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Vorwort Irina Scherbakowa Einleitung Julia Landau Ein fotografischer Rundgang durch die Ausstellung Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956 Rikola-Gunnar Lüttgenau EINORDNUNGEN Gulag. Willkür und Massenverbrechen in der Sowjetunion 1917–1953. Einführung und Dokumente. Bernd Bonwetsch Gulag und Konzentrationslager: Sowjetische und deutsche Lagersysteme im Vergleich Jörg Ganzenmüller Durch die Arbeit – in die Freiheit. Der Gulag als ein Instrument der „Umerziehung“? Felicitas Fischer von Weikersthal Die Aufarbeitung der Geschichte des Gulag in Russland Aleksej V. Zacharčenko LOKALSTUDIEN Kolyma und Magadan. Ökonomie und Lager im Nordosten der Sowjetunion Mirjam Sprau Das Spezkontingent Ende der 1920er bis Anfang der 1950er Jahre in der Region Perm Andrej B. Suslov HÄFTLINGSGRUPPEN UND EINZELSCHICKSALE Die „Drehtür“ und die Marginalisierungsmaschinerie des stalinistischen Gulag, 1945–1960 Marc Elie 4 7 12 30 50 60 70 80 92 106 Inhalt

Inhalt aus Gulag-BDII für Bb… · Frauen und Kinder im Gulag Meinhard Stark Strafverfolgung im Stalinismus. Das Schicksal „Nicht-Politischer“ Häftlinge Immo Rebitschek Vsevolod

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VorwortIrina Scherbakowa

EinleitungJulia Landau

Ein fotografischer Rundgang durch die Ausstellung Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956 Rikola-Gunnar Lüttgenau

EINORDNUNGEN

Gulag. Willkür und Massenverbrechen in der Sowjetunion 1917–1953. Einführung und Dokumente.Bernd Bonwetsch

Gulag und Konzentrationslager:Sowjetische und deutsche Lagersysteme im VergleichJörg Ganzenmüller

Durch die Arbeit – in die Freiheit. Der Gulag als ein Instrument der „Umerziehung“? Felicitas Fischer von Weikersthal

Die Aufarbeitung der Geschichte des Gulag in RusslandAleksej V. Zacharčenko

LOKALSTUDIEN

Kolyma und Magadan. Ökonomie und Lager im Nordosten der SowjetunionMirjam Sprau

Das Spezkontingent Ende der 1920er bis Anfang der 1950er Jahre in der Region PermAndrej B. Suslov

HÄFTLINGSGRUPPEN UND EINZELSCHICKSALE

Die „Drehtür“ und die Marginalisierungsmaschinerie des stalinistischen Gulag, 1945–1960Marc Elie

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7

12

30

50

60

70

80

92

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Inhalt

Frauen und Kinder im Gulag Meinhard Stark

Strafverfolgung im Stalinismus. Das Schicksal „Nicht-Politischer“ HäftlingeImmo Rebitschek

Vsevolod Zaderatsky. Ein Komponist im GulagJascha Nemtsov

ANDERE LAGERSYSTEME

Deutsche Gefangene im sowjetischen Lagersystem: GUPWI und Gulag, 1941 bis 1956 Andreas Hilger

Gulag auf deutschem Boden? Sowjetische Speziallager in der SBZ/DDR Jörg Morré

NACH DEM GULAG

Ende des Gulag-Systems? Amnestien und Rehabilitierungen nach 1953Beate Fieseler

Gedenken als Herausforderung – Zur Geschichte der ersten Gulag-Ausstellung in der SowjetunionKatharina Haverkamp

Leiden als Exponat oder ein Museum des „strengen Regimes“ in Russland heuteMichail B. Gnedovskij / Nikita G. Ochotin

Das Gefängnis im heutigen Russland: Interpretation der Entwicklung einer DisziplinarinstitutionAnton Oleinik

Epilog Arseni Roginski

Autorenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis / Glossar

Ausstellungsimpressum

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Einleitung

Julia Landau

Der vorliegende Band bündelt die zahlreichen Beiträge, die in zwei Vor-trags- und Diskussionsreihen im Rahmen der von der Gesellschaft „Me-morial“, Moskau und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mit-telbau-Dora erarbeiteten Ausstellung „Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956“ an den Stationen im Schiller-Museum in Weimar 2012 und dem Deutschen Historischen Museum in Berlin 2013 gehalten wurden. Da sie auf reges Interesse stießen und die Diskussionen häufig länger waren als die Vorträge selbst, entstand der Wunsch, die Beiträge als Sammelband zu veröffentlichen und sie noch um einige zusätzliche Ar-tikel zu ergänzen. Der Band erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollstän-digkeit und versteht sich auch nicht als eigenständiger Beitrag zur For-schung; er möchte lediglich vorhandenes Wissen auf knappem Raum für ein interessiertes Publikum zugänglich machen.

Die Historikerinnen und Historiker vertiefen im Folgenden einzelne Aspekte des Gulag-Systems, die in der Ausstellung nur angesprochen werden konnten. Arbeiten, die zum Teil bisher nur als umfangreiche wis-senschaftliche Fachpublikationen vorliegen, oder für diesen Band erst-mals ins Deutsche übersetzt wurden, werden für die breite Öffentlichkeit ‚erschlossen’.

Gulag – was bedeutet zunächst dieser Begriff? Ursprünglich handelte es sich um eine in der sowjetischen Behördensprache gebräuchliche Ab-kürzung für die 1930 neu geschaffene zentrale staatliche Abteilung der staatlichen Geheimpolizei OGPU – die „Hauptabteilung der Besserungs-arbeitslager und -kolonien“ (Glawnoe uprawlenie isprawitelno-trudowych lagerej1), zuständig für sämtliche bis dahin existierenden Lager der Sowjetunion: die Lager auf den Solowezker Inseln, wie auch die Lager in Kasachstan oder Zentralasien. 1931 war der Gulag-Abteilung die Zustän-digkeit über die „Sondersiedlungen“ übertragen worden – hier lebten zur Zwangsarbeit verpflichtete, deportierte Familien. 1934 wurde diese Be-hörde in das neugeschaffene sowjetische „Volkskommissariat für innere Angelegenheiten“ (NKWD) eingegliedert. Sie verfügte Mitte der 1930er Jahre bereits über fast zwei Millionen Menschen, die gerichtlich oder au-ßergerichtlich verurteilt, oder auf dem Verwaltungsweg deportiert wor-den waren.2 Spezielle Wirtschaftsabteilungen des Gulag – Holz, Bergbau und Metallurgie, Treibstoff, Papier, Wasserkraft und andere – wurden ge-schaffen, um die zwangsverpflichteten Arbeitskräfte für die sowjetische Planwirtschaft einzusetzen. Die Gulag-Behörde bestimmte nicht nur über verurteilte Häftlinge und per Befehl in die Verbannung geschickte „Sondersiedler“, sondern war auch zuständig für obdachlose Kinder und Jugendliche. Diese Heranwachsenden mussten in speziellen Arbeitsko-lonien oder „Verteilerstationen“ leben. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges kamen deportierte sowjetische Deutsche und andere Menschen, ver-folgt aufgrund ihrer Nationalität, hinzu. 1953, mit dem Tod Stalins, wur-

1 Im Text wird wegen der leichteren Lesbarkeit die Duden- Umschrift verwendet; Namen von Autoren und die Literaturangaben folgen der wissenschaftlichen Transskription, um die Auffindbar-keit der Werke in Bibliotheksver-zeichnissen zu gewährleisten. 2 Eine Statistik des Gulag aus dem Jahr 1935 weist über eine Million Häftlinge in Arbeitslagern und -kolonien aus, im Jahr 1936 werden eine Million „Sonder- siedler“ gezählt. Afanas´ev (2004) Bd. 5, S. 228; Bd. 4, S. 68.

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de die Anzahl der Lager und Kolonien sukzessiv verringert. 1960 löste Chruschtschow die Gulag-Behörde auf. Einzelne Arbeitslager wurden nun als Teil des sowjetischen Strafvollzugs, als Disziplinarinstitutionen mit abschreckender Wirkung, weitergeführt, übernahmen jedoch keine volkswirtschaftlich bedeutsame Funktion mehr.

Dieser behördliche Komplex der Festnahme, Verhaftung und Ausbeu-tung von Millionen Menschen ist die eine Bedeutung des Begriffs Gulag. Hinter dem administrativen Kurzwort verbarg sich eine Geheimpolizei, de-ren Habitus und gewaltbereites Auftreten vom sowjetischen Bürgerkrieg 1918-1921 geprägt war, die Millionen von Menschen wegen vermeintlicher staatsfeindlicher Vergehen oder einer kollektiv vermuteten Illoyalität ver-folgte, festsetzte und planwirtschaftlich ausnutzte. Bleibt man jedoch bei dieser verkürzten Behördensprache, erfasst man nur die eine Seite des Gulag und schreibt gewissermaßen auch die Herrschaftsverhältnisse fort.

Alexander Solschenizyn holte den Begriff Gulag aus der administrati-ven Welt der Schreibtischtäter und beschrieb mit der Metapher „Archipel Gulag“ das Phänomen des sowjetischen Lagersystems aus seiner Per-spektive und der anderer Häftlinge. Sein detaillierter Bericht versuchte auf 1.800 Seiten begreiflich zu machen, was in der Sowjetunion im Na-men einer Ideologie geschehen war, die einen Allmachtsanspruch formu-liert hatte. Er beschrieb ein System von Lagern, das sich inselartig über die gesamte Sowjetunion ausgebreitet hatte und eine Art Schattenwelt darstellte – „gleich nebenan, keine zwei Meter von uns entfernt“3. Auf keiner Karte verzeichnet, konnte man am Eisenbahnschalter oder im Rei-sebüro auch keine Fahrkarte dorthin lösen. Zwei Wege führten dorthin: Der Bewacher oder Lagerleiter trat die Reise über das Innenministerium oder das Militär an. „Und wer hinfährt, um dort zu sterben, wie wir beide, Sie, mein Leser und ich, dem steht dazu unausweichlich und einzig der Weg über die Verhaftung offen.“4

Solschenizyns Metapher eines Archipels – einer Inselgruppe, zu der auch die umliegenden Gewässer und jene Landesteile gehören, die mit der Inselgruppe in Beziehung stehen – ist gleichermaßen griffig wie ein-leuchtend. Zum Teil führt sie jedoch auch in die Irre: Sie symbolisiert die Abschottung dieser geheimen Inselgruppe vom Rest des Landes und sei-ner Bevölkerung und verdeckt die vielfältigen Beziehungen zwischen Gu-lag und sowjetischer Gesellschaft. Sein Bericht, den Solschenizyn 1973 in Paris veröffentlichen ließ, als der KGB das Manuskript in Moskau be-schlagnahmte, hatte das Format einer publizistischen Bombe. Er stellte klar, dass sich das sowjetische Projekt des Gesellschaftsumbaus nicht ohne die millionenfache Zwangsarbeit der Gulag-Häftlinge denken ließ. Parallel erschienen im Westen und in der sowjetischen Untergrundlite-ratur zahlreiche erschütternde Zeugnisse aus dem Innersten des Gulag: Etwa die Erzählungen Warlam Schalamows, Jewgenia Ginsburgs, Olga Adamowa-Sliosbergs und vieler anderer.5 Erst während der Perestroika durften diese und andere Erinnerungen – immer noch mit Einschrän-kungen – in der UdSSR gedruckt werden. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden schließlich zahlreiche Häftlingsberichte aus vielen Ländern publiziert.

Die Sammlung der Mitte der 1980er Jahre entstandenen Menschen-rechtsorganisation „Memorial“ ist Zeichen des Bemühens, die Zeugnis-se des Gulag zu bewahren. Ehemalige Häftlinge, deren Angehörige und Freunde haben dem Archiv und der Sammlung von „Memorial“ ihr Fami-liengedächtnis anvertraut; bei Exkursionen zu ehemaligen Lagern wur-den Realien vor dem Verfall gerettet. Die Ausstellung „Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929-1956“ präsentiert diese einzigartige Sammlung. Sie ent-stand als russisch-deutsches Kooperationsprojekt zwischen der Gesell-schaft „Memorial“, Moskau, und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in enger Zusammenarbeit mit der Stiftung Schloss Neuhardenberg und wurde von der Kulturstiftung des Bundes gefördert.

Mit der Ausstellung beginnt auch der vorliegende Sammelband: Ein fotografischer Rundgang durch die Ausstellung kommentiert von Rikola- Gunnar Lüttgenau, neben Nikita Ochotin und Bodo Ritscher einer der Ku-ratoren, bildet den Einstieg. Im Anschluss werden fünf Schlaglichter auf das komplexe Thema geworfen: zunächst eine historische und begriffliche Einordnung des Themas (Einordnungen), der differenzierende Blick auf lokale Kontexte (Lokalstudien), der Blick auf unterschiedliche Häftlings-gruppen und Einzelschicksale wie auch die Zusammenhänge zwischen der Häftlingsgesellschaft und der gesamten sowjetischen Bevölkerung (Häftlingsgruppen und Einzelschicksale), der vergleichende Blick auf an-dere, parallele Systeme: das Lagersystem für Kriegsgefangene wie auch das deutlich kleinere System der Speziallager in der sowjetischen Besat-zungszone in Deutschland (Andere Lagersysteme) und schließlich der Ausschau haltende Blick auf die Situation der Häftlinge nach ihrer Entlas-sung und die Frage der Darstellung des Gulag-Themas in Museen in der Sowjetunion und im heutigen Russland (Nach dem Gulag).

Einordnungen Ausgehend von neu zugänglichen Quellen macht Bernd Bonwetsch

die Dimension sowjetischer Massenverbrechen sichtbar, die weit über das eigentliche Lagersystem hinausreicht. Beigefügte, erstmals über-setzte Dokumente veranschaulichen die Spezifik stalinistischer Gewalt, wie sie einem aus dem Archiv entgegentritt.

Was war das Spezifische des stalinistischen Gulag – im Vergleich mit dem nationalsozialistischen System der Konzentrationslager? Und was waren die Funktionen der unterschiedlichen Lagersysteme zu unter-schiedlichen Zeiten? Diesen Fragen geht Jörg Ganzenmüller in seinem Beitrag nach. Felicitas Fischer von Weikersthal fragt nach dem Sinn, den der stalinistische Staat dem Gulag-System zusprach: Ob etwa die Bezeichnung „Besserungsarbeitslager“ rein zynisch gemeint war oder ob es tatsächlich real vorhandene Motivlagen und Anstrengungen gab, die Häftlinge nicht nur arbeiten zu lassen, sondern sie auch noch „bes-sern“ zu wollen. Einer historischen Grundfrage widmet sich Aleksej Zacharčenko in seiner Analyse der wissenschaftlichen Gulag-Literatur in Russland: Wie nimmt man die Quellen ernst – ohne den Tücken der Spra-che aufzusitzen und ohne zugleich die in der Dokumentensprache einge-schlossene Herrschaftspraxis unkritisch weiter zu tragen?

3 Solschenizyn (1974), S. 16. 4 Ebd., S. 9. 5 Siehe den Überblick über die Erinnerungs- und Forschungs- literatur auf der Website www.ausstellung-gulag.org.

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Lokalstudien Den Deutungen und Einordnungen folgt der Tiefflug hin zu den kon-

kreten Orten, der genaue, archivgestützte Blick auf regionale Verhältnis-se: Mirjam Sprau untersucht den Nordosten der Sowjetunion – die von Warlam Schalamow als „Pol der Grausamkeit“ bezeichnete Region am Fluss Kolyma. Andrej Suslov erforscht die Region Perm am Ural, in die während des Krieges zahlreiche Betriebe evakuiert wurden und in die Hunderttausende Häftlinge und „Sondersiedler“ als Arbeiter zwangs-verpflichtet worden waren. Er zeigt, wie das Gulag-System eine eigene Gruppe von Menschen zweiter Klasse schafft: das so genannte Spezkon-tingent, bestehend aus den verschiedenen Verfolgtengruppen.

Häftlingsgruppen und EinzelschicksaleWas bedeutete nun diese soziale Dimension des Gulag, die Margina-

lisierung von Menschen, die auch nach dem Ende ihrer Haftzeit häufig an den Ort der Lagerhaft oder der Verbannung gebunden waren und aus po-litischen Gründen aus den Großstädten ausgesperrt blieben? Im dritten Abschnitt geht Marc Elie der Frage nach, was mit jenen passierte, die aus der Lagerhaft entlassen – und häufig erneut wieder verhaftet – wurden. Wie die Justiz vor Ort mit den „Kriminellen“ umging und wie sie „krimi-nell“ definierte, fragt auch Immo Rebitschek. Mit den konkreten Folgen der Lagerhaft und der darauf folgenden Diskriminierung beschäftigt sich Meinhard Stark. Zahlreiche Beispiele aus seinen lebensgeschichtlichen Forschungen zu weiblichen Häftlingen und Kindern führen die Gewalt des Gulag-Systems drastisch vor Augen. Jascha Nemtsov zeigt am Bei-spiel eines im Stalinismus verfolgten, zu langer Lagerhaft verurteilten Musikers, wie die staatliche Diskriminierung weit über die Lagerhaft hinausreichte und dem künstlerischen Schaffen jegliche Äußerungsmög-lichkeit nahm.

Andere LagersystemeÄhnliche Erfahrungen wie die Gulag-Insassen machten auch die

Häftlinge anderer sowjetischer Lagersysteme, die sich allerdings hin-sichtlich ihrer Funktion und Struktur von den Lagern des Gulag unter-schieden. Andreas Hilger und Jörg Morré fragen in ihren Beiträgen nach den Besonderheiten der Hauptabteilung für Kriegsgefangene und Inter-nierte (GUPWI) und des deutlich kleineren Systems der Speziallager in der SBZ/DDR.

Nach dem GulagWas blieb nun jenen, die den Gulag erfahren, erlitten und überlebt

hatten? Konnte die – nur sehr beschränkte – staatliche Rehabilitierung während der Chruschtschow-Zeit, wenn nicht das geschehene Unrecht aufwiegen, so doch für eine gewisse gesellschaftliche Kompensation sorgen? Konnten ehemalige Häftlinge ihren Mitmenschen und gesell-schaftlichen Institutionen noch vertrauen? Diesen Fragen geht Beate Fieseler in ihrem Beitrag zu den Amnestien und Rehabilitierungen für die Lagerhäftlinge nach. Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung über

diese schwierige Geschichte begann erst während der Zeit der Perestroi-ka, wie die von Katharina Haverkamp beschriebene Wanderausstellung über die Solowezker Lager verdeutlicht, die an vielen Tabus rüttelte. In der heutigen postsowjetischen Gesellschaft, in der das Gefängnis nur noch eine von vielen „Disziplinarinstitutionen“ darstellt – so Anton Oleinik in seinem Beitrag – ist die Erinnerung an den Gulag mit zahlreichen Heraus-forderungen konfrontiert. Gulag – das war durch literarische Verarbei-tungen und wissenschaftliche Forschungen immer deutlicher geworden – ließ sich verstehen als die „Quintessenz sowjetischen Lebens“. Gulag war eine gemeinsame Erfahrung, zu der es fast in jeder Familie Bezü-ge und Geschichten gab: Geschichten der Opfer, wie der Täter, zum Teil auch beide nebeneinander. Nikita Ochotin und Michail Gnedovski plädie-ren in ihrem Beitrag dafür, diese Erfahrung als gemeinsames kulturelles Erbe zu begreifen, mit dem Ziel, die Hinterlassenschaften als wichtige Zeugnisse zu bewahren. Inwieweit es nun gelingen kann, aus dieser Ge-schichte zu lernen, fragt sich Arseni Roginski in dem Epilog des Bandes. Es bleibe weiterhin eine wichtige Aufgabe, die Erinnerung an den Gulag in der Öffentlichkeit wach zu halten. Neben der Dokumentation von Men-schenrechtsverletzungen ist dies die wichtigste Aufgabe der Organisati-on „Memorial“, deren Sammlung in der Ausstellung „Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956“ zum Sprechen gebracht wurde.

DankAuf dem Weg von einer Vortragsreihe hin zu einer Publikation ist Vie-

len zu danken: Zunächst den Autoren für die zügige Umsetzung ihrer Beiträge in lesbare und fußnotengestützte Artikel, schließlich Natalja Jeske für die Übersetzung der Beiträge von Aleksej Sacharčenko und Andrej Suslov sowie Judith Rosenthal für die Übersetzung des Artikels von Anton Oleinik. Für die gründliche Lektorierung danken wir Katharina Haverkamp, Angelika Landau, Dr. Romy Langeheine und Immo Rebit-schek; Prof. Dr. Volkhard Knigge danken wir für hilfreiche Kommentare, Antje Hitzschke, Dr. Philipp Neumann-Thein und Rikola-Gunnar Lüttgenau für die Hilfe bei der Umsetzung des Projekts. Frieder Kraft und Christian Brüheim, werkraum.media, sei für die Gestaltung gedankt, dem Wall-stein Verlag für die verlegerische Betreuung. Ein letzter, großer Dank gilt der Bundeszentrale für politische Bildung für die Aufnahme des Bandes in ihr Programm.

Quellen und Literatur

Afanas´ev, Jurij u.a. (Hrsg.) (2004-2005): Istorija Stalinskogo Gulaga. Konec 20-ch – pervaja polovina 1950-ch godach, Bd. 4 und Bd. 5, Moskau.

Solschenizyn, Alexander (1974): Der Archipel Gulag, Bern.