in den Diplomen Ottos III. feststellen'.

Für die Diplomatiker um Theodor Sickel verbürgten jedoch nur jene Herrscherurkunden, die vollständig oder zumindest partiell von Kanz- leinotaren angefertigt worden waren, die volle Zuverlässigkeit des Inhalts. Demgegenüber hielten die Editoren die Diplome, die von der Empfänger-

seite bzw. von �Gelegenheitsschreibern" hergestellt wurden, insgesamt für

weniger-vertrauenswürdig. Zwischen diesen eingeschränkt zuverlässigen Dokumenten konstatierte man dann noch graduelle Unterschiede. Beim Diplom Ottos III. für den Markgrafen von Turin ließ sich nicht einmal

' Archivio di Stato di Torino, Diplomi imperiali, mazzo 1/1 No. 6. 2 Die Urkunden Otto des III., cd. TH. SICKEL (MGH DD 2/2,1893) Nr. 408 (D O. III.

408). 3DO. III. S. 841 Nr. 408: �Von unbekanntem Ingrossator mit Benützung eines verlore-

nen älteren Präcepts verfasst und geschrieben. "

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indirekt die Mitwirkung der kaiserlichen �Kanzlei"

feststellen; nur die

zeitgemäße Schrift und die Merkmale einer ordnungsgemäßen Beglaubi-

gung sprachen für dessen Originalität. Nach der Auffassung der Editoren

rangierte dieses Diplom damit am unteren Ende der Zuverlässigkeitsskala für Originale4. Deshalb zählte man es auch zu jenen Kaiserurkunden, die

vom Verfall und von der Auflösung der Kanzlei seit dem Jahre 1000 zeug- ten. Paul Fridolin Kehr drückte das in seinem Buch über die Urkunden Ottos III. wie folgt aus: �Dieser

überwiegende Antheil von privaten Dic-

tatoren und Ingrossatoren seit der Mitte des Jahres 1000 hatte naturgemäß ein fortwährendes Schwanken in den Formeln der Contexte wie der Pro-

tokolle zur Folge und hat den Urkunden aus dieser Zeit den Stempel der Regellosigkeit aufgedrückt. Er lässt uns erkennen, wie die feste Organisa-

tion der Kanzlei sich immer mehr lockerte. Das Bild, das uns die Urkun- den aus der letzten Zeit Otto III. bieten, ist das des Verfalles der Kanzlei,

und die sich auflösende Kanzlei bietet wiederum ein Bild des aus den Fugen gehenden Reiches dar"5.

Wie aber sah die ursprünglich �feste Organisation der Kanzlei" aus, die

sich nach Kehrs Meinung seit dem Jahre 1000 allmählich aufgelöst haben

soll? Im Zuge der Forschungen für die Editionen der ottonischen Herrscher-

urkunden hatten die Diplomatiker unter Führung von Theodor Sickel das Modell einer hierarchisch aufgebauten �Kanzlei" entwickelt. Die Struktur

von Behörden des 19. Jahrhunderts vor Augen gingen die Editoren von einer dreistufig (Erzkanzler-Kanzler-Notar) oder sogar vierstufig (Erz- kanzler-Kanzler-Diktator-Schreiber) gegliederten Kanzlei am ottonischen Herrscherhof aus. Sie rechneten mit relativ vielen Notaren, die unter der Aufsicht eines Kanzlers Herrscherurkunden verfaßten und schrieben. Die Kanzler selbst beteiligten sich ihrer Meinung nach nur ausnahmsweise an der

�niederen" Tätigkeit des Schreibens, die Erzkanzler hingegen niemals.

In der Regel hätten die Erzkanzler und Kanzler die Kunst der inhaltlichen

und graphischen Anfertigung von Königsurkunden überhaupt nicht beherrscht. Das wäre nach Ansicht der Editoren auch nicht erforderlich gewesen, denn die Erzkanzler und Kanzler hätten vorrangig politische und repräsentative Aufgaben wahrgenommen. Die Editoren der ottonischen Diplome einigten sich auf drei hauptsächliche Merkmale, mit deren Hilfe

sie �wirkliche" Kanzler von Notaren, die sie unter anderem als �subalter-

4 P. KEHR, Die Urkunden Otto III. (1890) S. 10 f. 5 KEHR, Urkunden Otto III. S. 82. 6 TH. SICKEL, Beiträge zur Diplomatik 7 (SB Wien 1879,93) S. 721 f.; KEHR, Urkunden

Otto III. S. 20-22.

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nes Personal" oder �Unterbeamte" der

�Kanzlei" einstuften, unterschie- den: Die �wirklichen" Kanzler beteiligten sich in der Regel nicht per- sönlich an der graphischen Anfertigung von Herrscherurkunden, sie stammten aus Adelsfamilien, und sie wurden nach ihrer Amtszeit am Herrscherhof Bischöfe oder Äbte'. Mit diesem Vorverständnis von einer hierarchisch strukturierten und wohlgeordneten �Kanzlei"

im Hinterkopf

edierten die Mitarbeiter der MGH im 19. und 20. Jahrhundert die Urkun- den von ottonischen und salischen Herrschern. Obwohl sie die Diktatoren

und Schreiber in funktionaler und sozialer Hinsicht als die unterste Stufe in ihrem Kanzlei-Modell betrachteten, schenkten sie ihnen bei der Beur- teilung der Diplome ihre Hauptaufinerksamkeit9.

Theodor Sickel hatte sich bekanntlich als erster dafür entschieden, die

namenlosen Schreiber der Herrscherurkunden mit Siglen zu versehen. Sie

wurden mit dem Namen des jeweils amtierenden Kanzlers und - entspre- chend der chronologischen Reihenfolge ihres Auftauchens in der urkund- lichen Überlieferung - mit Buchstaben des fortlaufenden Alphabets bezeichnet1'. Paul Kehr und Harry Bresslau sind ihm darin gefolgt. Aber

nicht alle Notare von ottonischen und salischen Diplomen erhielten von den Editoren Siglen. Die Entscheidung über die Vergabe einer Sigle erfolg- te auf der Grundlage von bestimmten Kriterien. Die Hervorhebung eines Notars durch eine Sigle beinhaltete eine qualitative Aussage: er gehörte zu den

�Kanzleinotaren". In ihnen sahen die Editoren

�ständige Mitglieder der Kanzlei", die sich mittel- oder längerfristig am Herrscherhof aufhiel- ten und dort in der zentralen Behörde des Reiches als Verfasser und Schreiber von Diplomen agierten". Sie galten als �ordentliche

Beamte der Reichskanzlei"12. Die Entscheidung darüber, wer zu den

�Kanzleinotaren" gehörte und wer nicht, war deshalb besonders wichtig, weil die Editoren die Schrift und das Diktat der

�Kanzleinotare" als ausschlaggebende Kri- terien für die Beurteilung der Urkunden benutzten. Überdies bestimmten die

�Kanzleinotare" nach Ansicht der Editoren das Niveau und die Nor-

7 KEHR, Urkunden Otto III. S. L f.; H. BRESSLAU, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien 1 (11912) S. 456 f.

8 SICKEL, Beiträge zur Diplomatik 7 S. 659-661. 9 KEHR, Urkunden Otto III. S. 7: �Es war ein fruchtbarer Gedanke und ein Fortschritt,

welcher der Diplomatik eine völlig neue Grundlage gab, daß Sickel nicht mehr den allgemei- nen Charakter der Schrift, sondern die Schrift des Individuums als das sicherste Kennzeichen der Originalität hinstellte (Gesetz der bekannten Hand). «

10 TH. SICKEL, Programm und Instructionen der Diplomata-Abtheilung, in: NA (1876) S. 458 f.

11 KEHR, Urkunden Otto III. S. 8-10. 11 Die Urkunden Heinrichs II. und Arduins, cd. H. BRESSLAU/H. BLOCH/R. HoL'IZ-

MANN/M. MEYER (MGH DD 3,1900-1903) S. XX f.

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men der Diplomherstellung im 10. und 11. Jahrhundert". Der höchste Organisationsgrad und die effektivste Arbeitsweise der zentralen Kanzlei

am Herrscherhof schienen Sickel, Kehr und Bresslau dann erreicht, wenn die Formeln und Wendungen in den Protokollen und Kontexten der Diplome gleich blieben und sich nicht veränderten. Überdies sollten mög- lichst viele Diplome von �Kanzleinotaren" angefertigt worden sein. Einen

solchen Idealzustand der �Kanzlei" sah Kehr in dem Jahrzehnt der

Regentschaft für Otto III. - also etwa zwischen 984 und 994 - nahezu erreicht: �Es gibt kaum einen stärkeren Gegensatz, als das Urkundenwe-

sen in den Jahren der vormundschaftlichen Regierung und in den Zeiten der selbständigen Herrschaft Otto III. Auf der einen Seite eine ruhige Ent-

wicklung, ein gewisses Maass von typischer Regelmässigkeit, stetes Fest- halten an den überlieferten Formen und eine wohlgeordnete Organisation der Kanzlei, auf der andern Seite zahlreiche Neuerungen, eine bunte Man-

nigfaltigkeit der Formeln, individuelle Besonderheiten und ein häufiger Wechsel der Notare. In den letzten Jahren nahm endlich der Antheil der

privaten und Gelegenheitsschreiber ausserordentlich zu"14. Nach der Auffassung der Editoren standen den

�Kanzleinotaren" am Herrscherhof vor allem die Verfasser und Schreiber gegenüber, die für die Empfängerseite wirkten. Diese Empfängernotare erhielten von den Edito-

ren keine Siglen. Die von ihnen angefertigten Urkunden beurteilte man von vornherein als zweitrangige Dokumente, deren Echtheit nicht zwei- felsfrei verbürgt sei". Wenn sich Diktat und Schrift dieser Empfängerpro- dukte nicht wenigstens teilweise einem �Kanzleinotar" zuordnen ließen, dann führten die Editoren in der Regel Personalmangel bzw. -wechsel oder Überlastung der ständigen Mitglieder der Kanzlei als Erklärungs-

varianten an16. Die Anfertigung von Herrscherurkunden durch die Emp-

11 KEHR, Urkunden Otto III. S. 8: �Es bedarf da keines Beweises mehr, dass diese Urkun-

den mit dem gleichen individuellen Schriftcharakter nur von einem Manne geschrieben sein können, welcher als Beamter der königlichen Kanzlei hiermit beauftragt war; und es folgt daraus, dass wir in ihnen unanfechtbare Originalausfertigungen der Kanzlei vor uns haben, deren übereinstimmende äussere Erscheinung uns zugleich lehrt, welche Merkmale zu dem Wesen der Originalität erforderlich sind. "

14 KEHR, Urkunden Otto III. S. 80 f. 'S Ebd. S. 10: �Darum

ist die genaue Scheidung von Kanzleinotar und Parteischreiber von grosser Wichtigkeit, weil in den Elaboraten der letzteren die Bürgschaft für die volle Zuver- lässigkeit des Inhalts geringer ist, als in denen der Kanzlei. "

16 KEHR, Urkunden Otto III. S. 27; Die Urkunden Heinrichs II. S. XVIII; Die Urkunden Konrads II. Mit Nachträgen zu den Urkunden Heinrichs II., unter Mitwirkung von H. WIBEL/A. HESSEL cd. H. BRESSLAU (MGH DD 4,1909) S. XVI; Die Urkunden Heinrichs III. edd. H. BRESSLAU/P. KEHR (MGH DD 5,1926-1931) S. XXVII; BRESSLAU, Handbuch S. 462.

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fängerseite konnte ihrer Meinung nach nur eine Ausnahme von der Regel

sein. Ohne Siglen blieben außerdem jene Notare, die nur vereinzelt oder in

großen zeitlichen Abständen an der Herstellung von ottonischen und sali- schen Herrscherurkunden mitwirkten. Man bezeichnete sie meistens als

�Gelegenheitsschreiber". Nach welchen Kriterien unterschieden die Editoren aber zwischen

�Kanzleinotaren" einerseits sowie den Empfänger- und Gelegenheitsno-

taren andererseits? Sie setzten einfach voraus, daß in der �Kanzlei" am

Herrscherhof - wie in einer modernen Behörde - immer viele Notare

gleichzeitig tätig waren. Deshalb verschoben besonders Sickel und Bress- lau die Grenze zwischen den Kanzleinotaren auf der einen sowie den Empfänger- und Gelegenheitsnotaren auf der anderen Seite extrem in Richtung der

�Kanzleinotare": Wenn ein Notar Diplome für mindestens

zwei verschiedene Empfänger anfertigte bzw. an deren Herstellung mit- wirkte, stuften sie ihn in der Regel als �Kanzleinotar" ein". Auf diese Weise arbeiteten scheinbar immer viele Notare in der

�Kanzlei" am Herr-

scherhof. Diese Praxis der Notarseinteilung dürfte dazu geführt haben, daß die Editoren den von ihnen bevorzugten

�Kanzleinotaren" zu viele überlieferte Herrscherurkunden zuordneten, den Anteil der Empfänger-

seite und den von Dritten jedoch zu gering veranschlagten. Dieser Ein- druck drängt sich auf, wenn man die Notare ottonischer und frühsalischer Urkunden auf der Grundlage eines anderen Hauptkriteriums differenziert.

Analysiert man die politisch-geographischen Wirkungsbereiche dieser Diplomnotare, dann reduziert sich die Zahl jener, die mittel- oder länger- fristig am Herrscherhof agierten, teilweise drastisch. Es waren immer nur einzelne von ihnen, die mit dem Herrscherhof durch die verschiedenen Gebiete des Reiches zogen und dabei Diplome für Empfänger aus ver- schiedenen Regionen anfertigten. Das waren zweifellos Hofgeistliche, die

sich als Diplomnotare betätigten. Eine zweite Gruppe von ihnen ist dadurch charakterisiert, daß sie die Herstellung von Diplomen für ver- schiedene Empfänger aus unterschiedlichen Gebieten ausschließlich wäh- rend des Herrscheraufenthaltes in ihrer Heimatregion übernahmen. Wenn der Hof weiterreiste, blieben sie zurück. Man könnte sie demnach als

�regionale Hofnotare" bezeichnen. Eine dritte Gruppe bilden jene Dik-

tatoren und Schreiber, die an der Urkundenherstellung für solche Desti-

natäre mitwirkten, die lediglich in einem bestimmten Gebiet beheimatet

waren. Die Arbeitsweise dieser regionalen Empfängernotare war also nur

17 TH. SICKE[., Beiträge zur Diplomatik 6 (SB Wien 1877,85) S. 361 f.; BRESSLAU, Hand- buch S. 414.

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auf Destinatäre in einer Landschaft ausgerichtet. Als vierte Gruppe kön-

nen die lokalen Empfängernotare angesehen werden: ihre Arbeit galt mehr oder weniger einem einzigen Destinatär. Zu der fünften und letzten Grup-

pe gehören all jene Diktatoren und Schreiber, die nur hin und wieder in der Überlieferung auftauchen und deren Tätigkeitsmerkmale keine Anhaltspunkte für die Zuordnung zu einer der vier anderen Gruppen bie-

ten. Sie können traditionell als �Gelegenheitsnotare" bezeichnet werden's.

Unterscheidet man die Verfasser und Schreiber von ottonischen und sali- schen Urkunden nach dem skizzierten Verfahren, dann reduziert sich die Gruppe der Hofnotare deutlich, während sich jene der Empfänger- und Gelegenheitsnotare entsprechend vergrößert. Das hat wiederum Auswir- kungen auf die diplomatische Beurteilung der Herrscherurkunden, die auf diese Weise differenzierter erfolgen muß als nach der extremen Auslegung

zugunsten der sogenannten Kanzleinotare durch Theodor Sickel und Harry Bresslau.

Daß die ottonischen Diplome aus dem 10. Jahrhundert zum traditionel- len Kanzlei-Modell zu passen schienen, hing u. a. damit zusammen, daß

mit den Editionen der Urkunden Konrads I., Heinrichs I. und Ottos I. für

nordalpine Empfänger begonnen worden war. Wahrscheinlich verfaßten überwiegend Hofgeistliche Diplome Heinrichs I. und Ottos I. für Emp- fänger in Franken, Sachsen und Thüringen. Hätten die Editoren ihre Untersuchungen beispielsweise mit den ottonischen Urkunden für Desti- natäre in Italien begonnen, dann wäre ihr Modell möglicherweise etwas anders ausgefallen. So aber versuchten Sickel19 und Bresslau20 ihre Vorstel- lung von der straff organisierten �Kanzlei" auch auf die Diplome für

südalpine Empfänger zu übertragen. Das führte dazu, daß sie bei diesen Herrscherurkunden - trotz der von ihnen extrem erweiterten Gruppe der

�Kanzleinotare" - häufig keine �Kanzleiausfertigungen" sowie Abwei-

chungen von den Normen und Regeln der �Kanzlei"

konstatieren muß- ten. Oft stützte dann eine bekannte Vorurkunde, die bei der Herstellung des neuen Diploms als Vorlage benutzt worden war, die Einstufung als

18 W. HUSCHNER, Transalpine Kommunikation im Mittelalter. Diplomatische, kulturelle

und politische Wechselwirkungen zwischen Italien und dem nordalpinen Reich (9. -11. Jahr- hundert) (MGH Schriften 52/1-3,2003) 1 S. 48-62.

19 TH. SICKEL, Erläuterungen zu den Diplomen Otto II. (MIÖG Erg. -Bd. 2,1888) S. 102- 103; DERS., Erläuterungen zu den Diplomen Otto III. (MIÖG 12,1891) S. 218-231; Die Urkunden Konrad I., Heinrich I. und Otto I., ed. TH. SICKEL (MGH DD 1,1879-1884) S. 84,86 f.; Die Urkunden Otto II., ed. TH. SICKEL (MGH DD 2/1 1888) S. 2 f.; Die Urkun- den Otto III., cd. TH. SICKEL (MGH DD 2/2 1893) S. 386a-389b.

20 Die Urkunden Heinrichs II. S. XXI, XXV f.; Die Urkunden Konrads II. S. XVI-XVIII; BRESSLAU, Handbuch S. 441,468-475.

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Original". Die erneute Untersuchung von ottonischen und frühsalischen Originalurkunden für Empfänger in Italien führte in vielen Fällen zu anderen Resultaten als seinerzeit bei den Editoren. Von diesen Ergebnissen

seien im Folgenden einige kurz vorgestellt. Unter den Diplomen für italienische Empfänger existieren in relativ

geringem Umfang drei �reine"

Formen: die vollständige inhaltliche und graphische Anfertigung der Urkunden durch Hofgeistliche 22, die vollstän- dige Diplomherstellung - mit Ausnahme des Siegels - durch die Empfän-

gerseite23, die vollständige Urkundenanfertigung - bis auf das Siegel - von dritter Seite24. Die weitaus meisten Diplome für Destinatäre in Italien stel- len jedoch vielfältige Mischformen dieser drei

�reinen" Varianten dar. Besonders bei den Mischformen ist es wichtig, möglichst genau zu bestim-

men, welche Seite für die einzelnen Urkundenbestandteile inhaltlich und graphisch verantwortlich war. Vor allem bei den Herrscherurkunden für bischöfliche Kirchen in Italien überwiegt zumeist der Anteil der Empfän-

gerseite an der inhaltlichen und der graphischen Herstellung der gesamten Urkunde. Die Bischöfe oder ihre Boten transportierten die komplett

geschriebenen Diplome an den Herrscherhof und ließen sie dort nur noch besiegeln. Oder sie brachten ein leeres, aber zur Beschriftung vorbereitetes Pergament mit und ließen das jeweils gültige Herrschermonogramm und eventuell noch die dazu gehörige Signumzeile von einem Hofgeistlichen

eintragen. Alles Übrige übernahm dann ein Empfängernotar. Manchmal

stammen die Rekognitionszeile oder die Datierung oder beide sowie die

erste Zeile in verlängerter Schrift von einem Hofgeistlichen, alle anderen Urkundenteile wurden von der Empfängerseite erledigt.

Den hohen Anteil der Empfängerseite an der Gestaltung der Herrscher-

urkunden konstatierte um 1935 auch Paul Kehr bei seinen Editionen der

ostfränkischen Karolingerurkunden des 9. Jahrhunderts, insbesondere in bezug auf die Regierungszeit Karls III. Da die Zahl der tradierten Diplo-

me Karls III. für Destinatäre in Italien nicht übermäßig groß war, erklärte Kehr den hohen Empfängeranteil zunächst damit, daß die aus Schwaben stammenden �Kanzleinotare" mit dieser Aufgabe nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ überfordert gewesen seien. Die höher entwickel-

21 Vgl. u. a. die Vorbemerkungen zu den DD O. I. 241a, b, 270,273,348; DD O. II. 254a, b, 273; DD 0. III. 217,221,265,281,288,342,400,413,414,419; DD H. II. 284,303,310, 337,399,400,425,435,464,469,470,472,478,508.

22 Vgl. u. a. DD O. I. 352,356,360,396; DD O. 11.212,231,263,287,317; DD O. III. 200, 202,219,375,415; DD H. 11.276,294.

23 Vgl. u. a. DD O. I. 241a, b, 273,348; DD O. II. 254a, b, 273; DD O. III. 217,265,281, 400,413,419; DD H. II. 297,310,314,337,400,508.

24 Vgl. u. a. DD 0.111.224,236,423; D H. 11.183.

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ten und viel komplizierteren Rechtsverhältnisse Italiens, die den schwäbi- schen Notaren unbekannt gewesen wären, hätten eine stärkere Mitarbeit der Empfängerseite bei der Diplomanfertigung erfordert. Bei der Untersu-

chung der Diplome Karls III. für westfränkische Empfänger stellte Kehr dann erstaunt fest, daß sie - ebenso häufig wie Diplome für italienische Destinatäre - vollständig oder partiell von der Empfängerseite realisiert worden waren. In bezug auf Italien und auf das westfränkische Reich war die Anfertigung der Diplome Karls III. durch die Empfängerseite die Regel und jene durch

�Kanzleinotare" die Ausnahme. Dies veranlaßte

Kehr mehr als vierzig Jahre nach seiner Arbeit an den Diplomen Ottos III.

zu der Annahme, daß diese Art der Diplomherstellung unter den Bedin-

gungen eines mehr oder weniger permanent reisenden Herrscherhofes die

praktikabelste und wohl auch einzig mögliche Lösung dargestellt habe. Das Kriterium der

�Kanzleimäßigkeit" könne für die Beurteilung dieser

Diplome überhaupt nicht zugrunde gelegt werden. Kehr beendete seine Abhandlung über die

�Kanzlei" Karls III. mit der bemerkenswerten Fest-

stellung, daß das von Sickel, Bresslau und früher von ihm selbst propa- gierte Modell einer hierarchisch strukturierten und effektiv organisierten Kanzlei am Herrscherhof für Italien und das westfränkische Reich nicht zutreffe25.

Der hohe Anteil von Empfänger- und Gelegenheitsnotaren bei der Diplomherstellung für südalpine Destinatäre, den Kehr für das 9. Jahr- hundert konstatierte, ist ebenso im 10. und 11. Jahrhundert zu verzeich- nen. Am Hofe Kaiser Ottos III. löste sich deshalb auch keine einstmals gut funktionierende

�Kanzlei" auf, sondern nur das Modell, das sich die MGH-Editoren vorgestellt hatten. Eine hierarchisch organisierte �Kanz- lei" hat an den ottonischen und frühsalischen Herrscherhöfen wohl nie bestanden. Es gab nur einen Hofgeistlichen, der als Kanzler fungierte, und einen Erzkanzler; beiden unterstanden aber keine

�subalternen" Diktato- ren und Schreiber. Für die wenigen Diplome, die durchschnittlich pro Monat vergeben wurden, reichte ein Hofgeistlicher völlig aus. Er hätte sich daneben bequem noch anderen Aufgaben widmen können. Überdies

erfolgte die Diplomherstellung meistens im Zusammenspiel zwischen Geistlichen der Empfängerseite, des Hofes und möglicherweise einer drit-

25 P. KEHR, Die Kanzlei Karls III. (1936) S. 36,39--49; S. 49: �Für die diplomatische Kritik

sind diese Beobachtungen um so wichtiger, als sie uns nötigen, die von unseren bewährten Vorgängern überkommenen Lehrsätze über Originalität und Echtheit zu revidieren. Von der berühmten These von der, bekannten Hand', die einst zur Anerkennung der Originalität gefordert wurde, kann schon lange keine Rede mehr sein ... Und ebenso läßt uns das Postu- lat der Kanzleimäßigkeit' jetzt immer öfter im Stich. "

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Die ottonische Kanzlei in neuem Licht 361

ten Seite. Dies läßt sich an der großen Zahl von verschiedenen Schreibern

ablesen, die in der urkundlichen Überlieferung erscheint. Unter den gege- benen infrastrukturellen Bedingungen könnte es dem Herrscher und sei- nen Ratgebern am Hof als die ideale Verfahrensweise erschienen sein, wenn die potentiellen Empfänger zusammen mit den Vorurkunden gleich noch die neuen Diplome weitgehend fertig vorlegten, so daß nur noch die Siegel oder bestimmte Protokollteile hinzuzufügen waren. Dies würde der Vorstellung von Kehr entsprechen, die er nach der Untersuchung der Diplome Karls III. vertrat26. Aber waren es wirklich nur praktische Grün- de, die in Italien zur überwiegenden Diplomherstellung durch Empfänger-

und Gelegenheitsnotare führten? Die Diplome waren keine

�normalen" Verwaltungsschriftstücke, die

eine zentrale Behörde produzierte. Sie ragten innerhalb der urkundlichen Überlieferung schon allein durch ihre äußeren Merkmale deutlich hervor. Für sie wählte man in der Regel viel größere Pergamente als für andere Dokumente. Außerdem gestaltete man sie seit dem 9. Jahrhundert mit besonderen Schriftarten und speziellen graphischen Zeichen. Sie sollten neben der Rechtssicherung ebenso der Repräsentation 27 und symbolischen Kommunikation2ß dienen. Diplome waren sowohl äußerlich als auch inhaltlich außergewöhnliche Dokumente. Sie regelten die Beziehungen

zwischen den Herrschern einerseits und den geistlichen und weltlichen Großen andererseits und spiegelten damit die Verbindungen zwischen den

sozialen Spitzen der Gesellschaft wider, die gemeinsam das Reich bildeten

und trugen. Wer kümmerte sich nun aber um die Anfertigung dieser hochrangigen

Dokumente? Vertraute man deren Herstellung tatsächlich �subalternen Beamten" am Herrscherhof oder dem

�niederen Personal" an den Emp-

26 KEHR, Kanzlei Karls III. S. 43. 27 Die repräsentativen Funktionen der Herrscherurkunden sind im vergangen Jahrzehnt

besonders von Peter Rück und seinen Schülern hervorgehoben worden. Vgl. u. a. P. RüCK, Die Urkunde als Kunstwerk, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens

um die Wende des ersten Jahrtausends, hg. v. A. VON EuN/P. SCHREINER (1991) 2 S. 311- 333; DERS., Bildberichte vom König. Kanzlerzeichen, königliche Monogramme und das Sig-

net der salischen Dynastie (elementa diplomatica 4,1996); I. FEES, Zum Format der Kaiser-

und Königsurkunden von der Karolingerzeit bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, in: Arbei- ten aus dem Marburger hilfswissenschaftlichen Institut, hg. v. E. EISENLOHR/P. WORM (ele-

menta diplomatica 8,2000) S. 123-132 sowie den Beitrag von P. WORM in diesem Bd. 28 Vgl. besonders H. KELLER, Zu den Siegeln der Karolinger und der Ottonen. Urkunden

als `Hoheitszeichen' in der Kommunikation des Königs mit seinen Getreuen, in: FmSt 32 (1998) S. 400-141; DERS., Oddo Imperator Romanorum. L'idea imperiale di Ottone III alla luce dei suoi sigilli e delle sue bolle, in: Italia et Germania. Liber Amicorum Arnold Esch, hg.

v. H. KELLER/W. PARAVICINIAV. SCHIEDER (2001) S. 163-184.

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fängersitzen an? Vor allem die modernen Forschungsresultate zur Bil- dungsgeschichte29, zur Kommunikation des Herrschers mit den Großen des Reiches30 und zur Schriftkultur erforderten eine erneute Untersuchung der Diplome unter diesem Aspekt. Ich nenne im Folgenden einige For-

schungsergebnisse zur Schriftkultur, die für mein heutiges Thema relevant

sind. Im Unterschied zum nordalpinen Reich existierte in Italien während des

10. und 11. Jahrhunderts eine ausgeprägte Subskriptionskultur, die man besonders in den tradierten Gerichtsurkunden studieren kann. Armando Petrucci, der die autographen Unterschriften der Placita vom ausgehenden B. bis zum beginnenden 11. Jahrhundert untersucht hat, stellte fest, daß die

Subskribenten ihre soziale Stellung nicht nur durch eine entsprechende Position in der Unterschriftsliste, sondern auch durch die Größe und die Form der Schrift repräsentieren wollten. Dafür bedienten sich Bi-

schöfe und hohe Kleriker häufig der diplomatischen Minuskel oder einer Mischung aus diplomatischer Minuskel und Elongatae. Die weltlichen Großen Italiens leisteten ihre Unterschriften mit Majuskeln oder mit soge- nannten �laikalen«

Minuskeln. Die Pfalznotare und Pfalzrichter verwen- deten eine eigene spezielle Form der Urkundenschrift". Weitere Recher-

chen haben ergeben, daß im 10. Jahrhundert u. a. die Bischöfe Hubert (960-980) und Sigefred II. (980/81-1031) von Parma, Wido von Pavia (984-1007), Sigefred von Piacenza (997-1031)32 und Sichelmus von Flo-

renz (966-972? )33 sowie im 11. Jahrhundert die Bischöfe Warin (1003- 1020)34 und Ingo (1023/24-1027)35 von Modena, Heinrich (1014/15-1027), Hugo (1027-1045) und Cadalus (1045-1072)36 von Parma in Form der diplomatischen Minuskel bzw. unter Verwendung von Charakteristika der Urkundenschrift subskribierten 37.

29 Vgl. HUSCHNER, Transalpine Kommunikation 1 S. 27-30. 30 Vgl. K. LEYSER, Ritual, Zeremonie und Gestik. Das ottonische Reich, in: FmSt 27

(1993) S. 1-26; H. WENZEL, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter (1995); G. ALTHOFF, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde (1997); DERS., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mit-

telalter (2003) besonders S. 68-135. 31 A. PETRUCCI/C. ROMEO, Scriptores in urbibus. Alfabetismo e cultura scritta nell'Italia

altomedievale (1992) S. 195-236. 32 HUSCHNER, Transalpine Kommunikation 3 Abb. 4a (Hubert), 20a (Wido), 20b (Sige-

fred von Piacenza), 100 (Sigefred von Parma). 33 Archivio Capitolare di Arezzo, Badia di SS. Fiora e Lucilla Nr. 13,967 giugno 12. 34 HUSCHNER, Transalpine Kommunikation 3 Abb. 21. 3s Archivio Capitolare di Modena, B. 14. XLVII, 1027 gennaio. 36 HUSCHNER, Transalpine Kommunikation 3 Abb. 22 (Heinrich), 23 (Cadalus), 81a, b

(Hugo). 37 Weitere Beispiele bei HUSCHNER, Transalpine Kommunikation 1 S. 144-146.

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Die ottonische Kanzlei in neuem Licht 363 Da Heinrich und Hugo von Parma Kanzler und Hubert von Parma

Erzkanzler für Italien waren'8, ist eines der wichtigsten Axiome der älte- ren diplomatischen Forschung, wonach die Kanzler und die Erzkanzler die Urkundenschrift überhaupt nicht beherrscht hätten, in Zweifel zu zie- hen. Damit wird zugleich ein zweites Axiom der älteren Diplomatiker in Frage gestellt, wonach sich die Kanzler nur ausnahmsweise und die Erz- kanzler niemals dazu herabgelassen hätten, Herrscherurkunden mit eige- ner Hand zu schreiben. Die Überprüfung der Diplomnotare südalpiner Provenienz, die Anfang des 11. Jahrhunderts unter Heinrich II. und Kon- rad II. agierten, ergab in mehreren Fällen graphische Übereinstimmungen

mit bischöflichen Subskriptionen. Die tradierten Unterschriften Bischof Heinrichs von Parma korrespondieren mit der Schrift jenes überregiona- len Hofnotars, den die Editoren mit der Sigle Heinrich A bezeichnet hat-

ten. Die Subskriptionen des Bischofs Hugo von Parma passen zur diplo-

matischen Minuskel des überregionalen Hofnotars mit der Sigle Hugo A39 Das bedeutet, die Kanzler persönlich verfaßten und schrieben Diplome

Heinrichs II. und Konrads II. Sie waren es, die als Hauptnotare am Herr- scherhof wirkten. In der älteren Forschung erklärte man das Phänomen, daß mit einem neuen Kanzler zugleich auch ein neuer Schreiber in der Überlieferung auftauchte, in der Regel damit, daß der neue Kanzler sich seinen eigenen Ingrossisten mitgebracht oder sich einen neuen Schreiber

gesucht habe. Nach den genannten neuen Resultaten muß man wohl eher davon ausgehen, daß sich der neue Kanzler sogleich persönlich an der inhaltlichen und graphischen Herstellung von Herrscherurkunden betei- ligte. Die systematische Überprüfung aller Hofnotare südalpiner Proveni-

enz zwischen 951 und 1056 führte zu dem Resultat, daß auch der Kanzler Ambrosius unter Otto I., der spätere Bischof von Bergamo, 'als überregio- nal agierender Diplomnotar (Italiener D) am Kaiserhof fungierte". Außer- dem spricht eine ganze Reihe von Argumenten dafür, daß der Kanzler Johannes (980-982) unter Otto II., der sehr wahrscheinlich zum Erz- bischof von Ravenna aufstieg, mit dem überregionalen Hofnotar

�Italiener H" gleichgesetzt werden kann". Deshalb ist wohl allgemein davon auszu- gehen, daß die Kanzler in der Regel mit einem der überregionalen Hof- notare in ihrer Amtszeit identisch waren.

as Vgl. BRESSLAU, Handbuch S. 441,471 f. 39 HUSCHNER, Transalpine Kommunikation 2 S. 820-828. 40 Ebd. 1 S. 113 f. - 41 W. HUSCHNER, Erzbischof Johannes von Ravenna (983-998), Otto II. und Theophanu,

in: QFIAB 83 (2003) S. 9-17.

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364 Wolfgang Huschner

Ottonische Herrscherurkunden wurden jedoch nicht nur von den Kanzlern, sondern offenbar auch von Erzkanzlern persönlich verfaßt und geschrieben. Die tradierten Subskriptionen Bischof Huberts von Parma, der als Erzkanzler Ottos I. und Ottos II. fungierte42, wurden in einer Kombination aus diplomatischer Minuskel und verlängerter Schrift ausge- führt. Sie weisen markante Übereinstimmungen mit der Schrift jenes otto- nischen Diplomnotars auf, dem die Editoren die Sigle

�Italiener B"

gaben43. Die deutlichen Übereinstimmungen zwischen den bischöflichen Subskriptionen und der Urkundenschrift des Italieners B waren auch schon Theodor Sickel aufgefallen. Aufgrund des von ihm entwickelten Modells von einer hierarchisch strukturierten Kanzlei vermochte er sich aber nicht vorzustellen, daß der Erzkanzler persönlich zur Feder gegriffen haben könnte. Sickel betrachtete den Diplomnotar deshalb als eine Art

persönlichen Sekretär des Bischofs, der die repräsentativen Subskriptionen für seinen Herrn in den Gerichtsurkunden ausführte44. Eine solche Inter-

pretation erscheint aus heutiger Sicht problematisch. Vor allem durch die Forschungen über die Subskriptionen ist nun bekannt, daß viele geistliche Große Italiens zwei Schriftarten beherrschten: die Buchschrift und die Urkundenschrift45. Demnach können nicht nur die Kanzler und die Erz- kanzler am Kaiserhof, sondern alle Bischöfe, die ihre Subskriptionen in Form der diplomatischen Minuskel leisteten, als potentielle Schreiber von Herrscherurkunden gelten.

Wenn man bedenkt, daß im schriftkulturell vergleichsweise hochent- wickelten Italien - wo rein schreibtechnisch sicher Alternativen bestanden hätten - ranghohe Geistliche persönlich Herrscherurkunden verfaßten und schrieben, dann stellt sich natürlich die Frage, wer diese Aufgabe nördlich der Alpen erfüllte. Existierte dort eine königliche Kanzlei, in der

�subalterne Ingrossisten" die ottonischen und salischen Diplome unter der

Aufsicht von Kanzlern anfertigten, die selbst nicht schreiben konnten? Das ist wohl nicht anzunehmen. Leider gab es nördlich der Alpen keine

solche Subskriptionskultur wie in Italien. Deshalb sind paläographische Vergleiche nur selten möglich. Es sprechen jedoch mehrere Indizien dafür, daß zumindest auch Kanzler nordalpiner Herkunft persönlich ottonische und salische Diplome schrieben. Ebenso wie in Italien dürfte in der Regel

ein überregionaler Hofnotar mit dem jeweiligen Kanzler identisch gewe-

4z Vgl. BRESSLAU, Handbuch S. 441,468. 43 HUSCHNER, Transalpine Kommunikation 1 S. 101-110. 44 TH. SICKEL, Das Privilegium Otto I. für die Römische Kirche vom Jahre 962 (1883) S.

31. 45 Vgl. PETRUCCI/ROMEO, Scriptores in urbibus S. 235 f.

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Die ottonische Kanzlei in neuem Licht 365

sen sein. Die Überlieferung ermöglicht immerhin, vereinzelt auch graphi- sche Argumente für diese These heranzuziehen. In dem original überlie- ferten Protokoll der Frankfurter Synode vom 1. November 1007 findet

sich eine bemerkenswerte Subskription des Erzbischofs Willigis von Mainz. Willigis hatte die Synode als Metropolit von Mainz und als Stell-

vertreter des Papstes im nordalpinen Reich geleitet46. Seinem Rang ent- sprechend positionierte Willigis seine ausführliche Unterschrift an der Spitze der Subskriptionsliste. Außerdem führte er sie in flüssiger diploma-

tischer Minuskel aus47. Wenn der ranghöchste Kirchenfürst im nordalpi- nen Reich seine herausragende Position persönlich mit Hilfe der diploma- tischen Minuskel ausdrückte, dann darf man wohl davon ausgehen, daß

auch andere geistliche Große nordalpiner Herkunft es nicht unter ihrer Würde ansahen, die Urkundenschrift zu erlernen und zu verwenden.

Willigis von Mainz hatte in der Regierungszeit Kaiser Ottos II. als Kanzler für das nordalpine Reich gewirkt. Die Überprüfung aller Diplom-

notare, die während seiner Amtszeit agierten, ergab, daß die Schrift des Notars Willigis B mit jener der erzbischöflichen Subskription von 1007 markante Übereinstimmungen aufweist. Hinzu kommt, daß Willigis B ein überregionaler Hofnotar war; er reiste mit dem Kaiserhof durch die ver- schiedenen Gebiete des Reiches und wirkte an der Herstellung von Herr-

scherurkunden für Destinatäre aus vielen verschiedenen Regionen mit. Willigis B war sozusagen der hauptsächliche kaiserliche Diplomnotar in der Amtszeit des Kanzlers Willigis. Die identifizierten Kanzler für Italien hatten ebenfalls als überregionale Hofnotare gewirkt. Demnach rechtferti- gen es beide Gesichtspunkte - das geographische Tätigkeitsprofil von Wil- ligis B und die korrespondierenden Schriftmerkmale -, den Diplomnotar Willigis B und den Kanzler Willigis gleichzusetzen48.

Es soll jedoch nicht behauptet werden, daß nur amtierende oder künfti-

ge Bischöfe die ottonischen und frühsalischen Herrscherurkunden verfaßt und geschrieben hätten. Die Subskriptionslisten italienischer Urkunden aus dem 10. und 11. Jahrhundert belegen, daß es außer den Bischöfen vor allem Domherren waren, die ihre Unterschriften, in Form der diplomati-

schen Minuskel leisteten. Wie eine Subskriptionsliste der Mailänder Geist- lichen von 963 zeigt, beherrschten nicht alle, aber eine ganze Reihe von ihnen die Urkundenschrift49. In einer Urkunde des Bischofs Sigefred von

46 Vgl. H. WOLTER, Die Synoden im Reichsgebiet und in Reichsitalien von 916-1056 (Konziliengeschichte Reihe A, 1988) S. 237-241.

47 HUSCHNER, Transalpine Kommunikation 1 S. 165,3 Abb. 27. 48 Ebd. 1 S. 161-168. 41 Ebd. 3 Abb. 24a-d.

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Piacenza aus dem Jahre 1000 benutzten neben dem Bischof auch der Erz-

priester, der Erzdiakon und der Propst die diplomatische Minuskel für ihre Subskriptionen. In Parmeser Urkunden des beginnenden 11. Jahr- hunderts unterschrieben außer dem Bischof vor allem der Erzpriester und der Erzdiakon sowie verschiedene Diakone in Form der diplomatischen Minuskelso

Die inhaltliche und graphische Herstellung von Königs- und Kaiserur- kunden blieb offenbar nur hochrangigen Geistlichen vorbehalten. Selbst in

solchen Situationen wie im Februar/März 1038, als sich nachweislich

�Pfalznotare"51 am Kaiserhof in der nördlichen Toskana aufhielten und Gerichtsurkunden schrieben52, übernahmen nicht sie, sondern Geistliche die Anfertigung der Diplome für die Aussteller- und Empfängerseite53. Bisher ist es nicht gelungen, einen �Pfalznotar" als Schreiber eines ottoni- schen oder frühsalischen Diploms nachzuweisen 54. Die Herstellung der Königs- und Kaiserurkunden war für den Kreis der ranghohen Geistlichen

reserviert. Die ottonischen und frühsalischen Diplome wurden deshalb

wohl nie von sozial und funktional �niedrig" stehenden Personen herge-

stellt. Die Anfertigung dieser außergewöhnlichen Dokumente übernah- men vielmehr ranghohe und entsprechend gebildete Geistliche. Unter ihnen befanden sich amtierende und künftige Äbte, Bischöfe und Erz- bischöfe. Sie wirkten sowohl für die Aussteller- als auch für die Empfän- gerseite als Verfasser und Schreiber der Herrscherurkunden. Hochrangige Geistliche realisierten die Diplomanfertigung aber auch für Dritte sowie für sich selbst bzw. für die eigene Kirche.

Eine wichtige Konsequenz dieser Forschungsergebnisse besteht darin, die Diplome nicht mehr nur als Akte des Herrschers zu beurteilen. Sie waren vielmehr zwei- oder mehrseitige Dokumente, die sowohl den Herr- scher als auch die Großen des Reiches betrafen. Dieser mehrseitige Cha- rakter der Herrscherurkunden spiegelt sich - zumindest in Italien - häufig in den Formen ihrer inhaltlichen und graphischen Ausführung wider. Des- halb sollten die Diplome künftig auch aus dem Blickwinkel jener rang- hohen Geistlichen beurteilt werden, die sie für die verschiedensten Seiten

so Ebd. 1 S. 145 f. 11 Zur Diskussion über die

�Pfalznotare" in Italien vgl. A. MEYER, Felix et inclitus notari-

us. Studien zum italienischen Notariat vom 7. bis zum 13. Jahrhundert (Bibl. des Deutschen Historischen Instituts Rom 92,2000) S. 77 f., 81-83.

52 I placiti del �Regnum Italiae" 3/1 ed. C. MANARESI (FSI 97^-, 1960) Nr. 348-351.

53 Die Urkunden Konrads II. Nr. 260-262. 54 F. BOUGARD, La justice dann le royaume d'Italie de Ia fin du VIII` siecle au debut du XI°

siecle (Bibl. des Ecoles FranAaises d'Athi nes et de Rome 291,1995) S. 280-305; MEYER, Felix S. 87-96.

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Die ottonische Kanzlei in neuem Licht 367

anfertigten. Die politischen Aussagen über den Charakter des König- oder Kaisertums in den Eingangs- und den Schlußprotokollen, die Arengen, die Präsentation der Intervenienten und Petenten, die Formeln der Kontexte

und der Protokolle können nicht einfach dem Herrscher oder einem Emp- fänger persönlich zugeschrieben werden. Vielmehr entschieden die rang- hohen und hochgebildeten Diplomnotare meistens in eigener Regie da-

rüber, wie sie den Herrscher, die Herrscherin und die beteiligten Großen darin präsentierten. So spiegeln die Diplome zunächst einmal die Deutun-

gen der jeweiligen Verfasser und Schreiber vom König- oder Kaisertum

wider". Dabei waren sie in der Regel Vermittler jenes Gedankenguts, das innerhalb der geistlichen und intellektuellen Führungsgruppen zirkulierte. Man muß überdies davon ausgehen, daß zwischen den Hofgeistlichen ein Austausch über Deutungs- und Protokollfragen sowie über andere theo-

retische Probleme erfolgtest Trotzdem war der individuelle Spielraum der hochrangigen Diplomno-

tare teilweise relativ groß. Ein markantes Beispiel dafür stellt die berühm-

te Titulatur für Otto III. dat57, die im. Verlauf des Jahres 1000 nur in jenen Kaiserurkunden erscheint, an deren Herstellung Heribert C direkt oder indirekt mitwirkte. Dieser Diplomnotar darf auch als ihr Initiator gelten58. Inwieweit die Herrscher sich persönlich mit den Titulaturen identifizier-

ten, die man ihnen in den Diplomen gab, läßt sich nur in Einzelfällen, vor allem anhand von eigenhändigen Subskriptionen59, feststellen. Die Auf-

gabe, rechtlich verbindliche und zugleich repräsentative Diplome im Namen des jeweiligen Herrschers herzustellen, übernahmen Geistliche der Aussteller- oder der Empfängerseite. Denn selbstverständlich wußten sie, daß die Urkunden im Rahmen einer Öffentlichkeit - sei es am Hof oder am Empfängersitz - gezeigt und verlesen werden würden. Sie bedachten

von vornherein die audiovisuelle Wirkung, welche die Diplome in einem größeren Kreis erzielen sollten. Deshalb achteten sie bei deren Anferti-

gung genau auf die inneren und äußeren Merkmale sowie auf deren sinn-

II HUSCHNER, Transalpine Kommunikation 2 S. 930-937. 56 Vgl. jüngst F. -R. ERKENS, Gebildete Höflinge und ungebildeter König. Gedanken über

den Hof Konrads II., in: Bayerische Geschichte/LG in Bayern. Festgabe für Alois Schmid, hg. v. K. ACKERMANN/H. Ruh1SCHÖTtEL (ZBLG 68,2005) S. 312-326.

57 Vgl. z. B. D O. III. 375: Otto tercius servos Jesu Christi et Romanorum Imperator augu- stus secundum voluntatem dei salvatoris nostrique liberatoris.

ss Vgl. HUSCHNER, Transalpine Kommunikation 1 S. 375-378. sv Vgl. W. SCHLÖGL, Die Unterfertigung deutscher Könige von der Karolingerzeit bis

zum Interregnum durch Kreuz und Unterschrift. Beiträge zur Geschichte und zur Technik der Unterfertigung im Mittelalter (Münchener Historische Studien, Abt. Geschichtliche Hilfswissenschaften 16,1978).

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volle Verbindung. Außerdem läßt sich konstatieren, daß Elongata und diplomatische Minuskel als Auszeichnungschriften nicht nur für die Sphä- re des Herrschers reserviert waren. Sie dienten ebenfalls zur Repräsentati- on der geistlichen Großen, was man sowohl an den entsprechenden Sub- skriptionen als auch an der graphischen Gestaltung von bischöflichen Urkunden60 sehen kann.

Besonders die Kanzler scheinen darauf geachtet zu haben, daß sie in den Herrscherurkunden in graphischer Hinsicht angemessen dargestellt wur- den. Bischof Kadeloh von Naumburg, Kanzler für Italien unter Konrad II. und Heinrich 111.61 , entwarf für sich ein individuelles Namen- und Titel- Monogramm, das analog zum Herrschermonogramm in den Eschatokol- len plaziert wurde. In einer Schutzurkunde König Heinrichs III. für das Kloster San Miniato al Monte zu Florenz sorgte er dafür, daß in der gesamten Urkunde nur zwei Namen in hoch aufragender Elongata ausge- führt wurden: jener des Königs Heinrich in der ersten Zeile sowie sein eigener in der Rekognition62. Nicht nur die verbale, sondern auch die gra- phische Darstellung der Herrscher wurde durch ranghohe Geistliche in Form der exklusiven Auszeichnungsschriften in den Königs- und Kaiser- urkunden realisiert, die sie aber auch für die eigene Repräsentation ver- wendeten. In welchen konkreten Formen sie die Herrscher graphisch und verbal präsentierten, hing häufig davon ab, welche Positionen die Geistli- chen, die sich als Diplomnotare betätigten, im Herrschaftsverband einnah- men. Je nachdem, ob sie zum Kaiser- bzw. Königshof oder zur Empfän- gerseite gehörten oder eine dritte Seite - jene des Vermittlers - repräsentierten, konnte die Herrscherdarstellung in den Diplomen ganz unterschiedlich ausfallen63

Kehren wir deshalb noch einmal zu dem Diplom Ottos III. für den Markgrafen von Turin aus dem Jahre 1001 zurück. Dessen Notar taucht unter Otto III. nur dieses eine Mal auf. Er erscheint aber wenige Jahre spä- ter als Verfasser und Schreiber von Diplomen König Arduins von Ivrea. Deshalb betrachtet man ihn in der Forschung als einen Geistlichen, der dem Markgrafen von Turin nahe stand64. Dieser 1001 für die Empfänger- seite tätige Notar beschränkte sich bei der Präsentation Kaiser Ottos III.

60 Vgl. z. B. die schon mehrfach erwähnte Urkunde des Bischofs Sigefred von Piacenza aus dem Jahre 1000 oder Urkunden von Parmeser Bischöfen aus der ersten Hälfte des 11. Jahr- hunderts.

61 BRESSLAU, Handbuch S. 473 f. 62 HUSCHNER, Transalpine Kommunikation 3 Abb. 91a-c, 93. 63 Ebd. 2 S. 935-937. 6" Vorbemerkung zum D Arduins S. 706 Nr. 6.

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ttonische Kanzlei in neuem Licht

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Abb. 1: 1) 0. Ill 438: Paterno, 11 Juli 31. Turin, Staatsarchiv, Diplomi imperiali, mazzo 1/1, Nr. 6

graphisch und verbal auf das Nötigste. Er beteiligte sich nicht an den gra- phischen Hervorhebungen des Herrschernamens in den Eingangs- oder den Schlußprotokollen, die zu jener Zeit besonders von den Hofnotaren

vorgenommen wurden65. Ebenso wenig folgte der mit dem Markgrafen

verbundene Notar jenen Hofgeistlichen, die besonders große Monogram- me als repräsentative Signa des Herrschers in den Eschatokollen plazier- ten6`'. Vielmehr führte der Geistliche, der die Kaiserurkunde für den Turi

ner Markgrafen schrieb, die erste Zeile mit der Intitulatio sowie die Signumzeile in ganz normaler verlängerter Schrift aus. Beim Herrscher- monogramm gab sich der für die Turiner Seite wirkende Geistliche keine besondere Mühe, sondern zeichnete es eher flüchtig ein. Aber auch in ver- baler Hinsicht präsentierte er Otto III. nur in reduzierter Form. Er ver- wendete keine der bei den Hofgeistlichen üblichen Titulaturen wie servus

Vgl. z. B. Hus 'HNER, Transalpine Kommunikation 3 Abb. 45b, 51b, 52,54a, 56a. Vgl. z. B. chd. 3 Abb. 37c, 43b, 45b, 46b, 56b.

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apostolorum oder Romanorum imperator augustus oder eine Kombination dieser beiden Titulaturen. Vielmehr verweigerte er Otto III. sowohl in der ersten als auch in der Signumzeile den augustalen Tite167. Der Empfänger- notar hat Otto III. vermutlich gezielt so dargestellt. Aus der Perspektive des Markgrafen von Turin oder aus jener des Diplomnotars stand Otto III. offenbar nicht auf einem so hohen Sockel wie man in jenen Herrscherur- kunden suggerierte, die von Hofgeistlichen stammten. Nichtsdestoweni- ger wurde die Kaiserurkunde für den Turiner Markgrafen ordnungsgemäß bulliert und erhielt damit aus der Sicht der Zeitgenossen genau den glei- chen Grad an Gültigkeit und Rechtskraft wie alle anderen ottonischen Diplome.

67 D 0. III. 408 S. 841 f. - Nachtrag: Auf die soeben erschienene Kritik von H. HOFF- MANN, Notare, Kanzler und Bischöfe am ottonischen Hof, in: DA 61 (2005) S. 435-480, wird an anderer Stelle einzugehen sein.