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Strategisches WachstumGezielt und erfolgreich expandieren
// Reif für die Expansion // Gespräch im Foyer: Restrukturierung// Länderfokus Australien // Berlin: City-West
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Mit individuellen Finanzkonzepten der NORD/LB ergeben sich für mittel-
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herzlich willkommen zur zweiten Ausgabe von 52° NORD
in diesem Jahr.
Die deutsche Wirtschaft ist in den letzten zehn Jahren ste-
tig gewachsen. Doch nun fragen sich viele Unternehmer
angesichts der Digitalisierung, wie sie diesen Trend weiter
fortsetzen können. In diesem Heft beschäftigen wir uns
daher mit „Strategischem Wachstum“. Für den Aufmacher
haben wir uns zunächst umgehört, wie Unternehmer
sich systematisch und gezielt auf die Suche nach neuen
Umsatzfeldern machen.
Lange Wachstumsphasen führen oftmals zu einer gewis-
sen Trägheit in Unternehmen – die Folge sind Umsatzrück-
gänge in Verbindung mit langwierigen Restrukturierun-
gen. Im Gespräch im Foyer diskutieren wir mit Tammo
Andersch, Thorsten Holland und Thomas Dohrmann über
die besonderen Herausforderungen von Sanierungsfällen.
Darüber hinaus beschäftigen wir uns mit Australien, das
seit 27 Jahren auf Wachstumskurs ist. Außerdem stellen
wir Ihnen die neue Abteilung „Special Situation Finan-
cing“ der NORD/LB vor, die maßgeschneiderte Finanzie-
rungslösungen für Unternehmen in Restrukturierungen
bietet. Abschließend haben wir uns noch auf dem Berliner
Ku’damm umgesehen, der in den letzten zehn Jahren eine
fulminante Revitalisierung durchlaufen hat.
Sollte auch Ihr Unternehmen an maßgeschneiderten
Finanzierungslösungen interessiert sein, nehmen Sie
Kontakt mit uns auf. Zunächst wünsche ich Ihnen eine
spannende Lektüre!
Günter Tallner
Vorstand NORD/LB
52° NORD
Liebe Leser,
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Robert Rausch führt die Berliner Schokoladenmanufaktur Rausch in fünfter Generati-on in eine neue Ära. Im Gespräch erläutert er seine Wachstumsstrategie.
12 / Portrait
„Handwerk tri� t High-Tech“
Inhalt
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Australien: Wachstum ohne Ende
Die australische Wirtschaft befindet sich seit fast 30 Jah-
ren im Steigflug. Insbesondere China hat sich dabei zur
Lokomotive der wirtschaftlichen Entwicklung gemausert.
Droht mit einer Konjunkturabkühlung im Reich der Mitte
nun der Absturz?
18 / Länderreport
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6 / Titelthema
Reif für die Expansion
Globalisierung und Digitalisierung sind derzeit die beiden großen disruptiven Kräfte, die selbst Nischenplayern Sorgenfalten ins Gesicht treiben. Im Zuge dieser Entwicklung hat eine fieberhafte Suche nach neuen Märkten begonnen. Gesucht werden naheliegen-de neue Umsatzfelder und Potenziale der Digitalisierung für das eigene Unternehmen. Wir berichten, wie Unternehmen diese Entwicklung vorantreiben.
Ku’damm – Renaissance eines Boulevards
Nach der Wende stand der Berliner Westen lange im Schat-
ten des neu entdeckten historischen Ostens. Doch das Blatt
hat sich gewendet. Insbesondere der Kurfürstendamm hat
durch eine ganze Reihe spektakulärer Neubauten in den
letzten Jahren von sich reden gemacht. Eine Reportage.
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14 / Gespräch im Foyer
„Dem Thema Restrukturierung die Stigmatisierung nehmen“
Restrukturierungen stellen Unternehmen, das Manage-
ment und auch die Mitarbeiter vor große Belastungen. Die
Folge sind Unsicherheit, Personalabgänge und Zukunfts-
ängste. Im Gespräch im Foyer diskutieren Tammo An-
dersch, Thorsten Holland und Thomas Dohrmann darü-
ber, wie man diesen Herausforderungen begegnen kann.
23 / Interview
„Weltmarktführer in Qualität und Menge“
Die Jebsen & Jessen Hamburg Gruppe unterhält in Austra-
lien eine große Mine für Granatsand. Im Gespräch erläutert
Geschäftsführer Fritz Graf von der Schulenburg die Inves-
titionsstrategie des Unternehmens.
11 / Interview
„Flexibel, innovativ und agil“
Ein Gespräch mit Dr. Susanna Zapreva, Vorsitzende des
Vorstands enercity AG über die Digitalisierung eines ange-
stammten Marktes.
28 / Architektur & Design
NPL-Sanierung: Restrukturierungszeiten deutlich verkürzen
Durch Non-Performing Loans geraten Unternehmen häufig
in eine Schieflage. Doch die Situation kann auch ein Start-
schuss zu einer erfolgreichen Sanierungsphase werden.
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24 / NORD/LB Story
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Reif für die Expansion
Warum sich Unternehmen mit Innovationen, neuen Geschäftsfeldern und Wachstumsstrategien beschäftigen sollten, um auch morgen noch am Markt bestehen zu können.
Strategisches Wachstum
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Schuster, bleib bei deinen Leisten! Allzu oft bekommt man
diesen Satz bei den Verantwortlichen in deutschen Unter-
nehmen zu hören. Statt dem technischen sowie sozialen
Wandel proaktiv zu begegnen und neue Chancen auszulo-
ten, neigen sie nicht selten dazu, ihr bewährtes Geschäfts-
modell zu hegen und zu pflegen. Denn bei den Kunden ist
man ja bestens etabliert und die Umsatzrendite ist gerade
in Zeiten einer längeren konjunkturellen Aufschwung-
phase wie der jetzigen meist recht ordentlich. Außerdem
sind vielen noch allzu gut die Versuche mancher Unter-
nehmen aus den 1980er und 1990er Jahren in Erinnerung,
als diese sich mit der Diversifizierung ihrer Geschäftsmo-
delle ordentlich verzettelten und letztendlich grandios
scheiterten – allen voran Daimler-Benz bei seinem Bestre-
ben, durch die Übernahme von AEG, Dornier und DASA
zum Technologiekonzern aufzusteigen. Warum also sollte
man unnötige Risiken eingehen und sich in unbekannte
Gewässer wagen? Die Antwort ist recht einfach: Anders
als noch vor wenigen Jahren hat sich das Innovationstem-
po überall drastisch erhöht. Auslöser dieser Entwicklung
ist nicht nur die Digitalisierung, sondern auch die Tatsa-
che, dass plötzlich junge und höchst dynamische Unter-
nehmen aus expandierenden Ländern wie China oder
Indien als zusätzliche Wettbewerber auftauchen. Zudem
hat die Vergangenheit bewiesen, dass selbst Platzhirsche
mit dicken finanziellen Polstern von disruptiven Innova-
tionen mitunter kalt erwischt werden und von heute auf
morgen vom Markt verschwinden können – der Absturz
der einstigen Giganten Kodak und Agfa steht dafür gera-
dezu emblematisch. Deshalb sollten Fragen wie: „Ist mein
Geschäftsmodell eigentlich noch zukunftsfähig?“ und:
„Welche Wachstumsstrategie passt zu meinen Produkten
und zu meiner Organisation?“ überall ganz oben auf der
Agenda stehen.
Märkte von Morgen erkennen„Zwei wesentliche Aspekte rücken dabei in den Vorder-
grund“, bringt es Rolf Popp auf den Punkt. „Zum einen
sollte man immer sehr genau auf dem Radar haben, in
welche Richtung sich die Märkte entwickeln“, so der
Geschäftsführer der Wachstums- und Strategieberatung
ROLF POPP PRO Consult GmbH in Würzburg, „zum ande-
ren, wie man sich selbst darin behauptet.“ Doch letztend-
lich dreht sich seiner Einschätzung zufolge alles um eine
ganz zentrale Frage. „Was wird der Kunde in Zukunft
wirklich benötigen?“ Das treibt die gezielte Suche nach
den richtigen Innovationen voran. Besonders gut lassen
sich diese Diskussionen und Prozesse derzeit in der Auto-
mobilindustrie sowie bei den Kfz-Zulieferern beobachten.
„Themen wie E-Mobility und Autonomes Fahren zwingen
die Hersteller geradezu, das Auto neu zu erfinden und sich
zusätzliche Geschäftsfelder zu erschließen.“ Ein Unter-
nehmen, das Auspuffanlagen herstellt, würde angesichts
eines derart tiefgreifenden Technologiewandels, der sich
gerade ankündigt, sogar fahrlässig handeln, wenn es
nicht auf Expansion setzt und sich keine weiteren Stand-
beine aufbaut. „Denn eines Tages, wenn die Mehrheit
der Autos elektrisch fährt, dürften seine alten Produkte
einfach nicht mehr nachgefragt sein.“ Und das Geschäfts-
modell wird obsolet.
Aber nicht nur Technologiesprünge sind es, die die Unter-
nehmen manchmal dazu zwingen, neue Wege zu gehen.
Auch der demografische Wandel oder die sich verändern-
den Einstellungen relevanter Konsumentengruppen kön-
nen der Auslöser sein. Eine schrumpfende Bevölkerung
sowie die Tatsache, dass vor allem bei der Generation Y,
also den nach 1980 Geborenen, das Auto kein Statussym-
52° NORD
Aufbruch in neue Welten
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bol mehr ist, lässt Volkswagen, BMW & Co. über Alternati-
ven nachdenken. Laut einer aktuellen Studie des Markt-
forschungsinstituts Forsa halten 19 Prozent der 18- bis
29-jährigen Befragten deshalb Carsharing für eine gute
Alternative zum eigenen Fahrzeug, das sowieso die meiste
Zeit nur ungenutzt rumsteht. Und so ist es kein Wunder,
dass die alte Garde der Automobilproduzenten heute zu-
nehmend in das junge Geschäft mit Mobilitätskonzepten
wie Carsharing oder Pooltaxis eingestiegen ist. Mobilität
als Dienstleistung, so lautet die neue Zauberformel, die
viel mit der Vernetzung von Individual- und Nahverkehr
bis hin zu E-Bikes und Fahrdiensten zu tun hat. Denn
auch die Autobauer haben mittlerweile begriffen, dass ihr
altes Geschäftsmodell nicht für die Ewigkeit gemacht ist.
Oder anders formuliert: Sie expandieren in neue Märkte,
bevor andere diese unter sich aufgeteilt haben, beispiels-
weise Google, Apple, Uber oder Alibaba und Baidu. Denn
die digitalen Giganten aus den Vereinigten Staaten und
China schicken sich an, ihr Portfolio auf das Thema
Mobilität auszudehnen. Und ganz nebenbei erhoffen sich
die PKW-Hersteller dadurch einen Werbeeffekt für ihre
klassischen Produkte, die Autos.
Run auf RenditeWachstum oder Expansion haben aber auch sehr viel
mit dem richtigen Identifizieren von Zielen und deren
stringenter Umsetzung zu tun. „Es ist auf keinen Fall
zu empfehlen, das Erkennen von Wachstumspotenzia-
len allein dem Zufall zu überlassen“, betont Dr. Stefan
Schneck. „Wird ein bestehender Anpassungsbedarf zu
spät oder womöglich gar nicht erkannt, kann dies zur
Stagnation, Rückschritten und im schlimmsten Fall zum
Ende eines Unternehmens führen“, so der Experte für
Unternehmensgründungen und -wachstum vom Institut
für Mittelstandsforschung (IfM) in Bonn. Die daraus sich
ableitenden Wachstumsstrategien können sowohl innova-
tionsgetrieben sein als auch durch Veränderungen auf
den Märkten hervorgerufen werden. „Das hat im vergan-
genen Jahr erst wieder unser ‚Zukunftspanel Mittelstand
2017‘ gezeigt“, weiß Schneck zu berichten. „Die Mehrheit
der von IfM-Wissenschaftlern befragten Unternehmen
bezeichnete daher beides als vordringlichste Herausfor-
derungen.“ In diesem Kontext rückt eine weitere Frage in
den Vordergrund: Schafft man als Unternehmen mit sei-
nen Produkten oder Dienstleistungen selbst einen ganz
neuen Markt oder soll die Stoßrichtung eher in bereits eta-
blierte Märkte gehen? Kurzum, es geht dabei um das, was
die beiden Wirtschaftswissenschaftler W. Chan Kim und
Renée Mauborgne von der französischen Elitehochschule
INSEAD vor einigen Jahren als sogenannte Blue- und Red
Oceans-Strategien bezeichneten. „In neuen Märkten, also
den Blue Oceans, sind die Chancen höher, einträgliche
Margen zu erzielen“, skizziert Dr. Thomas Hardwig den
Gedanken dahinter. „Im Rahmen einer Red-Ocean-Stra-
tegie dagegen dominiert der Preiswettbewerb“, so der ge-
schäftsführende Gesellschafter des KOM.in – Institut für
Wachstumsmanagement und Projektlernen in Göttingen.
„Wenn es Ihnen also mit Innovationen gelingt, in völlig
neue Bereiche vorzustoßen, so ist dies definitiv zukunfts-
trächtiger und lukrativer. Ohne Risiken ist natürlich kei-
ne der beiden Optionen.“
Wachstumsgenerierung kann auf sehr unterschiedliche
Art und Weise erfolgen. Eine sehr kurzfristige Möglichkeit
ist die Akquise von Mitwettbewerbern oder vielleicht von
Startups, die oftmals einen völlig neuen Lösungsansatz
verfolgen und innovative digitale Geschäftsmodelle ent-
wickeln. Aber auch das will gründlich geplant sein. „Wenn
das Wissen für ein Produkt oder einen Markt eingekauft
werden kann, dann begründet das allein noch keinen
Wettbewerbsvorteil“, erklärt Hardwig. „Ein solcher
entsteht nur, wenn ich auf diese Weise eine E-Kompetenz
aufbauen kann, die nicht so einfach zu imitieren ist. Nicht
der Kauf ist das Entscheidende, sondern die Integration
des Neuen und der Aufbau dieser Kompetenz.“ Aber
auch ein ganz anderer Grund kann Unternehmen dazu
motivieren, auf Shoppingtour zu gehen und andere Teil-
nehmer auf dem Markt zu erwerben. „Und das ist der Fach-
kräftemangel“, sagt Experte Popp. „Dieser Aspekt gewinnt
bei Übernahmen und Wachstumsstrategien immer mehr
an Bedeutung.“ Denn wenn ein Mitbewerber oder Startup
über hochqualifizierte Mitarbeiter oder ein besonderes
Know-how verfügt, so kann es durchaus Sinn ergeben, im
Rahmen einer Expansion genau diese zu akquirieren –
vorausgesetzt das Unternehmen ist kompatibel mit den
eigenen Geschäftsmodellen und Strategien. Doch dieses
auch anorganisch bezeichnete Wachstum betreiben in
erster Linie größere Firmen. Kleinere Unternehmen dage-
gen wachsen eher organisch. „Nicht zuletzt deshalb, weil
ihnen die finanziellen Ressourcen für Zukäufe häufig
fehlen“, berichtet Dr. Schneck aus seinen Beobachtungen.
Angrenzende Märkte früh erkennenEin anderer Weg ist die Portfolio-Erweiterung. Dabei
ist die Nähe der neuen Unternehmungen zu den ange-
stammten Märkten und Produkten von ganz wesentli-
cher Bedeutung. „Es gilt die Faustformel: je größer der
Verwandtschaftsgrad, desto höher die Synergieeffekte“,
erklärt Popp. So stieg beispielsweise der 1926 gegründete
Schutzbrillenproduzent Uvex aus Fürth irgendwann ein-
mal sukzessiv in das Geschäft mit Sportbrillen ein. Erst
setzte man in den 1960er Jahren auf Skibrillen, 2009 ka-
men welche für den Reitsport und später für Mountain-
biker hinzu. Aber nicht nur so wuchs das Unternehmen
stetig und erschloss sich zusätzliche Märkte. Weil man
sich im Bereich Sportartikel einen guten Namen auf-
gebaut hatte und auch ansonsten mit der Verarbeitung
von Kunststoffen, die bei der Herstellung von Brillenge-
stellen zum Einsatz kamen, bestens auskannte, war der
nächste Schritt zur Entwicklung von Ski- und Fahrrad-
helmen nur folgerichtig. Wenn es mal – wie aktuell im
Strategisches Wachstum
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Skisport – nicht ganz so toll mit dem Geschäft läuft, gene-
rieren halt die anderen Standbeine Fahrrad- und Reiter-
brillen oder Schutzhelme weiterhin ordentlich Umsatz
und Wachstum. Folgende Faktoren waren bei dieser
Art von Expansion von entscheidender Bedeutung: Die
Konzentration auf ein starkes und differenziertes Kern-
geschäft, ein reproduzierbares Geschäftsmodell sowie
eine anpassungsfähige Organisation. Zudem ist die
richtige Lösung immer die, die nachhaltig funktioniert
und nicht einfach nur gerade opportun erscheint. Das
betrifft vor allem den Einstieg in die digitale Welt, den
mittlerweile sogar klassische Spielzeugproduzenten wie
Playmobil-Hersteller geobra Brandstätter wagen. Durch
den Ausbau des digitalen Contents – angefangen mit der
Verknüpfung klassischer Spielthemenwelten mit Anima-
tionsfilmen und eigener App – will man kontinuierlich
Brücken zu neuen Konsumentengruppen schlagen und
somit nicht nur dem, durch PC-Spiele und Smartphones
veränderten, Freizeitverhalten von Kindern gerecht
werden, sondern auch ordentlich wachsen.
Unternehmen können schnell oder langsam an Substanz
zulegen – in diesem Kontext von einer optimalen Wachs-
tumsrate zu sprechen, ist nicht ganz unproblematisch.
„Man sollte dabei vielmehr nach der jeweiligen Unter-
nehmenssituation differenzieren“, glaubt Dr. Schneck.
„Beispielsweise könnte man zwischen neu gegründeten
und etablierten Unternehmen unterscheiden – nicht
zuletzt, weil junge Firmen relativ schnell in eine ausrei-
chende Größe hineinwachsen müssen, damit sie langfris-
tig am Markt bestehen können.“ So habe die Auswertung
der Umsatzsteuerpanels zwischen 2001 und 2010 durch
das IfM gezeigt, dass in diesem Zeitraum die jährliche
Wachstumsrate von kleinen Neugründungen dreimal
höher war als die der Gesamtwirtschaft. „Gründungen
mit weniger als 50.000 Euro Jahresumsatz wuchsen
sogar noch erheblich schneller“, so der IfM-Mann. „Sie
wiesen für den untersuchten Zeitraum eine elfmal höhere
Wachstumsrate auf.“ Gazellen nennen die Wissenschaft-
ler gerne auch solche relativ jungen Unternehmen, die in
kurzer Zeit besonders stark wachsen – wohl deshalb, weil
sie extrem flink und wendig auf dem Markt unterwegs
sind. Sie haben im Regelfall mindestens zehn Mitarbeiter
und sind in der Lage, ihren Umsatz drei Jahre in Folge um
durchschnittlich mehr als 20 Prozent im Jahr zu steigern.
Familienunternehmen sind überproportional unter den
Gazellen vertreten. Zudem fanden die Analysten des IfM
heraus: „Je größer die Unternehmen werden, umso gerin-
ger sind die durchschnittlichen Wachstumsraten.“
Hand am Puls der Zeit
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Dr. Susanna Zapreva
… ist Vorsitzende des Vorstands der
enercity AG in Hannover und führt das
Unternehmen derzeit in neue Wachs-
tumsfelder.
Aufbruch in UnbekanntesDoch manchmal lauern auf dem Weg zu mehr Größe und
Diversität im Portfolio einige Stolpersteine. Gerade die
Eigentümer kleinerer und mittelständischer Unternehmen
neigen dazu, alles kontrollieren zu wollen, was ab einer
bestimmten Dimension nicht immer mehr möglich ist. „Sie
haben oft das Gefühl, dass sie beim Wachstum die Kon-
trolle verlieren und intensivieren ihre Bemühungen, alles
im Griff zu behalten“, beschreibt Dr. Hardwig das Problem.
„Das hält sie im operativen Geschäft fest und nimmt ihnen
die Zeit und die Kraft, ihre strategische Funktion wahrzu-
nehmen.“ Daher ist es von entscheidender Bedeutung, Ver-
antwortung zu teilen und die gesamte Organisation bei der
Umsetzung entsprechender Strategien mit einzubeziehen.
„Unterbleibt dies, kann es zur Stagnation oder sogar zu ei-
ner Schrumpfung kommen“, warnt Dr. Schneck. Überhaupt
sollten sich alle Entscheider erst einmal darüber verstän-
digen, was Wachstum überhaupt heißen soll. Denn oftmals
ist mehr damit gemeint als die bloße Zunahme von Gewinn,
Umsatz oder Produktivität und Eigenkapital – nämlich der
Aufbruch in oft Unbekanntes.
Strategisches WachstumS
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„Flexibel, innovativ und agil“
Ein Gespräch mit Dr. Susanna Zapreva, Vorsitzende des Vorstands enercity AG über die Digitalisierung der Stadtwerke Hannover.
Die enercity AG (vormals Stadtwerke
Hannover) gehört zu den Top Ten der
deutschen Energieversorger. Wie hat
sich ihre Wachstumsstrategie seit der
Energiewende verändert?
Die von der Politik eingeleitete Energie-
wende wird gerade durch eine technolo-
gische Revolution überlagert. Das, was
wir mit der Digitalisierung derzeit erle-
ben, ist nur der Beginn einer radikalen
Transformation unserer Gesellschaft.
In diesem Umfeld müssen wir als
Energieunternehmen zwei Mal einen
Wandel vollziehen. Einmal vom reinen
Versorger zum Energiedienstleister
und ein zweites Mal zu einem Platt-
formunternehmen. Dazu konzentrie-
ren wir uns stärker auf den Kunden,
denn der Wandel in unserer Gesell-
schaft führt dazu, dass sich die Erwar-
tungen unserer Kunden stark ändern.
Durch die Energiewende werden wir
unser Produktionsportfolio erneu-
erbarer und dezentraler aufstellen.
Dabei richten wir unseren Fokus aber
nicht nur auf Strom, sondern auch
auf Wärme und Mobilität. Darüber
hinaus bauen wir den Dienstleis-
tungssektor stark aus und wollen
bundesweit wachsen. Damit dies
möglich ist, bauen wir enercity zu
einem Plattformunternehmen aus.
Das heißt: einfach, in Echtzeit und 1:1
in der Kundenbeziehung.
Sie haben im Mai bekanntgegeben,
dass Sie den Betrieb der Netze in eine
neue Gesellschaft auslagern werden.
Welche Ziele verfolgen Sie damit?
Um sich strategisch sinnvoll aufzu-
stellen, werden bei enercity neue
Strukturen geschaffen. Das Ziel ist
einerseits, den Wettbewerbsbereich
flexibel, innovativ und agil aufzustel-
len und gleichzeitig, die regulierten
Netzbereiche auf Versorgungssi-
cherheit und Stabilität auszurichten.
Deren Ausgliederung in eine „Große
Netzgesellschaft“ bietet aus Konzern-
sicht sowohl strategische als auch
wirtschaftliche Vorteile. Vor allem
wollen wir uns aus regulatorischer
Sicht optimal aufstellen.
Der neuen Netzgesellschaft als
100-prozentiger Tochter der enercity
AG werden die Strom- und Gasnetze
stufenweise übertragen. Das sind cir-
ca 20 Prozent des Anlagevermögens
der enercity AG. Rund 1.200 Beschäf-
tigte von enercity werden in die neue
Gesellschaft überführt. Die Bereiche
Unternehmensentwicklung und stra-
tegische Steuerung, Finanzen und Per-
sonal bleiben im Mutterkonzern. Mit
diesem Schritt schaffen wir es, dem
Wettbewerbsbereich als dem regulier-
ten Bereich die optimalen Rahmen-
bedingungen zu bieten, damit wir in
beiden Felder gut reüssieren.
Welche langfristige Strategie werden
Sie im derzeit sehr komplexen Umfeld
des Energiemarktes verfolgen?
Wir werden zukünftig mehr sein als
reiner Lieferant von Strom, Gas, Fern-
wärme und Wasser, sondern Dienst-
leister in vielen Geschäftsbereichen
sein. Ein Beispiel ist der Bereich
der Elektromobilität. Im Großraum
Hannover haben wir das Ziel, mit
bald 600 öffentlich zugänglichen
Ladepunkten zur Nummer eins in
Deutschland zu werden, was die La-
desäulendichte je Einwohner betrifft.
Bis 2020 investieren wir dafür 10
Millionen Euro in die Infrastruktur
für Elektromobilität. Unsere Dienst-
leistungsangebote berühren aber auch
Themen wie Energieeffizienz und indi-
viduelle Energielösungen für Kunden,
von der Photovoltaik bis zur Wärme-
pumpe, je nach Kundenwunsch.
Die Strategie enercity 4.0 zielt auf einen
deutschlandweiten, serviceorientier-
ten und effektiven Vertrieb. Neu ist
unser vollkommen digitalisierter, aus-
schließlich auf einem Online-Portal
basierender bundesweiter Strom- und
Erdgasvertrieb. Die Online-Produkte
bieten den Kunden einen papierlosen,
einfachen und angenehmen Weg der
Zusammenarbeit. In Echtzeit umge-
setzt, bleibt kein Wunsch offen, von
selbstständigen Abschlagsanpas-
sungen über Festlegung des eigenen
Energiemixes bis zu Rechnungsle-
gungszeitpunkten, ganz nach Kunden-
wunsch. Das ist aber erst der Beginn.
Wir arbeiten daran, die gesamte
Produkt und Dienstleistungswelt der
enercity in das digitale Zeitalter zu
überführen und diese so zu gestalten,
dass wir unsere Kunden begeistern.
Welche Chancen bietet die Digitalisie-
rung Ihrem Unternehmen?
Wir sehen es am Beispiel der Goo-
gles und Amazons dieser Welt, wie
erfolgreich digitale Geschäftsmodelle
sein können. Wir wollen das erste
Energie-Plattformunternehmen in
Deutschland sein. Mit jedem Kun-
den eine 1:1-Beziehung aufzubauen
und in der Lage zu sein, auf unsere
Kunden individuell einzugehen, ist
großartig. Da kommt unsere Gesell-
schaft in eine neue Ära ungeahnter
Möglichkeiten.
12 / Unternehmensportrait: Rausch Schokoladenmanufaktur Berlin
„Handwerk tri�t Hightech“
Ein Gespräch mit Robert Rausch, Geschäftsführer Rausch GmbH in Berlin.
Rausch zählt zu den bekanntesten
und ältesten Schokoladenproduzen-
ten in Deutschland. Sie haben 2015
den stationären Handel verlassen
und vertreiben Ihre Waren seither
ausschließlich über das Internet und
das Schokoladenhaus am Gendar-
menmarkt in Berlin-Mitte. Wie kam es
zu dieser Entscheidung?
Es ist unsere Ambition, die beste
Schokolade herzustellen und das bei
unseren Kunden eindeutig zu kommu-
nizieren. In den rund 6.500 klassi-
schen Supermärkten, im Fachhandel
und auch in den Kaufhäusern hatten
wir aber nicht mehr das Gefühl, dass
dies der Fall ist. Wir haben uns also die
Entscheidung nicht leicht gemacht,
aber für uns war irgendwann klar,
dass wir uns spitzer positionieren
wollen mit unseren hochwertigen Pro-
dukten. Daher haben wir uns letztlich
für den ausschließlichen Vertrieb über
das Internet sowie unser Schokoladen-
haus in Berlin entschieden. Es war, wie
gesagt, keine leichte Entscheidung,
aber die Entwicklung der letzten Jahre
gibt uns recht. Heute betrachten wir
Online nur als eine weitere Möglich-
keit, Fachhandel zu betreiben.
Wie haben Sie dies kommuniziert?
Wir haben viele verschiedene Ideen
diskutiert, beispielsweise eine große
Kampagne oder Flyer in der Schokola-
de, haben dies aber letztlich verworfen
und uns auf die Pressearbeit konzen-
triert. Und dies hat hervorragend funk-
tioniert, denn die gesamte Presse hat
darüber berichtet.
Was ist in der Schokoladen- bzw.
Süßwarenbranche passiert und wie
verändert sich der Markt dadurch?
Wie in allen anderen Branchen wird
auch in der Süßwarenwelt das mittlere
Segment immer kleiner. Die Kunden
kaufen entweder sehr preisbewusst –
also Discount – oder sie entscheiden
sich für Premiumartikel. Da es schon
immer unser Anspruch war, die beste
Schokolade herzustellen und wir
auch nur beste Zutaten verwenden,
war der Schritt in diese Richtung
letztlich nur konsequent. Wir legen an
jedem Punkt im Herstellungsprozess
größtmöglichen Wert auf Qualität, und
dies können wir über unsere direkten
Kanäle viel besser kommunizieren.
Zudem wächst das Segment Genuss im
Internet stark – die Kunden haben also
ihre bisherige Zurückhaltung verloren
und das spüren auch wir.
Das war sicher nicht einfach. Wie ha-
ben denn die Kunden reagiert?
Wir haben den Ausstieg aus dem Han-
del zunächst nicht kommuniziert,
weil wir unsere bisherigen Vertriebs-
partner nicht vor den Kopf stoßen
wollten. Das tat am Anfang weh, aber
über die Zeit konnten wir viele unse-
rer Kunden zurückgewinnen. Die Ver-
braucher in Deutschland tun sich mit
dem Einkauf von Lebensmitteln über
das Internet noch sehr schwer im
Vergleich zu anderen Ländern. Über
kurz oder lang wird es allerdings mit
Sicherheit Normalität werden. Mit un-
serem Flagschiff-Schokoladenhaus
in Berlin bieten wir unseren Kunden
seit 1999 eine Erlebniswelt rund um
das Thema Schokolade, die immer
mehr Besucher anzieht! Für unsere
Kunden ohne Internet haben wir
sogar ein Call-Center für telefonische
Bestellungen eingerichtet.
Robert Rausch
… führt das Familienunternehmen Rausch
seit 2011 in fünfter Generation. Mit seinem
mutigen Schritt in Richtung Online-Ver-
triebsstrategie zählt er zu den Pionieren in
seinem Segment in Deutschland.
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/ 1352° NORD
Wie haben Sie die Mitarbeiter mit
auf die Reise genommen und für das
Projekt gewonnen?
Ich gebe zu, dass es natürlich am
Anfang auch Skepsis gab. Schließlich
hatte ich damals gerade die Geschäfts-
führung von meinem Vater übernom-
men, der das Unternehmen zu seinem
jetzigen Erfolg geführt hat. Und ich
war mir natürlich der Verantwortung
gegenüber unseren 115 Mitarbeitern
in Berlin bewusst. Die Entscheidung ist
mir also nicht leichtgefallen, doch ich
war überzeugt davon, dass sie richtig
ist. Ich wusste aber auch, dass ich die
Mitarbeiter und Kollegen brauche,
wenn ich erfolgreich sein will. Erfolg
hängt in der heutigen Zeit auch davon
ab, dass man eine informelle, offene
Diskussionskultur etabliert, in der
jeder sich und seine Meinung einbrin-
gen kann. Es geht mir nicht darum,
Recht zu haben, sondern das Richtige
zu tun und mit allen an einem Strang
zu ziehen.
Würden Sie sich dann als eine Art
Startup bezeichnen?
Wenn man in fünfter Generation Scho-
kolade herstellt, ist man natürlich kein
Startup mehr. Ich würde sagen, wir
sind eher ein Hybrid, also ein traditio-
neller Hersteller mit Elementen eines
Startups. Das heißt, dass sich Teile
unseres Teams auch neu finden und
orientieren mussten, weil wir ja alle
aus einer ganz anderen Arbeitsweise
kamen. Das Zentrale daran ist wohl
mit Sicherheit das disruptive Element
des Internetzeitalters. Das bringt
Verunsicherung, die man auffangen
muss. Dazu haben wir 2017 eine neue
Managementmethode eingeführt,
mit der sich Ziele vorgeben und über
Key-Results auch messen lassen. Unser
Ziel ist es, ein transparentes Unter-
nehmen zu sein und auf diese Weise
Commitment zu erzielen. Wir sind ein
kleines Team und es kann nur funkti-
onieren, wenn jeder seine Ressource
möglichst gut nutzt!
Premiumhersteller sind in der Regel
auch die Trendsetter. Welche Rolle
spielen Innovationen und Neuerungen?
Zunächst einmal ist der Trend eindeu-
tig auf unserer Seite, denn die Ver-
braucher fragen heute immer gezielter
nach, woher Rohstoffe kommen. Im
Rahmen unseres Tree-to-door-Ansat-
zes kann jeder Käufer über einen Code
an jeder Tafel Schokolade beispielswei-
se direkt mit dem jeweiligen Farmer
der Kakaobohnen in Kontakt treten.
Das ist die Art Transparenz, die Kon-
sumenten heute suchen. Ein anderes
Projekt ist die Einrichtung unseres
Edel-Kakao-Instituts in Costa Rica, wo
wir Edelkakao in einer Mischvegetati-
on anbauen. Hier probieren wir neue
Formen des Anbaus und lernen noch
sehr viel über die Bohnen selbst.
Wie gehen Sie bei der Erfindung neuer
Schokoladensorten vor?
Wir animieren jeden im Haus, sich
Gedanken über neue Sorten oder
Geschmacksrichtungen zu machen.
Darüber hinaus machen wir regel-
mäßig Verkostungen mit ausge-
wählten Mitarbeitern, wo wir neue
Ideen diskutieren und natürlich neue
Geschmacksrichtungen ausprobieren.
Auch hier gibt es natürlich jede Menge
Trends und Ideen und wir halten jeden
Mitarbeiter dazu an, kreativ zu sein!
Wilhelm Rausch, Sohn eines Konditormeisters und Chocolatiers,
eröffnete 1918 in Berlin die Rausch Privat-Confiserie zur Herstel-
lung von Pralinen, Schokoladen und Honigkuchen. Seine drei Kin-
der führten das Unternehmen fort. 1968 wurde zum 50. Jubiläum
eine neue Schokoladenfabrik in Berlin-Tempelhof eröffnet. 1971
trat Jürgen Rausch in das Unternehmen ein und übernahm zehn
Jahre später die Leitung.
1998 wurde unter dem Markennamen „Plantagen-Schoko-
lade“ eine neue Produktpalette von puren Schokoladen aus
Edelkakao eingeführt. Jede Sorte besteht aus dem Edelkakao
eines bestimmten Herkunftsgebiets. Rausch Schokolade
gibt es seit Ende September 2015 nur noch im Onlineshop des
Unternehmens und im eigenen Schokoladenhaus am Gendar-
menmarkt in Berlin-Mitte.
www.rausch.de
Rausch Schokoladenmanufaktur – süße Geschichte
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„Dem Thema Restrukturierung die Stigmatisierung nehmen“
Restrukturierungen stellen Unternehmen und das Management vor große Herausforderungen. Im Gespräch im Foyer diskutieren Tammo Andersch, Torsten Holland und Thomas Dohrmann über die Herausforderungen in Sanierungsfällen.
Herr Andersch, die Andersch AG
zählt zu den deutschen Restruk-
turierungsspezialisten. Womit be-
schäftigt sich Ihr Unternehmen?
Andersch: Wir sind eine Wirt-
schaftsprüfungsgesellschaft, die
sich auf die Begleitung von oft
internationalen Unternehmen in
herausfordernden Situationen
spezialisiert hat. Dabei kann es sich
auch um Reorganisationen oder Re-
finanzierungssituationen handeln,
allerdings überwiegen in aller Regel
Restrukturierungen in all ihren
Facetten. Wir sind derzeit mit einem
Team von 80 Mitarbeitern an drei
Standorten in Deutschland sowie
einem globalen Netzwerk bei grenz-
überschreitenden Mandaten aktiv.
Und die Angermann Gruppe, Herr
Holland?
Holland: Die Angermann Gruppe ist
eine mittelständische, inhaberge-
führte Unternehmensgruppe mit
vier rechtlich nebeneinanderste-
henden operativen Einheiten, die
insgesamt rund 200 Mitarbeiter an
fünf Standorten in Deutschland
beschäftigt. Oaklins Angermann
Dr. Tammo Andersch (Andersch AG), Torsten Holland (Angermann Holding), Jens Tinnappel (NORD/LB) und Thomas Dohrmann (NORD/LB) im Gespräch.
Gespräch im Foyer
Ach
im M
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ist als deutsche Gesellschaft von
Oaklins auf M&A Transaktionen
deutscher Mittelständler ausgerich-
tet. Angermann Real Estate erbringt
Dienstleistungen zur Bewertung,
Vermietung und Vermarktung von
gewerblichen Immobilien unter-
schiedlicher Asset Klassen. Netbid,
Angermann Maschinen und Finan-
zierung bewertet und vermarktet ge-
brauchtes Equipment als Einzelan-
lagen oder gesamt Anlagevermögen.
Angermann Consult ist eine reine
Restrukturierungseinheit mit den
drei Themen Restrukturierungs-/Sa-
nierungsberatung, distressed M&A
und distressed Real Estate.
Die Wirtschaft brummt – gibt es der-
zeit überhaupt noch genug zu tun?
Holland:Die Zahl der Gewerbe-Insol-
venzen hat sich in den letzten acht
Jahren deutlich reduziert. Auch die
Zahl der neuen Sanierungsfälle ist
erheblich zurückgegangen – dabei
sehen wir keine Branchen- oder
regionalen Schwerpunkte. Aller-
dings rückt ein anderes Thema aus
unserer Sicht in letzter Zeit in den
Vordergrund, nämlich der Bedarf
bzw. die Notwendigkeit für mittel-
ständische Unternehmen, frühzei-
tig in einen Restrukturierungspro-
zess einzusteigen.
Andersch: Immer, wenn die Wirt-
schaft brummt, ist auch das Thema
Restrukturierung sehr relevant. Ich
rede dabei gar nicht von Insolven-
zen, sondern von der Veränderung
in herausfordernden Situationen,
also wenn sich Geschäftsmodelle
von Grund auf ändern. Stichworte
sind hier Automatisierung, Verlin-
kung von Prozessen, die Anpassung
an neues Konsumentenverhalten,
E-Commerce und so weiter – hier
sind schon seit vielen Jahren struk-
turelle Veränderungen und Re-
strukturierungen im Gang. Zudem
sind seit der Finanzkrise viele Un-
ternehmen sehr stark und oftmals
auch ungezügelt gewachsen. Ich
habe insbesondere bei mittelstän-
dischen Unternehmen einige Fälle
erlebt, die sich in puncto Expan-
sion übernommen hatten und die
Entwicklung vorsichtig zurückdre-
hen mussten, um die Folgen von zu
schnellem, unkontrolliertem und
nicht strukturiertem Wachstum
zu lindern. Und obendrein gibt es
aufgrund des billigen Geldes derzeit
noch sogenannte Zombie-Unterneh-
men, also Firmen, deren Geschäfts-
modelle eigentlich nicht mehr trag-
fähig sind, die heute aber künstlich
am Leben erhalten werden durch
billiges Geld. Davon gibt es mehr,
als wir alle denken.
Gibt es weitere Sanierungstreiber,
die Sie derzeit sehen?
Holland:Es gibt drei weitere Be-
sonderheiten, die auch in wirt-
schaftlich guten Phasen Sanie-
rungstreiber sind. Ein Thema
ist Arbeitskräftemangel, der das
Wachstum begrenzt – und nicht
nur im Bereich der qualifizierten
Arbeitskräfte. Das fängt bei Spedi-
teuren an, die keine Fahrer finden,
und geht bis in den Bereich der
Hochtechnologie. Das zweite Thema
ist das Problem, dass zwar viele
Aufträge da sind, viele Unterneh-
mer sich aber nicht ausreichend
mit der Kalkulation beschäftigen
und die Rohstoffpreisentwicklung
dabei außer Acht gelassen haben
– mit teilweise fatalen Folgen. Der
dritte Treiber sind streng nach Zeit
reglementierte Finanzierungen
von Startups. Unabhängig von der
Investition hängt der Erfolg davon
ab, ob die Technologie f liegt oder
nicht. Oft dauert dies zwei Jahre
länger als die Finanzierung geplant
ist – und dann kommen wir mit den
oftmals limitierten klassischen Fi-
nanzierungsmodellen nicht mehr hin.
Herr Dohrmann, wie sehen Sie dies
aus Bankensicht?
Dohrmann: Man muss hier ein biss-
chen unterscheiden, wenn man von
Restrukturierungen, Neustruktu-
rierungen oder Umstrukturierun-
gen spricht. Natürlich haben wir
in den letzten Jahren relativ wenig
von der „klassischen“ Zwangsre-
strukturierung zur Vermeidung
der Insolvenz gesehen. Insolvenzen
sind wirklich auf dem niedrigsten
Stand seit zwei Dekaden. Allerdings
werden Insolvenzen und Restruk-
turierungen aus verschiedenen
Gründen immer komplexer – und
die Gesamtzahl dieser Fälle hat in
den letzten zwei bis drei Jahren
zugenommen. So beobachten wir
heutzutage öfter die Aufnahme
eines größeren Kreditvolumens,
unter Beteiligung mehrerer Toch-
tergesellschaften sowie der Mutter
selbst, im Unternehmen und über
verschiedene Produkte hin. Diese
Gemengelage ist insofern komplex,
als dass sich nicht jedes Produkt
in einer klassischen Restrukturie-
rung gleich verhält. Und natürlich
kann es auch passieren, dass ich
über die verschiedenen Tochterge-
sellschaften oder Produkte auch
unterschiedliche Interessenkreise
habe, also nicht einen homoge-
nen Bankenkreis. Diese Situation
sauber auseinanderzudividieren ist
äußerst komplex und erfordert Zeit
und Expertise.
Das heißt, das Wachstum der letz-
ten zehn Jahre hat dazu geführt,
dass wieder mehr Fehler gemacht
werden?
Andersch: Nun, schon 2007/2008
gab es wenige Manager, die die
plötzliche Krise richtig managen
konnten. Heute stehen wir vor
dem gleichen Problem. Es mangelt
nämlich ebenso an Managern, die
Wachstum richtig managen können.
Derzeit braut sich deshalb ein sehr
komplexer Cocktail zusammen.
Allem voran geht die Komplexität
durch sehr heterogene Finanzie-
rungen, es gibt kaum noch konsor-
tiale Bindungen. Dies hängt damit
zusammen, dass sich die gesell-
schaftsrechtliche Struktur oftmals
in der Finanzierungsstruktur wider
spiegelt, quasi als opportunistische
Nutzung von Finanzierungsmög-
lichkeiten. In Kombination mit
schnellem Wachstum, geopoliti-
schen Unsicherheiten plus der digi-
talen Disruption vieler Geschäfts-
modelle könnte sich das schnell als
sehr giftiger Cocktail erweisen. Im
Endeffekt kann dann das Ausmaß
der notwendigen Restrukturierung
höher sein, als gedacht.
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Dohrmann: Daher ist es aus unserer
Sicht ganz wichtig, dass man früh
einsteigt und die Sanierungssituati-
on zur Vermeidung der Insolvenz in
die Hand nimmt. Heißt, wir müssen
die Warnsignale früher erkennen
und dann können wir als Restruk-
turierungsteam mit verschiedenen
Handlungsoptionen und damit
Erfolg versprechender eingreifen.
Lässt es sich das denn so lange
verschleppen?
Holland: Vorsichtig formuliert: In
komplexen Unternehmensstruk-
turen können Holding-Geschäfts-
führer den „Überblick“ verlieren.
Sie verfolgen die Vertriebserfolge
in der einen Einheit, während in
der anderen die Transparenz fehlt.
So erlebe ich in einem aktuellen
Projekt, dass das eine Unternehmen
komplett schuldenfrei ist,
während sich in der ande-
ren Gesellschaft Risiken
anhäufen. Früher entwi-
ckelten Unternehmen sich
klassisch in eine Sanierung
hinein. Doch das wandelt
sich. Heute kann der letzte
Jahresabschluss noch
sehr gut gewesen sein und
ein Jahr später steht das
Unternehmen durch die
Geschwindigkeit der Dis-
ruption vor einer komplett
anderen Situation.
Andersch: Hinzukommt,
dass man sich in einer
schwächelnden Konjunktur
nicht so lange durchhan-
geln kann. Zudem bringt
die Digitalisierung eine
deutliche Beschleunigung,
wie Sie eben bereits sagten.
Dies bringt Chancen und
Risiken für die klassische
Restrukturierung, weil
wir schneller reagieren
müssen. Wenn wir in unseren
Restrukturierungen den digitalen
Swing richtig hinbekommen in der
Beratung und der Refinanzierung
für das Unternehmen, dann können
wir natürlich die richtige Plattform
auch schneller bauen. Diese Digi-
talisierungseffekte funktionieren
in beide Richtungen, sind aber ein
sehr zweischneidiges Schwert.
Also hat die deutsche Industrie
nicht aus dem Verlust der Elektro-
nik- und Fotoindustrie in den 70er
Jahren gelernt?
Holland:Im Grunde steht die Indus-
trie heute vor einer vergleichbaren
Situation wie damals. Die Digitali-
sierung steht in erster Linie dafür,
dass sich Prozesse extrem beschleu-
nigen und Unternehmen sich neu
verdrahten mit externen Partnern
sowohl auf der Lieferanten- als auch
auf der Kunden- und Finanzierer-
seite. Das Problem ist dabei auch ein
psychologisches, denn die Mitarbei-
ter müssen die Geschwindigkeit mit-
gehen können – und hier hapert es
oft, auch bei der Geschäftsführung.
Wie lassen sich dann die Mitarbeiter
am besten mitnehmen?
Andersch: Der wichtigste Punkt
ist wirklich offene Kommunikati-
on, auch wenn es manchmal weh
tut, wie im Falle von Schließungen
von Betriebsstätten oder anderen
harten Maßnahmen. Zudem muss
man konsequent sein – und vor
allem muss die Führungsspitze
selbst einen Beitrag leisten. Der
Gesellschafter, der Gründer oder
der Eigenkapitalgeber stehen vorne
weg und danach folgt das Manage-
ment. Nur so lässt sich dann auch
der Betriebsrat gewinnen und vom
Konzept überzeugen.
Holland: Ich finde es zudem wichtig,
die Mitarbeiter aktiv zur Mitgestal-
tung aufzufordern. Wenn man sie
einlädt, die Prozesse zu gestalten und
dann auch vorsichtig in eine gewisse
Richtung lenkt, dann funktioniert
es in der Regel. Schließlich kennen
die Mitarbeiter die internen Prozesse
und wissen, was im Unternehmen gut
läuft und was nicht. Und wenn man
dieses Wissen nicht nur abschöpfen,
sondern vor allen Dingen in die Reor-
ganisation mit einbringen kann, dann
ist das Erfolg versprechend.
Das heißt aber für uns auch,
dass wir beim Management
Überzeugungsarbeit auf
allen Ebenen leisten müssen.
Herr Dohrmann, in der neu-
en Abteilung Special Situati-
on Financing konzentrieren
Sie sich auf Unternehmen
in schwierigen Situationen.
Was bieten Sie an?
Dohrmann: Unsere Angebote
zur Zusammenarbeit sind
sehr vielschichtig. Durch
unsere engen Kontakte zu
Unternehmensberatern
erhalten wir Zugang zu inter-
essanten unternehmerischen
Fällen – für gewöhnlich
sind die Unternehmen dann
schon in einer Art Krisensitu-
ation. In der Regel handelt es
sich dabei um Restrukturie-
rungsfälle, bei denen sich die
Zusammenarbeit zwischen
Unternehmen, Beratern und
uns als ideale Voraussetzung für
den Turnaround des Unternehmens
erweisen kann, den wir mit unserer
Finanzierung anschieben wollen.
Wie einleuchtend ist das Konzept
aus Beratersicht?
Holland: Also ich bewerte die Idee
Gespräch im Foyer
Thorsten Holland
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Zur Person Tammo Andersch
... besitzt jahrzehntelange Erfahrung in der Durchführung komplexer Restrukturierungs- und Refinanzierungspro-
jekte. Vor Gründung des Unternehmens Andersch arbeitete er knapp 20 Jahre für eine internationale Wirtschafts-
prüfungsgesellschaft. Dort wurde er im Jahr 2000 zum Partner bestellt und zwei Jahre später zum Deutschland-Leiter
der Restrukturierungsberatung. Zusätzlich führte er ab 2005 die Restrukturierungs-Aktivitäten in Europa, Afrika und
dem Mittleren Osten und entwickelte sein Team zu einer der international führenden Restrukturierungsberatungen. Er
studierte Wirtschaftswissenschaften an der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität und besitzt einen MBA-Abschluss
des Henley Management College (England). Von 1984 bis 1993 diente er als Offizier der Bundeswehr.
Dr. Thomas Dohrmann ...ist Bereichsleiter Sonderkredit Management bei der NORD/LB. Der Bereich umfasst Restrukturierungen, Abwicklungen
und Bewertungsmanagement. Zuvor arbeitete er bei Fitch Ratings, New York, und bei der Deutschen Bank, ebenfalls in New
York und in Frankfurt. Dr. Dohrmann studierte Jura an der Leibniz Universität Hannover, wo er auch promovierte. Seinen MBA
machte er an der Fuqua School of Business an der Duke University in Durham, North Carolina.
Thorsten Holland... ist seit 1999 geschäftsführender Partner der Angermann Consult GmbH. Nach seinen Studienabschlüssen zum Diplom-Wirt-
schaftsingenieur und anschließend zum Diplom-Kaufmann durchlief er seit 1991 als Berater und späterer Projektleiter Stationen bei
der Arthur Andersen Management Beratung. Während seiner nunmehr 20-jährigen Tätigkeit für Angermann Consult bearbeitete und
verantwortete er eine Vielzahl von insbesondere Sanierungs- und Restrukturierungsprojekten aber auch von Nachfolgeprozessen für
mittelständische Unternehmen unterschiedlicher Branchen in der Konzeptphase und anschließenden Umsetzungsbegleitung.
sehr positiv, weil man heute häufig
nicht mehr über einen abgestimm-
ten Finanzierer-Kreis verfügt, wie
es früher in der Mittelstandsfinan-
zierung oft der Fall war, so dass in
Sanierungssituationen klar
war, wer gegebenenfalls eine
Poolführung übernehmen
soll. Hier bietet Special
Situation Financing eine
interessante Alternative
zur Ablösung oder Ergän-
zung von Finanzierungen
in Krisenunternehmen.
Wie schätzen Sie in diesem
Zusammenhang die geplan-
te Einführung des präventi-
ven Restrukturierungsver-
fahrens ein?
Andersch: Das präventive
Restrukturierungsverfah-
ren wird meines Erachtens
schneller kommen als
gedacht. Und ich finde es
sehr positiv, denn es wird
den Themen Restruktu-
rierung und Insolvenz die
Stigmatisierung nehmen
und wieder wesentlich
mehr Gläubiger-Autonomie schaffen –
wenn der Unternehmer nicht in den
Vollstreckungsschutz gehen will. Es
wird die gesamte Restrukturierungs-
kultur verändern – und das ist gut so.
Wir erreichen dann hoffentlich eine
Kultur, die gerade deutsche Unter-
nehmer dafür empfänglicher macht,
eine Bank als Sparringspartner an die
Seite zu nehmen.
Holland: Ich kann das nur
unterstreichen, auch wenn
derzeit verschiedene In-
teressengruppen über die
Ausgestaltung diskutieren.
Wenn man die vorinsolvenz-
liche oder außergerichtliche
Sanierungsphase besser
strukturieren und öffnen
kann, dann ist das mit Sicher-
heit sehr hilfreich für eine
erfolgreiche Sanierung. Im
Moment haben wir die Situ-
ation, dass Regularien stark
zugenommen haben, was bei
vielen Stakeholdern Ängste
vor Haftungs- und Anfech-
tungstatbeständen erzeugt.
Daher ist es wichtig, diese
insolvenznahe Sanierungs-
phase ein Stück zu entstig-
matisieren – was insbeson-
dere den Gläubigern und den
Belegschaften helfen kann.
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Tammo AnderschAch
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18 / Länderfokus: Australien
Wachstum ohne Ende?
Seit 27 Jahren befindet sich Australiens Konjunktur ununterbrochen im Aufschwung. Doch die starke wirtschaftliche Abhängigkeit von China könnte eines Tages für das Land zum Risiko werden.
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„Lucky Country“ – so nennen Australier gerne ihre Heimat.
Und in der Tat scheint Australien ein glückliches Land
zu sein. Metropolen wie Sydney, Melbourne oder Perth
gelten als weltoffen, modern und lebendig. Auch eilt den
Bewohnern des Fünften Kontinents der Ruf voraus, recht
entspannt und unkompliziert zu sein. Sonne und Sand-
strände gibt es ebenfalls reichlich in Down Under, darü-
ber hinaus lockt eine spektakuläre Natur Touristen und
Einheimische gleichermaßen ins weite Outback. Aber
nicht nur deshalb erklärte vor fünf Jahren die Organisati-
on für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(OECD) die Australier zu den zufriedensten Menschen
auf der Welt. Vor allem durch sein Gesundheitssystem
und durch die überdurchschnittlich hohe Bereitschaft
seiner Bevölkerung zu zivilgesellschaftlichem Engage-
ment konnte Australien in dieser Studie punkten. Kein
Einzelfall, denn auch im World Happiness Report 2018
belegt Down Under hinter Schweden und vor Israel einen
eindrucksvollen 10. Platz. Aber es gibt einen weiteren
Grund zur Freude auf der anderen Seite der Erdkugel:
Im Sommer vergangenen Jahres brach Australien den
Wachstumsweltrekord unter den Industrienationen. Die
Statistikbehörde konnte das 104. Quartal in Folge, also
über 25 Jahre und neun Monate hinweg, ein Plus vermel-
den. Bis dahin waren es die Niederländer, die die längste
Zeit ohne eine Rezession hinter sich gebracht hatten. Dank
des reichlich fließenden Nordseeöls kamen sie bis 2008
auf 103 Quartale ohne negative Zahlen. Dann brach die
Finanzkrise aus.
Bevölkerungswachstum befeuert BinnennachfrageIn Australien ist dagegen ein Ende der Erfolgsserie
keinesfalls in Sicht. Kaum eine Wolke scheint den Kon-
junkturhimmel zu trüben. So legte laut Internationalem
Währungsfonds (IWF) das Bruttoinlandsprodukt 2017 um
2,3 Prozent zu. Und für dieses sowie das kommende Jahr
rechnen die Experten mit Wachstumsraten von jeweils
rund 3 Prozent. „Die Entwicklung in Australien basiert
auf zwei wesentlichen Faktoren“, kommentiert Professor
Dr. Heribert Dieter die guten makroökonomischen Daten
in Serie. „Zum einen profitierte das Land von der starken
Nachfrage nach Rohstoffen“, so der Experte für Globale
Fragen an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in
Berlin. „Zum anderen boomt seit Jahren der Immobilien-
sektor.“ Aber es gibt eine weitere Ursache, die seiner Mei-
nung nach häufig vergessen wird. „Und das ist die positive
Bevölkerungsentwicklung.“ Zählte man 1997 noch 18,5
Millionen Australier, so waren es zehn Jahre später schon
20,9 Millionen und heute sind es 24,7. „Daraus ergeben
sich wichtige Impulse für die Binnennachfrage und den
Konsum.“ Rund 190.000 Menschen aus aller Welt erhalten
jedes Jahr die Staatsbürgerschaft. Dabei hat Australien
sehr strenge Einwanderungsgesetze. Nur jüngere und vor
allem gut ausgebildete Menschen dürfen kommen. Das
zahlt sich offensichtlich aus.
Doch auch im „Lucky Country“ ist nicht alles perfekt. „Die
verarbeitende Industrie ist verhältnismäßig schwach
aufgestellt“, betont Dieter. Ein Indiz dafür ist das Ende
der traditionsreichen Autoindustrie auf dem Fünften
Kontinent. Im Oktober 2017 zogen mit Toyota und GM
Holden die letzten beiden verbliebenen Hersteller den
Stecker. Offensichtlich rechnete sich die Produktion auf
dem Fünften Kontinent nicht mehr. Ford hatte bereits ein
Jahr zuvor sein Werk vor Ort geschlossen. Wenn man die
rund 120 gleichfalls betroffenen Kfz-Zuliefererbetriebe
dazu rechnet, gingen dadurch schätzungsweise 50.000
Jobs verloren. „Die Regierung in Canberra war 2013 nicht
mehr bereit, den Produzenten von Fahrzeugen durch
Die Architekturmetropole Brisbane in Queensland
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Subventionen länger unter die Arme zu greifen“, weiß der
SWP-Mann zu berichten. Dabei ging es um einige hundert
Millionen australische Dollar pro Jahr. „Diese Entschei-
dung ist schwer nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass
die Produktion von U-Booten vor Ort dagegen mit einem
staatlichen Programm unterstützt wird, das rund 50 Milli-
arden australische Dollar kostet und nur wenige hundert
Arbeitsplätze sichert.“ Auch Australiens Infrastruktur
ist alles andere als optimal. Ihr Ausbau konnte mit dem
Wachstum der Bevölkerung nur schwerlich Schritt halten.
Zudem bewies man nicht immer ein glückliches Händ-
chen, wenn es um wichtige Weichenstellungen für die
Zukunft ging. So beschloss Canberra 2009 über 20 Milliar-
den Euro in den Aufbau eines hochmodernen Glasfaser-
netzes zu investieren. Der ambitionierte Plan wurde nach
einem Regierungswechsel prompt wieder ad acta gelegt
und stattdessen das alte Kupferleitungsnetz erweitert
– sehr zum Nachteil für die Entwicklung der Digitalisie-
rung der Wirtschaft. Und im Energiesektor setzte man zu
lange auf schmutzige sowie unrentable Kohlekraftwerke
und vernachlässigte geradezu sträflich das Thema erneu-
erbare Energien.
Klumpenrisiko Rohsto�exporteNorman Langbecker hat eine ähnliche Einschätzung.
„Das konstante wirtschaftliche Wachstum der letzten
Jahrzehnte ist vor allem im Rohstoffreichtum des Landes
sowie den hohen Investitionen zu deren Erschließung
und Export begründet“, so der Regionalmanager mit
Zuständigkeit für Japan, Korea sowie den Südpazifik
beim Ostasiatischen Verein e.V. in Hamburg. Minera-
lische Rohstoffe, Flüssiggas, Kohle und Eisenerz allein
machen über 37 Prozent des Volumens der australischen
Ausfuhren aus und bleiben auch in Zukunft wichtige
Wachstumstreiber. Und weil Rohstoffmärkte sehr volatil
sein können, haben die Unternehmen im Bergbausektor,
die übrigens zu 80 Prozent in nichtaustralischen Händen
sind, in jüngster Zeit sehr viel Geld in die Steigerung der
Produktivität investiert und vielerorten ihre Produktion
hochgeschraubt. Auf diese Weise können sie eventuell
fallende Preise durch zusätzliche Fördermengen halb-
wegs ausgleichen. „Australien liefert quasi die Grundlage
für den wirtschaftlichen Aufstieg Asiens und wird auch
weiterhin vom „asiatischen Jahrhundert“ und dessen
aufstrebender Mittelschicht profitieren.“ Zudem nennt
Langbecker weitere Faktoren, die für eine Kontinuität in
Sachen Aufwärtsentwicklung sprechen. „Hinzu kommen
das konstante Bevölkerungswachstum, ein erfolgreicher
Dienstleistungssektor sowie steigende Nahrungsmittelex-
porte in die Region Asien-Pazifik.“ Aber auch für ihn ist
die verarbeitende Industrie für eine Volkswirtschaft von
der Größe Australiens nicht breit genug aufgestellt.
Aber laut Langbecker kann dem Land aus einem ganz
anderen Grund in Zukunft womöglich einmal Ungemach
drohen: durch die enorme Abhängigkeit vom Reich der
Mitte. „Mit einem Exportanteil von 30 Prozent sowie
einem Importanteil von 25 Prozent ist China ganz klar der
wichtigste Handelspartner Australiens.“ Zum Vergleich:
1991 gingen gerade einmal 2 Prozent der australischen
Ausfuhren dorthin. „Dies birgt zwangsläufig auch ein
Risiko für die australische Wirtschaft, wenn das Wachs-
tum in China stagniert oder sogar zurückgehen sollte.“
Anders formuliert: Wenn Chinas Konjunktur von einem
leichten Schnupfen heimgesucht wird, dann hat Austra-
lien schnell eine schwere Grippe. Für den Experten von
der SWP hat diese hohe wirtschaftliche Abhängigkeit
sogar weitreichende politische Konsequenzen. „Canberra
muss sich deshalb mit Kritik an China zwangsläufig sehr
zurückhalten.“
Abhängigkeit von ChinaDabei sind die Asiaten, allen voran die Chinesen, noch in
ganz anderen Bereichen sichtbar und haben regen Anteil
daran, dass die konjunkturelle Dynamik anhält. Denn
immer mehr Eltern aus China, Sri Lanka oder Indien
schicken ihre Sprösslinge nach Australien auf die Schule
oder die Universität. Das liegt nicht nur an der geographi-
schen Nähe. Ein akademischer Abschluss in Down Under
ist deutlich günstiger zu bekommen als beispielsweise
in Europa oder den Vereinigten Staaten. Deshalb bieten
die 40 Universitäten des Landes zahlreiche Studiengänge
und Serviceleistungen eigens für diese Zielgruppe an. Mit
232.000 Studenten stellen die Chinesen wiederum das
größte Kontingent. Rund 30,9 Milliarden australische
Dollar lassen die ausländischen Studenten im Jahr in
Australien. Ein weiterer Vorteil: Die Unterrichtssprache ist
Englisch. Auch auf dem Immobilienmarkt zeigen Chinesen
Flagge, was nicht ohne Folgen bleibt. In urbanen Zentren
wie Sydney haben sich die Preise für Häuser oder Wohnun-
gen in den vergangenen acht Jahren mehr als verdoppelt.
Auch der Tourismus gewinnt als Wirtschaftszweig zuneh-
mend an Bedeutung. Aufgrund all dieser Entwicklungen
hat der Dienstleistungssektor mittlerweile einen Anteil
von satten 70 Prozent an der Entstehung des australi-
schen Bruttoinlandsproduktes.
Zudem brummt der Außenhandel. Allein 2017 stieg der
Wert der Exporte im Vergleich zum Vorjahr um 16,5 Pro-
zent auf ein Volumen von 302 Milliarden US-Dollar. Bei
den Importen wurde im selben Zeitraum ein Zuwachs von
7,9 Prozent verzeichnet. Dafür ist nicht allein der Hunger
Asiens nach Rohstoffen verantwortlich. Denn Australien
hat in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Freihan-
delsabkommen unter anderem mit China, Japan oder Süd-
korea abgeschlossen. Auch mit der EU steht man derzeit
in Verhandlungen. Was überraschen mag: All das macht
es australischen Unternehmen nicht immer leichter, ihre
Produkte auf den Weltmärkten anzubieten. „Die hohe
Zahl an Freihandelsabkommen hat dazu geführt, dass vor
allem kleinere Firmen den Überblick darüber verloren ha-
ben, was möglich ist und was nicht,“ gibt Professor Dieter
Länderfokus: Australien
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Multikulti- und Finanzmetropole Sydney
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zu bedenken. „Sie verabschieden sich aus dem Auslands-
geschäft, weil das Regelwerk einfach zu kompliziert wur-
de.“ Es scheint, die Regierung in Canberra verhandelt in
Sachen Freihandel manchmal munter drauf los. „Es fehlt
gelegentlich an Kohärenz.“ Von den aktuellen protektio-
nistischen Bestrebungen der Trump-Administration ist
man jedenfalls nicht betroffen. „In punkto Außenhandel
ist Australien nicht übermäßig stark mit den Vereinigten
Staaten verflochten“, erklärt Langbecker. „Nur 5 Prozent
der australischen Exporte gehen dorthin. Die Importe aus
Amerika sind hingegen weitaus größer, so dass Australien
ein relativ hohes Handelsbilanzdefizit mit den Vereinig-
ten Staaten verzeichnet.“ Washingtons restriktive Maß-
nahmen richten sich aber nur gegen Länder, mit denen
man selbst ein Minus in der Handelsbilanz hat. „Zudem
gilt Australien als ein bedeutender geostrategischer Partner
in der Region, der nicht verprellt werden sollte.“
Starkes deutsches EngagementFür deutsche Unternehmen ist Australien trotz der relativ
niedrigen Einwohnerzahl schon immer ein interessanter
Markt gewesen. So legten die Exporte Richtung Down Un-
der im vergangenen Jahr um 5 Prozent zu und erreichten
ein Volumen von 9,4 Milliarden Euro. In umgekehrte Rich-
tung stiegen die Ausfuhren sogar um satte 35,1 Prozent
auf einen Wert von 2,9 Milliarden Euro. Den Löwenanteil
bestritten dabei mit 1,1 Milliarden Euro die australischen
Kohlelieferungen, die um 83,8 Prozent gegenüber dem
Vorjahr anzogen. Traditionell ist der australische Bergbau
ein guter Kunde bei den Herstellern von moderner För-
dertechnik „Made in Germany“. „Auf der Liste der größten
deutschen Handelspartner landet das Land immerhin
auf Platz 35“, so Langbecker. „Sollte das Freihandelsab-
kommen mit der EU, das momentan noch verhandelt
wird, zustandekommen, so würde das neue Potenziale
erschließen.“ Vor allem die deutschen Autobauer erhoffen
sich eine Aufhebung der Einfuhrzölle sowie ein Ende der
Luxussteuer für Fahrzeuge der gehobenen Klasse. Das
würde der Nachfrage einen deutlichen Auftrieb verleihen.
„Aber auch in den Ausbau der erneuerbaren Energien
fließen aktuell hohe Investitionssummen – ein Bereich,
in dem deutsche Anbieter ebenfalls gut aufgestellt sind.“
Und so sieht es ganz danach aus, dass deutsche Unterneh-
men in den kommenden Jahren ein stärkeres Interesse
haben werden, die Erfolgsserie der australischen Wirt-
schaft mitzuschreiben.
Länderfokus: Australien
Australien zählt zu den größten Exporteuren von Rohsto�en
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„Weltmarktführer in Qualität und Menge“
Ein Interview mit Fritz Graf von der Schulenburg, Managing Partner der Jebsen & Jessen (GmbH & Co.) KG in Hamburg.
Die Jebsen & Jessen Hamburg Gruppe
ist in den Bereichen Textilien, Chemi-
kalien und Granatsand aktiv. Wie kam
es zu diesem Portfolio?
Die Firma Jebsen & Jessen bezeichnet
sich als Family Group of Enterprises
und wurde 1895 in Honkong gegrün-
det. Beide Gründer kamen jeweils aus
Familien, die viel Handel mit China
betrieben und über eigene Schiffe
verfügten. Der Plan war zunächst, ein
Unternehmen in Hongkong zu grün-
den, das eigene Produkte aus Deutsch-
land nach China importieren sollte. In
dieser Funktion waren wir lange die
Generalagenten namhafter deutscher
Konzerne in China. Zugleich sind wir
zu einem großen Handelsunterneh-
men mit Fokus auf Luxury Consumer
Goods in Hongkong geworden. Ein
weiterer Teil des Unternehmens ist die
Jebsen & Jessen Gruppe in Hamburg.
Sie ist heute ein Handelsunternehmen
mit den drei großen Sparten Textilien,
Chemikalien und Granatsand und
sie ist vor allem in den Märkten in
Südamerika, Europa und Middle East
vertreten. Die Jebsen & Jessen Gruppe
Südostasien mit Sitz in Singapur
entstand in den sechziger Jahre in der
zweiten Eigentümergeneration und
wurde von einem Familienmitglied
in Singapur gegründet. Sie operiert
als eine Art Konglomerat in allen
Ländern Südostasiens, inklusive den
Emerging Markets.
Wie kommt die GMA Garnet in diesem
Konstrukt ins Spiel?
Die GMA Garnet ist das vierte Un-
ternehmen in diesem Konstrukt. Es
nahm seinen Anfang in einer Ver-
triebsfunktion für eine australische
Mine für Granatsand, die wir dann
später kauften, als der Besitzer auf
der Suche nach einem neuen Eigen-
tümer war. Wir entwickelten sie und
bauten insbesondere den globalen
Vertrieb Schritt für Schritt aus.
Erzählen Sie uns Näheres über die Mine?
Sie befindet sich nördlich von Perth.
Im Küstensand dort befindet sich das
Mineral Garnet, der weltweit beste
Granatsand. Man benutzt ihn für
zwei Anwendungen, nämlich zum
Sandstrahlen sowie zum Wasser-
strahlschneiden. Aus dem ursprüng-
lichen Minenbetrieb in Australien
ist mit GMA eine Marke als Gesamt-
anbieter von Granatsand entlang
der gesamten Wertschöpfungskette
geworden. Wir bringen pro Jahr rund
500.000 Tonnen in den Markt.
Wie verlief die wirtschaftliche Ent-
wicklung?
GMA wurde in den achtziger Jahren
gegründet, dann entstand Anfang der
Neunziger GMA Europe, 2000 dann
Middle East und 2015 schließlich
übernahmen wir eine Mine in Mon-
tana, wo wir Steingranat für den US-
Markt fördern. Wir haben also aus den
Anfängen in Australien ein globales
Geschäft aufgebaut und sind darin in
Qualität und Menge Weltmarktführer.
Welchen Herausforderungen sind Sie
beim Betrieb der Mine begegnet, mit
denen Sie nicht gerechnet hatten?
Die erste Herausforderung ist
zunächst, qualitativ hochwertigen
Granatsand zu produzieren und da-
mit dem Markt- und auch eigenen An-
spruch gerecht zu werden. Dann ist
beim Betrieb einer Mine natürlich die
nächste Herausforderung die Frage,
wie lange man sie ausbeuten kann.
Glücklicherweise haben wir darauf
eine sehr positive Antwort, denn im
gesamten Gebiet rund um die Mine,
wo wir auch die Schürfrechte haben,
sind wir auf weiteren Granatsand
gestoßen.
Welche Herausforderung besteht im
globalen Wettbewerb?
Der Markt ist stark geprägt von indi-
schen Produzenten, die äußerst preis-
aggressiv sind. Allerdings hat die
indische Regierung Anfang 2016 ein
Exportembargo verhängt, weil einige
der Produzenten die Schürfrechte
nicht korrekt erworben hatten. Wir
haben diese Zeit genutzt, um unser
Volumen zu steigern.
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Fritz Graf von der Schulenburg
… ist Managing Partner der Jebsen &
Jessen Hamburg Gruppe. Nach seinem
Jura-Studium hatte er verschiedene Ma-
nagement-Positionen im Ausland inne.
Herr von der Schulenburg ist verheiratet
und hat vier Kinder.
24 / NORD/LB Story: NPL-Sanierungen
NPL-Sanierung: Restrukturierungszeiten gezielt verkürzen
Ein Gastbeitrag von Dr. Sascha Haghani, Head of the global Restructuring & Corporate Finance Competence Center bei Roland Berger in München.
Die Wirtschaft boomt, von Krise keine Spur. So oder
ähnlich sieht sich Deutschland seit nun fast einer Dekade.
Und doch: Das Umfeld trübt sich angesichts des Brexits,
eines möglichen Handelskrieges und einer Wachstumsbe-
grenzung durch Fachkräftemangel zusehends ein. Im Fi-
nanzsektor ist im Jahr 10 seit der Finanzkrise eine völlig
neue Zeitrechnung angebrochen: Die Kreditnachfrage der
Unternehmen wächst nur langsam, die Risikokosten sind
im Banksektor historisch niedrig und die Investitionen in
den Kapitalstock zur Produktivitätssteigerung weiterhin
zögerlich. Zudem wird künftig der regulatorische Rah-
men die Kreditvergabe, das Pricing und die Restrukturie-
rungslandschaft beeinflussen.
Angetrieben durch konjunkturelles „Doping“ in Form
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Gestütztes Wachstum: NPL-Sanierungen helfen dabei
günstiger Wechselkurse, niedriger Rohstoffpreise und
Zinsen konnte Deutschland zwischen 2009 und 2016 sein
BIP um 674 Milliarden Euro steigern. Die andere Seite die-
ser Medaille ist jedoch der damit verbundene Anstieg an
Barmitteln aus guten Ergebnissen und einem zurückhal-
tenden Investitionsverhalten. Allerdings zeigt ein Drittel
der Unternehmen in Deutschland unter der Oberfläche der
positiven Konjunkturentwicklung schwache Krisensigna-
le: Umsatzrückgänge, negatives EBIT (Gewinn vor Zinsen
und Steuern) oder hohe Verschuldung. Die Zeit für einen
möglichen Einbruch scheint gekommen.
Es stellt sich daher die Frage, wie lange der längste Konjunk-
turaufschwung in der DACH-Region (Deutschland, Öster-
reich und die Schweiz) noch anhalten kann – zumal Europa
im Bereich Non-Performing Loans (NPL) einige Risiken
im Finanzsektor akkumuliert hat. So haben die USA ihren
Bestand an NPLs nach 2008 schnell abgebaut, während der
Bestand in Europa mit 990 Milliarden Euro neun Mal so
hoch ist wie in den USA. Die NPL-Ratio liegt in Europa mit
5 Prozent deutlich über dem Wert der USA (1%); Deutsch-
land liegt mit einem Wert von 2,5 im Mittelfeld. Hinter dem
Phänomen verbirgt sich das niedrige Handelsvolumen
mit NPLs – und das eben auch in Deutschland. Das höhere
Handelsvolumen der USA erklärt sich durch Unterschiede
im Finanzsystem und dem höheren Reifegrad des amerika-
nischen Marktes für NPL-Trading.
Das Problem dabei: Der hohe Anteil von NPLs in den
europäischen Bankbilanzen kann sich im Krisenfall als
zusätzliche Wachstumsbremse im Euro-Raum auswirken.
Schließlich könnten die Institute dann weniger Kredite
vergeben und dieser eingeschränkte Zugang könnte im
Falle eines Abschwungs das Wachstum noch einmal
verlangsamen. Zudem haben die Banken mit fallenden
NPL-Ratios auch weniger Sanierungsfälle.
Auch ein Vergleich der Finanzierungsstrukturen von Un-
ternehmen in Deutschland und den USA zeigt signifikante
Unterschiede. In beiden Ländern ist Eigenkapital der wich-
tigste Finanzierungsbaustein. Daneben ist in Deutschland
der Kredit die wichtigste Finanzierungsform, während
in den USA Kredit und Schuldschein fast die gleiche Rolle
spielen. Auch hier ist die Konservativität in der Unterneh-
mensfinanzierung in Deutschland ein gewisser Nachteil.
Denn obschon Schuldscheine viele Vorteile gegenüber
Krediten bieten, sind deutsche Unternehmer skeptisch.
Daraus ergibt sich im Falle eines Abschwungs voraussicht-
lich ein NPL-Volumen von 25 bis 40 Milliarden Euro.
Zusammengefasst würde eine konjunkturelle Eintrübung
oder gar Krise auf veränderte Rahmenbedingungen in
der Restrukturierung treffen: So stehen derzeit reduzierte
Kapazitäten in Workout / Intensive Care zur Verfügung,
für NPLs gelten höhere Eigenkapitalanforderungen und
es gibt einen höheren Anteil an kapitalmarktorientierten
Finanzierungen. Hinzu kommen regulatorische Verän-
derungen, die auf strengere Aufsichtsbehörden, einen
EU-weiten Restrukturierungsrahmen sowie Distress-
ed-Märkte treffen. Im Umgang mit NPLs gibt es dabei
drei Optionen mit jeweils steigendem Komplexitätsgrad:
verkaufen, sanieren oder managen.
Besonders interessant ist in den Augen vieler Marktteilneh-
mer derzeit der Sanierungsansatz vor der Insolvenz, bietet
er doch hervorragende Chancen, Unternehmen gezielt wie-
der nach vorne zu bringen. Ein Problem dabei sehen viele
Beteiligte allerdings in einigen Kernelementen der vorin-
solvenzlichen Restrukturierung, wie sie sich in den letzten
20 Jahren entwickelt haben: Die Prozesse sind langwierig,
Sanierungsgutachten zu umfangreich und die Finanzie-
rungsverhandlungen sehr komplex. Der gesamte Restruktu-
rierungsprozess dauert daher heute häufig zu lange.
Dies war nicht immer so – vielmehr haben sich in den letz-
ten 30 Jahren Dauer und Umfang in der Restrukturierung
von ehemals vier Wochen auf bis zu mehr als sechs Monate
ausgedehnt und damit mehr als verzehnfacht. Dahinter
stecken die einerseits guten Absichten der Einzelschrit-
te. Diese führen jedoch dazu, dass die Beteiligten immer
professionalisierter werden, mehr Personen involviert
26 / NORD/LB Story: NPL-Sanierungen
„Die NORD/LB will eine gestaltende Rolle einnehmen“Ein Gespräch mit Jens Tinnappel über Non-Performing Loans und die neue Einheit Special Situation Finan-cing der NORD/LB.
Deutschland befindet sich seit 10 Jahren in einem Dauer-
boom. Wie beurteilen Sie die derzeitige Lage im Mittelstand?
Die Lage der Unternehmen scheint weiterhin weitgehend
stabil. Die Themen Digitalisierung und Optimierung von
Prozessen sind vorrangige Themen. Die Umsetzung vor
allem der Digitalisierung ist in einigen Unternehmen
noch optimierungsbedürftig. Hier gibt es noch erhebliche
Erfordernisse, um die Weichen für die Zukunft zu stellen.
Daneben stehen einige erfolgreiche Unternehmen vor der
Herausforderung zur Änderung ihrer Geschäftsmodelle
aufgrund sich verändernder Technologien. Exemplarisch
wäre hier bespielweise die Automobilindustrie zu nen-
nen – Stichwort E-Mobilität. Selbst bislang erfolgreiche
Unternehmen, die Anpassungen versäumen, können in
Schwierigkeiten geraten.
Die Unternehmen müssen sich voraussichtlich auch auf
verändernde Finanzierungsstrukturen einstellen. Diese
können sich zum einen durch eine Erhöhung des Zinsni-
Jens Tinnappel
… ist Leiter der neuen Einheit „Special Situation Financing“
und beschäftigt sich mit Unternehmensfinanzierungen in be-
sonderen Finanzierungssituationen. Er ist seit dem Jahr 2000
bei der NORD/LB, zunächst als Kreditspezialist, anschließend
als Firmenkundenbetreuer sowie als stellvertretender Nieder-
lassungsleiter. Seit 2003 beschäftigt Jens Tinnappel sich für die
Bank mit Unternehmenssanierungen. Er studierte Wirtschafts-
wissenschaften an der Uni Göttingen.
Die neue Einheit„Special Situation Financing“
Mit ihrer neuen Einheit positioniert sich die NORD/LB als
Finanzierungspartner für Unternehmen in Spezialsitua-
tionen. Die Bank begleitet Firmen in schwierigen unter-
nehmerischen Situationen. Dabei entwickeln, strukturie-
ren und arrangieren die Berater der Bank ganzheitliche
Finanzierungslösungen für mittelständische Unterneh-
men im deutschsprachigen Raum – mit einem Fokus auf
Unternehmen ab 50 Millionen Euro Umsatz. Das in Res-
trukturierungen sehr erfahrene Team der Bank um Jens
Tinnappel begleitet Unternehmen in diesen Phasen bei
vorliegender, unabhängiger Bestätigung (z.B. auf Basis
eines IDW S6-Gutachtens), Independent Business Reviews
oder vergleichbarer Informationsgrundlagen).
Wenn Sie sich für das Thema interessieren, berät Sie gern
Jens Tinnappel: 0511 361 2531.
sind oder die regulatorischen Anforderungen sowie die
Haftung deutlich gestiegen sind. Im Hinblick auf einen
möglichen Konjunkturabschwung wäre daher die Halbie-
rung der Prozessdauer im Refinanzierungsprozess eine
willkommene Alternative. Auch die Sanierungskonzepte
selbst ließen sich in Umfang und Inhalt drastisch vereinfa-
chen. All dies würde vor allem einem Ziel dienen: Schneller
eine Lösung für die Restrukturierung zu erwirken.
Die gesteigerten Anforderungen an Sanierungsgutachten
und Konzepte sind getrieben durch die haftungsorien-
tierte Sicht. Die Rückkehr zu einem unternehmerischen
Konzeptansatz und vor allem die Digitalisierung bieten
hier gute Chancen, den Restrukturierungsprozess zu
beschleunigen. Dazu gehören zum Beispiel der Datenaus-
tausch zwischen den beteiligten Parteien über entspre-
chende Plattformen sowie die Möglichkeit, mithilfe der
künstlichen Intelligenz Daten schnell und automatisiert
zu analysieren. Hierdurch können standardisierte Infor-
mationen mit allen relevanten Stakeholdern der Restruk-
turierung ausgetauscht werden. So lassen sich mögliche
Risiken schnell bewerten. Außerdem kann die zeitinten-
sive Analysephase durch moderne Automatismen der
Datenanalyse deutlich verkürzt werden.
Dr. Sascha Haghani
… leitet die Abteilung
Restructuring & Corporate
Finance bei Roland Berger in
München.
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veaus ergeben. Zum anderen hat sich die Nutzungsdauer
von Wirtschaftsgütern reduziert, was zu kürzeren Finan-
zierungslaufzeiten führt.
Und darüber hinaus?
Abschließend müssen die Unternehmen sehr kurzfristig auf
politische Veränderungen wie Brexit, Einführung von Zöllen,
Veränderungen in der Europäischen Union etc. reagieren.
Welche Themen beschäftigen Unternehmen in puncto
Finanzierung derzeit am meistenn?
Die Unternehmen suchen derzeit meist nach einfachen
Strukturen, die nur Covenants „light“ bzw. gar keine bein-
halten. Aufgrund der zwischenzeitlich lang anhaltenden
Niedrigzinsperiode wird derzeit kaum Bedarf für Zinssi-
cherung gesehen.
Wie hängen Non-Performing Loans, Unternehmenskredite
und Unternehmenssanierungen miteinander zusammen?
Die Zusammenhänge liegen auf der Hand. Im Bereich der
Unternehmensfinanzierungen / -kredite kann es immer wie-
der zu Störungen kommen. Diese Einflüsse können endoge-
ner und exogener Natur oder sogar ein Mix aus beidem sein.
Wenn Unternehmen nicht frühzeitig auf die Veränderungen
reagieren, geraten sie in Schwierigkeiten. Im besseren Fall
kann allerdings zunächst noch eine Insolvenz ausgeschlos-
sen und eine Unternehmenssanierung eingeleitet werden.
Bei einem positiven Verlauf einer Unternehmenssanierung
können Wertberichtigungen für die Finanzierer vermieden
werden. In den anderen Fällen entsteht ein Korrekturbedarf
auf die Forderung und es liegt ein sogenannter „Non-Per-
forming Loan“ vor. Im extremsten Fall führt dieses über die
Insolvenz zur Zerschlagung des Unternehmens.
In der neuen Einheit Special Situation Financing bieten Sie
eine völlig neue Dienstleistung. Was ist der Hintergrund
dieses neuen Angebotes?
Die Wettbewerbssituation der Kreditinstitute und die lang
anhaltende Niedrigzinsphase haben die Ertragssituation
der Banken negativ verändert. Daneben konnten durch
die NORD/LB nicht alle Ratingklassen bedient werden. Da
die Ratingnote allerdings nicht der einzige Faktor für eine
umfassende Kreditbeurteilung ist, wurden beispielswei-
se Unternehmen mit einer negativen Vergangenheit, die
aber entsprechend erfolgreiche Gegenmaßnahmen ein-
geleitet haben, nicht finanziert. Neben der Generierung
zusätzlicher Erträge ist auch eine frühzeitige Akquisition
bei erfolgreicher Sanierung für eine langfristige Bezie-
hung von Vorteil.
Wie ist die Idee dazu entstanden und wie ist bislang das
Interesse daran?
Unsere tiefgreifenden Erfahrungen und Kenntnisse im
Bereich der Sanierung sowie schwierige Strukturen in der
Finanzierung außerhalb des Special Situation Financing
haben uns zu diesem Angebot für sehr frühzeitige Akqui-
sitionsansätze bewogen. Angefragt werden wir als NORD/
LB durch Berater, andere Finanzierer und in der Restruk-
turierungsbranche beteiligte Partner. Für die Zukunft ist
auch nicht auszuschließen, dass die Unternehmen direkt
an uns heran treten.
Welche ganz besondere Rolle kann eine Bank im Rahmen
einer Restrukturierung spielen?
Banken können in der Restrukturierung mehrere Positio-
nen einnehmen. Im Wesentlichen gibt es im Rahmen der
Restrukturierung aus unserer Sicht drei Rollen, die die
Bank ausüben kann.
Sie kann, erstens, ausstiegswillig oder blockierend sein.
Diese Häuser versuchen z. B. aufgrund geringer Abschnitts-
größen, Veränderungen der Geschäftsmodelle etc. im Rah-
men einer Restrukturierung ihr Engagement zu beenden.
Die Bank kann, zweitens, Mitläufer sein. Finanzierer
dieser Art bleiben mit ihrem bisherigen Engagement an
„Board“ und unterstützen den Restrukturierungsprozess
auch grundsätzlich wohlwollend. Zusätzliches Engage-
ment oder Ideen für Strukturen sind von diesen Häuser in
der Regel aber nicht zu erwarten.
Und es gibt, drittens, die konstruktiven bzw. gestaltenden
Institute. Banken dieser Art gehen häufig auch aufgrund
der Größe ihres bisherigen Engagements ins Lead oder
beteiligen sich an einem Steering Committe
Welche Rolle wird die NORD/LB als Berater in Restrukturie-
rungssituationen einnehmen?
Im Bereich Special Situation Financing wollen wir in
jedem Fall die gestaltende Rolle übernehmen. Grundsätz-
lich gilt für unser Haus bei einem Einstieg, dass mindes-
tens pari passus mit den bereits finanzierenden Banken
gestellt werden. Für uns ist aber auch vorstellbar, eine
führende Rolle als Mandated Lead Arranger zu überneh-
men. Daneben ist es für die NORD/LB auch von Interesse,
in solchen Fällen leitende Aufgaben wie zum Beispiel die
Rolle des Documentation Agents, des Sicherheitenpool-
führers oder ähnliches verantwortlich auszufüllen.
Der Markt für NPLs ist derzeit sehr gut bestückt. Was
lässt sich im Idealfall aus NPLs machen?
Grundsätzlich ist die aktuelle Situation eine gute Grund-
lage für den neu gegründeten Bereich. Allerdings werden
in der Einheit Special Situation Financing – spätestens
mit Eintritt der NORD/LB – nur Performing Loans (PL)
finanziert. Jedoch können aus den NPLs mit den richtigen
Finanzierungslösungen und Beiträgen anderer Stake-
holder wieder erfolgreiche Unternehmen entstehen. Die
NORD/LB hat mit diesem neuen Akquisitionsansatz eine
bestehende Marktlücke geschlossen.
28 / Architektur und Design: Ku‘damm – Revival eines Boulevards
Karriere Ku’damm: Im Westen was Neues
Nach dem Fall der Mauer fiel das einst so angesagte West-Berlin abrupt in einen Dornröschenschlaf. Der Kurfürstendamm, ehemals Deutschlands exklusivster Boulevard, wandelte sich immer mehr zu einer Einkaufsstraße des Massenkonsums. Doch in den letzten Jahren erlebte der Boulevard eine Art Comeback und konnte sogar die Friedrichstraße im Osten hinter sich lassen. Was steht hinter dieser Entwicklung und wie sieht die Zukunft der City-West aus?
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Wie ganz Deutschland suchte auch das abgeriegelte
Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg nach einer neuen,
möglichst unbelasteten Identität. Bestehend aus drei
Sektoren der Westalliierten, eingemauert im kommunis-
tischen Machtbereich, avancierte der Westteil der einst
preußischen Reichsmetropole zu einer Insel der Freiheit,
einer Oase des bunten Amüsements im grauen Meer des
Ostblocks. Der einst periphere Kurfürstendamm – oder
kurz Ku’damm, wie er im Volksmund heißt – wurde das
neue Stadtzentrum, politisch wie kulturell. Nicht zufällig
waren Stadteile wie Schöneberg und Tempelhof Ursprung
der Kommune I oder der APO, und somit Hochburgen der
68er-Bewegung. Symbolisch für diese Entwicklung stand
die Modernisierung des KaDeWe oder der Aufbau des
Europa-Centers, welches bewusst mit dem Bonn-Center in
der damaligen Hauptstadt oder dem Kö-Center in Düssel-
dorf korrespondieren sollte. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächt-
nis-Kirche, vor dem Krieg eines von vielen Gotteshäusern
in Berlin, wurde die architektonische Landmarke der
neuen City-West. Der ausgebombte Hauptturm blieb
bestehen, die Ruine des Kirchenschiffes wurde abgeris-
sen und durch postmoderne Neubauten wie einem neuen
Glockenturm und einer modernen Kapelle ersetzt.
Alt und neu. Schäbiger Nachkriegsmief und der schillern-
de American Way of Life. Das ist das Bild, das West-Berlin
während der Teilung der Stadt prägte. Doch dann kam die
Wende mit dem Fall der Mauer. Nun trafen nicht nur zwei
Welten aufeinander, sondern die Metropole stand auch
vor ebenso vielen Chancen wie Herausforderungen. Die
historische Mitte Berlins, die während der Teilung durch
Stacheldraht, Panzersperren und Wachtürme eher einem
Kriegsgebiet als einem pulsierenden Weltstadtzentrum
glich, konnte nun neu gestaltet werden. Doch schon in
der frühen Wendezeit prophezeiten viele, dass dies den
Untergang der einst glamourösen City-West bedeuten
könnte. Tatsächlich interessierten sich Senat und Bund
vornehmlich für den Aufbau einer neuen Stadtmitte und
die Integration des maroden Ost-Berlins in das Konzept
einer offenen Weltstadt. So kam es, dass nach dem Mau-
erfall die Rollen rasch vertauscht waren. Im ehemaligen
Ost-Berlin herrschte plötzlich Goldgräberstimmung und
die City-West galt als verstaubt.
City-West 2020: Mit Glanz, aber ohne Gloria„Es gab im alten Ost-Berlin einfach keine klassische
Einzelhandelskonzentration, wie wir sie von westlichen
Städten kannten. Dazu kam der Umstand, dass viele
Industrieareale nach dem Zusammenbruch der DDR ihre
Funktion verloren hatten, sich aber in attraktiver Lage
befanden. Dies schuf im Osten natürlich bessere Rauman-
gebote zu deutlich günstigeren Preisen“, erklärt Manfred
Kühne, Projektleiter bei der Berliner Senatsverwaltung
für Stadtentwicklung. Es waren allerdings nicht bloß Neu-
gierde und Geschäftssinn, die Architekten und Investoren
in den Osten zogen, denn schon vor dem Krieg schlug auf
der anderen Seite das Herz der Stadt: Potsdamer Platz,
Brandenburger Tor, Unter den Linden, Alexanderplatz,
Gendarmenmarkt, Friedrichstraße – all diese prominen-
ten Orte lagen in Ost-Berlin oder im Todesstreifen an der
Mauer und standen nun plötzlich wieder zur Verfügung.
Touristen mochte der Paradigmenwechsel zunächst nicht
auffallen, da die beste Currywurst der Stadt nach wie vor
am Bahnhof Zoo serviert wurde und die Gedächtniskir-
che touristische Hauptattraktion blieb. Doch den Ber-
linern entging nicht, dass der Ku‘damm sich von einem
exklusiven Boulevard zu einer normierten Einkaufs-
straße entwickelte. Kinos wurden geschlossen und als
52° NORD
Neue Mitte: Der Ku‘damm erfindet sich neu
30 /
Filialen großer Handelsketten wiedereröffnet. Kleine Bou-
tiquen und Klubs mussten den etablierten Modehäusern
oder Discountern weichen. Erst jüngst wurde der Glo-
ria-Palast, einst denkmalgeschütztes Lichtspieltheater,
abgerissen und soll in den nächsten Jahren durch eine
Shopping-Mall ersetzt werden. Und das Café Kranzler,
ehemals eine legendäre Institution, wurde zu einer Ver-
legenheitsbar degradiert. Das komplette Gebäude wurde
von einer Modekette aufgekauft und das Café befindet sich
nunmehr gut versteckt im oberen Teil der Rotunde. Selbst
der Berlin-Marathon endet nicht mehr am Ku’damm.
Bequemlichkeit im Westen – Aufbruch im Osten„Während man im Ostteil Berlins nach der Wende für Ver-
änderungen mehr als bereit war und rasch ans Werk ging,
machten es sich die Betreiber und Kommunalpolitiker
in West-Berlin bequem. Für sie gab es keinen Grund, sich
Sorgen um den Strukturwandel zu machen, es war ja be-
reits alles etabliert. Ändern musste sich vermeintlich nur
der Osten“, erklärt Professor Christoph Langhof, der als
Architekt die Neuausrichtung der City-West aktiv voran-
treibt. Sein altes Büro war noch im Schimmelpfeng-Haus
am Breitscheidplatz beheimatet, welches 2009 im Zuge
der Neuausrichtung abgerissen wurde. Dafür hatte sich
Prof. Langhof eingesetzt. Bereits 1994 hatte er Pläne zur
Umgestaltung des Breitscheidplatzes vorgelegt. Sein Ziel
war es, ein modernes Hochhaus auf dem Areal des Schim-
melpfeng-Hauses zu errichten. Denn das alte Geschäfts-
haus besaß eine Verkehrsunterführung, riegelte den frei-
en Blick von der Kantstraße auf die Gedächtniskirche wie
eine Barriere ab und schuf Räume für allerlei Ramschlä-
den, die die Zuschauerströme nachweislich stagnieren
ließen. Trotz allem stieß Prof. Langhofs Entwurf anfangs
nur auf wenig Gegenliebe – erst nach vielen Jahren wei-
terer negativer Entwicklung erfolgte ein Umdenken. 2013
wurde dann endlich die letzte Baugenehmigung erteilt,
die City-West sollte eine moderne Skyline erhalten und
Bauten aus der Nachkriegszeit mussten weichen. Dort,
wo einst das Schimmelpfeng-Haus stand, ragt nun mit
dem Upper West ein modernes, elegantes Hochhaus mit
geschwungenen Fensterfronten in den Himmel. Direkt
am Anfang des Kurfürstendamms ist es ein neues Wahr-
zeichen Berlins. Mit dem gegenüberliegenden Zoofenster
bildet es ein harmonisches Hochhaus-Ensemble.
Dies ist jedoch nur ein Beispiel, wie der Ku’damm ver-
sucht, wieder zu alter Größe zu gelangen. „Im Zuge der
750-Jahr-Feier im Jahre 1987, die beide Stadteile noch
separat veranstalteten, hatte man das alte Berlin aus der
kaiserlichen Gründerzeit wiederentdeckt. Dies führte
automatisch zu einer Abwertung der Nachkriegsbauten
wie dem Schimmelpfeng-Haus“, sagt Manfred Kühne. „Es
ist natürlich unwahrscheinlich, dass der Ku’damm wieder
sein Gesicht wie zur Zeit der deutschen Teilung erhalten
wird. Aber der Ku’damm hat sich schon immer gewandelt,
was besonders gegenwärtig zu einer funktionalen und so-
zialen Durchmischung geführt hat. Das hat man zeitweise
einfach nicht wertgeschätzt.“
Tatsächlich wurde der Kurfürstendamm noch von Bis-
marck als Reit- und Kutschweg zwischen Tiergarten und
Grunewald in Auftrag gegeben. Daraus entstand ein Bou-
levard, an dem fast ausschließlich Adlige oder Millionäre
wohnten. Doch nach zwei großen Vertreibungswellen gibt
es diese Bevölkerungsschicht hier schlicht nicht mehr. Die
erste Enteignungswelle wurde vom Nazi-Regime durchge-
führt, die zweite kam kurz darauf, als zahlreiche Indus-
trielle und Geschäftsleute Berlin beim Heranrücken der
Roten Armee 1945 fluchtartig verließen. Im Vergleich zu
London oder Paris ist Berlin daher auch eine europäische
Metropole ohne sichtbare elitäre Oberschicht. Erst durch
diese Entwicklung und die politische Ausgangslage nach
dem Krieg, entwickelte sich der Ku’damm von einem Bou-
levard der Superreichen zu einer Flaniermeile für Bürger
aller Einkommensschichten.
Neue Identität für den Ku‘dammNach der Wende wurde also zunächst in Ost-Berlin inves-
tiert und der Westen drohte, den Anschluss zu verlieren.
Dies wurde aber in den letzten zehn Jahren aufgeholt.
„Zudem muss erwähnt werden, dass die gravierenden
baulichen Veränderungen des alten Ost-Berlins oft über-
sehen werden. Erst stutzte man den alten Hauptbahnhof
wieder zum Ostbahnhof zurück, dann verschwand der
Palast der Republik. Auch gegen die Entfernung zahlrei-
cher Lenin-Denkmäler protestieren viele alteingesessene
Ostberliner – vergeblich“, sagt Prof. Langhof. „All diese
Umwälzungen betrachtet die Mehrheit jedoch nicht als
Verlust, sondern als Modernisierung und Überwindung
der kommunistischen Vergangenheit. Allgemein wird
dieser Wandel in Ost-Berlin mit dem gesamten Unter-
gang der DDR assoziiert, während die Veränderungen in
West-Berlin in keinen gesamtgesellschaftlichen Kontext
Architektur und Design: Ku‘damm – Revival eines Boulevards
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52° NORD
Das Mittelstandsmagazin aus Hannover
Herausgeber:
Norddeutsche Landesbank – Girozentrale –
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das nach den Kriterien des Forest Stewardship
Council® (FSC®) zertifiziert wurde.
Impressum
eingebettet sind.“ Daher sei es verständlich, dass man
im nostalgischen Glauben die Vergangenheit ein wenig
überhöhe und der alten Zeit nachtrauere.
Ähnlich sieht es auch Manfred Kühne und macht den bun-
desweiten Boom des Einzelhandels für den Wandel des
Ku’damms zu einer Einkaufsmeile des breiten Konsums
verantwortlich. „Diese Veränderung durchlaufen auch
andere Boulevards wie beispielsweise die Königsallee in
Düsseldorf, wo ebenfalls Kinos und lokale Institutionen
geschlossen wurden und großen Handelsketten weichen
mussten. Im Rahmen unserer Netzwerkarbeit, der AG
City-West, arbeiten wir jedoch schon seit geraumer Zeit
eng mit den Hochschulen zusammen, um neue Lösungen
zu erarbeiten. Wir raten daher allen Investoren, nicht
mehr nur auf Monofunktionen, wie reine Shopping-Malls
zu setzen, sondern Gastronomie, Büros und Einkaufs-
möglichkeiten miteinander zu kombinieren. Ohnehin ist
es im Bereich Ku’damm zum Trend geworden, dass Cafés
und Bistros wegen der hohen Mieten auf Bürgersteigebe-
ne in die höheren Etagen von Einrichtungen ziehen, die
von Handelsketten betrieben werden. Anders als früher
entsteht so eine Dachlandschaft, von der aus der Passant
oder Einkäufer wunderbare Ausblicke über die City-West
genießen kann.“
Neuer „Business-Improve-District“So sei auch die Nutzung des Café Kranzler zu erklären,
aber auch die Neuausrichtung von Bikini Berlin oder dem
Amerika-Haus. Und erst vor einigen Monaten stellte die
Bausenatorin ihre neuen Pläne für die City-West vor. In
Kooperation mit der Technischen Universität Berlin soll
auf dem 13.000 Quadratmeter großen Brachgelände hin-
ter dem Bahnhof Zoo ein Nutzungsmix aus Büros, Hotels
und Gästehaus für die Uni entstehen. Gleichzeitig entste-
he in der City-West der erste Business-Improve-District in
der Bundeshauptstadt. Dabei investieren lokale Immobili-
enakteure gemeinsam in die Stadtentwicklung, um Stra-
ßenräume und Standortqualität zu verbessern. Dies kur-
belt die Geschäftslage der Investoren an und unterstützt
die Stadt. Es bleibt also festzuhalten, dass das gesamte
Berlin nach seiner turbulenten und weltweit einmaligen
Stadtgeschichte endlich einen Normalisierungsprozess
durchlebt. Die polare Wirkung der beiden Stadteile wird
nachlassen und ist nur noch eine Generationenfrage. Das
merkt man nun auch am Kurfürstendamm.
„Es wird sich ausdifferenzieren, der Ku’damm ist und
bleibt eine wichtige Adresse“, urteilt Prof. Langhof. „Die
Friedrichstraße wird aufholen, wenn erstmal die Baustel-
len für die neue U-Bahn verschwunden und einige andere
Bauten aus der DDR-Zeit, wie das Russische Haus, moder-
nisiert sind. Darunter krankt die Friedrichstraße noch,
was der City-West aktuell zu Gute kommt. Der Ku’damm
hat jedoch viele weitere Vorteile: Die Straße wie auch der
Bürgersteig sind breit; prächtige Bauten aus unterschied-
lichen Epochen stehen auf beiden Straßenseiten, die auch
mit ihren Bäumen zum Flanieren einladen. Unterschied-
liche Gebäude bedeutet auch, dass die Gebäude dem Be-
trachter viel zu erzählen haben. Dementsprechend ist der
Kurfürstendamm auf jeden Fall interessanter und eindeu-
tig wertiger als die Friedrichstraße. Aber auf lange Sicht
werden die beiden Geschäftsviertel wieder die Positionen
beziehen, die sie bereits vor dem Krieg innehatten. Das
bedeutet natürlich Konkurrenz, aber eine sehr gesunde
Konkurrenz.“ Und die Entwicklung ist noch nicht zu Ende.
Prof. Langhof hat bereits große Pläne für Berlins ersten
richtigen Wolkenkratzer ausgearbeitet, dem futuristi-
schen Hardenberg. Entstehen soll er in direkter Nachbar-
schaft zur Upper West und dem Kurfürstendamm.
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