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Hintergrund: Belgien Nr. 22 / April 2015 | 1 Belgische Liberale: Regieren ohne Komplexe Thomas Philipp Reiter & Hans H. Stein Seit einem halben Jahr sind sie im Amt: der liberale Premier Belgiens Charles Michel und seine liberal- konservative Regierung. Zum ersten Mal seit fast drei Jahrzehnten sitzen die Sozialisten nicht mit am föderalen Kabinettstisch, dafür aber die flämischen Nationalisten – für manche ein Tabubruch, in einem Land, das für den „belgischen Kompromiss“ sprichwörtlich bekannt ist. Seit langem steht erstmals nicht eine neue Staatsreform, sondern eine Wirtschaftsagenda im Mittelpunkt der Politik - sehr zum Unmut der Gewerkschaften, die schon vor Regierungsantritt und bis heute zu regelmäßigen Streiks im ganzen Land aufrufen. Das lohnt einen näheren Blick auf unseren „unbekannten“ Nachbarn. Obwohl Belgien zu den Top Ten der deutschen Außenhandelspartner gehört, sind Belgier und Deutsche auf fast allen anderen Gebieten einander mit herzlicher Nichtbeachtung zugeneigt. Deutsche wissen wenig über das Königreich, das gleich hinter Aachen beginnt. Schon dass das Staatsoberhaupt Philip- pe, König der Belgier, einem deutschen Adelsgeschlecht, dem Haus Sachsen-Coburg und Gotha, ent- stammt, löst häufig ungläubiges Staunen hervor. Dabei kann man der belgischen Innenpolitik einiges nachsagen, aber eines ganz sicher nicht: dass sie langweilig sei. Aufgrund der komplexen föderalen Staatsstruktur sind Regierungsbildungen in Belgien stets von zahlreichen Kompromissen begleitet, die zu besonderen, komplizierten und manchmal bizarren Umständen führen. Dazu zählt, dass die Partei- en 2010/2011 541 Tage benötigten, um eine neue Föderalregierung zu bilden und damit einen neuen „Weltrekord“ aufstellten. Vereinigte Staaten von Belgien Dieser „Weltrekord“ mag mit dazu beigetragen haben, dass Belgien von außen betrachtet häufig als „unregierbar“ oder gar populistisch von Henryk M. Broder als „failed state“ charakterisiert wurde. Das Gegenteil ist der Fall: Bei Belgien handelt es sich um ein Land, das sich durch nunmehr sechs Staats- reformen von einem Zentralstaat nach französischem Prägung mit Brüssel als starkem Zentrum und mit französischer Amtssprache zu den polyglotten „Vereinigten Staaten von Belgien“ entwickelt hat. Die drei Regionen Flandern, Wallonien und der Stadtstaat Brüssel genießen weitgehende Autonomie in fast allen Belangen, die den Alltag der Belgierinnen und Belgier betreffen. Nur wenige Politikberei- che, wie z.B. die Verteidigungs- oder Außenpolitik, die innere Sicherheit und Justiz sowie die Sozial- versicherung, legen in der Kompetenz der föderalen Ebene. Hintergrund: Belgien Nr. 22 / 16. April 2015

Belgische Liberale: Regieren ohne Komplexe

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Seit einem halben Jahr sind sie im Amt: der liberale Premier Belgiens Charles Michel und seine liberal-konservative Regierung. Zum ersten Mal seit fast drei Jahrzehnten sitzen die Sozialisten nicht mit am föderalen Kabinettstisch, dafür aber die flämischen Nationalisten – für manche ein Tabubruch, in einem Land, das für den „belgischen Kompromiss“ sprichwörtlich bekannt ist. Seit langem steht erstmals nicht eine neue Staatsreform, sondern eine Wirtschaftsagenda im Mittelpunkt der Politik - sehr zum Unmut der Gewerkschaften, die schon vor Regierungsantritt und bis heute zu regelmäßigen Streiks im ganzen Land aufrufen. Das lohnt einen näheren Blick auf unseren „unbekannten“ Nachbarn.

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Belgische Liberale: Regieren ohne Komplexe

Thomas Philipp Reiter & Hans H. Stein

Seit einem halben Jahr sind sie im Amt: der liberale Premier Belgiens Charles Michel und seine liberal-

konservative Regierung. Zum ersten Mal seit fast drei Jahrzehnten sitzen die Sozialisten nicht mit am

föderalen Kabinettstisch, dafür aber die flämischen Nationalisten – für manche ein Tabubruch, in einem

Land, das für den „belgischen Kompromiss“ sprichwörtlich bekannt ist. Seit langem steht erstmals nicht

eine neue Staatsreform, sondern eine Wirtschaftsagenda im Mittelpunkt der Politik - sehr zum Unmut

der Gewerkschaften, die schon vor Regierungsantritt und bis heute zu regelmäßigen Streiks im ganzen

Land aufrufen. Das lohnt einen näheren Blick auf unseren „unbekannten“ Nachbarn.

Obwohl Belgien zu den Top Ten der deutschen Außenhandelspartner gehört, sind Belgier und Deutsche

auf fast allen anderen Gebieten einander mit herzlicher Nichtbeachtung zugeneigt. Deutsche wissen

wenig über das Königreich, das gleich hinter Aachen beginnt. Schon dass das Staatsoberhaupt Philip-

pe, König der Belgier, einem deutschen Adelsgeschlecht, dem Haus Sachsen-Coburg und Gotha, ent-

stammt, löst häufig ungläubiges Staunen hervor. Dabei kann man der belgischen Innenpolitik einiges

nachsagen, aber eines ganz sicher nicht: dass sie langweilig sei. Aufgrund der komplexen föderalen

Staatsstruktur sind Regierungsbildungen in Belgien stets von zahlreichen Kompromissen begleitet, die

zu besonderen, komplizierten und manchmal bizarren Umständen führen. Dazu zählt, dass die Partei-

en 2010/2011 541 Tage benötigten, um eine neue Föderalregierung zu bilden und damit einen neuen

„Weltrekord“ aufstellten.

Vereinigte Staaten von Belgien

Dieser „Weltrekord“ mag mit dazu beigetragen haben, dass Belgien von außen betrachtet häufig als

„unregierbar“ oder gar populistisch von Henryk M. Broder als „failed state“ charakterisiert wurde. Das

Gegenteil ist der Fall: Bei Belgien handelt es sich um ein Land, das sich durch nunmehr sechs Staats-

reformen von einem Zentralstaat nach französischem Prägung mit Brüssel als starkem Zentrum und

mit französischer Amtssprache zu den polyglotten „Vereinigten Staaten von Belgien“ entwickelt hat.

Die drei Regionen Flandern, Wallonien und der Stadtstaat Brüssel genießen weitgehende Autonomie

in fast allen Belangen, die den Alltag der Belgierinnen und Belgier betreffen. Nur wenige Politikberei-

che, wie z.B. die Verteidigungs- oder Außenpolitik, die innere Sicherheit und Justiz sowie die Sozial-

versicherung, legen in der Kompetenz der föderalen Ebene.

Hintergrund:

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In vielen Fragen wie der Währungspolitik stellt sich eine solche Frage aufgrund der Einbindung in eu-

ropäische Zusammenhänge schon gar nicht mehr.

Flandern, der nördliche und bevölkerungsreichste Landesteil Belgiens, hat ähnlich wie Bayern die Me-

tamorphose von einem einstigen Agrarland mit vielen Wanderarbeitern, die in den wallonischen Ei-

senerz-Bergwerken in Lohn und Brot standen, hin zu einem modernen Industrie- und Dienstleistungs-

standort erfolgreich bewältigt. Dies hat sicherlich zu einem neuen und ausgeprägten flämischen

Selbstbewusstsein beigetragen.

Die Wallonie, der nach dem Zusammenbruch der Eisenproduktion wirtschaftlich arg gebeutelte südli-

che Teilstaat Belgiens, wird weiterhin von hoher Arbeitslosigkeit geplagt. Eine Folgeerscheinung ist die

Hinwendung eines Großteils der Bevölkerung zu linken Parteien, was den regelmäßigen Erfolg der

wallonischen Sozialisten erklärt und in krassem Gegensatz zum eher bürgerlich-konservativen Flan-

dern steht. Neben den französischsprachigen Belgiern leben in der Wallonie die ca. 79.000 „Deutsch-

sprachigen“, die zuvor preußischen Einwohner der aus neun Gemeinden bestehenden sogenannten

Ostkantone, nach dem Ersten Weltkrieg endgültig bei Belgien verblieben.

Königreich Belgien, politische Gliederung / Wikipedia

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Sie stehen in aller Regel treu zum Königreich, was durch ein geflügeltes Wort aus alter Zeit unterstri-

chen wird: „Neutre: toujours; Belges: peut-être; Prussiens: jamais“ (Stets neutral, vielleicht Belgier,

niemals Preußen). Ihr Bestreben ist die Anerkennung als eigenständige Region neben Flandern, der

Wallonie und Brüssel, wobei mangelnde „Größe“ für sie kein Gegenargument ist, denn schließlich sei-

en Liechtenstein oder Monaco wesentlich kleiner.

Brüssel bildet schließlich die dritte Region Belgiens. Offiziell ist die alte flämische Handelsstadt und

Residenz Brüssel immer noch die Hauptstadt Flanderns. De facto ist die multikulturelle, multilinguale,

kosmopolitische Hauptstadt Belgiens, Europas und der NATO heute nicht mehr sehr flämisch, denn nur

noch etwa zehn Prozent der Brüsseler geben Niederländisch als ihre einzige oder hauptsächliche Mut-

tersprache an. Auch wenn Brüssel offiziell zweisprachig ist, haben sich die Französisch sprechenden

Wallonen und die französischsprachige Bevölkerungsmehrheit Brüssels zur „Föderation Wallonie-

Brüssel“ zusammengeschlossen.1

So wie es drei in vielen Bereichen autonome Regionen gibt, gibt es konsequenterweise jede in Europa

bekannte politische Strömung in Belgien gleich drei Mal: in jeder der drei Amtssprachen Deutsch,

Französisch und Niederländisch. Die Grünen halten noch ein wenig am einstigen Unitarismus fest,

aber mit schwindender Kraft. Dass sich aufgrund der unterschiedlichen regionalen Schwerpunktset-

zungen und der Verschiedenheit der Kulturen in den einzelnen Landesteilen flämische und walloni-

sche Christdemokraten oder deutschsprachige und flämische Liberale bislang nicht automatisch nahe

standen, liegt auf der Hand und es macht die Regierungsbildung auf föderaler Ebene nicht einfacher.

Die belgische Verfassung schreibt nämlich, mit der Ausnahme für den Premier, ein sprachliches

Gleichgewicht in der Regierung vor. Der 14-köpfige Ministerrat (plus Premier) muss ebenso viele nie-

derländischsprachige wie französischsprachige Minister zählen.

Der Super-Wahltag und seine Folgen

Am 25. Mai 2014 fanden in Belgien zum

ersten Mal die Wahlen für alle Verwal-

tungsebenen oberhalb der Gemeinde zum

gleichen Zeitpunkt statt. Die Wähler hatten

sich für ihre Volksvertreter in Europa, im

Föderalen Parlament sowie in den Parla-

menten aller drei Regionen Brüssel, Flan-

dern und Wallonien sowie aller drei

Sprachgemeinschaften (deutsch, franzö-

sisch und niederländisch) zu entscheiden.

Damit sollte das bis dahin übliche „job

hopping“ von Berufspolitikern zwischen

den unterschiedlichen Regierungsebenen

vermieden werden.

1 Eine nicht ganz einflusslose Gruppe englischsprachiger Angehöriger der europäischen Institutionen wünscht sich Englisch

als dritte Amtssprache, was die Internationalität der Stadt weiter unterstreichen würde.

Charles Michel, frankophone Partei „Mouvement Reformateur“, Belgiens

liberaler Premierminister seit 17.10.2014

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Bei den Föderalwahlen führte Charles Michel die liberale Partei „Mouvement Reformateur“ auf fran-

kophoner Seite zum Sieg, während die dortige Sozialistische Partei (PS) des Premiers Elio Di Rupo

ebenso wie die frankophonen Christdemokraten (Centre Démocrate Humaniste, cdH) Verluste einste-

cken mussten. In Flandern siegten die flämischen Nationalisten (N-VA) Bart De Wevers mit fast 33

Prozent, die so zur stärksten politischen Kraft im Parlament wurden, sowie die Konservativen (CD&V).

Ergebnis der Föderalwahlen zur Abgeordnetenkammer 25. Mai 2014

Partei Flandern Brüssel Wallonien Belgien Sitze

N-VA 32,4 % 2,7 % 20,3 % 33

Vlaams Belang 5,8 % 1,0 % 3,7 % 3

sp.a 14,0 % 1,9 % 8,8 % 13

PS 24,9 % 32,0 % 11,7 % 23

Open VLD 15,5 % 2,7 % 9,8 % 14

MR 23,1 % 25,8 % 9,6 % 20

CD&V 18,6 % 1,6 % 11,6 % 18

cdH 9,3 % 14,0 % 5,0 % 9

Groen 8,6 % 5,3 % 6

Ecolo 10,4 % 8,2 % 3,3 % 6

PTB-GO!/PVDA 2,8 % 3,8 % 5,5 % 3,7 % 2

FDF 0,4 % 11,1 % 2,4 % 1,8 % 2

Parti Populaire 1,7 % 4,5 % 1,5 % 1

Sonstige 1,9 % 5,7 % 7,6 % 3,9 %

(fett: Parteien der Regierungskoalition)

Liberal geführte Regierung bricht mit belgischen „Traditionen“

Nachdem zunächst der Wahlsieger Bart De

Wever (NV-A) mit seinem Vorschlag zur

Bildung einer Koalition scheiterte und die

frankophon Christdemokraten cdH sowohl

in der Wallonie als auch in Brüssel Regie-

rungsbündnisse mit den Sozialisten schlos-

sen, beauftragte König Philippe den wallo-

nischen Liberalen Charles Michel und den

flämischen Konservativen Kris Peeters mit

der Regierungsbildung. Diese konnte im

Oktober 2014 nach einer etwa zweiein-

halbmonatigen Verhandlung - für belgi-

sche Verhältnisse schon fast in einer „Re-

kordgeschwindigkeit“ - abgeschlossen

werden.

Die am 17. Oktober 2014 auf die belgische Verfassung vereidigte Regierung Michel besteht aus 14

Ministern (Premierminister inbegriffen) und vier Staatssekretären. Die Koalitionsvereinbarung wurde

von den flämischen Nationalisten (N-VA), den flämischen Christdemokraten (CD&V) sowie den flämi-

schen und französischsprachigen Liberalen (Open VLD und MR) geschlossen. Die Regierung Michel

trägt daher auch den Namen Schweden-Koalition, in Anlehnung an die schwedische Flagge: Die gelbe

Parteifarbe für die N-VA, blau für die Liberalen und das Kreuz für die Christdemokraten.

Bart De Wever, flämisch-separatistische Partei N-VA, Bürgermeister von

Antwerpen

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Die Regierungskoalition kann gleich mehrere Besonderheiten für sich in Anspruch nehmen:

Seit fast drei Jahrzehnten sitzen die Sozialisten nicht mit am föderalen Kabinettstisch, dafür

aber erstmals die flämischen Nationalisten.

Es ist die erste Föderalregierung in der neueren belgischen Geschichte, deren frankophoner Be-

standteil nur aus einer Partei – der liberalen MR - besteht und die somit in der französischen

Sprachgruppe des Parlaments keine Mehrheit hat. Daher wird sie von Kritikern auch als Kami-

kaze-Koalition bezeichnet.

Das Regierungsprogramm steht unter der Überschrift „Eine ökonomische Aufgabe – ein sozia-

les Projekt“. Damit stehen erstmals seit langem keine weitere Staatsreformen auf der Agenda

und keine weitere Eskalation des Sprachenstreits.

Charles Michel gilt mit 38 Jahren als jüngster Premierminister in der 184jährigen Geschichte

des Königreichs (wenngleich es dieses Amt in der bestehenden Form in den ersten Jahrzehnten

nach Staatsgründung noch gar nicht gab) sowie erst als zweiter Regierungschef, den die fran-

zösischsprachigen Liberalen stellen, seit Paul-Emile Janson im Jahr 1937.

Charles Michel ist kein unbeschriebenes Blatt in der belgischen Politik. Politisches Engagement

scheint in der DNA der Familie Michel zu liegen. Sein Vater Louis Michel gehört zu den politischen

Schwergewichten und war selbst belgischer Außenminister und Europäischer Kommissar. Heute zählt

er zu den einflussreicheren Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Charles selbst war von 2000

bis 2004 Innenminister des belgischen Teilstaats Wallonie und von 2007 bis 2011 föderaler Minister

für Entwicklungszusammenarbeit. Dieses Amt gab er 2011 auf, um Präsident des Mouvement Réfor-

mateur (MR) zu werden, der Partei der französischsprachigen Liberalen in der Wallonie und in der

Hauptstadt Brüssel. Seit 2006 ist er zudem Bürgermeister der Kleinstadt Wavre in der Provinz Wallo-

nisch-Brabant. Diese Doppelung von Bürgermeisteramt und Amtsausübung auf höherer politischer

Ebene hat in Belgien Tradition. Schon Michels sozialistischer Vorgänger Elio Di Rupo blieb als Premi-

erminister zugleich Bürgermeister von Mons, der Kulturhauptstadt Europas 2015. Dieses Amt fing den

abgewählten Di Rupo 2014 wieder auf und es zeigt auch, wo heutzutage die eigentliche politische

Macht in Belgien zuhause ist: in den Regionen, in der Provinz, jedenfalls nicht so sehr in Brüssel.

„Eine ökonomische Aufgabe – ein

soziales Projekt“

Die Regierung Michel hat ihr Arbeits-

programm unter die Überschrift „Eine

ökonomische Aufgabe – ein soziales

Projekt“ gestellt und angekündigt, den

Reformstau im Lande beseitigen zu

wollen. Ganz oben auf der Reforma-

genda stehen strenge Haushaltsdiszip-

lin, Steuerreform und eine Reform des

Systems der sozialen Sicherheit.

Jubelpark, Brüssel

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Wie in der belgischen Innenpolitik üblich, gab es bereits über die Reihenfolge „ökonomische Aufgabe –

soziales Projekt“ erheblichen öffentlichen Streit. Eine liberale Wirtschaftspolitik sieht sich in Belgien

stets durch die mächtigen Gewerkschaften, die nicht nur in Berufs-, sondern auch Sprachgruppen

sowie nach politischer Präferenz aufgeteilt sind, vor allem des Verdachts ungezügelten Sozialabbaus

ausgesetzt. Schon vor Amtsantritt riefen die Gewerkschaften die ersten Streiks aus, die sich seitdem in

regelmäßigen Abständen in einzelnen Provinzen oder auch im ganzen Land wiederholen. So ist für den

22. April erneut ein landesweiter Streik angekündigt.

Auf Fundamentalopposition setzen auch die Sozialisten. Deren Enttäuschung und Wut über den Regie-

rungsverlust führte bereits in der ersten Parlamentsdebatte zur Regierungserklärung des neuen Premi-

ers zu einem Krawallauftritt der frankophonen Sozialisten unter Führung ihrer Fraktionsvorsitzenden

Laurette Onkelix. Am eigenen Leib bekam Premier Michel den Protest gegen seine Regierungspolitik

zwei Tage vor Heiligabend zu spüren: drei „Femen“-Aktivistinnen bewarfen ihn mit Pommes Frites und

Mayonnaise („attentat fritier“) während eines Auftritts vor dem Wirtschaftsclub „Cercle de Wallonie“

in Namur.

Während der außerparlamentarische Widerstand der Gewerkschaften und die Fundamentalopposition

der Sozialisten kaum verwunderlich ist, überrascht, mit welcher Routine die Minister der flämisch-

separatistischen N-VA den Regierungsgeschäften nachgehen, sogar Französischkurse besuchen und es

nach außen für ganz selbstverständlich halten, einfach nur Belgien und nicht etwa ein „zerrüttetes

Staatskonstrukt“ zu repräsentieren. Die flämische Partei hat also ihre Kernforderung nach Auflösung

des ungeliebten Königreichs Belgien – manche sagen vorerst - beiseitegelegt und ist ein gutes Stück

belgischer geworden.

„Liberal zu sein bedeutet in seiner Natur, ein Reformer zu sein.“

Im Grunde hat Charles Michel seine politische

Grundsätze bereits als 28jähriger in seinem 2004

erschienen Buch „Liberalismus ohne Komplexe“2

umrissen: „Liberal zu sein bedeutet in seiner Na-

tur, ein Reformer zu sein.“ Wenn man sich als

liberal betrachte, könne man sich mit den gege-

benen Umständen nicht zufrieden geben. Verkrus-

tete Strukturen im Sozialwesen, weitreichende

Macht der zahlreichen Gewerkschaften, die sogar

hoheitliche Aufgaben wie die Auszahlung des

Arbeitslosengeldes an sich gezogen haben, sowie

eine ausufernde Bürokratie bremsen das Land, das

sich aufgrund vergleichsweise starker Wirt-

schaftszweige, z.B. der Konsumgüterindustrie,

dafür noch erstaunlich stabil hält. Unter der Ober-

fläche schwelt aber ein Reformstau ähnlich wie in

Deutschland vor der Umsetzung der Agenda 2010.

Diesen zu beseitigen ist Michels Mission.

2 „Le libéralisme sans complexe“, Edition Luc Pire

Atomium-Denkmal, Brüssel

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Auch die Vorsitzende der flämischen Liberalen Open VLD, Gwendolyn Rutten, hat ihre politische Agen-

da in dem 2013 erschienen Buch „Der engagierte Bürger“3 auf den Punkt gebracht: „Unser Projekt ver-

bindet die Wahl für die Freiheit, Verantwortung und Unternehmertum mit einem festen Glauben an

Zukunft, Veränderung und Fortschritt. Wir sind engagierte Bürger und Fortschrittsoptimisten. Wir wol-

len das Gegenmittel zu Neid und Versauerung sein. Liberale sind nicht einzigartig in ihrer Akzeptanz

von Unternehmertum, Verantwortung oder Freiheit. Liberale sind auch nicht einzigartig in ihrer positi-

ven Einstellung zu Veränderung und Fortschritt. Es ist die Kombination aus beidem, die Liberale ein-

zigartig macht.“ Dieser Aufruf zum Mut zur Veränderung - auch bei liebgewonnenen und teuren belgi-

schen Besonderheiten - macht die flämischen wie die französischsprachigen Liberalen für die einen

zum Fortschrittstreiber, für die anderen, insbesondere die Linken und Gewerkschaften, zu verhassten

Parteien der Unternehmer und Reichen. Doch ganz offensichtlich hat sich die Mehrheit der belgischen

Wählerinnen und Wähler von der neuen Regierung eine neue Dynamik versprochen.

Konkret beschrieb die flämische

Liberale Rutten die Regierungsa-

genda jüngst auf einer Veranstal-

tung der Friedrich Naumann Stif-

tung für die Freiheit in Brüssel4:

„Wir Belgier sind Weltmeister der

Steuern, wir besteuern praktisch

alles. Deshalb benötigen wir eine

deutliche Steuersenkung für die

Arbeitnehmerinnen und Arbeit-

nehmer.“ Mittels eines „tax shift“

sollen Steuern, die auf den Faktor

Arbeit anfallen und so direkt die

Bürger belasten, in einem Volumen

von einer Milliarde Euro auf ande-

re Steuerquellen umgeschichtet

werden. Schon zu Beginn 2016

sollen die Bürger durch den „tax shift“ persönlich von einer niedrigeren Steuerlast profitieren und die

Lohnnebenkosten spürbar reduziert werden.

Großer Streitpunkt ist das belgische System der Lohnindexierung, das auch europarechtlich bedenklich

ist. Die automatische Anpassung von Löhnen und Gehältern an den kontinuierlich steigenden Lebens-

haltungsindex, soll zum Jahresende 2015 fallen.

Wie in vielen europäischen Industriestaaten ist das Rentensystem eines der größten Probleme Belgi-

ens. Während die Großen Koalition in Deutschland eine Rolle rückwärts gemacht hat und neue Früh-

verrentungsmöglichkeiten eröffnet, will die Regierung Michel das Renteneintrittsalter bis 2025 auf 66

und bis 2030 auf 67 Jahre angeheben und so das Rentensystem an die steigende Lebenserwartung

anpassen und die Renten- und Pensionskassen zukunftssicherer machen. Neben der Anhebung des

Renteneintrittsalters werden heute aber auch die niedrigsten Renten um zwei Prozent angehoben.

Nebenwirkung der ökonomischen und sozialen Agenda der liberal-konservativen Regierung ist, dass es

in der belgischen Öffentlichkeit wieder wichtiger geworden ist, welcher Denkrichtung man angehört

3 „De Geëngageerde Burger - Inleiding tot een nieuwe politieke lente“, Uitgever Mark Vanleeuw

4 http://fnf-europe.org/2015/03/10/belgium-mini-europe-gwendolyn-rutten-on-how-to-overcome-divisions-and-govern-

in-difficult-circumstances/#more-6987

Vorsitzende der flämischen Liberalen Open VLD, Gwendolyn Rutten

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und weniger, mit welcher Muttersprache man aufgewachsen ist. Auch hier zeigt die Regierung Michel

den in der Politik generell selten anzutreffenden Mut, politische Langzeitentscheidungen zu treffen

statt nur den geläufigen und pragmatischen „compromis belge“ im hier und jetzt anzustreben.

„Zankkabinett“ oder „Modernisierer Belgiens“

Während sich also die beiden liberalen Parteien ziemlich einträchtig mit dem alltäglichen Regierungs-

geschäft befassen, sind die Vertreter von N-VA und CD&V oftmals mit eifersüchtigem Parteiengezänk

beschäftigt. So brandmarkt der Politologe Carl Devos die Regierung dann auch als „roddelkabinet“,

also als Kabinett der Schwätzer. In den Medien wird oft von einem „Zankkabinett“ gesprochen. Auslö-

ser der Streitigkeiten zwischen den Regierungsparteien ist oftmals der Vorsitzende des Koalitionspart-

ners N-VA und Bürgermeister von Antwerpen, Bart De Wever. De Wever hatte es vermocht, seine Par-

tei als bürgerlich-konservative, perspektivisch zwar separatistische, aber auch pragmatisch-

antirevolutionäre Bewegung zu positionieren. Ein Politikangebot, das sich in Flandern als überaus gut

verkäuflich herausgestellt hat. Bei den Wahlen im Mai 2014 wurde die N-VA in Flandern zur stärksten

Partei mit dem belgienweit besten Wahlergebnis: 32,4 % in Flandern und 2,7 % in Brüssel, was

gleichbedeutend mit 20,3 % für ganz Belgien ist.5

Schon aufgrund seines ausgeprägten politischen

Instinkts erkannte De Wever nach dem großen

Wahlerfolg für die N-VA, dass er sich persönlich

dem vermeintlichen Widerspruch, einerseits die

Autonomie Flanderns anzustreben und anderer-

seits vor dem König der Belgier einen Eid auf die

bestehende Verfassung abzulegen, nicht ausset-

zen dürfte. Er schob daher von vornherein allen

Spekulationen, selbst das Amt des Premierminis-

ters anzustreben, einen Riegel vor. Offiziell na-

türlich, weil er sich ein schöneres Amt als das

des Bürgermeisters von Antwerpen, nicht vorzu-

stellen vermag. De facto versetzte sich De Wever

mit einem klugen Schachzug in die effizientere

Position des Strippenziehers in Belgien und ge-

fällt sich in der Rolle des Advocatus Diaboli einer

gegen alle. So kritisiert er nahezu täglich insbe-

sondere seinen christdemokratischen Koalitions-

partner, wegen dessen „zu sozialdemokratischen

Kurses“. Und eine der gängigen Kritikern des

Hauptverursacher von Disharmonien lautet: „Ich

hatte mir eine Regierungssymphonie gewünscht,

herausgekommen ist eine Kakophonie“..

5 Selbst offensichtliche Verbiegungen nehmen ihm seine Anhänger nicht übel: Während der für die belgische Fußballnatio-

nalmannschaft, einem der wenigen Symbole nationaler Einheit, durchaus erfolgreich verlaufenen WM in Brasilien 2014

gab er an, sich nicht für Fußball, sondern nur für Basketball zu interessieren. Nicht etwa, weil seine Heimatstadt Antwer-

pen über einen Basketball-Erstligisten verfügt, sondern „weil das Spiel schneller ist“. Vermutlich hat auch seine Abneigung

gegen Fußballnationaltrainer Marc Wilmots (Ex-Schalke 04) damit zu tun: Wilmots war für MR von 2003 bis 2005 Mit-

glied der zweiten Parlamentskammer Belgiens, des Senats.

Comic-Hausfassade, Brüssel

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Trotz der Sticheleien und Streitereien im Regierungslager, gelingt es der Regierung jedoch, bei großen

Fragen, z.B. in der Haushaltspolitik, schnell gemeinsam zu Ergebnissen zu kommen und Kurs zu halten.

Die Sparmaßnahmen führten zwar zu Streiks mit brennenden Autoreifen oder Straßenblockaden, doch

die Regierung ist davor nicht zurückgewichen. Bei der Aushebung einer islamistischen Terrorzelle zu

Jahresbeginn zeigte sich die Regierung entschlossen und entscheidungsstark.

Belohnt wird sie durch weiter steigende Zustimmung in der Bevölkerung. Anlässlich einer repräsenta-

tiven Umfrage zu Beginn des Jahres 20156 wurde deutlich, dass die Sozialisten weiter verlieren und

alle Regierungsparteien – mit Ausnahme der Christdemokraten – weiter zulegen. Der frankophone

liberale Premierminister Charles Michel zeichnet sich dadurch aus, nicht die Ruhe zu verlieren, mitun-

ter als Schiedsrichter zwischen den Koalitionspartnern zu fungieren - und fließend in beiden Amts-

sprachen zu kommunizieren. Dies hat ihm offenbar jede Menge Pluspunkte gebracht und er hat auf

der Beliebtheitsskala zugelegt, vor allem in Flandern. Erstaunlich ist auch, dass eine weitere Liberale

hohe Zustimmung in allen drei Landesteilen genießt: die liberale flämische Gesundheitsministerin

Maggie De Block (Open VLD). De Block ist ein politisches Schwergewicht. Sie erwarb sich großen Res-

pekt und Popularität von 2011 bis 2014 als föderale Staatssekretärin für Asylpolitik, Immigration und

soziale Integration in der Regierung Di Rupo. Eine in den Medien angezettelte Debatte über die Frage,

ob eine Frau ihres Körpergewichts überhaupt Verantwortung für das Gesundheitsressort tragen dürfe,

schadete ihr nicht, im Gegenteil. Und so verwundert es kaum, dass eine 2014 erschienene und viel

beachtete Biografie über Maggie De Block (Marijke Libert) den Titel trägt „Buitengewoon Maggie De

Block“ – die Außergewöhnliche.

So lautetet das Fazit nach einem halben Jahr: Liberale regieren in Belgien, erfolgreich und ohne Kom-

plexe.

Bildmaterial: FNF-Regionalbüro Brüssel

Thomas Philipp Reiter, politischer Analyst in Brüssel (u.a. für den Nachrichtensender N24)

Hans H. Stein, Regionalbüroleiter Europäischer und Transatlantischer Dialog, Brüssel

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