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    Das Argument-KonzeptDas Verlagsprogramm soll zur Entwicklung der theoretischen Kultur einerLinken beitragen, die sich in der Arbeiterbewegung und der kritischen Uni-versitt, den Krften der Frauenbefreiung, der kologischen Umgestaltung,der Kultur-von-unten und der Friedensbewegung verankert. Dabei orientie-ren wir uns am Ziel eines erneuerten sozialistischen Projekts, in dem diese

    Bewegungen sich aneinanderlagern.Die Verffentlichungen beziehen sich v.a. auf folgende Bereiche:* bergang zur elektronisch-automatischen Produktionsweise

    und entsprechender Lebensweisen; Entwicklung der Arbeit* Bedingungen eines rot-grnen Projekts; Alternative Wirtschafts-

    und Umweltpolitik; Friedensforschung und -politik* Feminismus; Frauengrundstudium* Kritische Medizin; Kritische Psychologie* Internationale Sozialismus-Diskussion; Weiterentwicklung des Marxismus* Kultur(en); Ideologieforschung; Migration und neuer Rassismus* Literatur im historischen Proze (LHP);

    Kritische Anglistik & Amerikanistik (Gulliver)Der Verlag frdert die Volksuniversitt und das alternative Radio. Er koope-riert mit Studentengruppen an vielen Orten. Er ist als alternatives Non-pro-fit-Unternehmen organisiert und bildet zusammen mit Argument-Diskus-sions- und Rezensentengruppen ein Element der theoretischen Kultur.

    Die wissenschaftliche Taschenbuchreihe^rgument-Sonderbnde mit ihren

    Unter-Reihen ist ein berregionaler Projekteverbund, dessen Redaktionensich auf verschiedene Universittsstdte verteilen. Wie bei einem Buchklubkann man AS-Bnde auch billiger beziehen (z.B. im Auswahl-Abo: dreiBnde nach Wahl aus der Jahresproduktion).

    Die einzelnen Projekte werden verbunden ber die Zeitschrift Das Argu-ment. Sie ist die erste in derBRD, die neben der allgemeinen Redaktion eineautonome Frauenredaktion hat. Im Argument werden* politische und methodische Diskussionen ausgetragen;* Entwrfe und Ergebnisse aus den einzelnen Gebieten einer weiteren

    ffentlichkeit zugnglich gemacht;* mit Hilfe von Literaturberichten und einem beispiellosen Rezensionsteilberblicke und Anschlu an die Forschung vermittelt;

    * theoretische Entwicklungen auch aus andern Lndern kritisch undgemeinsam (=diskutierend) angeeignet, um die Erneuerungmarxistischer Theorie zu frdern;

    * Frauenforschungen entwickelt und aus andern Lndernzugnglich gemacht, die feministische Fragen und sozialistischePerspektive verbinden.

    In der Reihe Argument-Studienhefte werden Materialien von und fr Ar-beitsgruppen verffentlicht und Studientexte verfgbar gehalten.

    Die Edition Philosophie & Sozialwissenschaften bringt Dissertationen undandere Forschungsarbeiten.

    Die Marxismus-Werkstattarbeitet an einem Wrterbuchprojekt, das der Er-neuerung, Selbstkritik und Internationalisierung marxistischer Theoriedient und den Zugriff auf die Quellen verallgemeinern soll.

    Argument-Verlag Berlin/Hamburg

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    Redaktion dieses Bandes:Daniel Barben, Thomas Faust, Sebastiano Ghisu, Antje Grtzmann,Alexandra Hoffmann,Ulrich Mehlem, Michael Stobbe, Thomas Weber

    Alle Rechte vorbehalten Argument-Verlag 1989Argument-Verlagsbro: Rentzelstrae 1, 2000 Hamburg 13, 040/45 60 18Argument-Vertrieb: Onkel-Tom-Strae 64a, 1000 Berlin 37, 030/813 50 24Umschlaggestaltung: Johannes Nawrath

    PC-Texterfessung durch die Autorinnen/AutorenKonvertierung: Fotosatz Barbara Steinhardt, West-BerlinDruck: alfe-Druck, Gttingen

    CIP-Titelaufnahme der Deutschen BibliothekDie Linie LuxemburgGramsci : Zur Aktualittmarxistischen Denkens / mit Beitr. v. G. Bensussan ... Berlin ; Hamburg : Argument, 1989

    (Das Argument : Argument-Sonderband ; AS 159)ISBN 3-88619-159-1)

    NE: Bensussan, Grard [Mitverf.]; Das Argument / Argument-Sonderband

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    Inhalt

    Vorwort 4

    Wolfgang Fritz HaugNotizen ber Peter Weiss und die Linie Luxemburg-Gramsciin einer Epoche der Ambivalenz 6

    Frank DeppeZur Aktualitt der politischen Theorie von Luxemburgund Gramsci 14

    Vittantonio GioiaRosa Luxemburg und Antonio Gramsci:

    Zur konomischen Entwicklung im Monopolkapitalismus . . . 33

    Sabine KebirDie Internationalisierung der ZivilgesellschaftEin Versuch zur Aktualisierung Gramscis 51

    Alex DernirovicDie hegemoniale Strategie der WahrheitZur Historizitt des Marxismus bei Gramsci 69

    Anne Showstack SassoonVolk, Intellektuelle und spezialisiertes Wissen 90

    Orietta Caponi de Hernandez

    Die neue Partei : der moderne Frst, der kollektive Intellektuelle 107

    Wieland EljferdingRosa Luxemburgs Dialektik der Massenpartei 122

    Michael LwyDer Urkommunismus in den konomischen Schriften vonRosa Luxemburg

    Fr eine romantisch-revolutionre Geschichtsauffassung 140

    Grard BensussanRosa Luxemburg und die Judenfrage 147

    Literaturverzeichnis 161

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    Vorwort

    Antonio Gramsci Rosa Luxemburg, unter diesem Titel fand vom 1.bis 8.9.1985 in Hamburg ein internationaler Kongre statt (siehe den Be-richt in Argument 155). Die Verbindung verblffte, die Namen schienenwie Feuer und Wasser. Wurde Luxemburg nicht lange Zeit konomis-mus und Spontaneismus vorgeworfen? Und lieferte nicht geradeGramsci die Stichworte fr diese Kritik? (Vgl. den Aufsatz von Gioia indiesem Band.) Hat nicht Gramscis Hegemonietheorie, seine Analysedes ideologischen und kulturellen Stellungskrieges in den Institutio-nen der Zivilgesellschaft den Anachronismus von Konzeptionen wie

    Rosa Luxemburgs spontaner Massenaktion aufgezeigt? Umgekehrt galteinigen Gramscis Erneuerung des Marxismus als reformistisch undidealistisch (Gorman 1985, 179).

    Nachdem Gramsci jahrelang geradezu Modethema politischer Dis-kurse war, hat sich heute fr manchen das Interesse an seiner Theoriein Respekt vor dem groen Theoretiker verwandelt. (Altvater 1978,167) Gramsci, der eine neue Form des Philosophierens von unten konzi-

    piert hat, ereilt das Schicksal des Klassikers. Er wird zum Gegenstandvon Akademismus und Philologismus bei Gelehrten-Tagungen (wiezuletzt in West-Berlin; vgl. Argument 171, 742). Und Rosa Luxem-burg? Sie wurde wieder aktuell, aber weniger als groe marxistischeTheoretikerin denn als Vorbild einer neuen Weiblichkeit. An ihr wirdentdeckt, was Mnner Frauen schon immer als weiblich zugeschriebenhaben: die Liebe zur Natur, Gefiihlsreichtum, die Liebe berhaupt.Demgegenber hat Frigga Haug in einer marxistisch-feministischen

    Re-Lektre gezeigt, worin die Aktualitt der politisch-theoretischenArbeit Rosa Luxemburgs, nicht nur fr eine Politik der Frauen, liegenkann: im Konzept einer revolutionren Realpolitik (F.Haug 1988, 12).Vielleicht besteht gerade hierin auch die fortwhrende Sprengkraft vonGramscis Theorie?

    Wir dokumentieren im folgenden zehn der insgesamt ber vierzig Ta-gungsbeitrge. Sie fragen auf unterschiedliche Weise danach, wie das

    Denken von Luxemburg und Gramsci fr einen lebendigen, hegemonie-fahigen Marxismus heute fruchtbar gemacht werden kann: Wie knnensich soziale Bewegungen organisieren, ohne da die Parteifrmigkeitihre Dynamik blockiert? Ist ein demokratisches Verhltnis von Volk undIntellektuellen mglich? Wie kann eine Politik des Kulturellen in derDritten Welt den zerstrerischen Wirkungen des Kulturimperialismuswiderstehen? Mu die Bildung nationaler Identitt zum Nationalismus

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    Wolfgang Fritz Haug

    Notizen ber Peter Weiss unddie Linie Luxemburg-Gramsci

    in einer Epoche der Ambivalenz1

    Fr Margherita von Brentano

    I.Linie Luxemburg-Gramsci in den Notizbchern, die Peter Weiss

    parallel zursthetik des Widerstands niedergeschrieben hat, findet sichdiese Formel. Wer an der Erneuerung des Marxismus interessiert ist,wird bei dieser Formel aufmerken. Aber darf man von einem Literatenmehr als Literatur erwarten? Warnt uns doch Gerd Ueding, Peter Weisshabe vom Marxismus nicht viel mehr als die gelufigsten Schemataverstanden, die zeitgenssische marxistische und neomarxistische Dis-kussion erst gar nicht zur Kenntnis genommen. (1986) Aber Gelehrt-heit schtzt vor Torheit nicht, und so werden wir die Frage nach Gehalt

    und Tragfhigkeit dieser Formel selber prfen bzw. zunchst einmalstellen, ohne die Mglichkeit von vorneherein auszuschlieen, da jeneFormel zur schwrmerischen Auswanderung ins Imaginre eines histo-risch unbefleckten Marxismus verfhren knnte.

    Vereint die vermeintliche Linie Luxemburg-Gramsci nicht das Un-vereinbare, den konomismus der Luxemburg mit dem Antikonomis-mus des Gramsci? Es ist wahr, Gramsci hat 1920 nach der Ermordung

    von Rosa und Karl im L'ordine nuovo die Kommunisten mit den Ur-christen verglichen und die beiden Ermordeten fr grer als die gr-ten Heiligen von Christus erklrt.2 Und Rossana Rossanda kann mitRecht sagen, da der gesamte frhe Gramsci derConsigli (Rte), derSowjetanhnger und Antijakobiner, sozusagen einen luxemburgischenAkzent spricht (1975, 121). Aber in den Quaderni, den Gefngnis-heften, wird Rosa radikal kritisiert wegen ihres ferreo determinismoeconomistico (Q, 859), ihres eisernen konomistischen Determinis-mus, ihrer Erwartung des Zusammenbruchs des Kapitalismus und ihrerVernachlssigung der Gesetze des Stellungskrieges der Klassen zu-gunsten des von ihr verabsolutierten schnellen Bewegungskrieges alsMuster der Revolution usw. (vgl. dazu das konomismus-Kapitel in

    Pluraler Marxismus 1, 152-4). Wie sollten diese Luxemburg und ihrKritiker Gramsci zusammengehen in einer Linie?

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    Die Linie Luxemburg-Gramsci 1

    II.

    Bevor wir versuchen, die Formel ein wenig auszuloten, betrachten wirden Kontext, in dem sie bei Peter Weiss auftaucht. Zwei Bestimmungenfallen zuerst ins Auge, die man vielleicht unzusammengehrig findetund von denen man annehmen mag, da sie sich widersprchlich zuein-ander verhalten: Es handelt sich erstens um eine Plannotiz fr einenRoman, und die Notiz beginnt zweitens mit der Bekrftigung der Not-wendigkeit einer marxistischen Partei, sei sie auch klein. Hier nun alsodie Eintragung, die auf den 30. Juli 1977 datiert ist:

    Fr den Schluabschnitt: Mitgliedschaft in der Partei da es eine kleine Partei

    war, unwichtig. Mitgliedschaft Prinziperklrung ideologische Zugehrigkeit

    Abwesenheit von Zwang und Dogmatismus Linie Luxemburg-Gramsci Voraus-

    setzung: Aufklrung der histor. Fehler die lebendige kritische Wissenschaft, Ab-lehnung jeglicher Illusionsbildungen, Idealismen, Mystifikationen (N 608)

    Es geht um den Schluabschnitt des dritten Teils der sthetik desWiderstands. Was hier ins Spiel kommt, ist die Nachkriegsperspektiveund damit die aktuelle politische Position. Tatschlich war Peter Weiss

    ja Mitglied einer kommunistischen Partei, wenn auch nicht der deut-schen, fr die Gramsci noch bis zum Tode von Peter Weiss ein Fremd-

    wort bleiben sollte und das Bekenntnis zu Rosa Luxemburg ein Lippen-bekenntnis. Er war Mitglied der schwedischen Linkspartei /Kommuni-sten, und diese kleine Partei, die etwa 5 Prozent der Whler auf sich ver-eint, hat denn auch die groe Anstrengung und die Kosten nicht ge-scheut, das Hauptwerk von Peter Weiss, das es bis heute noch in keinerder Weltsprachen gibt, ins Schwedische zu bersetzen und im eignenVerlag herauszubringen. Ihr langjhriger Vorsitzender leitete als Pen-sionr eine gewerkschaftliche Lesegruppe zursthetik des Widerstands

    (vgl. Hermansson 1987).So weit, so gut, aber geht es nicht doch nur um einen Roman, und ist

    der Romanautor nicht per Definition politisch inkompetent? Dagegenwre in Erinnerung zu rufen, da eine solche Auffassung vom Amt desSchriftstellers und seiner Zu- und Unzustndigkeiten ebenso brgerlichwie ideologisch ist, weil sie das Gesellschaftliche und das Politische zurFrage einer Spezialzustndigkeit macht in einer Uberlagerung von ge-

    sellschaftlicher Teilung der Arbeit und staatlicher Herrschaft. Als Mar-xist im freilich nicht offizialideologischen Sinn nimmt Peter Weisssich nicht nur die politische Kompetenz, sondern auch die wissenschaft-liche des Historikers heraus, und das in einer Intensitt, die keine Ge-schichte der Arbeiterbewegung und des Widerstandes ... geleistet hatund wohl auch knftig nicht wird leisten knnen, wie Wolf und LisaAbendroth unter Berufung auf eigene bittere Erfahrung in der alten

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    Arbeiterbewegung und im antifaschistischen Widerstand bezeugen(1981, 23 u. 20). Das Buch von Peter Weiss wird in beiden Lagern desKalten Krieges eine der besten Waffen fr die geschichtliche Wahrheitsein. (Ebd., 28)

    III.Linie Luxemburg-Gramsci wir mssen zuerst den weiteren Kon-text dieser Losung aufsuchen, um zu sehen, was Peter Weiss damit ver-bunden hat. Die whrend der Arbeit an dersthetik gefhrten Notiz-bcher beginnen mit Buch 22 (am 9.9.71) und reichen bis Buch 46 (biszum 10.9.80). Die Motive, die im zitierten Zusammenhang unserer For-mel anklingen, durchziehen die Eintragungen dieser zehn Jahre. Eineder letzten Eintragungen gilt einem der Leitmotive, dem Systemgegen-satz der Nachkriegswelt, dem Entweder Oder des Kalten Kriegs:Stalins feindselige Haltung gegenber Jugoslawien (das einzige Land im Westen, das

    die kommunist. Vorherrschaft aufrecht zu erhalten verstand) deutet darauf hin, da

    die SU ihre Hegemonie ber die Komm. Parteien behalten wollte.

    Es begann das Zeitalter der Machtvollkommenheit von oben. Jetzt gab es nur noch

    das Fr und Wider, das Entweder Oder.Widerstand, wo auch immer, mute eliminiert werden. (N 894)

    Und bereits die allererste Eintragung (N 9) spricht vom Konflikt zweiergrundstzlich verschiedner Auffassungen des Menschenbilds .. .(BRDDDR), sowie vom Konflikt, in den der radikale Knstler mit

    beiden gert:es handelt sich um 2 verschiedne Arten von Repression. Die eine ist bedingt von Pro-

    fitberlegungen, die andre von dogmatischer Ideologie (N 9).

    Peter Weiss parallelisiert zwei Repressionen: die ideologische Repres-sion von Kritik und damit von marxistischem Denken wie marxistischerKunst; und die politisch-militrische Repression von Erhebungen von'unten':der sang- und klanglose Abbruch der Komintern, erst stolze Schpfung zur weltwei-

    ten Verbrdrung, dann sowj. Instrument zur Maregelung der 'Bruderparteien', und

    jetzt weg damit, weil die Welt aufgeteilt wurde zu den Interessenbereichen der

    Groen und Erhebungen von 'unten' nicht mehr zugelassen werden (N 884)Ein wiederholt sich bietender Anla fr die Vertiefung der Reflexionber die Haltung des marxistischen Intellektuellen unter diesen Bedin-gungen sind die Literaturpreise, mit denen Peter Weiss schlielich be-dacht wurde. Da sie von westlichen Institutionen kamen, mute Weisssich mit den Verhltnissen auseinandersetzen, zu denen sie, wider-sprchlich vielleicht, gehrten.

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    Preis Unter dem Druck dieses fortwhrenden Antagonismus kann die offizielle An-

    erkennung eines Systemkritikers als Entwaffnungsversuch bewertet werden. Doch

    auch eine andre Auslegung ist mglich. Ihrerseits unterm Eindruck der Widersprch-

    lichkeit der geistigen und materiellen Auseinandersetzung stehend, mssen die intel-

    lektuellen Wachposten ihre Positionen verschieben, sich den gegenstzlichen Krften

    annhern, sie werden von der Geschichte und von ihrem eignen Willen dazu gezwun-gen, die Beweggrnde des Widersachers zu untersuchen. Die verhrteten, unbewegli-

    chen und unbewegbaren Sachwalter einer Ideologie stehn immer auf der Seite des

    Reaktionren, gleich, welchem Block sie sich zurechnen, ihre scheinbar konsequen-

    te, militante Haltung dient nichts andrem als der Konservierung eines berholten, ab-

    gestorbnen Ideenmaterials. (N 630f.)

    Tags zuvor hatte er aus demselben Anla die Frage sogar zugespitzt alsProblem, vor dem der Marxismus die Wissenschaft der Kritik not-

    wendig stehe:die deutsche Sprache als mein Produktionsmittel verwendend

    dessen Staatsbrgerschaft ich nie besessen, doch weder dem einen, noch dem

    andern Block verschrieben Marxismus die Wissenschaft der Kritik als Mar-

    xist also stndig in einem dialekt. Proze, nichts als fertig ansehn, alles infrage stellen

    Die Klassenfrage steht ber der nationalen Frage

    Es handelt sich nicht um nationale Zugehrigkeit, sondern um eine Besttigung (mei-

    nes eignen Lebens) (N 629f.)

    Und noch einmal anllich der Preisverleihung:da ich nach dem absoluten Recht auf die Ausbung freier Kritik arbeite. Eine andre

    Arbeitsform undenkbar (N 611)

    So wesensverschieden die jeweiligen Repressionen in den beidenBlcken sind, so wesensverschieden die Distanzen zu den beiden For-mationen, die Peter Weiss artikuliert. Die Distanz vom Sowjetkommu-nismus ist keine andere als dessen eigne Entfernung von seinem An-

    spruch. Daher bedeutet die doppelte Arbeit der Erinnerung und derTrauer, die Peter Weiss in bezug auf den Sozialismus unternimmt, zu-gleich einen Beitrag zu einer knftigen gesellschaftlichen Aneignungdieses Sozialismus. Klaus Scherpe hat fr diese Dimension der sthetikdes Widerstands den Begriff einer Instandbesetzung des Sozialismusgefunden. Immer wieder und in vielen Formulierungen wird die befrei-ende Wirkung angesprochen, die Erinnerung gerade in den sozialisti-

    schen Lndern und vor allem in der SU haben knnte.Welch ein Vorbild knnte dieses Land sein, wenn es aufgerumt htte mit seiner Ver-

    gangenheit.

    Um unsre Gegenwart zu verstehn, mssen wir unsre Vergangenheit kennen. (Lenin)

    (N 366)

    Die Kenntnis der Vergangenheit aber, die historische Erinnerung, wirdmit der Frage der Verteilung gesellschaftlicher Handlungsfhigkeiten

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    und Kompetenzen verknpft. Nicht Stalin ist am Zentralismus, sondernder Zentralismus an Stalin schuld. Zu den Schau- und Terrorprozessengegen viele der ehemaligen bolschewistischen Fhrungsmitgliederheit es:Man kann das Massaker nicht nur mit der Paranoia des Diktators erklren. Es liegt

    im Wesen (mu dort liegen) des auf die uerste Spitze getriebnen Zentralismus.

    Indem die Allgewalt in die Hnde eines Einzelnen gert. Die gleiche Schuld trifft die

    im autoritren Glauben Erzognen, die blind Gehorchenden, die sich der Gestalt des

    Urvaters beugen, die jede Regung einer Widersetzlichkeit in sich ersticken, die ihre

    ungeheure Gebrochenheit Disziplin nennen. Ebenso verantwortlich aber sind auch

    die Opfer, die am weitesten gingen in ihrer Unterwrfigkeit, die bis zur Selbstaus-

    lschung dem diabolischen System der Autokratie Folge leisteten. Diese waren viel-

    leicht die grten Verrter, denn sie waren einmal die hervorragendsten Denker der

    materialistischen Geschichtswissenschaft gewesen Strm-, ich sah sie alle durch Stockholm kommen, im Frhjahr 17, alle, die 20 Jahre

    spter im Land der Oktoberrevolution zu Tode gefoltert wurden

    Rakowski einer der nchsten Vertrauten Lenins. Seine Frau, seine junge Tochter wur-

    den vor seinen Augen ermordet

    Die Gefilde des Grauens. (N 607f.)

    (Unmittelbar danach kommt dann die weiter oben zitierte Planskizzefr Teil III dersthetik des Widerstands mit der Formulierung von derLinie Luxemburg-Gramsci.)

    IV.Quer zur Linie der befreienden Erinnerung, die an die Rckgewinnungder gesellschaftlichen Kompetenzen durch die Vielen geknpft ist, ziehtsich eine Linie der Umarbeitung marxistischer Theorie und Politik. Siesteht unverkennbar unterm Einflu der zeitgenssischen Diskussionen

    in den eurokommunistischen Parteien, deren Projekt damals noch ge-dieh. Im Zuge jener Diskussionen entfernten schlielich die eurokom-munistischen Parteien die Orientierung auf die Diktatur des Proleta-riats aus ihren Programmen, um sozialistische Demokratie in dieGrundlagen ihres Projekts einzuschreiben.

    Richtig fr uns, sich des Begriffs der Diktatur des Proletariats zu entledigen. Es gibt

    in unsern Lndern die bestimmte Klasse, die sich Proletariat nennen liee, nicht

    mehr, hier bestehn nur die groen Blockbildungen von Menschen, die miteinander

    durch die gleichen Interessen, durch die gleichen Wnsche, den gleichen berdruverbunden sind (wie von Gramsci definiert), und wie sie deutlich in Erscheinung tre-

    ten in der kommunistischen Bewegung Italiens, Spaniens, Frankreichs. (N 749)

    Am proletarischen Internationalismus (ebd.) aber will Peter Weissentschieden festhalten.Abgenutzt als Klasse hat sich das Proletariat nur in unsern Lndern, in der verarm-

    ten Welt besteht es noch, ist vielerorts erst im Entstehn begriffen (N 749)

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    Die Linie Luxemburg-Gramsci 11

    Und die Solidarisierung der Arbeitenden in unsern Lndernmit dieser noch zurckgehalten Hlfte der Erdbevlkerung ... bedeutet ... aucheine notwendige Abgrenzung zu dem Brokratismus, der Technokratie, wie sie imAufkommen sind in den sozialistischen Lndern. (N 750)

    Whrend es also richtig fr die Marxisten zumindest der entwickeltenkapitalistischen Gesellschaften westeuropischen Typs ist, den Begriffder Diktatur des Proletariats aufzugeben, ein Schritt, in dessen Kontextnicht zufllig der Name Gramsci aufgetaucht ist (siehe das vorvorletzteZitat), fordert Peter Weiss eine neue Aneignung des Denkens vonLenin.Zu bekmpfen schlielich die Neigung, Lenin beiseite zu schieben (auch dies im

    Eifer, die Kommunistischen Parteien im Westen zu modernisieren, von Doktrinen

    und Dogmen zu befreien) hier mte, im Gegenteil , Lenins viel faltige Gestalt neuhervorgehoben und gedeutet werden (wobei ihr natrlich viel vom falschen Herois-

    mus verloren ginge), denn wir kennen sie ja noch kaum. Groe, wichtige Lebensab-

    schnitte Lenins liegen noch im Dunkel, im Verschlossnen. Aus der Kultfigur mu der

    Mensch gemacht werden (N 750)

    V.Man sieht: Peter Weiss zgert nicht, konzeptive Kompetenz im Marxis-

    mus, Mitspracherecht hinsichtlich seiner Erneuerung zu beanspruchen.Und diese Erneuerung verknpft sich tatschlich mit den Bestrebungenvon Luxemburg und Gramsci. Letzterem sind wir ja bereits begegnet.Rosa Luxemburg, Anspielungen an sie, Zitate, bestimmte Haltungenund Gedanken von ihr, tauchen immer wieder auf. Buch 29 trgt unge-whnlicherweise eine Art Titel-Motto, nmlich den bekannten Satz vonRosa Luxemburg, der vielleicht eben deshalb, weil er als bekannt vor-ausgesetzt werden kann, ohne Verfassernamen dasteht:

    Freiheit ist immer nur die Freiheit des Andersdenkenden.

    Im folgenden Buch (30) zeigt sich wie an vielen hnlichen Stellen die Nhe zu Rosa Luxemburgs Denken etwa in folgenden Eintragungen,in denen zugleich das Wiederauftauchen patriarchalischer Herrschaft(von bermnnern) angesprochen wird:die Bemhung um Befreiung bedeutete, die Vorherrschaft des Autoritren abzuwer-

    fen und endlich selbst zu urteilen und zu bestimmen. Und nun bekamen sie doch wie-der ihre bermnner vorgesetzt ...

    Das Volk wei nicht, was gut und richtig fr das Volk ist! Deshalb mu die Fhrung

    handeln! (N 320)

    Wenn sich dies wie eine Umschreibung von Gedanken Rosa Luxem-burgs zur Kritik am Zentralismus liest, dem sie den in der Diskussionuntergegangenen Begriff eines Selbstzentrismus der Massen entgegen-

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    gesetzt hat, so geht es im Kontext bei Weiss am Beispiel Mnzenbergsum das Schicksal, das eine solche Fhrung dem Abweichenden bereitet.Und auf die Skizze dieses Verstoen-Werdens folgt, als verschbe sichdie Frage auf die all das duldenden oder gar mitmachenden Teile derArbeiterbewegung, die Eintragung, halb Klage, halb Mibilligung:wie war das mgl ich, da Luxemburg und Liebknecht weggeschleppt, abgemordet

    werden konnten, da niemand da war, sie zu schtzen, wo war die Arbeiterklasse, wo

    waren die bewaffneten Arbeiter sie hatten sich die Waffen abnehmen lassen was

    war das fr eine Revolution, wenn deren Fhrer von einer Handvoll Schergen ergrif-

    fen werden konnten, ohne Gegenwehr (N 323f.)

    Spter dann, im Anschlu an die Notiz, da er selber nach Auffhrungder Ermittlung in Berlin antisemitische Drohbriefe erhalten hat, lt

    Peter Weiss bergangslos die Eintragung folgen:es schwimmt eine Leiche im Landwehrkanal (N 661)

    Der Tod Rosa Luxemburgs knnte auch sein Tod sein ...

    VI.Die zitierten Eintragungen sind tatschlich nicht blo diskursives Mate-rial, das der Romanschreiber sammelt und vorbereitet, um es dann in

    Dialogen und Konflikten zu organisieren. Nein, hier entwirft der Mar-xist Peter Weiss seinen eignen Weg. Erschreibt nicht als Schriftsteller,um Feuerbachs schnen Satz Denke nicht als Denker abzuwandeln,soll heien: er zieht sich nicht zurck in den ideologischen Bezirk desLiterar-sthetischen, auch wenn sein Kunstbegriff nicht frei von Ideali-sierung ist (Kunst ihrer Natur nach progressiv, N 892). Er schreibtzugleich Geschichte und gestaltet mit am marxistischen Projekt. Er an-alysiert den Zusammenhang von staatlich ausgetragener Systemkonkur-

    renz (die beiden Blcke im Kalten Krieg) und innerer Durchstaatli-chung des Sozialismus und seiner Beziehung zu Denken, Kunst usw.Und er sieht deutlich die Gefahr, der heute wieder einmal so viele erlie-gen: das Umschlagen der Kritik an der Repression im eigenen Lager ineine neue Tuschung in Form von Enttuschung. In diesem Sinne gibter die Rationalisierung des Versagens mit schnen Ideen am Beispielder Person preis, die er am meisten schtzt:

    Hodanns Humanismus Ausdruck einer Pleite (N 896).

    VII.Rossana Rossanda hebt Gramscis niemals abgestumpftes Gespr frdie Vielschichtigkeit des gesellschaftlichen Ganzen und seiner Aus-drucksformen (1975, 122) hervor. Und daran hngt das entscheidendeKriterium fr Politik:

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    Die Linie Luxemburg-Gramsci 13

    Jedes politische Vorhaben, dem es nicht gelingt, die ganze Vielschichtigkeit der

    Krise auszudrcken, wird ... falsch. (Rossanda 1975, 45)

    In ihrem Rckblick auf die Entstehung derManifesto-Gruppe spielt dieerneute Reflexion ber die Gedanken und praktischen Erfahrungen von

    Lenin, Gramsci und Rosa Luxemburg (40) eine entscheidende Rolle.Die damalige Krise der kommunistischen Bewegung erklrte sie ausden Schranken der III. Internationale angesichts der Probleme dereuropischen Revolution (41).Hierin begrndete II Manifesto eine 'Verschmelzung' mit dem grundlegenden An-

    satz Gramscis: mit der Reichhaltigkeit seiner Analyse der entwickelten Gesellschaft

    mithin der Komplexitt der Revolution im Westen, die nicht jakobinisch, sondern

    massenhaft sein mu, nicht blo politisch, sondern gesellschaftlich ... (Rossanda

    1975, 41)Welches immer die Schwchen und Unklarheiten des resultierendenEntwurfs gewesen sein mgen, der nicht zufallig gescheitert ist, so istdoch die Frage in entscheidender Hinsicht auf eine Weise gestellt, dienoch immer aktuell ist. Und eine Linie Gramsci-Luxemburg zeigt sichhier als tragende Verknpfung eines umfassenderen Netzwerks.

    VIII.Zu den Illusionen des Manifesto und verwandter Gruppen nach 1968 ge-hrte eine Vorstellung klassenkmpferischer Eindeutigkeit, die ganz imGegensatz zu den Einsichten Gramscis stand. Kulturrevolution und kul-turelle Hegemoniegewinnung lieen sich nicht verschmelzen. PeterWeiss charakterisiert unsere Zeit als die Epoche der Ambivalenz.Und er entwickelt aus dieser Einsicht eine enorm fruchtbare Dialektikim Umgang mit dem historischen Material.Die Epoche der Ambivalenz und der Kontroversen. Es war unmglich, eine absolut

    richtige, zutreffende Ansicht zu haben, man kam der Wahrheit am nchsten, wenn

    man den bestehenden Zwiespalt in die Analyse des Sachverhalts einbezog.

    Monolithische Haltungen von vornherein zum Miglcken verurteilt, und wenn sie

    mit Gewalt aufrecht erhalten werden, zeigen sie desto deutlicher das Atavistische

    ihres Charakters. (N 177)

    Anmerkungen

    1 Beim vorliegenden Text handelt es sich um das Bauelement eines Kapitels fr den

    dritten Band des Pluralen Marxismus.

    2 Allo stesso modo Rosa Luxemburg e Carlo Liebknecht son pi grandi dei pi

    grandi santi di Crista. (O 9, 156)

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    Frank Deppe

    Zur Aktualitt der politischen Theorie vonLuxemburg und Gramsci

    Die Theoriegeschichte des Marxismus und des revolutionren Sozialis-mus stellt sich keineswegs als ein ehernes Kontinuum einer progressi-ven Akkumulation von Erkenntnissen dar. Schon eine flchtige Be-trachtung vermittelt den Eindruck, da es auf diesem Felde bewegt zu-geht, da Konjunkturen und Depressionen im Rekurs auf bestimm-te Theorietraditionen einander ablsen; da die historische Bewegung

    der marxistischen Theorie auch immer wieder auf den Ausgangspunktdes Werkes der Klassiker zurckkommt; da in dieser nun fast150-jhrigen Theoriegeschichte Brche, Spaltungen, aber auch Sprn-ge zu konstatieren sind, die ihrerseits stets von neuem das Thema derKrise des Marxismus auf die Tagesordnung setzen. Diese Bewegungkann nicht nur auf die Existenz verschiedener Strmungen in der sozia-listischen Bewegung zurckgefhrt werden, deren Streit um das Erbedes Marxismus und der gesamten sozialistischen Theorietradition be-kanntlich mit einer polemischen Schrfe ausgetragen wurde, die oft-mals die Perspektive des Klassenkampfes auf das Terrain des Marxis-mus und der Arbeiterbewegung selbst gewaltsam und leider auch le-bensgefahrlich zu reduzieren schien. Da der Theoriestreit selbst zurmateriellen Gewalt wird, hat vermutlich selbst noch Ursachen, diemit jener Gewalt zu tun haben, mit der sich der revolutionre Sozialis-mus immer wieder konfrontiert sieht und deren Opfer Rosa Luxem-

    burg und Antonio Gramsci geworden sind. Ferner hat der Theorien-streit zweifellos mit der Rolle der Intellektuellen in der Arbeiterbewe-gung zu tun, mit der Art und Weise, wie sie den Status der Theorie unddamit auch das Kriterium der Wahrheit auf die Organisation und diePraxis des revolutionren Kampfes beziehen.

    Diese Fragen sollen nicht im Mittelpunkt des Referates stehen. DerZugang zu den beiden neben Lenin gewi bedeutendsten Theoretikern

    und Fhrern der kommunistischen Arbeiterbewegung der ersten Jahr-zehnte des 20. Jahrhunderts soll nicht jenem Formalismus anheim-fallen, von dem Hegel in der Vorrede zur Phnomenologie des Gei-stes sagte, er gleiche einem Skelette mit angeklebten Zettelchen oderden Reihen verschlossener Bchsen mit ihren aufgehefteten Etiketten ineiner Gewrzkrmerbude (zit.n.d. Hoffmeister-Ausgabe, 6.Auflage,Hamburg 1952, 43). In jeder historischen Etappe der Entwicklung des

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    Zur Aktualitt der politischen Theorie 15

    Kapitalismus des 20. Jahrhunderts, in jeder historischen Phase derKampfzyklen der Arbeiterbewegung und anderer sozialer Bewegungenstellt sich die Frage nach der Aneignung des politischen und wissen-schaftlichen Erbes des Sozialismus neu, verndert sich auch die Inter-

    pretation des Stellenwertes von einzelnen Elementen und Bestandteilendes wissenschaftlichen Sozialismus.Die Frage nach der Aktualitt der politischen Theorie von Luxem-

    burg und Gramsci konfrontiert uns also mit einer doppelten Aufgabe.Auf der einen Seite mit der konsequenten Historisierung des Gegen-standes, das heit der Rekonstruktion des konkret-historischen Zusam-menhanges bzw. des geschichtlichen Ortes, von dem aus das politi-sche und wissenschaftliche Wirken von Luxemburg und Gramsci sich

    entwickelt und vollzieht. Auf der anderen Seite mit der Frage nachjenen Erkenntnissen und Erfahrungen, die ber diesen konkret-histori-schen Zusammenhang hinausweisen. Allerdings die grndliche Be-arbeitung dieser Verallgemeinerung wrde ihrerseits die konkret-historische Analyse der gegenwrtigen Entwicklungstendenzen und Wi-derspruchspotentiale des Kapitalismus sowie der Kampfbedingungender Arbeiterbewegung verlangen, d.h. all jener Krfte und Bewegun-

    gen, die den Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus mit der Per-spektive ihrer berwindung verbinden.

    Die Linie des revolutionren Marxismus

    Auch wenn ich mich mit meinem Vorhaben bewut nicht auf den ge-legentlich eher philologischen Streit um Worte, Zitate und Manu-skripte (z.B. Rosas Manuskript ber die Russische Revolution und die

    berhmte Annotation ber die Freiheit des Andersdenkenden) einlas-sen mchte, will ich dennoch eine Anmerkung vorausschicken. Wennschon von Linien und Theorietraditionen die Rede ist, dann sollte esnicht schwerfallen, den Platz von Luxemburg und Gramsci bei allenDifferenzierungen in der Tradition des revolutionren Marxismus zu er-kennen: Rosa Luxemburg im Zusammenhang des linken Flgels derdeutschen Sozialdemokratie, der sich schlielich in der Auseinander-

    setzung mit dem Reformismus und dem Zentrismus zum Spartakus-Bund und zur KPD verselbstndigt; Gramsci, der Kopf der wie esTogliatti (1962) formulierte fhrenden Gruppe der IKP (Togliatti1977, 17ff.), die 1923/24, v.a. auch durch den Druck der Kommunisti-schen Internationale aus Moskau, die Leitung der Partei bernahm.Gewi sind die Differenzen von Luxemburg mit Lenin und den Bolsche-wiki ber Organisationsfragen, ber die Agrarfrage, das Nationalitten-

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    problem, schlielich auch ber die Diktatur des Proletariats und die De-mokratie nicht zu bersehen. Aber auch die schlimmsten stalinistischenInvektiven gegen den Luxemburgismus (wobei die belste Formulie-rung: Luxemburgismus als Syphilis der Arbeiterbewegung von

    Ruth Fischer stammt, vgl. Abendroth 1976, 72) drfen nicht verdrngtwerden. Dennoch halte ich das folgende Urteil von Gilbert Badia fr zu-treffend: Lenin ist nicht nur kein bevorzugter Gegner Rosa Luxem-burgs, sondern berhaupt nicht ihr Gegner. Die Perioden der berein-stimmung zwischen beiden berwiegen die Perioden der Nichtberein-stimmung. Auch wo polemisiert wird, handelt es sich fast immer umPolemik oder Diskussionen zwischen Revolutionren, die auf derselbenSeite der Barrikade stehen. (Badia 1974, 206)

    Auf jeden Fall sollten wirwenn wir von Linien sprechen keinewillkrlichen und politisch wie theoretisch kaum zu vertretendeMischungen vornehmen. D.h.: Es gibt die Linie (sagen wir besser:Linien) des Reformismus; und es gibt jene Linie, fr die wie LelioBasso (1969, 9) ber Rosa Luxemburg geschrieben hat das zentraleProblem die sozialistische Revolution ist. Wie immer auch die histori-schen Perspektiven und Mglichkeiten jeweils neu zu erarbeiten sind,

    Gramsci und Luxemburg gehren jener zweiten Linie an. Man mag dasbegren oder bedauern, aber der Tatbestand selbst scheint mir unbe-streitbar. Natrlich sind, bezogen auf das praktische politische Han-deln, Mischungen d.h. Koalitionen, Unionen, gemeinsame Fron-ten mglich und notwendig. Aber in bezug auf die theoretische undstrategische Substanz, die Reflexion und Anwendung des Theorie-Pra-xis-Verhltnisses, die Stellung zum Kapitalismus, zum Klassenkampf,zu seiner sozialistischen Perspektive usw. usf., ist heute eine Mischung

    ebensowenig denkbar wie zur Zeit von Rosa Luxemburg. Die LinieBernstein, Ebert/Scheidemann/Noske, Godesberg usw. die fr Ideo-logie und Plitik der Deutschen Sozialdemokratie bis in die Gegenwartmagebende Linie ist mit Luxemburg und auch mit Gramsci nicht zudurchsetzen oder um diese zu ergnzen. Ich spreche dabei nicht vonMinderheitspositionen in der Sozialdemokratie, die mit dem Bezugzum Marxismus, so auch zu Luxemburg und Gramsci, die Dominanz

    des Reformismus der die Sozialdemokratie als stabilisierendes Ele-ment des Kapitalismus und nicht als kritisches oder gar als revolution-res Element begreift berwinden wollen.

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    Die Differenz zwischen Luxemburg und Gramsci

    Luxemburg und Gramsci reprsentieren beide wenn auch (lebensge-schichtlich bedingt) ungleichzeitig und beeinflut von spezifischen na-

    tionalen Erfahrungen jene Strmungen des marxistischen Denkens,die in der Auseinandersetzung mit der Theorie und Politik der II. Inter-nationale die Problematik der Erneuerung und der Weiterentwicklungdes Marxismus bearbeiten. Genauer, ihre wichtigsten theoretischenBeitrge beschftigen sich direkt oder indirekt mit einer Krise desMarxismus. Mit anderen Worten: aus der Analyse und Erfahrung der

    je historisch-konkreten Konstellation der Kampfbedingungen der Ar-beiterbewegung entwickelt sich ihre Kritik an opportunistischen ebenso

    wie an dogmatischen Positionen. Bei beiden verbindet sich die Ortho-doxie (Zurck zu Marx! was nicht mit Dogmatismus verwechseltwerden darf) mit dem Interesse und der Fhigkeit, neue Fragen undProbleme aufzuspren und im Blick auf die revolutionre Strategie derArbeiterbewegung zu beantworten.

    Dabei mssen wir eine erste, durch die Geschichte selbst auferlegteDifferenzierung vornehmen. Rosa Luxemburg wirkte von den letzten

    Jahren des 19. Jahrhunderts bis zu ihrem Tode im Januar 1919 in der pol-nischen und russischen, dann vor allem in der deutschen und der inter-nationalen Arbeiterbewegung. Die erste groe Krise des Marxismuserscheint in dieser Periode in Gestalt des Revisionismus, dann in derzentristischen Verselbstndigung des Marxismus (wie sie vor allem vonKautsky vertreten wurde) gegenber der revolutionren Praxis. Sie er-scheint in den neuen Herausforderungen, die Imperialismus, Militaris-mus und Weltkrieg an Theorie und Politik der Arbeiterbewegung stel-len. Manifest wird die Krise schlielich auch in der Form ihrer ber-windung im Sieg der Russischen Oktoberrevolution 1917 und in derSpaltung der Arbeiterbewegung.

    Gramsci hingegen, der sich seit 1914 (zunchst im Grido del Popo-lo) publizistisch bettigte, verfate seine wichtigsten theoretischen Ar-beiten in der faschistischen Kerkerhaft. 1926 wird er inhaftiert, 1929 er-hlt er die Erlaubnis zu schreiben und beginnt das erste der Kerkerhef-

    te, an denen er seit Ende 1935 aufgrund seines immer schlechter wer-denden Gesundheitszustandes nicht mehr arbeiten konnte. Diese Bedin-gungen der Isolation symbolisieren gleichsam den Zusammenhang derzweiten Krise des Marxismus: Die Niederlage jener revolutionrenMassenbewegungen, die im Westen nach der Oktoberrevolution unddem Ende des Ersten Weltkrieges aufgebrochen waren und fr einekurze Zeit die Vorstellung vom mglichen Erfolg einer Rte-Revolution

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    befrdert hatten, um schlielich zuerst in Italien, dann auch inDeutschland (und in vielen anderen europischen Lndern) durch dieterroristische Gegen-Gewalt der faschistischen Diktaturen niederge-knppelt zu werden. In diesem Erfahrungszusammenhang stellt sich fr

    Gramsci wie fr die gesamte kommunistische Bewegung die Frageder revolutionren Strategie neu: dem Aufbau des Sozialismus ineinem Lande stehen unermelich bittere Niederlagen der Arbeiterbe-wegung in den fortgeschritteneren kapitalistischen Lndern Europasgegenber.

    Gramsci selbst hat in diesem Zusammenhang die Unterscheidungzwischen Stellungs- und Bewegungskrieg eingefhrt. Die spezifi-sche Differenz zwischen Luxemburg und Gramsci knnen wir zunchst

    mit diesen Begriffen verdeutlichen. Rosa Luxemburg war die Theoreti-kerin (par excellence) des Bewegungskrieges, der stets auch mit derKonzeption bzw. der realhistorischen Erfahrung des krisenhaften Zu-sammenbruchs der herrschenden sozialkonomischen und politischenOrdnung verbunden ist. Gramsci dagegen ist vor allem in den Kerker-heften der Theoretiker des Stellungskrieges, der die Erfahrungen derStabilitt und Resistenz dieser Herrschaftsordnung von der direkten

    politischen Repression bis hin zu jenen Integrationsmechanismen, ver-mittels derer diese Herrschaft sich nicht einfach durch die Anwendungpolitischer Gewalt reproduziert in der Perspektive des Kampfes derArbeiterklasse um Hegemonie sowie um eine grundlegende intellek-tuelle und moralische Reform reflektiert.

    Angesichts dieser Differenz kann es nicht verwundern, da in derneueren Zeit die Rezeption von Luxemburg und Gramsci nicht parallel,sondern ungleichzeitig erfolgte. Luxemburg wurde in der Phase der

    Arbeiter- und Intellektuellenbewegungen zwischen 1968 und den fr-hen 70er Jahren vor allem von Intellektuellen, die ihre Spontaneitts-konzeption berbewerteten neu entdeckt. Die Beschftigung mitGramsci beginnt in Italien frher, mit der sukzessiven Verffentlichungseiner Manuskripte seit 1948. Aber diese galten noch so ChristianRiechers im Jahre 1970 bis Mitte der 60er Jahre auerhalb Italiensals Geheimtip (Riechers 1970, 5). Die groe, auch internationale Aus-

    strahlung des Sptwerkes von Gramsci beginnt erst Mitte der 70erJahre, also nach dem Abschlu der Bewegungsphase, und ist eng mitder Konzeption des Eurokommunismus verbunden.

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    Krise des Marxismus?

    Da ich bei dieser ersten Charakterisierung die Formel Krise des Mar-xismus verwende, will ich ihr einige erluternde Bemerkungen hinzu-

    fgen. Es gibt nicht wenige Interpreten der Geschichte des Marxismus,die diese als ein Kontinuum des theoretischen Verfalls konzipieren.ber den Revisionismus (seit Bernstein) verluft so eine Linie der Ab-wendung vom Marxismus, die schlielich im politischen Pragmatismussowie im positivistischen Eklektizismus der Sozialdemokratie Schmidt-scher Prgung sich vollende. ber den spten Engels und Lenin verlau-fe bis zum negativen Tiefpunkt Stalin gleichsam die Gegenlinieeiner Dogmatisierung des Marxismus zur quasi-theologischen Legiti-

    mationsideologie. Dazwischen schwebt mehr oder weniger freijene Strmung, die Perry Anderson als westlichen Marxismus cha-rakterisiert hat und fr die Namen wie Lukacs und Korsch, schlielichauch die Vertreter der Frankfurter Schule stehen, die freilich soAnderson jeden dynamischen Kontakt zur Arbeiterklasse verlorenhaben (Anderson 1978, 136).

    Es wrde den Rahmen dieses Vortrages berschreiten, sich eingehen-

    der mit dieser Konzeption der Krise des Marxismus zu beschftigen.Daher nur soviel zu den m.E. wesentlichen zwei Bestimmungen:Erstens: In jeder historischen Phase der Entwicklung des Kapitalismus,der Krftekonstellationen der Klassen und der Entwicklung der soziali-stischen Bewegung bildet sich eine spezifische Theorie-Praxis-Konstel-lation heraus, die ihrerseits auf Schwerpunkte, Inhalte sowie die Reich-weite der theoretischen Diskurse einwirkt. Krisen entstehen immerdann, wenn im bergang zu einer neuen historischen Phase Theorie

    und Politik der Arbeiterbewegung sich gegen die durch diesen ber-gang hervorgebrachten neuen Fragen und Antworten sperren, also

    jenen Proze blockieren, den Marx im 18. Brumaire so benannt hatte:Proletarische Revolutionen ... kritisieren bestndig sich selbst, unter-

    brechen sich fortwhrend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf dasscheinbar Vollbrachte zurck, um es wieder von neuem anzufangen,verhhnen grausam-grndlich die Halbheiten, Schwchen und Erbrm-

    lichkeiten ihrer ersten Versuche ... (MEW 8, 118)Ganz hnlich hat Rosa Luxemburg in der Junius-Broschre (1916)

    ber die Krise der Sozialdemokratie argumentiert: Das moderneProletariat geht anders aus geschichtlichen Proben hervor. Gigantischwie seine Aufgaben sind auch seine Irrtmer. Kein vorgezeichnetes, einfr allemal gltiges Schema, kein unfehlbarer Fhrer zeigt ihm diePfade, die es zu wandeln hat. Die geschichtliche Erfahrung ist seine

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    einzige Lehrmeisterin, sein Dornenweg der Selbstbefreiung ist nichtblo mit unermelichen Leiden, sondern auch mit unzhligen Irrtmerngepflastert. Das Ziel seiner Reise, seine Befreiung, hngt davon ab, obdas Proletariat versteht, aus den eigenen Irrtmern zu lernen. Selbst-

    kritik, rcksichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehendeSelbstkritik ist Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewe-gung. (LPS II, 21) Damit ist im Grunde schon die zweite wesentlicheBestimmung angesprochen: Bearbeitung der Krise in der Perspektiveihrer berwindung, in der Perspektive nicht einer Abwendung vomMarxismus, sondern seiner Erneuerung.

    Rosa Luxemburgs Erneuerung des MarxismusDiese Arbeit der Erneuerung in der doppelten Bewegung der Rck-kehr zu Marx (Wir sind wieder bei Marx ruft sie den Delegierten desGrndungsparteitages der KPD zu) undder ffnung fr die neuen Fra-gen des Klassenkampfes , diese harte Arbeit von Orthodoxie undAnti-Dogmatismus durchzieht gleich einem roten Faden das gesamteWerk von Rosa Luxemburg. Lelio Basso spricht mit Recht von ihrer Be-

    mhung, die marxistische Methode auf jede neue Situation anzuwen-den, den unendlichen Reichtum des Realen zu erfassen, ohne sich je-doch in unntze Details zu verlieren, sondern immer auf das Wesen derDinge zu zeigen, in einem lebendigen Rahmen die vielfltigen Verbin-dungen der Phnomene zu sehen, kurz, die Wirklichkeit in ihrem leben-digen Rythmus zu erfassen, vor allem, wenn es sich um den Rythmusder kapitalistischen Entwicklung oder des Wachsens der Arbeiterbewe-gung handelte: Unter diesem Aspekt geben die Darstellung der revolu-

    tionren Ereignisse von 1905 in Ruland sowie die verschiedenen Pas-sagen ihrer Schriften ber den Krieg oder die Geschichte der kolonialenEroberungen in der Akkumulation des Kapitals' ein sehr klares Bild dervielfaltigen Aspekte des Phnomens als auch der inneren Logik, die siezusammenhlt. (Basso 1969, 41) Lebendige Theorie der Aktion, wieEngels einmal den Marxismus charakterisierte, wird von Rosa Luxem-

    burg erneuert, indem sie den Marxschen Gesichtspunkt der Totalitt,

    die Betrachtung aller Teilerscheinungen als Momente des Ganzen, desdialektischen Prozesses, der als Einheit von Gedanken und Geschichtegefat ist, aufrecht erhlt, so Lukcs in seinem Aufsatz Rosa Luxem-

    burg als Marxist (1923, 40) (da Lukcs nicht von der Marxistinspricht, zeigt zugleich einen spezifischen Rckstand des Bewutseins inder Arbeiterbewegung). Betrachten wir kursorisch einige Elementeund Schritte dieser Arbeit der Erneuerung:

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    a) In ihrer Auseinandersetzung mit Bernstein in Sozialreform oderRevolution verteidigt sie nicht nur den Marxismus (den historischenMaterialismus und die Revolutionstheorie, die Wert-und Krisentheorievon Marx), sondern sie kritisiert den vulgren Empirismus, die, wie sie

    sagt, opportunistische Methode, die eine Abstumpfung der kapitali-stischen Widersprche (LPS I, 82) postuliert und von da aus berReformen ein organisches Hineinwachsen in den Sozialismus.

    b) In der Massenstreikbroschre fordert sie, zum Entsetzen derGegner des Massenstreiks, da die deutschen Arbeiter diese RussischeRevolution (von 1905; FD) als ihre eigene Angelegenheit zu betrachtenlernen, als ein Kapitel ihrer eigenen sozialen und politischen Geschich-te. Sie fahrt dann fort: Der Gradmesser der Reife der Klassenverhlt-

    nisse in Deutschland ... liegt nicht in den Statistiken der deutschen Ge-werkschaften oder in den Wahlstatistiken, sondern in den Vorgngender Russischen Revolution (ebd., 204). In dieser Arbeit kritisiert RosaLuxemburg scharf die Trennung zwischen dem politischen und kono-mischen Kampf und die Verselbstndigung beider im Organisations-fetischismus der Gewerkschafter auf der einen und der Parlamentari-sierung sozialdemokratischer Politik auf der anderen Seite: Der Op-

    portunismus, so sagt sie, will den politischen Kampf der Arbeiter-klasse auch tatschlich auf den parlamentarischen Kampf reduzierenund die Sozialdemokratie in eine kleinbrgerliche Reformpartei um-wandeln (ebd., 211). Vllig zu Recht macht sie darauf aufmerksam,da der Klassenkampf niemals nur eine Funktion des gewerkschaftli-chen Organisationsgrades sei. Die russischen Erfahrungen zeigen jagerade, wie aus den Massenbewegungen selbst neue Organisationsfor-men entstehen, v.a. neue Schichten der Arbeiterklasse in die Kmpfe

    und in die Organisationen einbezogen werden. Die steife, mechanisch-brokratische Auffassung will den Kampf nur als Produkt der Organisa-tion auf einer gewissen Hhe ihrer Strke gelten lassen. Die lebendigedialektische Entwicklung lt umgekehrt die Organisation als ein Pro-dukt des Kampfes entstehen. (Ebd., 194) Dann folgt ihre Schlufolge-rung fr die deutsche Sozialdemokratie: Die Sozialdemokratie ist dieaufgeklrteste klassenbewute Vorhut des Proletariats. Sie kann und

    darf nicht mit verschrnkten Armen fatalistisch auf den Eintritt der 're-volutionren Situation' warten, darauf warten, da jene spontane Volks-bewegung vom Himmel fallt. Im Gegenteil, sie mu, wie immer, derEntwicklung der Dinge vorauseilen, sie zu beschleunigen suchen.Gerade in einer nicht-revolutionren Situation bestehe ihre Hauptauf-gabe darin, da sie breitesten proletarischen Schichten den unvermeid-lichen Eintritt dieser revolutionren Periode, die dazu fhrenden

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    inneren sozialen Momente und die politischen Konsequenzen klarmacht (ebd., 199).

    Allerdings zeigt auch dieser Text sehr deutlich, da sich Rosa Luxem-burg Illusionen ber die Durchsetzung dieser Politik in der deutschen

    Sozialdemokratie macht. Wie sie Recht hatte mit dem Hinweis auf denunvermeidlichen Eintritt dieser revolutionren Periode, so tuscht siesich doch gewaltig, da die Durchsetzung des Opportunismus in derSozialdemokratie gerade in Deutschland unmglicher (sei) als in ir-gendeinem anderen Lande (ebd., 212).

    c) In ihrer Akkumulation des Kapitals (1912 verfat) schreibt sie zu-sammenfassend: Die Unmglichkeit der Akkumulation bedeutet kapi-talistisch die Unmglichkeit der weiteren Entfaltung der Produktivkrf-

    te und damit die objektive geschichtliche Notwendigkeit des Unter-gangs des Kapitalismus. Daraus ergibt sich die widerspruchsvolle Be-wegung der letzten, imperialistischen Phase als der Schluperiode inder geschichtlichen Laufbahn des Kapitals. (LGW 5, 364) Also: eineZusammenbruchstheorie, konomismus in reinster Gestalt? Zweifellosenthlt das umfngreichste theoretische Werk der promovierten Natio-nalkonomin solche Tendenzen und ihre oftmals diskutierten theore-

    tischen Fehler beim Rekurs auf die Marxschen Reproduktionsschematades n. Bandes des Kapital stehen in einem engen Zusammenhang mitder Zusammenbruchskonzeption. Sie negiert die Mglichkeit der inten-siv erweiterten Reproduktion ebenso wie Lohnsteigerungen und damiteiner erweiterten Nachfrage. Die Realisierung des Mehrwerts erfordertdie Kapitalisierung des nicht-kapitalistischen Raumes, gert aber inihrer Sicht unvermeidlich an eine raum-zeitliche Grenze, die dann diehistorischen Grenzen des Kapitals markiert.

    Dennoch halte ich die Wrdigung von Eduard Mrz fr zutreffend:Der groe Vorzug der Luxemburgschen Theorie liegt ... in der Er-kenntnis, da der Entwicklungsproze des Kapitals auch in der neuerenZeit aufs engste mit den Daseins- und Entwicklungsbedingungen dersog. 'unterentwickelten' Lnder zusammenhngt. Rosa Luxemburg be-rcksichtigte in ihrer Analyse die Bedeutung des Kapitalexports und dermilitrischen Ausgaben (als Kapitalanlagesphre) sowie die Rolle der

    politischen Gewalt viel klarer und eingehender als die meisten moder-nen Theoretiker der wirtschaftlichen Entwicklung. (Mrz 1966, VII)

    Der konomismus von Rosa Luxemburg paart sich niemals miteinem politischen Fatalismus. Im Gegenteil! Sie teilt mit einigen der be-sten marxistischen Theoretiker ihrer Zeit die Auffassung, da die lan-ge Welle der relativen Prosperitt und Stabilitt des Kapitalismus um1910 zu ihrem Abschlu gekommen sei und da nunmehr eine Periode

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    verschrfter, ja barbarischer konomischer und politischer Krisen desKapitalismus bevorstehe. Diese Prognose war zweifellos richtig undwurde noch 1910 von Karl Kautsky in seinem Buch Der Weg zurMacht (Kautsky 1972) geteilt. Im Unterschied, ja im scharfen Gegen-satz zu all jenen brgerlichen und rechtssozildemokratischen Ideolo-gen, die den ruhigen Gang der Entwicklung zum Mastab ihrer poli-tisch-strategischen berlegungen machten, hat Rosa Luxemburg trotz der Fehler, die ihre konomischen Analysen enthalten sehr klargesehen, da der Umschlag in eine solche Krisenperiode sich vollzog(aus heutiger Sicht: der bergang in jene lange Welle der Krisen undDepressionen, der Kriege und gewaltsamen Auseinandersetzungen, wiefr die Zeit etwa zwischen 1910 und 1947/48 leicht zu erkennen ist).

    Ferner, da dieser Umschlag die Arbeiterbewegung mit der Aufgabekonfrontierte, in der Periode der zugespitzten Krise des Imperialismus(auch in seinen internationalen Dimensionen) neue Formen und Inhaltedes Kampfes (z.B. den Kampf gegen Militarismus und Krieg) zu ent-wickeln, die den Weg der proletarischen Revolution beschleunigen.

    d) Und gerade in dieser Phase zwischen 1910 und 1914 intensiviertsich nun im zweiten Abschnitt der Massenstreikdebatte die Aus-

    einandersetzung mit Kautskys Marx-Orthodoxie und der zentristi-schen Plitik. Jetzt attackiert Rosa Luxemburg den Attentismus vonKautsky. Sie, die sich nun fr organisierte und von der Sozialdemokra-tie gefhrte Massenaktionen mit der Losung Fr die Republik (alsofr den Sturz der Monarchie) engagiert, kritisiert schonungslos den Wi-derspruch des Zentrismus: Himmelstrmende Theorie und 'Ermat-tung' in der Praxis, revolutionrste Perspektiven in den Wolken undReichstagsmandate als einzige Perspektive in der Wirklichkeit.

    (LGW 2, 414) An anderer Stelle wird sie noch deutlicher: Der wirkli-che Effekt des Auftretens des Genossen Kautsky ist also nur der, da ereine theoretische Schirmwand fr die Elemente in der Partei und in denGewerkschaften geliefert hat, die sich bei der weiteren rcksichtslosenEntfaltung der Massenbewegung unbehaglich fhlen, sie im Zaune hal-ten und sich am liebsten so schnell wie mglich auf die alten bequemenBahnen des parlamentarischen und gewerkschaftlichen Alltags zurck-

    ziehen mchten. Indem Genosse Kautsky unter Berufung auf Engelsund den Marxismus diesen Elementen fr ihr Vorgehen eine Gewis-sensberuhigung gebracht hat, hat er zugleich ein Mittel geliefert, umderselben Demonstrationsbewegung fr die nchste Zeit das Genick zubrechen, die er immer machtvoller gestalten mchte. (Ebd., 374)

    Die Struktur, Linie und Bewegung des Denkens und Wirkens RosaLuxemburgs drfte nun klarer zu erkennen sein. Whrend des Krieges

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    treten die Konturen dieser Position nur noch schrfer, ja auch bitterer,in der Polemik gegen die Mehrheitssozialdemokratie hervor. Der Welt-krieg ist eine Weltwende, sagt sie in der Junius-Broschre, das siehtsie dann auch in der Russischen Revolution des Jahres 1917 besttigt.

    Gleichzeitig vollzog sich im Hexensabath des August 1914 eine, wiesie sagt, weltgeschichtliche Katastrophe: Die Kapitulation (an andererStelle spricht sie vom 'Verrat', LPW II, 153; FD) der internationalen So-zialdemokratie (ebd., 20). Jetzt wird es, so in den Leitstzen, zueiner Lebensnotwendigkeit fr den Sozialismus, eine neue Arbeiter-In-ternationale zu schaffen, welche die Leitung und Zusammenfassung desrevolutionren Klassenkampfes gegen den Imperialismus in allen Ln-dern bernimmt (ebd., 155).

    Da Rosa Luxemburg immer wieder gezgert hat, auch organisato-risch den Bruch mit dem Sozialreformismus zu vollziehen; da sie sichunter dem Eindruck der November-Revolution deutlich in der Frage:Nationalversammlung oder Rte Positionen der Bolschewiki an-nherte (und ihre Kritik vom Herbst 1918 nicht wiederholte, vgl. La-schitza/Radczun 1971, 445ff.); da sie, die Theoretikerin der entschie-densten Massenaktion, sich beim Grndungsparteitag der KPD und

    auch im Januar 1919 gegen die ultralinken und putschistischen Krfte inder Partei wandte, und da in diesem Zwiespalt zwischen Kritik undDisziplin auch ein Element der Tragik ihrer Ermordung erkennbar wird all das wird in der umfangreichen Literatur ber Rosa Luxemburgausfhrlich errtert und soll jetzt hier nicht mehr im Detail diskutiertwerden.

    Die Antwort Gramscis

    In den Kerkerheften von Gramsci (aus Platzgrnden kann ich auf denGramsci der Ordine-Nuovo-Periode nicht eingehen1) finden sichnicht viele Bezge zu Rosa Luxemburg. Im Namensregister stehenzwanzig Seitenangaben neben fast dreihundert fr Machiavelli. Unddoch, scheint mir, erschliet sich aus diesen knappen Passagen der Cha-rakter der Beziehung von Luxemburg zu Gramsci, der Grad ihrer ber-

    einstimmung ebenso wie die grundlegende Differenz.Betrachten wir zunchst eine Textstelle (es handelt sich um eine Notiz

    zu Labriola), in der sich Gramsci positiv auf Luxemburg bezieht:Man kann hier Rosa (Luxemburgs) Ausspruch ber die kritische konomie und ihre

    hheren Probleme anfhren: in der romantischen Periode des Kampfes, des Sturm

    und Drang des Volkes, konzentriert sich das ganze Interesse auf die unmittelbar

    vorhandenen Waffen, auf taktische Probleme der Politik und auf die geringeren

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    kulturellen Probleme im philosophischen Bereich. Aber sobald die subalterne Klasse

    wirklich autonom und hegemon wird und einen neuen Staatstyp hervorbringt, entsteht

    das konkrete Bedrfnis, eine neue geistige und moralische Ordnung zu schaffen,

    einen neuen Gesellschaftstyp, und folglich das Bedrfnis, universellere Begriffe, raf-

    finiertere und entschiedenere ideologische Waffen auszuarbeiten. (R 1967, 183)

    An anderer Stelle wiederholt Gramsci diesen Bezug, wenn er sagt, RosaLuxemburg habe darauf hingewiesen, die Entwicklung der konstituti-ven Bestandteile der Philosophie der Praxis folge stets den Notwen-digkeiten des praktischen Handelns. (Ebd, 187)

    In dieser Passage wird zunchst deutlich, da Gramsci wie Luxem-burg den Marxismus, die Theorie-Praxis-Beziehung historisiert. DieDogmatisierung des Marxismus zu einem gleichsam berhistorischen

    Schema von Gesetzmigkeiten, seine Umformung in eine evolutioni-stische Soziologie hat Gramsci, vor allem in der Auseinandersetzungmit Bucharins Handbuch, scharf zurckgewiesen.

    Diese Passage verdeutlicht uns aber zugleich den zentralen Gesichts-punkt, den Brennpunkt, auf den fast alle berlegungen von Gramscihinauslaufen: Autonomie und Hegemonie als historisch-revolutionrerProze, in dem die Arbeiterklasse einen neuen Typ des Staates und derGesellschaft schafft. Fr den Gramsci der Kerkerhefte stellt sich An-fang der 30er Jahre diese Problematik in einer doppelten, und keines-wegs identischen Perspektive (und gerade in dieser Unterscheidungliegt ja das Moment der Erneuerung!): Auf der einen Seite die Proble-matik des Sozialismus in einem Lande, der Diktatur des Proleta-riats in der Sowjetunion (im Osten); auf der anderen Seite die Proble-matik, die Erfahrung des gescheiterten Ansturms auf die Staatsmachtsowie die Niederlage gegenber dem Faschismus in der Perspektive

    einer neuen revolutionren Strategie im Westen zu reflektieren.Genau an diesem Punkt bezieht Gramsci eine kritische Position

    gegenber Rosa Luxemburg (obwohl er nur sehr wenige Texte von ihrkennt). In einem Manuskript, in dem die Begriffe Bewegungs- und Stel-lungskrieg behandelt werden, rekurriert er auf die Massenstreikbro-schre von Rosa Luxemburg:

    In der Broschre wird ein wenig voreilig und auch oberflchlich ber die histori-

    schen Erfahrungen von 1905 theoretisiert. Rosa vernachlssigte in der Tat die Mo-mente des 'Willens' und der Organisation, die bei jenen Ereignissen viel verbreiteter

    und wirksamer waren, als Rosa es aufgrund eines gewissen 'konomischen' und spon-

    taneistischen Vorurteils glauben wollte. Dennoch ist diese Broschre (wie auch ande-

    re Aufstze der gleichen Verfasserin) eines der bedeutendsten Dokumente der Theo-

    rie des Bewegungskrieges, bertragen auf die Kunst der Politik. Das unmittelbare

    konomische Element (Krise usw.) wird als Feldartillerie betrachtet, die im Kriege

    den Weg in die feindlichen Verteidigungslinien ffnet, und zwar eine ausreichende

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    ffnung schafft , damit die eigenen Truppen einbrechen und einen endgltigen (strate-gischen) Erfolg oder zumindest einen bedeutenden Erfolg in strategischer Richtungerreichen. (Z, 268f.)

    Am Ende des gleichen Manuskripts nennt Gramsci in einem Atemzug

    Trotzki, franzsische Syndikalisten und Luxemburg als Reprsentantender Strategie des Bewegungskrieges (ebd., 273). Lenin dagegen habenoch vor seinem Tode begriffen, da ein Wechsel notwendig war vondem Bewegungskrieg, der im Osten 1917 siegreich angewandt wurde, zueinem Stellungskrieg, der einzig mglichen Form im Westen ... Dies,so scheint mir, ist die Bedeutung der Formel von der Einheitsfront.(Ebd., 272) Danach folgt die bekannte Passage ber die Unterschiedevon Ost und West:Im Osten war der Staat alles, die brgerliche Gesellschaft steckte in ihren Anfangen,

    und ihre Konturen waren fliessend. Im Westen herrschte zwischen Staat und brgerli-

    cher Gesellschaft ein ausgewogenes Verhltnis, und, erzitterte der Staat, so entdeckte

    man sofort die krftige Struktur der brgerlichen Gesellschaft. Der Staat war ledig-

    lich ein vorgeschobener Schtzengraben, hinter dem eine robuste Kette von Befesti-

    gungswerken und Kasematten lag, natrlich mehr oder weniger von Staat zu Staat,

    aber gerade dies erforderte eine eingehende Erkundung im Landesmastab. (Ebd.,

    273)

    Gramsci kennt Rosa Luxemburgs Werk kaum und teilt anscheinend ei-nige jener Vorurteile ber sie, die nach Lenins Tod in der Kommunisti-schen Internationale um sich griffen. In der Organisationsfrage auchin der Bestimmung der revolutionren Partei als des modernen Fr-sten, als Formierung eines nationalen kollektiven Volkswillens, des-sen Organisator und zugleich aktiver, wirkender Ausdruck der moderneFrst ist (ebd., 256) , in der Parteifrage also (die ja zugleich die ge-

    samte Problematik der Intellektuellen berhrt) steht Gramsci Leninsehr viel nher als Rosa Luxemburg. Ein weiterer Grund fr Gramscisdistanziertes Verhalten zu Luxemburg liegt mglicherweise darin, dasie die Fragen der Bndnispolitik der Arbeiterklasse vor allem mitder Bauernschaft fast durchgngig unterschtzte bzw. negierte. BeiGramsci hingegen bildet die Reflexion der besonderen italienischenVerhltnisse, der Nord-Sd-Spaltung des Landes, gleichsam die Achse,um die seine theoretischen wie strategischen Analysen sich gruppieren.So schreibt er in der Abhandlung Einige Gesichtspunkte der Frage desSdens (1926):

    Die Triner Kommunisten hatten sich konkret die Frage der 'Hegemonie des Proleta-

    riats' gestellt, d.h. die Frage, der sozialen Basis der proletarischen Diktatur und des

    Arbeiterstaates. Das Proletariat kann in dem Mae zur fhrenden und herrschenden

    Klasse werden, wie es ihm gelingt, ein System von Klassenbndnissen zu schaffen,

    das es ihm gestattet, die Mehrheit der werkttigen Bevlkerung gegen den Kapitalis-

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    mus und den brgerlichen Staat zu mobilisieren; und das bedeutet in Italien, unter den

    real bestehenden Klassenverhltnissen, in dem Mae, wie es ihm gelingt, die Zustim-

    mung der breiten, buerlichen Massen zu erlangen. Aber (so fahrt er fort; FD) die

    Bauernfrage ist in Italien geschichtlich bedingt. .. Sie (hat) zwei typische und beson-

    dere Formen angenommen: die Frage des Sdens und die Frage des Vatikans. (Ebd.,

    191f.)

    Wenn wir auf die Unterscheidung von Bewegungs- und Stellungskriegzurckkommen, ist die Differenz zu Luxemburg viel grundstzlicher.Sie liegt jenseits taktischer Differenzen und ist aus der Sicht vonGramsci auch geschichtlich determiniert. Das Verhltnis von Staat und

    brgerlicher Gesellschaft bildet fr ihn den entscheidenden Gesichts-punkt. Er betonte die krftige Struktur der brgerlichen Gesellschaft

    im Westen, das zwischen Gesellschaft und Staat ausgewogene Ver-hltnis: Die Stabilitt des Kapitalismus beruht nicht allein auf der politi-schen Gewalt des Staates (genauer: der staatlichen Zwangsapparate),sondern dieser Staat sttzt und schtzt selbst noch ein System von Insti-tutionen und Vergesellschaftungsformen in der brgerlichen Gesell-schaft, die das Funktionieren des Kapitalismus auch dann gewhrlei-stet, wenn der Staat (die politische Gesellschaft) unter dem Ansturm der

    Arbeiterklasse zu wanken scheint. Genau hier haben die zahlreichenAnalysen von Gramsci ber Volkskultur und Ideologie, ber Schulenund Bibliotheken ihren Platz. Er thematisiert m.a.W. die Vergesell-schaftungs- und Integrationsproblematiknun Gegenstand der moder-nen Soziologie. Beispielhaft sind jene Analysen ber den Amerikanis-mus und Fordismus, in denen er sich mit dem neuen Typ der taylori-sierten Arbeit auseinandersetzt, der damit einhergehenden Vernde-rungen der psychophysiologischen Konditionen des Arbeiters, und der

    neuen Konformitt in der Lebensweise der amerikanischen Arbeiter-klasse. (Q, 2137ff.)

    Fr Gramsci soll Beschftigung mit diesen Fragen in erster Liniedazu fhren, den Weg der proletarischen Revolution neu zu bestimmen.Das methodologische Kriterium, an dem sich die Analyse zu orientie-ren habe, ist das folgende: Die Vorherrschaft einer sozialen Gruppe(damit meint er: einer Klasse; FD) manifestiert sich auf zweifache

    Weise: als 'Herrschaft' (dominio) und als 'intellektuelle und moralischeFhrung' (direzione). Eine soziale Gruppe herrscht ber gegnerischeGruppen, die sie auch mit der bewaffneten Gewalt zu 'liquidieren'oder zu unterwerfen strebt und sie ist fhrend gegenber nahestehen-den oder verbndeten Gruppen. Eine soziale Gruppe kann und musogar fhrend sein, schon bevor sie die Regierungsgewalt erobert (diesist sogar eine der wesentlichen Bedingungen fr die Machtergreifung);

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    danach, wenn sie die Macht ausbt und auch, wenn sie sie mit harterFaust ausbt, wird sie herrschend, aber sie mu auch 'fhrend' blei-

    ben. (Ebd., 2010)Fgen wir eine Bemerkung hinzu, in der sich Gramsci mit dem Ver-

    hltnis von intellektuell-moralischer und konomischer Reform, alsomit der Frage nach den konomischen Umwlzungen beschftigt. Erschreibt: Kann es denn eine Kulturreform geben, und zwar eine He-

    bung des Bildungsniveaus unterentwickelter Schichten der Gesell-schaft, ohne eine vorhergehende konomische Reform und eine nde-rung im gesellschaftlichen Gefge und in der Welt der Wirtschaft? Des-halb mu eine intellektuelle und moralische Reform an ein konomi-sches Reformprogramm gebunden sein, ja, das konomische Reform-

    programm ist genau die konkrete Art und Weise, worin sich jede intel-lektuelle und moralische Reform uert. (Z, 206f.)

    Luxemburg und Gramsci heute

    Es war meine Absicht, die Akzentuierung bei der Vorstellung von we-sentlichen Aspekten des Werkes von Luxemburg und Gramsci so vorzu-

    nehmen, da sie direkt oder indirekt in die aktuellen Diskurse eingrei-fen. Wie aber den Bezug zur Gegenwart herstellen? Fr die Frage nachihrer Aktualitt wre ebenso reizvoll wie schwierig, einen ganzen Kata-log von Themen aufzustellen, die von Luxemburg und Gramsci behan-delt werden und die uns auch in der Gegenwart theoretisch und prak-tisch beschftigen. Ich denke v.a. an den Zusammenhang Imperialis-mus/Militarismus/Krieg, den Zusammenhang von Imperialismus undFaschismus, an die Gewerkschaftsfrage, das Verhltnis von Organisa-

    tion und Spontaneitt, die Beziehung von Staat und brgerlicher Gesell-schaft in der Gegenwart, die Diskussion ber die Verselbstndigung der

    parlamentarischen Arbeit gegenber den auerparlamentarischen Be-wegungen u.v.a.m. Bei all diesen Themen knnen wir unendlich vielvon den groen marxistischen Theoretikern und Politikern der erstenJahrzehnte des 20. Jahrhunderts von Luxemburg, Gramsci, vor allemaber auch von Lenin lernen. Ferner ist es nach wie vor besonders fr

    junge Intellektuelle wichtig zu lernen, da diese marxistischen Theore-tiker und Revolutionre den brgerlichen Wissenschaftlern und Ideolo-gen, die die Trends der modernen sozialwissenschaftlichen Diskursesetten, nicht nur in bezug auf ihre wissenschaftliche Erkenntnisfhig-keit, sondern v.a. auch in der gelebten (und erlittenen) Vermittlung vonTheorie und Praxis, von wissenschaftlicher Erkenntnis und Kampfturmhoch berlegen sind.

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    Jedoch wird es nicht allzu viele junge Intellektuelle geben, die sichzum gegenwrtigen Zeitpunkt solchen Lernprozessen ffnen. Es gibtderzeit weder eine Luxemburg- noch eine Gramsci-Welle in der BRD.Die Luxemburg-Welle flachte in der Sptphase der Studentenbewegung

    ab. Gramsci wurde nach meiner berzeugung in der Bundesrepublikniemals breit rezipiert. Damit soll kein negatives Urteil ber die vieleninteressanten wissenschaftlichen Arbeiten ber Gramsci und auch dieKPI gefllt werden, sondern lediglich die politische Wirkungs- undAusstrahlungskraft (die ja auch etwas mit dem Hegemonie-Problem zutun hat!) beurteilt werden. Da bis heute das Projekt einer deutschenAusgabe der Quaderni del Carcere nicht realisiert wurde, da wirkeine der englischen Ausgabe der Prison Notebooks vergleichbare

    Textausgabe lieferbar haben, zeigt, da aus der Sicht der kapitalisti-schen Buchproduzenten und -vertreiber die zahlungskrftige Nachfra-ge, jener untrgliche Indikator des Interesses in der Marktgesellschaft,zu gering ist.

    ber jene erneuerte Aktualitt von Rosa Luxemburg, die diese nurnoch als Humanistin, als Liebende, als Biologin und als Gegnerin desSozialismus erscheinen lt, will ich hier nicht ausfhrlich sprechen.

    So wichtig es ist, alle Seiten der Persnlichkeit, die Vielfalt, ja denReichtum der vielfltigen Bedrfnisse und Fhigkeiten gerade am Bei-spiel von Rosa Luxemburg (und auch von Gramsci) zur Kenntnis zunehmen, so wird doch jeder Versuch scheitern mssen, diese Momentegegenber dem Tatbestand zu isolieren, da die beiden sozialistisch/kommunistische Revolutionre gewesen sind. Erst im Begriff der Ein-heit dieser Momente erschliet sich die wirkliche historische Bedeu-tung dieser Persnlichkeiten.

    Es gibt einen Strang der Gramsci-Rezeption, der mitten in die pro-grammatischen und strategischen Diskussionen der SPD, v.a. zu PeterGlotz hinfuhrt. In seiner Arbeit der Zuspitzung (die auch von vielenlinken Intellektuellen hochgelobt wurde) wird im Vorwort als Leit-Frage formuliert: Wie gewinnt die Linke 'kulturelle Hegemonie' alsVorstufe politischer Macht? (Glotz 1984, 7) Eine Fragestellung also,die von Gramsci vorgegeben ist? Glotz analysiert sodann die groen

    Trendbrche unserer Zeit, analysiert den neu-konservativen herr-schenden Block (und seine Fraktionen) und wendet sich schlielichden folgenden Fragen zu: Wie entsteht... ein alternativer Block? Wiekann die Sozialdemokratie zum organisierenden Zentrum eines neuenBndnisses werden? (Ebd., 26) Dazu sei folgendes notwendig: DieLinke msse die zentralen Diskurse (Arbeitslosigkeit, System der so-zialen Sicherung, Zusammenbruch des Patriarchalismus, Ablsung des

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    Ausplnderungsparadigmas gegenber der Natur, Friedens- und Ab-rstungspolitik, Anti-Etatismus etc.) hegemonial und populistisch im Sinne also von massenwirksamer Deutungsmacht besetzen. Siemsse dabei fr eine Politik der sozialgesteuerten Innovation eintre-

    ten, um mit der SPD als organisierendem Zentrum ein Bndniszwischen traditioneller Linken (das sind fr Glotz: Gewerkschaftenund SPD; FD), den technischen Eliten und den nachdenklichen Min-derheiten der Wachstumskapitale zustandezubringen (ebd., 123). Die-ser alternative Block solle eine marktwirtschaftlich orientierte Politikder Mitbestimmung und des Mitbesitzes vertreten. Deutlicher: DieLosung mu lauten: Marktwirtschaft, Mitbestimmung und Mitbesitzstatt Stellungskrieg. (Ebd., 33)

    Der Bezug zu Gramsci verkehrt sich so in sein Gegenteil! Fr Gramsciwar der Stellungskrieg die Alternative zum Bewegungskrieg, aber nurals Kampfstrategie zur revolutionren berwindung des Kapitalismus,zu einer grundlegenden intellektuellen, moralischen sowie konomi-schen Reform. Das oben wiedergegebene Zitat, auf das sich so vieleGramsci-Interpreten beziehen (fhrend sein vor der Machtergreifung!)schliet sogar die Perspektive der Diktatur des Proletariats ein.

    Gramsci selbst hat brigens in seinen Reflexionen ber die von ihmso genannte passive Revolution diese Glotzsche Position charakteri-siert: Die ideologische Hypothese, die der passiven Revolution kor-respondiert, knnte in den folgenden Begriffen ausgedrckt werden:ber die legislative Intervention des Staates, ber die korporative Orga-nisation, fhrt man in die konomische Struktur des Landes Modifika-tionen ein, die die Elemente der 'Planung der Produktion', die Soziali-sierung und die Kooperation in der Produktion favorisieren, ohne ber-

    haupt die individuelle oder kollektive Aneignung des Profits zu berh-ren. Im konkreten Rahmen der sozialen Beziehungen in Italien, knntedies die einzige Lsung sein, um die Produktivkrfte der Industrie unterder Fhrung der traditionellen herrschenden Klassen zu entwickeln ... (zit. nach: Buci-Glucksmann 1975, 362; bers: FD).

    Natrlich ist es zu begren, wenn in der SPD Diskussionen stattfin-den, die sich nicht mehr aggressiv und ngstlich gegen marxistische

    Theorietraditionen abschlieen. Nicht nur aus Grnden der geistesge-schichtlichen oder philologischen Przision und Redlichkeit, sondernauch wegen der politischen Relevanz solcher Bezge mu aber kritischgefragt werden, ob sie richtig sind. Mit Glotz' Losung Marktwirt-schaft, Mitbestimmung und Mitbesitz statt Stellungskrieg! wirdGramsci von den Fen auf den Kopf gestellt. Hegemonie und Reformsind hier nur noch als Elemente einer sozialgesteuerten Modernisierung

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    des Kapitalismus begriffen ein Programm, das bei genauer Betrach-tung noch hinter das alte Wirtschaftsdemokratie-Programm der SPDund der Gewerkschaften zurckfallt. Hegemonie heit dann nur noch:Wahlsieg der SPD bei den nchsten Wahlen.

    Wir sollten uns an die Bemerkung von Lukcs erinnern, der die Be-deutung von Luxemburg als Marxistin darin gesehen hat, da sie, in derAuseinandersetzung mit dem Revisionismus, den Gesichtspunkt derTotalitt, die Betrachtung aller Teilerscheinungen als Momente desGanzen, erneuert hat. Das heit aber auch, da wir bei der heutigenAneignung des Werkes von Luxemburg und Gramsci nicht den doppel-ten Fehler begehen drfen: sie einerseits unhistorisch und unkritisch zulesen und andererseits Versatzstcke ihres Werkes zu isolieren, vor

    allem aber: die antikapitalistische auf den Weg und die Ziele desKlassenkampfes bezogene Perspektive ihres Werkes zu verschleiernoder gnzlich umzudrehen.

    Der Marxismus mu immer wieder in der Analyse der je historischkonkreten Bedingungen und Inhalte der kapitalistischen Entwicklung,der Krfteverhltnisse der Klassen und des Klassenkampfes berprftund weiterentwickelt werden. In der Gegenwart konkretisiert und er-

    neuert sich die Marxsche Kapitalismuskritik in der Imperialismuskri-tik: in der Analyse der Entwicklungstendenzen der Kapitalverwertungs-bedingungen (der Krisenprozesse, der Produktivkraftentwicklung, desWeltmarktes), der darauf bezogenen Herrschaftsstrategien und der Ge-waltpotentiale, der Vergesellschaftungsprozesse im entwickelten Kapi-talismus der Gegenwart. Von hier aus sind m.E. die Fragen der Hege-monie zu entwickeln: die zentralen Fragen, die heute mit der Verhin-derung von atomaren Katastrophen und dem Kampffreine Neu-Orga-

    nisation des Systems der gesellschaftlichen Arbeit, fr die Sicherungder natrlichen Bedingungen der menschlichen Existenz, fr einenneuen Typ der Kultur und der Lebensweise und mit der berwindungdes Elends in der Dritten Welt verbunden sind. Von hier aus sind auchdie Fragen nach dem Zustand und den Entwicklungsmglichkeiten derheutigen Arbeiterbewegung zu entwickeln, nach den sozialen und poli-tischen Gegenkrften, die im nationalen wie im globalen Rahmen

    die uneingeschrnkte Durchsetzung der Kapitalstrategien modifizierenund begrenzen. Und von hier aus stellen sich auch die Fragen nach derFormierung eines Bndnisses, eines alternativen Blocks, der alsBndnis von Teilen der Arbeiterklasse, der neuen Mittelschichten undder neuen Marginalisierten jene groen und neuen Themen der Ge-genwart als soziale und politische Bewegung in der Perspektive derberwindung des Kapitalismus zu vertreten vermag.

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    Anmerkung

    1 Immerhin findet sich dort in einem Aufsatz Die Kommunistische Partei (Sep-tember/Oktober 1920) der Hinweis, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht seienallen christlichen Heiligen turmhoch berlegen, denn der Zweck ihrer Militanzist so schreibt der junge Gramsci konkret, human und begrenzt. Vgl. A.Gramsci, Scritti politici, a cura di P. Spriano, II, Rom 1973, 151.

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    Vittantonio Gioia

    Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci:Zur konomischen Entwicklung im

    Monopolkapitalismus1

    Einige methodologische Bemerkungen

    WerDie Akkumulation des Kapitals von Rosa Luxemburg liest, ist berdie Khnheit und wissenschaftliche Genauigkeit des Buches ebenso er-staunt wie ber seine Naivitt (Sweezy 1960, XXX; Robinson 1970,

    683). Gewhnlich wird diese Naivitt teils dem starken Wunsch der Lu-xemburg zugeschrieben, auf die neuen, harmonisierenden Interpreta-tionen von Marx zu reagieren, teils (und dies wird von Luxemburgselbst in einem berhmten Brief an Diefenbach hervorgehoben; Sweezy1960, XVf.) der Geschwindigkeit, mit der sie das Buch geschriebenhatte, in der berzeugung, die definitive Lsung fr das Problem dererweiterten Reproduktion des Kapitals gefunden zu haben.

    Diese Interpretation legt den Schwerpunkt auf die auerordentlichheftige Polemik Luxemburgs gegen die Exponenten der deutschen So-zialdemokratie (Basso 1970, 23ff.; Basso 1973, 7-24) und behauptetauerdem einen wissenschaftlichen Bruch zwischen der vorherigenDenkweise und derjenigen in derAkkumulation des Kapitals (und der

    Antikritik) (Kowalik 1977, 32-37; Campanella 1977, 181ff.). DieseHypothese wird gesttzt durch Luxemburgs 'Vorwort', in dem sieschreibt: Den Ansto zur vorliegenden Arbeit hat mir eine populre

    Einfhrung in die Nationalkonomie gegeben, die ich ... vorbereitete... Es wollte mir nicht gelingen, den Gesamtproze der kapitalistischenProduktion in ihren konkreten Beziehungen sowie ihre objektive ge-schichtliche Schranke mit gengend Klarheit darzustellen. (LGW 5, 7)

    Tatschlich gelangt eine vertiefte Analyse ihres Werkes, wie wir siehier zeigen wollen, zu anderen Schlufolgerungen. Die wichtigsten Ex-ponenten der Zweiten Internationale (von Kautsky ber Hilferding und

    Luxemburg bis Bernstein) weisen eine weitgehende methodische Homo-genitt in ihrer Analyse der konomischen Entwicklung des Monopolka-pitalismus auf, unabhngig von den bedeutenden Meinungsverschieden-heiten ber die Interpretation des Denkens von Marx und der unter-schiedlichen Entwicklung ihres theoretischen Denkens. Dies zu erfassenist fr das Verstndnis der Entwicklung, der Struktur und des innerenAufbaus eines Werkes wie Die Akkumulation des Kapitals essentiell.

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    34 Vittantonio Gioia

    Zur Kritik dieser theoretischen Haltung, die tiefe Wurzeln im Marxis-mus der Zweiten Internationale hat, liefert das Denken Gramscis einntzliches Instrument, auch wenn die Gegenberstellung von Gramsciund Luxemburg nicht unkompliziert ist.2

    Die objektiven Schranken des Kapitalismus bei Engels und Luxemburg

    Die Tatsache, da das Werk von Marx unvollendet geblieben war undmanche widersprchlichen Formulierungen enthielt, sowie seine kom-

    plizierte Editionsgeschichte sind fr eine Reihe von Irrtmern und Mi-verstndnissen verantwortlich, die die theoretische Debatte in derPeriode der Zweiten Internationale charakterisiert haben.

    Dennoch kann man die theoretische Evolution des Marxismus nachdem Tode von Marx nicht in ihrer ganzen Bedeutung erfassen, wennman sie vom Werk des spten Engels trennt: von seiner Art und Weise,die Zweifel und Probleme zu lsen, die das Denken von Marx durchzo-gen, und von der besonderen Synthese positivistischer und idealisti-scher Interpretationsweisen, die seine Lektre der konomischen undgesellschaftlichen Entwicklung des Kapitalismus charakterisierten.

    (Gioia 1982, 131ff.; Colletti 1972)In diesem Sinne ist der Antidhring (und in anderer Hinsicht dieDialektik der Natur) eine objektive Quelle, um die theoretische Ent-wicklung des Marxismus um die Jahrhundertwende zu verstehen (vgl.dazu Annali della Fondazione Lelio e Lisli Basso-Issoco, Bd. 5, Mai-land 1982). Darin kann man in der Tat sowohl einige spezifische Ele-mente wiederfinden, die die folgende Debatte charakterisieren werden(auch wenn sie dann in andere Interpretationsmodelle eingebunden und

    manchmal direkt gegenstzlich sind), als auch und das ist bezeich-nend jenen methodischen Ansatzpunkt zu den Problemen der kono-mischen Entwicklung, der das theoretische Schicksal des Marxismusder Zweiten Internationale bestimmen wird.

    Die im Antidhring enthaltene Grundidee ist die eines notwendigenund automatischen bergangs zum Sozialismus. Diese notwendige Ent-wicklung des Monopolkapitalismus entspringt nach Engels zwingend

    aus der Tatsache, da dieser konomische Organismus nicht mehr inder Lage ist, die Entwicklung der Produktivkrfte zu sichern, und daer daher angesichts der ununterdrckbaren Forderungen der gesell-schaftlichen Evolution inadquat erscheint. Nach dieser Sichtweise kn-nen die technisch-produktiven Revolutionen, die politisch-institutio-nellen Neuerungen und die neuen gesellschaftlichen Schichtungen, dieden Monopolkapitalismus charakterisieren, kein neues Gleichgewicht

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    Zur konomischen Entwicklung im Monopolkapitalismus 35

    schaffen, das die konomische Entwicklung erneut anspornen wrde.Es sind degenerative Erscheinungen, die den Proze der Systemzerset-zung beschleunigen.

    Die Unterkonsumation der Massen, ihr Lebensniveau, das chro-nisch ungengend ist im Verhltnis zur gewachsenen Produktions-kapazitt des Monopolkapitalismus, ist die wirklich unberschreitbare(objektive) Schranke der kapitalistischen Wirtschaft. Sie ist ein Ele-ment, das die Miverhltnisse zwischen den verschiedenen Sektorender Produktion und in der Konsequenz die konomischen Krisen her-vorbringt. Der unzureichende Konsum der Massen ist es weiterhin, derdie Unfhigkeit des Kapitalismus offenlegt, in dauerhafter Weise die in-neren Widersprche seiner Wirtschaftsstruktur zu lsen.

    Wenn man das Werk von Rosa Luxemburg durchgeht, fallt einem auf,da das Thema der objektiven Schranken des Kapitalismus derAngelpunkt ist, um den sich ihr ganzes Denken dreht. Dies wurde vonLuxemburg selbst klar hervorgehoben, als sie in ihrer Antwort an Bern-stein auf die enge Verbindung zwischen konomischer Notwendigkeitund dem bergang zum Sozialismus im Werk von Marx hinwies. Manmsse anerkennen, da der Sozialismus nur aus den immer schrfer

    werdenden Widersprchen der kapitalistischen Wirtschaft resultiertund aus der Anerkennung der absoluten Notwendigkeit ihrer Aufhe-bung mittels eines gesellschaftlichen Umsturzes seitens des Proleta-riats (LGW 1/1, 377). Kurz zuvor hatte sie geschrieben:

    Entweder folgt die sozialistische Umgestaltung nach wie vor aus den objektiven Wi-

    dersprchen der kapitalistischen Ordnung, dann entwickeln sich mit dieser Ordnung

    auch ihre Widersprche, und ein Zusammenbruch in dieser oder jener Form ist in ir-

    gendeinem Zeitpunkt das Ergebnis, dann sind aber auch die 'Anpassungsmittel' un-

    wirksam und die Zusammenbruchstheorie richtig. Oder es sind die 'Anpassungsmit-tel' wirklich solche, die einem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorbeu-

    gen, also den Kapitalismus existenzfhig machen, also seine Widersprche aufheben,

    dann hrt aber der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist

    dann alles, was man will, nur nicht ein Ergebnis der materiellen Entwicklung der Ge-

    sellschaft. (Ebd.)

    In dieser Behauptung Luxemburgs ist die wesentliche Hypothese (sieist der Angelpunkt des wissenschaftlichen Sozialismus) die des Zu-

    sammenbruchs der brgerlichen Gesellschaft. Sie offenbart, da derSozialismus eine objektive Notwendigkeit im Verlauf der materiellenEntwicklung der Gesellschaft ist. Folglich mu die Analyse der kapita-listischen Entwicklung gleichzeitig eine Reflexion ber die objektivenSchranken der kapitalistischen Wirtschaft sein. Die allgemeine Theo-rie des Zusammenbruchs der brgerlichen Gesellschaft, die schon inder Antwort an Bernstein ein wesentliches Element in der Interpretation

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    36 Vittantonio Gioia

    der konomischen Dynamik des Kapitalismus dargestellt hatte, wirdimmer prziser und immer deutlicher durch konomische Merkmalecharakterisiert. In diesem Sinne ist das letzte Kapitel derEinfhrung indie Nationalkonomie (zum folgenden LGW 5, 770ff.) interessant, indem Luxemburg auf diese Behauptung zurckkommt und hervorhebt,da den inneren Gesetzen der Herrschaft des Kapitals in ihren letztenAuswirkungen zu folgen bedeute, sowohl die Tendenzen der kapitali-stischen Wirtschaft in der monopolkapitalistischen Phase, als auchdas, was ihre letzte Entwicklung unmglich mache (ebd., 772), klarzu erfassen.

    Mit folgendem Lektreschlssel interpretiert sie die deutlichstenPhnomene der konomischen Entwicklung des Kapitalismus in der

    monopolkapitalistischen Phase: 1) die Herausbildung des Weltmarktesund der Weltwirtschaft, die die ganze Welt den Gesetzen der kapitalisti-schen Entwicklung unterordnet und die Herrschaft des Kapitals unge-heuer ausweitet; 2) die wachsende Pauperisierung von immer grerenTeilen der Menschheit und die wachsende Unsicherheit ihrer Existenz;3) die Verschrfung des imperialistischen Kampfes um die Eroberungund die Ausbeutung der wenigen noch briggebliebenen Gebiete; 4) der

    besonders krampfhafte Verlauf der konomischen Umwlzungen, diebestimmt sind von den Auswirkungen der innerkapitalistischen Konkur-renz auf die Sphre der Produktion: hchste Konzentration des Kapi-tals, Frderung des technischen Fortschritts, sprunghaftes Anwachsender Menge der produzierten Waren, unvermeidliche Phasenverschie-

    bung zwischen der effektiven Nachfrage bei den Kufern und derQuantitt der produzierten Waren usw.

    Auf der Grundlage dieser Elemente gelangt Rosa Luxemburg zu den

    folgenden Schlufolgerungen:... gerade bei dieser Entwicklung verwickelt sich der Kapitalismus in den fundamen-

    talen Widerspruch: Je mehr an die Stelle rckstndiger Produktionen die kapitalisti-

    sche tritt, um so enger werden die durch das Profitinteresse geschaffenen