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Einführung Einführung Einführung Die vorliegende Monographie beschäftigt sich mit den Briefen und Frag- menten des Avitus von Vienne († vor 519), der ein bedeutender Bischof in Gallien während der Blütezeit des sogenannten zweiten Reichs der Bur- gunder an der Rhône gewesen ist. Es ist ein Versuch, eine Lücke in der kirchengeschichtlichen Forschung zu schließen, in der Avitus kaum eine Rolle spielt und sogar oft unbekannt ist. Meistens wird nur sein berühmter Brief an den Merowingerkönig Chlodwig anläßlich dessen Taufe zur Kenntnis genommen. Avitus nimmt jedoch zu vielen wichtigen theologi- schen und kirchenpolitischen Fragen seiner Zeit Stellung und bietet somit einen unmittelbaren Eindruck in die Verhältnisse der Zeit um 500 n.Chr. Die kirchenpolitischen und theologischen Entwicklungen während der sogenannten „Völkerwanderung“ fanden in den letzten Jahrzehnten kaum Interesse im Fach Kirchengeschichte. Das hat verschiedene Gründe. Ei- nerseits ist das Quellenmaterial schwer zu erschließen und liegt oft nur lückenhaft vor, so daß eine Darstellung der Zusammenhänge und Ent- wicklungen problematisch bleibt. Andererseits scheint es in dieser Zeit (nach Augustinus) kaum herausragende Theologen gegeben zu haben bzw. man hat oft zu wenige Kenntnisse von ihnen, als daß deren Lebens- lauf und Werke vorstellbar werden. Zudem überragt die Schaffenskraft des nordafrikanischen Bischofs Augustinus mehrere Generationen, die oft nur, wenn überhaupt, als seine Epigonen wahrgenommen werden. Bis heute übertrifft allein quantitativ die Menge der Forschungsleistungen zu Augustinus alle anderen Bereiche bis zum Ausklang der Antike. Drittens haftet der Völkerwanderung als einer Phase des Übergangs etwas Vorü- bergehendes an und erscheint daher weniger bedeutsam. Viele kirchenge- schichtliche Darstellungen springen beinahe von Augustinus in die Zeit der Merowinger und Karolinger, und die Zeitspanne dazwischen wird eher stiefmütterlich behandelt. Überdies hat man in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg um diese Jahrhunderte nach einer Phase der Verherrli- chung alles „Germanischen“ im 19. Jahrhundert bis zur Zeit des National- sozialismus eher einen großen Bogen gemacht. Hanns Christof Brennecke schreibt dazu: „Nach den hochgradig ideologischen und eigentlich über weite Strecken kaum wissenschaftlich zu nennenden Debatten des späten neunzehnten und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland über den sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden und Brought to you by | provisional account Unauthenticated | 130.217.227.3 Download Date | 7/14/14 1:07 PM

Avitus von Vienne und die homöische Kirche der Burgunder () || Einführung

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Page 1: Avitus von Vienne und die homöische Kirche der Burgunder () || Einführung

Einführung Einführung Einführung Die vorliegende Monographie beschäftigt sich mit den Briefen und Frag-menten des Avitus von Vienne († vor 519), der ein bedeutender Bischof in Gallien während der Blütezeit des sogenannten zweiten Reichs der Bur-gunder an der Rhône gewesen ist. Es ist ein Versuch, eine Lücke in der kirchengeschichtlichen Forschung zu schließen, in der Avitus kaum eine Rolle spielt und sogar oft unbekannt ist. Meistens wird nur sein berühmter Brief an den Merowingerkönig Chlodwig anläßlich dessen Taufe zur Kenntnis genommen. Avitus nimmt jedoch zu vielen wichtigen theologi-schen und kirchenpolitischen Fragen seiner Zeit Stellung und bietet somit einen unmittelbaren Eindruck in die Verhältnisse der Zeit um 500 n.Chr.

Die kirchenpolitischen und theologischen Entwicklungen während der sogenannten „Völkerwanderung“ fanden in den letzten Jahrzehnten kaum Interesse im Fach Kirchengeschichte. Das hat verschiedene Gründe. Ei-nerseits ist das Quellenmaterial schwer zu erschließen und liegt oft nur lückenhaft vor, so daß eine Darstellung der Zusammenhänge und Ent-wicklungen problematisch bleibt. Andererseits scheint es in dieser Zeit (nach Augustinus) kaum herausragende Theologen gegeben zu haben bzw. man hat oft zu wenige Kenntnisse von ihnen, als daß deren Lebens-lauf und Werke vorstellbar werden. Zudem überragt die Schaffenskraft des nordafrikanischen Bischofs Augustinus mehrere Generationen, die oft nur, wenn überhaupt, als seine Epigonen wahrgenommen werden. Bis heute übertrifft allein quantitativ die Menge der Forschungsleistungen zu Augustinus alle anderen Bereiche bis zum Ausklang der Antike. Drittens haftet der Völkerwanderung als einer Phase des Übergangs etwas Vorü-bergehendes an und erscheint daher weniger bedeutsam. Viele kirchenge-schichtliche Darstellungen springen beinahe von Augustinus in die Zeit der Merowinger und Karolinger, und die Zeitspanne dazwischen wird eher stiefmütterlich behandelt. Überdies hat man in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg um diese Jahrhunderte nach einer Phase der Verherrli-chung alles „Germanischen“ im 19. Jahrhundert bis zur Zeit des National-sozialismus eher einen großen Bogen gemacht. Hanns Christof Brennecke schreibt dazu: „Nach den hochgradig ideologischen und eigentlich über weite Strecken kaum wissenschaftlich zu nennenden Debatten des späten neunzehnten und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland über den sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden und

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im einzelnen noch viele Fragen aufwerfenden Prozess der ,Christia-nisierung der Germanen‘ ist dieses Thema bei uns nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu mit einem Tabu belegt worden, das im Grunde in vieler Hinsicht bis heute andauert“1. Er konstatiert: „Mit dem Zweiten Weltkrieg bricht deshalb hier die deutschsprachige Forschung zunächst weitgehend ab“2.

Die kirchengeschichtlichen Darstellungen zu diesem Thema beson-ders der 1930er Jahre bieten geradezu ein Paradebeispiel für den Einfluß der jeweiligen aktuellen politischen und gesellschaftlichen Lage auf die Forschungen und für die Ideologieanfälligkeit und apologetischen Absich-ten auch vieler Kirchengeschichtler. Es ging nämlich in Wahrheit „um die ,Artgemäßheit‘ des Christentums für die Deutschen im 20. Jahrhundert im nationalen, dann nationalsozialistischen Staat, die nicht zuerst, aber dann quasi offiziell Alfred Rosenberg mit seinem zuerst 1930 erschienenen Werk ,Der Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts‘ überaus polemisch in-frage gestellt hatte. Und diese Debatte wurde weithin nur scheinbar mit historischen Argumenten über den geschichtlichen Prozeß der Christiani-sierung der Germanen und die daraus angeblich folgende ,Germanisierung der Christentums‘ geführt.“3 Ein Schwerpunkt dieser „Forschungen“ war gerade die Phase der Annahme des Christentums durch die Germanen und der sogenannte „germanische Arianismus“. Man versuchte gegenüber den christentumsfeindlichen Tendenzen einer „Germanisierung“ des deutschen Volkes zu erweisen, daß besonders der „Arianismus“ der Ger-manen eine Form des Christentums gewesen sei, die dem angeblichen germanischen Wesen und der germanischen Lebensart mit ihrem „Vater-Sohn-Verhältnis“ und ihrer „Gefolgschaftstreue“ besonders entsprochen habe. Eine hier besonders wirkmächtige Studie ist die Dissertation des Historikers und SS-Manns Heinz-Eberhard Giesecke „Die Ostgermanen und der Arianismus“ gewesen, die 1939 erschienen ist. Sie erweckt den Eindruck eines gründlichen historisch-kritischen Arbeitens an den Quel-len, so daß sie noch immer gelegentlich herangezogen wird, basiert jedoch auf einer absurden Konstruktion eines germanischen Arianismus (die Hoheit des Göttlichen, das Fehlen einer Eschatologie und die Vorstellung einer „Erlösung“ durch Nachfolge Jesu: „Der Heilsplan erfüllt sich …, wenn durch Christi Wirken und die menschliche Mitarbeit und Kampfge-

_____________ 1 Brennecke, Christianisierung der Germanen, 154. 2 Ebd. 3 Brennecke, Christianisierung der Germanen, 155. Brennecke hat mehrere

hundert eher Broschüren oder Pamphlete als wissenschaftliche Arbeiten zu nennende Studien der 1930er Jahre dazu recherchiert.

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nossenschaft das Obsiegen der guten Sache gewährleistet ist“4). Für Gie-secke entbehrt der germanische Arianismus der Passion Christi, der Vor-stellung eines sündigen Menschen und einer Gnaden- und Erlösungslehre – „damit verliert dieser Arianismus seinen christlichen Charakter.“5 Wie sehr Giesecke auf einer absoluten Fehldeutung besonders des Bekenntnis-ses von Wulfila basiert, haben sowohl die Arbeiten von Schäferdiek als auch Brennecke6 gezeigt.

Giesecke analysiert auch die kirchlichen Verhältnisse in Burgund und kommt zu dem widersprüchliche Schluß, daß gerade die schleichende Romanisierung bei den Burgundern ihren Untergang bereitet habe: „Der Untergang des arianischen Glaubens wurde demnach auch im Burgunder-reich nicht durch die innere Schwäche dieses Bekenntnisses herbeigeführt, sondern durch die Romanisierung des Königshauses.“ Deutlich wird hier nicht nur das Interesse an einer „Stärke“ einer Religion mit Hilfe einer Kampfesrhetorik, sondern auch die angebliche Verbindung des Arianis-mus mit einem Nationalismus: Nach Giesecke hätte gerade der germani-sche Arianismus die Kraft gehabt, aus den germanischen Völkern Natio-nen werden zu lassen, die den Burgunder, durch die Romanisierung eben wieder verloren ging. Warum dann aber gerade die nach Rom und dem katholischen Glauben orientierten Franken die „Stärksten“ geworden waren, behandelt Giesecke nicht mehr.

Auch der im Kirchenkampf engagierte Kieler Kirchenhistoriker Kurt Dietrich Schmidt befaßt sich mit dem Vorwurf der Überfremdung des Germanischen mit dem Christentum und schreibt unter diesem Vorzei-chen sein großes Werk „Die Bekehrung der Germanen zum Christentum“ (1939) und begibt sich damit auf dieselbe Argumentationsebene der völki-schen Debatte. Nur der erste Band zu den „Ostgermanen“ ist daher er-schienen; nach 1945 hat Schmidt das Werk nicht mehr fortgeführt.

Aber nicht nur zu den Germanen der Völkerwanderungszeit, sondern auch zu Avitus von Vienne ist für lange Zeit die einzige Monographie in den 1930er Jahren erschienen. Es handelt sich um „Die Briefsammlung des Bischofs Avitus von Vienne († 518)“ von Max Burckhardt aus dem Jahr 1938, die in Basel unter Anregung von Wolfram von den Steinen entstand. Die gut 100 Seiten präsentieren – glücklicherweise erstaunlich

_____________ 4 Giesecke, 59. 5 Giesecke, 61. 6 Schäferdiek, Wulfila; ders., Das gotische Christentum; ders., Der vermeintli-

che Arianismus; ders., Der gotische Arianismus. Brennecke, Christianisierung und Identität; ders., Der sog. germanische Arianismus; ders., Christianisie-rung der Germanen. Vgl. auch die Aufsätze in dem Sammelband „Schwel-lenzeit“.

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unberührt von der Debatte um den „germanischen Arianismus“ – sehr gründlich und noch immer heranziehbar verschiedene Aspekte seines Briefcorpus und bieten eine kleine Auswahl seiner Briefe in Übersetzung.

Aber nach 1945 herrscht besonders in der kirchengeschichtlichen For-schung zu dieser Epoche Stillstand. Nur wenige Ausnahmen sind zu nen-nen. So war es ein Althistoriker, Hans-Joachim Diesner aus Halle, der mit seinen Forschungen zum Vandalenreich und zu dessen Religionspolitik und auch zu Fulgentius von Ruspe die Forschung zum vandalenzeitlichen Nordafrika in den 1960er Jahren vorantrieb.7 Und unter den Kirchenhis-torikern ist es der im Sommer 2010 verstorbene Kirchenhistoriker aus Bonn, Knut Schäferdiek, der besonders seit seiner Habilitationsschrift „Die Kirche in den Reichen der Westgoten und Suewen bis zur Begrün-dung der westgotischen katholischen Staatskirche“ 1967 sehr viele Beiträ-ge zur Völkerwanderungszeit verfaßt hat. Ihm ist eine kritische Revision der verzerrten Interpretation der Germanenmission gelungen; die heutige Forschung muß zweifellos mit den Arbeiten von Schäferdiek einsetzen. Dennoch hat er es trotz seiner exzellenten Beiträge wie z.B. den großen Artikel „Germanenmission“ im RAC kaum vermocht, bei anderen Kir-chenhistorikern8 verstärkte Aufmerksamkeit für diese Epoche zu wecken.

Unter den Historikern ist inzwischen jedoch schon seit einiger Zeit das Interesse an der Völkerwanderungszeit enorm gewachsen. Das spie-gelt sich nicht nur in der zweiten Auflage des 2008 abgeschlossenen Real-lexikons der Germanischen Altertumskunde in 37 Bänden wider, sondern zum Beispiel auch in den beiden großen Ausstellungen in Bonn, die eben-falls 2008 stattfanden: „Rom und die Barbaren. Europa zur Zeit der Völ-kerwanderung“ in der Kunst- und Ausstellungshalle und „Die Langobar-den. Das Ende der Völkerwanderung“ im Rheinischen Landesmuseum. 2009 folgte darauf im Badischen Landesmuseum Karlsruhe die Ausstel-lung „Das Königreich der Vandalen“. Auch in die eher populäre Reihe der Urban-Taschenbücher wurden beispielsweise inzwischen mehrere Bände zu diesem Thema aufgenommen wie „Die Burgunder“ des Züricher His-torikers Reinhold Kaiser (2004), „Die Goten“ des Münchener Wolfgang Giese (2004), „Die Merowinger“ von Eugen Ewig, Bonn, in einer Neuauf-lage im Jahre seines Todes (2006), oder „Die Vandalen“ von Helmut Castricius, Braunschweig (2007).

Zusätzlich wären hier viele wissenschaftliche Monographien oder Einzelstudien zu nennen, was hier aber nur exemplarisch geschehen kann. Für die Geschichte Burgunds ist die große Monographie des jetzt als

_____________ 7 S. Literaturverzeichnis. 8 Auf die Arbeiten seines Schülers Hanns Christof Brennecke wurde oben ver-

wiesen.

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Journalist arbeitenden Schweizer Historikers (Lausanne) Justin Favrod von 1997 herausragend gründlich. Schon 1979 erschien die Monographie „Die Geschichte der Goten“9 von Herwig Wolfram, dem Wiener Histori-ker für Mittelalterforschung, und auf seine Impulse hin gibt es gegenwär-tig mehrere Projekte sowohl an der Österreichischen Akademie der Wis-senschaften als auch an der Universität Wien über die Ethnogenese und ethnischen Identitäten und Ethnographie der Völkerwanderungszeit. Viele Anregungen gingen auch von dem großen durch die europäische Wissen-schaftsstiftung geförderten Projekt „Transformation of the Roman World“ aus, an dem von 1993 bis 1997 etwa hundert Historiker, Philolo-gen und Archäologen aus fast allen europäischen Ländern beteiligt waren und das u.a. zu der Publikation von gegenwärtig 14 Bänden in der gleich-namigen Reihe führte. Die meisten Beiträge zu „Barbarian Migrations“ und „Early Medieval Kingdoms“ kommen heute aus dem angloamerikani-schen Raum. Als Beispiele seien genannt „From Roman to Merowingian Gaul. A Reader“ von Alexander Gallander Murray (2000), das Cambridge Medieval Textbook „Barbarian Migrations and the Roman West 376–568“ von Guy Halsall (2007) oder auch der Sammelband „From Roman Prov-inces to Medieval Kingdoms. Rewriting History“, von Thomas F.X. Nob-le 2006 herausgegeben. Mit Burgund im Speziellen beschäftigt sich der Sammelband „Die Burgunder. Ethnogenese und Assimilation eines Vol-kes“ (2008) mit Beiträgen eines Symposiums der Nibelungengesellschaft in Worms.

Ein Zentrum liegt auch an der Universität von Leeds durch das Wir-ken des Historikers Ian Wood, der einer der Leiter des Transformations-Projekts gewesen ist. Ian Wood ist an dieser Stelle vor allem deswegen zu erwähnen, da er zusammen mit der amerikanischen Philologin Danuta Shanzer von der Cornell University in der Reihe „Translated Texts for Historians“ im Jahr 2002 den Band „Avitus of Vienne. Letters and Selec-ted Prose“ herausgegeben hat; es handelt sich dabei um die erste neuspra-chige Übersetzung der Briefe des Avitus, die auch eine längere Einleitung und Kurzkommentierung bietet. Auch bei anderen Philologen findet Avitus in jüngerer Zeit größere Aufmerksamkeit, besonders seine epische Übertragung und Auslegung der biblischen Urgeschichte in Hexametern. Stellvertretend sei hier hingewiesen auf die neue Einführung zum Epiker Avitus und zur Auslegung seiner Sündenfallgeschichte des Göttinger Phi-lologen Siegmar Döpp (2010).

Die heutigen Fragen zu Völkerwanderungszeit sind, natürlich eben-falls zeitbedingt, die nach Migrationsprozessen und ihren Auswirkungen, nach den Wurzeln und Entstehungsbedingungen von Europa und beson-_____________ 9 Die 2. überarbeitet Auflage erschien 1990 unter dem Titel „Die Goten“.

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ders, aufgrund einer inzwischen kritischen Sicht auf die Entstehung und Sammlung der jeweiligen „Völker“, nach ethnischer Identität. Ferner drückt der Begriff „Transformation“ einen Perspektivenwechsel auf die Zeit der Völkerwanderung aus, nach dem diese Zeit nicht mehr nur vor dem Hintergrund des Untergangs des Römischen Reichs zu verstehen ist. Diese neue Forschungslage wirkt sich wiederum aus auf die Einschätzung der Gründe für den Untergang Roms; auf diesem Gebiet hat vor allem der britische Historiker Peter Heather gewirkt, der die Bedeutung der Invasi-on der Barbaren unterstreicht („The Fall of Rome. A New History“, 2005).

Diese Fülle an neuen Forschungen bleibt jedoch ohne merklich spür-baren Widerhall in dem Fach Kirchengeschichte und umgekehrt fehlt verständlicherweise oft die Behandlung theologischer Fragen in histori-schen Monographien. So beschreibt der Historiker Ralph Mathisen von der Illinois University in mehreren bewundernswert gründlichen Beiträgen prosopographischer Art die kulturelle Strukturen und gesellschaftlichen Beziehungen („Social History“) auch zwischen Bischöfen, aber ohne auf die theologischen Fragen näher einzugehen (vgl. „People, Personal Ex-pression, and Social Relations in Late Antiquity“, zwei Bände, 200310). Im Zusammenhang mit der Frage nach der Identität wiederum wird zwar in der Regel auch die Religion mit behandelt, genauer gesagt die Rolle des „Arianismus“ für die Identität West- und Ostgoten, Burgunder und Van-dalen in Abgrenzung zu den „katholischen“ römischen Einwohnern. Es wäre jedoch wünschenswert, wenn sich an dieser Debatte auch Kirchen-historiker beteiligen würden, um genauer zu erfassen, was eigentlich jener „Arianismus“ der Burgunder etc. gewesen ist. Besonders wichtig wäre es, die jüngeren theologie- und dogmengeschichtlichen Forschungen beson-ders zum sogenannten „arianischen Streit“11 und natürlich den Homöern hier einzubringen und für die Zeit der Völkerwanderung fortzuschreiben. Zu den Homöern liegen zwei gründliche Studien von Hanns Christof Brennecke und Winrich Löhr12 vor, und in der Editionsreihe „Athanasius Werke“ entsteht in Erlangen am Lehrstuhl von Brennecke eine Doku-mentensammlung zum arianischen Streit, die inzwischen das Material von

_____________ 10 Verwiesen sei auch auf seinen Band “Ruricius of Limogenes and Friends. A

Collection of Letters from Visigothic Gaul”, der ebenfalls in der Reihe “Translated Texts for Historians” 1999 als Band 30 erschienen ist.

11 Die zahlreichen Beiträge können hier kaum aufgelistet werden. Empfohlen sei ein Blick in die 2010 erschienene Neuauflage von “From Nicaea to Chal-cedon. A Guide to the Literature and Its Background” von Francis M. Young.

12 S. Literaturverzeichnis.

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den Anfängen bis zum Jahr 362 in einer zweisprachigen Ausgabe bietet. Die Sammlung soll bis in die Zeit der Westgoten (Konversion Rekkareds 589) und Langobarden fortgeführt werden.

Genau hier setzt die vorliegende Studie ein. Es ist eine Spurensuche nach dem „Homöertum“13 in einem der gentilen Reiche, dem der Bur-gunder an der Rhône. Mit den Schriften des Avitus von Vienne steht eine relativ gute Quelle zur Verfügung, die trotz ihres „katholischen“ Blick-winkels und fragmentarischen Charakters Auskunft über ihre Zeit zu ge-ben vermag, besonders da Avitus eine intensive Auseinandersetzung mit der „Häresie“ der Homöer geführt hat. Die Konflikte gingen um umstrit-tene Aspekte der Trinitätslehre, inwiefern der Sohn Gottes und der heilige Geist selber wie Gott, der Vater, Gott sind, ferner ob dem Vater in ir-gendeiner Form eine Priorität einzuräumen ist, so daß der Sohn und der heilige Geist ihm untergeordnet seien (Subordination), und wie die Einheit Gottes bewahrt werden kann. Hinzu kommen damit verbundene Fragen der Auslegung von Schriftstellen. All diese Themen findet man bei Avitus diskutiert. Daher wird einerseits das theologische Profil des Avitus unter-sucht und andererseits zugleich ein Abschnitt der Kirchen- und Theolo-giegeschichte des Westens erschlossen. Die Schriften des Avitus bieten nämlich auch einige verstreute Hinweise auf Strukturen und Synoden nicht nur der katholischen, sondern auch der homöischen Kirche der Burgunder und auf stattgefundene „Konfessionsgespräche“, besonders zwischen Avitus und dem burgundischen König Gundobad selbst.

Zu Beginn wird die politische Geschichte des Burgunderreichs an der Rhône vorgestellt, soweit es sich anhand der oft nur knappen Notizen in den überlieferten Werken erschließen läßt.

Es folgt ein Abschnitt zu Avitus von Vienne. Nachdem sein Leben und seine Schriften in einem Überblick vorgestellt wurden, kommt Avitus selbst zu Worte, wie er die Umstände und Umbrüche seiner Zeit sieht und einschätzt. In einigen Passagen kommt eine erstaunlich nüchterne Sicht seiner Zeit zu Tage; Katastrophen- und Untergangsszenarien finden sich kaum. Er scheint eher die Chance und die Aufgabe zur Mission gesehen zu haben und hält sich auch meist mit theologischen Deutungen der Ge-schichte zurück.

Ein drittes Kapitel versucht die schon angesprochenen Strukturen der homöischen Kirche der Burgunder herauszufiltern. Die dargestellten kon-fessionellen Verhältnisse der burgundischen Herrscherfamilien – oft wa-ren die Frauen katholisch – und die Konversion des Sohnes von

_____________ 13 “Arianismus” ist eine polemisch überzogene antihäretische Fremdbezeich-

nung für die Homöer, um sie mit dem im Jahr 325 auf der Synode von Nizäa verurteilten Arius zu verbinden.

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Gundobad, Sigismund, sind Hinweise auf eine relative Offenheit und ein mögliches Gesprächsklima im Reich der Burgunder. So scheinen die Bur-gunder erst relativ spät, wohl aus politischen Gründen, die homöische Konfession favorisiert zu haben. Gleichzeitig bekommt man den Ein-druck, daß die Hinwendung zum „Katholischen“ nicht nur mit einer An-näherung an die Romanitas zu erklären ist, sondern auch mit einer offenbar großen Attraktivität der katholischen Kirche mit ihrem z.B. im Vergleich übergroßen Reliquienschatz und aufblühenden Mönchtum zu tun hatte. Trotz dieser gemischt-konfessionellen Verhältnisse scheint es eine durch-aus organisierte Struktur der homöischen Kirche gegeben zu haben. Über-aus interessant und bedeutend sind die Briefe des Avitus, in denen er da-rauf eingeht, wie im Falle eines Konfessionswechsels zu entscheiden und wie mit ehemaligen homöische Kirchengebäuden und kultischen Geräten zu verfahren ist, falls der Besitzer „katholisch“ wurde. Avitus spricht hier eindeutige Urteile, kann sich aber nicht in allen Belagen auf der Synode von Epao 517, zu der er kurz vor seinem Tod noch eingeladen hatte, durchsetzen.

Im vierten Kapitel werden die trinitätstheologisch relevanten Frag-mente und Briefe des Avitus vorgestellt, also die Texte, welche die Ausei-nandersetzung zwischen Homöern und Katholiken im Burgunderreich wiedergeben. Da diese Studie einige bislang weithin unberücksichtigte Schriften des Avitus analysiert, werden sie in einer Tabelle zusammen mit einer Übersetzung präsentiert. Für einige schwer zu deutende Passagen kann hier nur ein Anstoß zur Diskussion gegeben werden. Im Vorder-grund, so hat sich gezeigt, steht die Pneumatologie: Ist der heilige Geist gottgleich oder ein Geschöpf des Sohnes? Ist der heilige Geist gleicher-maßen zu verehren wie Gott, der Vater, und der Sohn? Ein Unterschied in der Liturgie fachte offenbar die Diskussion neu an. Interessanterweise gibt es von Avitus und auch von Faustus von Riez Aussagen in diesem Zusammenhang, in denen die Entstehung des heiligen Geistes aus dem Vater und dem Sohn (filioque) verteidigt wird. Hier ist also ein wichtiges Zwischenglied in der Dogmengeschichte zu entdecken, die später zur umstrittenen Einfügung des filioque in den Bekenntnistext von Konstanti-nopel 381 im Westen geführt hat und ein Anlaß für das Schisma von 1054 war.

Es folgen noch weiter Aussagen, unter den Überschriften Una substantia in trinitate, In creatura patre minor und De divinitate filii dei zusam-mengestellt. An vielen Stellen wird offensichtlich, daß sich Avitus in tradi-tionellen Bahnen bewegt, wie sie besonders Ambrosius und Augustinus vorgezeichnet haben. Für Avitus scheint ferner der Begriff aequalitas trini-tätstheologisch wichtig gewesen zu sein, dem in einem Abschnitt nachge-gangen wird.

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In einem letzten Abschnitt wird versucht, das Profil der Diskussionen in Burgund genauer zu beschreiben, indem es mit etwa zeitgleichen Quel-len aus dem Vandalenreich verglichen wird – eine Region, aus der über-haupt die meisten theologisch relevanten Quellen jener Zeit überliefert sind. In dieser Gegenüberstellung zeigt sich erstaunlicherweise eine unter-schiedliche Entwicklung der homöischen Theologie zwischen den Bur-gundern und den Vandalen.

Es ist zu berücksichtigen, daß damit selbstverständlich nicht alle Brie-fe und Fragestellungen behandelt wurden, die bei Avitus zutage treten. Hier wurde zunächst die „Binnenperspektive“ der innerburgundischen kirchlichen- und theologischen Aspekte ausgewählt. In einem weiteren Schritt könnte z.B. die „Außenpolitik“ der Burgunder mit Konstantinopel zusammen mit dem Eindringen der sogenannten „christologischen Frage“ aus dem Osten in den Westen und den Auswirkungen des akakianischen Schismas analysiert werden, denn auch zu diesem Problemkreis gibt es ein paar Fragmente und zwei längere Briefe des Avitus. Das wäre in den Kon-text anderer Werke des Westens zur Christologie des Nestorius und Eutyches sowie zu der Rezeption der dogmatischen Beschlüsse von Chal-cedon im lateinischen Raum zu stellen und gewiss auch ein Beitrag zu der zunehmenden Entfremdung zwischen Ost und West. Avitus selbst scheint nämlich große Probleme gehabt zu haben, über die Diskussion im Osten informiert zu sein, und konnte darüber König Gundobad nur bedingt Auskunft geben.

Der Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter ist eine wichtige und zugleich spannende Phase auch für die Geschichte der Kir-che. Nicht nur Avitus von Vienne verdient es, ins Bewußtsein der kir-chengeschichtlichen Forschung gerückt zu werden. Die Vorstellung von der Völkerwanderungszeit als einer Phase des Chaos, in der es der Kirche eigentlich nur darum ging, das Erreichte zu bewahren, und starrer Traditi-onalismus das Denken prägte, entpuppt sich bei genauem Hinsehen als überzogenes Klischee. Und etwas „Germanisches“ läßt sich bei dem Homöertum nicht entdecken. Eine genaue Lektüre der wenigen überlie-ferten Quellen kann das Bild von jener Zeit schärfen oder sogar ein Bild überhaupt erst entstehen lassen.

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