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SPIELZEIT 2020/21 PRESSEDOSSIER Austerlitz nach dem Roman von W.G. Sebald 17. Oktober bis 1. November 2020 Theater Winkelwiese Koproduktion mit dem Kellertheater Winterthur Kontakt Saskia Keel Öffentlichkeitsarbeit/Kommunikation +41 (0)44 252 72 01 [email protected] www.winkelwiese.ch

Austerlitz - Theater Winkelwiese · 2020. 9. 30. · Die zentrale Frage in «Austerlitz» ist, wie man sich eine Vergangenheit erschliessen kann, die der persönlichen Erinnerung,

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SPIELZEIT 2020/21

PRESSEDOSSIER

Austerlitz nach dem Roman von W.G. Sebald

17. Oktober bis 1. November 2020 Theater Winkelwiese

Koproduktion mit dem Kellertheater Winterthur

Kontakt Saskia Keel

Öffentlichkeitsarbeit/Kommunikation +41 (0)44 252 72 01

[email protected] www.winkelwiese.ch

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DER ROMAN

Schritt für Schritt und meistens rückwärtsgehend erzählt W.G. Sebald die Lebensgeschichte von Jacques Austerlitz. Vor seiner frühzeitigen Pensionierung ist er dreissig Jahre lang Architekturhistoriker gewesen. Aufgewachsen als Dafydd Elias im Haus eines calvinistischen Predigers an der Küste von Wales, erfährt er erst als Zögling des wunderlich verstaubten Internats von Stower Grange, dass er in Wirklichkeit Jacques Austerlitz heisst - womit die Suche nach dem Ursprung, das tragende und treibende Motiv dieses Buches, ihren Lauf nimmt: «Seit meiner Kindheit und Jugend», erläutert Austerlitz, «habe ich nicht gewusst, wer ich in Wahrheit bin.» In den letzten Passagen des Buches, nach über vierhundert Seiten, ist er dieser «Wahrheit» nahegekommen - allerdings ohne klüger oder gar glücklicher geworden zu sein. Jacques Austerlitz ist ein Wanderer, der auf seinem Gang durch die Ruinen von einer Katastrophe in die nächste gerät. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, so entdeckt er mit über fünfzig Jahren, ist er mit einem Kindertransport aus der Tschechoslowakei nach England geschickt worden. Er fährt schliesslich nach Prag, findet seinen Namen im tschechischen Staatsarchiv, begegnet seinem ehemaligen Kindermädchen, entdeckt die Sprache seiner Kindheit wieder und folgt den Spuren seiner Mutter bis nach Theresienstadt. Die mühevoll erinnerten und ermittelten Details verdichten sich in der unausweichlichen Wahrheit über die Auslöschung einer jüdischen Familie und die vernichtete Existenz des Überlebenden. Sebald ist für seine Mischung aus Fakten und Fiktion oft angegriffen worden. Es herrscht weithin der Konsens, dass man über den Holocaust nur dokumentarisch, niemals in Form von Fiktion schreiben könne. Diese Überzeugung hält vor Sebalds Erzählmodell nicht mehr stand. Denn ähnlich wie Sebald die Grenzen zwischen den Zeiten und Räumen, den Toten und den Lebenden überwindet, so gelingt es ihm auch, die infolge der Ungeheuerlichkeit der Gräuel irreal erscheinende Welt als Realität zu zeigen und umgekehrt die vertraute Wirklichkeit so in Fiktion zu verwandeln, dass auch hier die Übergänge fliessend werden. Sebald ist in seinem Werk einmal mehr in die unausgeschöpften Archive der deutschen Mordgeschichte herabgestiegen, das Grauen ist stets präsent. Doch er entwirft mit diesem Roman eine poetische Metaphysik der Geschichte, in der das Erinnerte so lebendig ist, als würde es gerade geschehen. Er hat die Wege der Verfolgung und Emigration von London über Wales nach Prag und Paris abgeschritten, von einem Bahnhof zum nächsten Friedhof, von Marienbad bis Theresienstadt. Bis

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der Erzähler zuletzt an dem «Ort eines ungesühnten Verbrechens», an der Pariser Gare d'Austerlitz, angelangt ist. Hier, auf dem Ödland zwischen Güterbahnhof und dem Pont Tolbiac, wo bis zum Ende des Kriegs ein Lager für das aus den Wohnungen der Pariser Juden geraubte Beutegut war, erheben sich heute die vier «babylonischen» Türme der Bibliothèque Nationale. Ein Gebäude, das im Erzähler den Eindruck erweckt, es sei durch seine ganze Anlage ebenso wie durch die ans Absurde grenzende innere Organisation «quasi die offizielle Manifestation des immer dringender sich anmeldenden Bedürfnisses, mit all dem ein Ende zu machen, was noch ein Leben habe an der Vergangenheit». Es ist diese gigantische Auslöschungsmaschinerie, der W. G. Sebald mit seinen Büchern störrisch entgegenzutreten sucht. Denn nichts ist vorbei. Das gelangweilte Abwinken einer Generation, die keine Lust mehr hat, mit den deutschen Verbrechen genervt zu werden, ist möglicherweise der Vorbote einer sich immer weiterverbreitenden Erinnerungslosigkeit. Doch Schriftsteller wie Alexander Kluge und W.G. Sebald schreiben Bücher, die den trivialen Charakter medialer und parteipolitischer Vergangenheits-aufarbeitung blamieren. W.G. Sebald erzählt in «Austerlitz» von einer Vergangenheit, die nicht vergeht, wie auch die zukünftigen Ereignisse längst existieren und nur darauf warten, dass wir uns endlich bei ihnen einfinden, «so wie wir uns, einer einmal angenommenen Einladung folgend, zu einer bestimmten Stunde einfinden in einem bestimmten Haus.»

INSZENIERUNG Die zentrale Frage in «Austerlitz» ist, wie man sich eine Vergangenheit erschliessen kann, die der persönlichen Erinnerung, aus welchen Gründen auch immer, unzugänglich ist. Der Text führt verschiedene Versuche vor, sich ein Bild dieser Vergangenheit zu machen. Die Rekonstruktion der frühen Kindheit führt bei Austerlitz jedoch nicht zu einer Gesundung oder zur Aussöhnung mit der Vergangenheit, sondern vertieft das Gefühl des Fremdseins im eigenen Leben. Diese schicksalhafte Geschichte erzählt Austerlitz einem namenlosen Erzähler. Dieser wiederum berichtet uns Zuhörer*innen von seinen Begegnungen mit Austerlitz und von den (so nennt sie A.) «Verabredungen» mit der Vergangenheit. Der Erzähler steht in unserer Fassung im Zentrum. Austerlitz überreicht diesem am Ende des Buches die Schlüssel zu seinem Haus in der Alderney Street und rät ihm, an dem Tor zu läuten, das in die an sein Haus anschliessende Ziegelmauer eingelassen sei: «Ich könne dort, wann immer ich wolle, sagte er, mein Quartier aufschlagen und die schwarzweissen Bilder

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studieren, die als einziges übrigbleiben würden von seinem Leben». Thomas Sarbacher kehrt als dieser Erzähler zurück an den Ort der Dokumente und Aufzeichnungen und beginnt mit seiner eigenen Erinnerungsarbeit an die Begegnungen mit Austerlitz. Quasi vom Ende ausgehend, versucht er die Fragmente dieser weit verzweigten Biografie zu ordnen und gerät über den Versuch der Rekonstruktion selbst in einen fieberhaften Zustand, der dem seines Gegenübers immer mehr ähnelt. Wer erzählt hier wessen Geschichte? Diese Frage, die im Roman durch die Verschachtelungen der Erzählperspektiven angelegt ist, wird in der Inszenierung von Manuel Bürgin noch verstärkt: die Suche nach der Herkunft wird zum eigentlichen Antrieb des Erzählens. Scheinbar assoziativ wechselt Thomas Sarbacher als namenloser Erzähler zwischen den Kapiteln des Romans, springt vor und zurück in der Chronologie, ohne Austerlitz je aus den Augen zu verlieren. Eine tiefe Melancholie strahlt die Geschichte dieses Mannes aus, der viel zu spät in seinem Leben erkennt, wer er in Wahrheit ist: «Ich entsinne mich nur, daß mir, indem ich den Knaben auf der Bank sitzen sah, durch eine dumpfe Benommenheit hindurch die Zerstörung bewußt wurde, die das Verlassensein in mir angerichtet hatte im Verlauf der vielen vergangenen Jahre, und daß mich eine furchtbare Müdigkeit überkam bei dem Gedanken, nie wirklich am Leben gewesen zu sein oder jetzt erst geboren zu werden, gewissermaßen am Vortag meines Todes.»

Durch den Akt des Erzählens wird das Vergangene noch einmal lebendig. Die Grenzen zwischen Austerlitz und Erzähler lösen sich nach und nach auf. «Austerlitz» ist ein stiller Aufstand gegen das Vergessen und eine Spurensuche in der Vergangenheit, in der wir möglicherweise «Verabredungen haben mit Personen, die jenseits der Chronologie in einem Zusammenhang stehen mit uns.»

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PRODUKTIONSTEAM

Regie Manuel Bürgin Spiel Thomas Sarbacher Ausstattung Beni Küng Musik Sandro Corbat Textfassung Manuel Bürgin, Thomas Sarbacher Licht, Technik Paul Schuler, Peter Göhler-Blaser Regieassistenz Jennifer Warisch Ausstattungsassistenz Jacqueline Weiss Regiehospitanz Tiffany Sarp Koproduktion Theater Winkelwiese, Kellertheater Winterthur Aufführungsrechte The Estate of W. G. Sebald Gefördert durch Fachstelle Kultur Kanton Zürich, Jürg George Bürki-Stiftung, Migros-Kulturprozent, SIS Schweizerische Interpretenstiftung, Stiftung Peter und Angela Guggenheim-Ascarelli

BIOGRAFIEN W.G. Sebald wurde am 18. Mai 1944 in Wertach im Allgäu geboren. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft arbeitete er als Lehrer an einer Privatschule in St. Gallen, später lehrte er an der University of East Anglia in Norwich. Am 14. Dezember 2001 kam W.G. Sebald bei einem Verkehrsunfall in Norfolk ums Leben. Sebald hatte viele Verabredungen in der Vergangenheit. Mit Stifter oder Nabokov beispielsweise in seinem Aufsatzband «Die Beschreibung des Unglücks» oder mit Stendhal und Kafka in «Schwindel. Gefühle». Typisch für Sebald ist die Mischung aus Recherche, Essay und Geschichtsschreibung. W.G. Sebald wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Mörike-Preis, dem Heinrich-Böll-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis.

Thomas Sarbacher, geboren in Hamburg, arbeitet heute als freischaffender Schauspieler in Deutschland und in der Schweiz. Nach langjähriger Zugehörigkeit zum Ensemble der Bremer Shakespeare Company folgten diverse Gastengagements an Theatern in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Hinzu kam die Arbeit für Fernsehen und Kino, durch die er einem breiteren Publikum bekannt wurde. So war Thomas Sarbacher im Kino zuletzt in der Titelrolle des Films «Solness», einer filmischen Bearbeitung des

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Theaterstücks «Baumeister Solness» von H. Ibsen von Michael Klette zu sehen sowie in dem Familiendrama «Jonathan» von Pjotr Lewandowski. Auf der Bühne spielt er derzeit als Gast am Staatstheater Stuttgart den Fabrikanten Dreissiger in Gerhart Hauptmanns Drama «Die Weber». Daneben ist es vor allem die Beschäftigung mit der Literatur, die einen grossen Teil seiner Arbeit als Schauspieler ausmacht: das Einlesen von Hörbüchern, unter anderem auch für die Schweizer Bibliothek für Blinde und Sehbehinderte, Lesungen für fremdsprachige Autoren an Literaturhäusern und auf Festivals (u.a. für Karl Ove Knausgård oder Michail Schischkin). Seit einigen Jahren gestaltet Thomas Sarbacher seine eigene Lesereihe «Sarbacher erzählt» am Theater Winkelwiese, zuletzt als Lesungen ganzer Romane in Fortsetzungen: «Meister und Margherita» von Bulgakow, «Odyssee» von Homer und «Tote Seelen» von Gogol. Im Sogar Theater in Zürich hat Thomas Sarbacher ausserdem Theaterproduktionen auf der Grundlage von Bearbeitungen literarischer Werke zur Aufführung gebracht, u.a. «Moskau – Petuschki» von W. Jerofejew wie auch dessen «Aufzeichnungen eines Psychopathen», «Detektivgeschichte» von I. Kertesz und «Das Phantom des Alexander Wolf» von G. Gasdanow. Zuletzt hat er für die theatrale Umsetzung von M. Rodoredas «Auf der Plaça del Diamant» ebenfalls die Bearbeitung der Romanvorlage gemacht und Regie geführt. Manuel Bürgin, geboren 1975 in Reigoldswil, studierte von 1997 bis 2000 Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater in Zürich. 2000 erhielt er den Förderpreis der Armin Ziegler Stiftung. Von 2000 bis 2005 arbeitete er am Schauspielhaus Bochum unter anderem mit Jürgen Gosch, Dieter Giesing, Niklaus Helbling und Karin Henkel. Seit 2005 ist er als freischaffender Schauspieler und Regisseur in der Schweiz tätig, unter anderem am Theater Winkelwiese, Theaterhaus Gessnerallee, Kaserne Basel, Theater Basel, Theater Kanton Zürich und am Théâtre Vidy Lausanne. 2008 gründete er zusammen mit Kathrine von Hellermann und Sandro Corbat die Gruppe FAX AN MAX. Bisher entstanden die Projekte «Kim Jong Il» (von Manuel Bürgin), «Peter der Zweite» (von Gaël Roth), «Fortschritt» (nach Louis-Ferdinand Céline) und «Chinin» (von Gaël Roth). Er arbeitete regelmässig als Schauspieler und Regisseur für das Theater Kanton Zürich («Don Juan», «Dracula», «Romeo und Julia»). Seit Sommer 2015 leitet er das Theater Winkelwiese in Zürich. Mit «La Chemise Lacoste» von Anne Lepper zeigte er im Januar 2016 seine erste Arbeit als neuer Leiter am Theater Winkelwiese. Im September 2016 folgte die Schweizer Erstaufführung von Noah Haidles «Alles muss glänzen» und im Mai 2017 setzte er Lukas Linders «Wer auf der Welt» als Eigenproduktion in Szene. Am Theater St. Gallen war im Januar 2017 seine Inszenierung von Ferdinand von Schirachs «Terror» zu sehen. Im September 2017 inszenierte er die Schweizer Erstaufführung von Marius von

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Mayenburgs «Perplex» und im Januar 2018 die deutschsprachige Erstaufführung von Iwan Wyrypajews «Sonnenlinie». Seine letzten Arbeiten waren die Schweizer Erstaufführung von Konstantin Küsperts «sterben helfen» am Theater St. Gallen und «Vaters Aktentasche» von und mit Nikola Weisse. Neben seiner Funktion als Intendant und Regisseur leitet er die Autorenwerkstatt DRAMENPROZESSOR, eines der renommiertesten Förderprogramme für junge Dramatiker*innen im deutschsprachigen Raum.

VORSTELLUNGEN

SA 17. Oktober 2020 20 Uhr Zürcher Premiere SO 18. Oktober 2020 16 Uhr DI 20. Oktober 2020 20 Uhr DO 22. Oktober 2020 20 Uhr FR 23. Oktober 2020 20 Uhr MI 28. Oktober 2020 20 Uhr FR 30. Oktober 2020 20 Uhr SA 31. Oktober 2020 20 Uhr SO 1. November 2020 16 Uhr

Pressefotos: www.winkelwiese.ch/presse

Premiere: 22. Februar 2020, Kellertheater Winterthur