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Die Grundbeziehung von »Leben« und »Sehen« in der ersten Transzendentalen Logik Fichtes Alessandro Bertinetto (Padua – Madrid) 1. Einleitung: Logik.1 als Einführung in die WL und die Kritik der »gemei- nen« Logik Die erste, noch unveröffentlichte, Vorlesung über die Transzendentale Lo- gik 1 wurde von Fichte in Berlin während des SS 1812 gelesen. 1. Die Handschrift dieser Vorlesung, die Fichte vom 20. April bis zum 14. August 1812 hielt, findet sich in dem Fichte-Nachlaß (Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Sig- natur MS, IV, 9) und wurde von R. Lauth und von E. Fuchs für die Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Stuttgart, Frommann-Holzboog, 1962 etc.) transkri- biert, wo sie herausgegeben werden wird (Ich bedanke mich herzlich bei R. Lauth und E. Fuchs, die mir diese und andere Handschriften Fichtes zur Verfügung gestellt haben). Ich werde diesen Text als Logik-1 zitieren, um ihn von der zweiten fichteschen Darstellung der Transzendentalen Logik (Oktober – Dezember 1812) zu unterscheiden: wie bekannt, wurde diese zweite Logik, die ich Logik-2 nennen wird, schon von I. H. Fichte (J. G. Fichte’s Nachgelassene Werke, hrsg. von I. H. Fichte, 3 Bde., Bonn Adolph-Marcus, 1834-35, Bd. I; Neudruck Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, hrsg. von I. H. Fichte, Berlin, de Gruyter, 1971, Bd. IX [= SW]) herausgege- ben. (Die kritische Edition dieser Vorlesung ist schon erschienen: J. G. Fichte, Ueber das Ver- hältniß der Logik zur Philosophie oder Transscendentale Logik, hrsg. von R. Lauth u. a., Ham- burg, Meiner, 1982). Die erste Vorlesung über die Transzendentale Logik, die zwei Tage nach dem offiziellen Rücktritt Fichtes aus dem Rektorat der Universität Berlin begann, verlief parallel zu den Vorlesungen zur Rechtslehre 1812 (20. April bis zum 17. Juni; in SW, Bd. X) und zur Sit- tenlehre 1812 (29. Juni bis zum 13. August; SW, Bd. XI). Außer der Handschrift Fichtes haben wir drei Kollegnachschriften von Schülern Fichtes zur Verfügung. Die Verfasser dieser Hefte sind Moritz Itzig (dessen Namen aus einer Querelle mit Achim vorn Arnim in der Literaturge- schichte bekannt ist), Ludwig Cauer (von dem man auch einige Briefe besitzt, die für die Erkennt- nis einiger Aspekte der Lehrtätigkeit Fichtes an der Universität Berlin während den Jahren 1812- 13 wichtig sind) und ein anonymer Autor (dessen Heft Halle-Nachschrift genannt wird, weil es in der halleschen Bibliothek gefunden worden ist), von dem wir auch noch eine Nachschrift zur Sit- tenlehre 1812 zur Verfügung haben. Meine italienische Übersetzung von Logik-1 ist bei Guerini, Napoli, 2000 mit dem Titel: Logica trascendentale. Prima parte: L’essenza dell’empiria erschie-

Bertinetto - Die Grundbeziehung Von Leben Und Sehen in Der Ersten Transzendentalen Logik Fichtes - 2003

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Fichte

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  • Die Grundbeziehung von Leben und Sehen in derersten Transzendentalen Logik Fichtes

    Alessandro Bertinetto (Padua Madrid)

    1. Einleitung: Logik.1 als Einfhrung in die WL und die Kritik der gemei-nen Logik

    Die erste, noch unverffentlichte, Vorlesung ber die Transzendentale Lo-gik1 wurde von Fichte in Berlin whrend des SS 1812 gelesen.

    1. Die Handschrift dieser Vorlesung, die Fichte vom 20. April bis zum 14. August 1812hielt, findet sich in dem Fichte-Nachla (Staatsbibliothek zu Berlin Preuischer Kulturbesitz, Sig-natur MS, IV, 9) und wurde von R. Lauth und von E. Fuchs fr die Fichte-Gesamtausgabe derBayerischen Akademie der Wissenschaften (Stuttgart, Frommann-Holzboog, 1962 etc.) transkri-biert, wo sie herausgegeben werden wird (Ich bedanke mich herzlich bei R. Lauth und E. Fuchs,die mir diese und andere Handschriften Fichtes zur Verfgung gestellt haben). Ich werde diesenText als Logik-1 zitieren, um ihn von der zweiten fichteschen Darstellung der TranszendentalenLogik (Oktober Dezember 1812) zu unterscheiden: wie bekannt, wurde diese zweite Logik, dieich Logik-2 nennen wird, schon von I. H. Fichte (J. G. Fichtes Nachgelassene Werke, hrsg. vonI. H. Fichte, 3 Bde., Bonn Adolph-Marcus, 1834-35, Bd. I; Neudruck Johann Gottlieb Fichtessmmtliche Werke, hrsg. von I. H. Fichte, Berlin, de Gruyter, 1971, Bd. IX [= SW]) herausgege-ben. (Die kritische Edition dieser Vorlesung ist schon erschienen: J. G. Fichte, Ueber das Ver-hltni der Logik zur Philosophie oder Transscendentale Logik, hrsg. von R. Lauth u. a., Ham-burg, Meiner, 1982). Die erste Vorlesung ber die Transzendentale Logik, die zwei Tage nachdem offiziellen Rcktritt Fichtes aus dem Rektorat der Universitt Berlin begann, verlief parallelzu den Vorlesungen zur Rechtslehre 1812 (20. April bis zum 17. Juni; in SW, Bd. X) und zur Sit-tenlehre 1812 (29. Juni bis zum 13. August; SW, Bd. XI). Auer der Handschrift Fichtes habenwir drei Kollegnachschriften von Schlern Fichtes zur Verfgung. Die Verfasser dieser Heftesind Moritz Itzig (dessen Namen aus einer Querelle mit Achim vorn Arnim in der Literaturge-schichte bekannt ist), Ludwig Cauer (von dem man auch einige Briefe besitzt, die fr die Erkennt-nis einiger Aspekte der Lehrttigkeit Fichtes an der Universitt Berlin whrend den Jahren 1812-13 wichtig sind) und ein anonymer Autor (dessen Heft Halle-Nachschrift genannt wird, weil es inder halleschen Bibliothek gefunden worden ist), von dem wir auch noch eine Nachschrift zur Sit-tenlehre 1812 zur Verfgung haben. Meine italienische bersetzung von Logik-1 ist bei Guerini,Napoli, 2000 mit dem Titel: Logica trascendentale. Prima parte: Lessenza dellempiria erschie-

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    Wie Fichte schreibt, handelt es sich, trotz des Titels, nicht um eineLogik, sondern um eine Vorbereitung und Einfhrung in die WL (32r):Als solche zeigt sie, da und wie sich das empirische Bewutsein auf denphilosophischen Standpunkt erheben kann und mu, falls es sich begreifenmchte (Deswegen wird das Bewutsein als Reflexibilitt2 bestimmt).Logik-1 ist aber auch als Teil der WL zu betrachten, da sie eine Grundetap-pe des Vorganges der genetischen Selbsterhellung des Wissens ist: Sie un-tersucht die niedrigste Region des Wissens (und zwar die Empirie), umein neues Licht [...] ber die W.L. (48r) zu verbreiten.

    Die Aufgabe dieser Vorlesung besteht also darin, das empirischeWissen auf das absolute, transzendental-reflektierte Wissen zurckzufh-ren. Fichte schreibt: Unsre Absicht [ist], Begriff, u. Denken tiefer zuschildern, als die gewhnl. Logik es thut. Zu zeigen, da die Begriffeschlechthin apriorisch sind, nur ausdrken Sehweisen, keinesweges Be-schaffenheiten der Dinge. (48r). Und das bedeutet: Zu zeigen den noth-wendigen Inhalt dieser Begriffe: u[m] so die Empirie, inwiefern sie Sachedes Begriffs ist, eben a priori ab[zu]leiten. (48r) Anders gesagt: Es gehtum das Verstndnis, da das Grundgesetz des Wissens (die Selbstreflexion)auch in der Empirie gilt (wenigstens, der Mglichkeit nach). Falls man dieEmpirie verstehen mchte, soll das Prinzip: Das Sehen sieht sich selbst, alsGrund des empirischen Wissens gesetzt werden, weil nur auf dieser Grund-lage die Empirie apriorisch gefat werden kann: Nur so ist es mglich, dasempirische Bewutsein in das von der Philosophie erhellte Wissen einzuf-gen (und das bedeutet eben, in die Philosophie einzufhren).

    Jedes Wissen, meint also Fichte, falls es auf seine Mglichkeitsbe-dingungen zurckgefhrt wird, nimmt die Ichform an: bevor Wissen-von-etwas zu sein, ist das Wissen nmlich Wissen von sich als Wissen. DieUntrennbarkeit von Wissendem und Gewutem ist dem Wissen wesentlich:Jede Vorstellung, jeder Begriff, jedes Bewustsein ist nichts Anderes als einbestimmter Fall dieser selbstbezglichen Struktur. Der Philosoph, der desWesens des Wissens bewut ist, deduziert also die Faktizitt des empiri-schen Wissens3: Denn, indem er die organische Einheit von Begriff undAnschauung versteht, stellt er im Begriff sowohl das Urteil dar, wodurch

    nen. S. auch mein Buch Lessenza dellempiria. Saggio sulla prima Logica tarscendentale di J. G.Fichte, Genova, Loffredo, 2001.

    2. ber den Begriff Reflexibilitt im Sptwerk Fichtes vgl. meinen Aufsatz: Rifles-sione e riflessibilit: Il rapporto tra logica trascendentale e dottrina della scienza nella primaTranszendentale Logik di J. G. Fichte (aprile-agosto 1812), in Annuario filosofico 15(1999), Mailand, Mursia, 2000, ss. 249-294.

    3. Vgl. Logik-2, Meiner, s. 325 (SW, Bd. IX, s. 191).

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    der Begriff als Begriff vertanden wird, als auch den bewutlose[n] Syllo-gismus, der dem: ich stelle vor, zu Grunde liegt (23r).

    Diese transzendental-logische Begrndung des Wissens setzt sich derformalen Logik entgegen, die in der empirischen Faktizitt verankert bleibt:Die formale Logik ist nmlich eine blo faktische Anschauung des Wis-sens, die sein genetisches Bildungsgesetz nicht versteht. Da sie den Begriffvon der Anschauung trennt, ohne das Gesetz ihrer organischen Einheit zuerklren, bleibt die formale Logik bei dem epistemischen Niveau des empi-rischen Bewustseins, das die genetische bzw. epistemologische Begrndungbrauchen wrde (ich bentze hier die von Herrn Siemek in die Fichte-Forschung eingefhrte Unterscheidung4).

    Vom Standpunkt der transzendentalen Logik aus begeht die formaleLogik drei Irrthmer (vgl. 54v): den des Psychologismus, den der Abs-traktheit, und den der Faktizitt.

    1) Der Psychologismus: Die formale Logik setzt ein Ich als Urheberihrer epistemischen Leistungen voraus, das sie als ein bloes Faktum be-trachtet, (da sie auf ihren epistemischen Status nicht reflektiert). Aufgabeeiner philosophisch begrndeten Logik ist aber, erstens 1) das Ich als Bildoder als Reflex des Lebens zu verstehen, und zweitens 2) das Leben alsPrinzip des Selbst-Bewutseins zu fassen. Das transzendentale Denken istalso ein Denken, das nicht durch das Ich, sondern durch welches das Ichselbst ist (3v).

    2) Die Abstraktheit: Die formale Logik abstrahiert nicht nur aus demwechselseitigen Zusammenhang von Begriff, Urteil und Syllogismus.Denn, Ohne ihre Abstraktion als solche zu reflektieren, abstrahiert die for-male Logik auch von der ursprnglichen organischen Einheit von Anschau-ung und Begriff, die die wesentliche Struktur des wirklichen Bewutseinsist (vgl.12r-12v). Dagegen betrachtet die transzendentale Logik das Be-wutsein als organische Einheit von Anschauung und Begriff, als Gliedereines einzigen Sehens, das sie als Reflex des Lebens genetisch versteht.

    3) Die Faktizitt: Die gemeine Logik beschrnkt sich darauf, dasDenken als ein fertig-gemachtes Sein zu veranschaulichen, d.h.: Sie denktdas Denken nicht. Aufgabe einer philosophisch-reflektierten Logik ist abergerade das Denken in Beziehung auf seine organische Einheit mit der An-schauung genetisch zu denken.

    Diese organische Einheit, die Fichte Bewutsein, bzw. Sehennennt, mu dann genetisch aus ihrem Verhltnis zum Leben verstanden

    4. Vgl. M. J. Siemek, Fichtes Wissenschaftslehre und die kantische Transzendental-philosophie, in K. Hammacher (Hrsg.), Der transzendentale Gedanke. Die gegenwrtige Dar-stellung der Philosophie Fichte, Hamburg, Meiner, 1981, ss. 524-531. Ders., Die Idee desTranszendentalismus bei Fichte und Kant, Hamburg, Meiner, 1984.

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    werden. Das Verstndnis dieses Verhltnisses ermglicht, wenigstens einenTeil des Lichtes zu sehen, das diese Vorlesung (wie Fichte sagt: vgl. 48r)auf die WL verbreitet.

    2. Leben und Sehen

    Das Verhltnis von Leben und Sehen ist nicht nur die tragende Struktur die-ser ersten Vorlesung ber die transzendentalen Logik, sondern auch die be-griffliche Basis, auf der Fichte die Kritiken an der formalen Logik entwi-ckelt und die transzendentale Logik bearbeitet. Es ist sofort zu bemerken,da in Logik.1 Fichte nicht nur von Leben berhaupt sondern von bil-dendem Leben spricht: Das bildende, bzw. schematisierende Leben ist das,was erscheint: das, was als die bildhafte uerung des gttlichen, absolu-ten bzw. realen Lebens zu verstehen ist. Als Erscheinung des Absolutenist es das Leben, das eine wirkliche Bilderwelt gestaltet, indem es das abso-lute Leben uert bzw. indem sich das absolute Leben uert. Kurz: Es istdas reale, produktive Prinzip der (empirischen) Wirklichkeit. Die durch dasBilden des Lebens bewirkte Gestaltung der Wirklichkeit geschieht alsonicht durch das Ich, sondern sozusagen hinter dem Ich, da das Ich nichtSubjekt, sondern blo Reflex dieses Prozesses ist.

    Der Reflex, den das Leben in eins mit seiner realen uerung in wirk-lichen Gestaltungen der Bilderwelt produziert, wird von Fichte Sehengenannt. Damit ist sowohl das Bewutsein als auch das Wissen gemeint.Der Satz Das Sehen ist Reflex des Lebens (vgl. 28v, 32r, 33r, 35v, 45v,60r, 62v, 83r, 87v) bedeutet also, da das Leben als Prinzip, Ursprung undQuelle des Bewutseins betrachtet werden mu5. Das Leben ist nmlichsozusagen eine auf die Mittelbarkeit hin geffnete Unmittelbarkeit. Indemes lebt, erscheint das Leben, und in seinem Erscheinen stellt das Leben Bil-der dar, von denen es sozusagen fixiert wird, (bzw. in denen es sich fixiert).Denn das Leben lebt nur, indem es sich gestaltet: Das geschieht im Se-hen, welches dasjenige Verfahren ist, mit dem das Leben sich erscheint.Als solches ist das Sehen gleichzeitig Bilden eines Subjekts und Bilden ei-

    5. Das bedeutet aber nicht, da das Bewutsein als ein Epiphnomen des Lebens undda das Leben biologisch zu verstehen seien. Diese Auslegung wrde den transzendentalenStandpunkt des Sptphilosophie Fichtes gar und ganz verfehlen und denselben Irrtum der Na-turphilosophie schellingscher Art begehen. Das Bewutsein ist nach Fichte aber nicht Epi-phnomen des Lebens, sondern einfach Phnomen des Lebens, d. h. dessen Erscheinung, Bildoder Reflex: Es ist also das Medium, damit das Leben erscheinen kann. Und falls das Lebenbiologisch interpretiert wrde, wrde es eben nicht als Leben, sondern, wie Fichte sagt, blo alstotes Sein (mi)verstanden.

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    nes Objekts6: Das Sehen, (falls es transzendental durchreflektiert wird), istnmlich nicht die Entgegensetzung eines Objekts und eines Subjekts, son-dern die gleichursprngliche Gestaltung von Sehendem und Gesehenem.Das Subjekt wird als solches durch dasjenige Sehen begrndet bzw. gebil-det, das nicht in der Subjekt-Objekt-Spaltung befangen bleibt. Diese Befan-genheit charakterisiert vielmehr das empirische Sehen im Gegensatz zum(ursprnglichen, transzendental-reflektierten) Sehen, in dem Subjekt undObjekt auf ein Bilden zurckgefhrt werden, das weder subjektiv, noch ob-jektiv, sondern die gemeinsame Wurzel von Subjektivitt und Objektivittist.

    Das Problem ist allerdings, wie das Leben zu begreifen ist. Fichte istsich darber im Klaren:

    Das Leben [...] [mu] verbaliter genommen [werden], [und] nicht etwadurch Verwandlung ins Substantivum schon tod geschlagen, u. zum bloformalen u. leeren Begriffe gemacht [werden] (das thun die, die es nichteinsehen) [...].7

    Um aber das Leben verbaliter, d. h. als vivere und nicht als vita zu nehmen,mu es anschaulich gedacht werden, wie Fichte in einer Anmerkungschreibt (28v). Was meint Fichte aber damit? M. E. taucht hier ein Grund-begriff der Jena-Zeit, und zwar die intellektuelle Anschauung8, auf; diesewird aber jetzt nicht mehr als Selbstbestimmung und Selbstsetzung, sondernals Reflex bestimmt: Das Sich-Setzen des Ich ist nmlich als Bild eines Bil-dens zu verstehen, dessen Urheber es nicht, sondern dessen Resultat9 es ist.

    Das Leben anschaulich zu denken bedeutet also folgendes: Um dasLeben verbaliter zu verstehen, soll es als diejenige Unmittelbarkeit begrif-fen werden, die die wissenskonstitutive Beziehung von Subjekt und Objektermglicht. Indem es sich gestaltet, erscheint das Leben als verschiedenvom Produkt seiner Gestaltung, (d.h. von seinem Reflex). Um das Lebenals Prinzip der Gestaltung, die es sich selbst gibt, zu begreifen undgleichzeitig im Auge zu behalten, da die Gestaltung das Leben nicht vollwidergibt das wre nmlich der Tod des Lebens , mu man eine Sub-traktion oder eine Abziehung vollziehen. Um das Leben im Reflex zufassen, mu man nmlich den Reflex vom Leben unterscheiden (bzw. ab-

    6. Vgl. z. B. WL-1812, SW, Bd. X, s. 399.7. Logik-1, 28v.8. Der Ausdruck intellektuelle Anschauung tritt aber als solcher nur in Logik-2, nicht

    in Logik-1, auf.9. Cfr. Logik-2, Meiner, s. 103 (SW, Bd. IX, s. 217): Das Ich setzt sich selbst, ist

    nicht wahr: wahr ist: es ist Bild eines sich setzens.

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    ziehen), damit das irrelative Prinzip der Beziehung in der Beziehung alsirrelatives Prinzip der Beziehung selber erkannt werden kann.

    Denn, wenn der Reflex (das Sehen) nur durch eine bloe Wiederho-lung das Leben sieht, (d.h. ohne sein Verhltnis zum aktuellen Leben anzu-erkennen), verwandelt er das Leben in ein bestehendes Sein und sieht esgerade nicht als Ursprung der Gestaltungen, die das bildende Leben selbstgebildet hat. Das Leben wird dann entweder als ein vom Sehen produziertesfixes Sein oder als ein Sein gesehen, dessen direktes Produkt der Reflex zusein glaubt. Das Sehen, (als Reflex des Lebens), ist aber schon immer durchsein Verhltnis zum Leben bestimmt: Das Sehen kann aber dieses ursprng-liches Verhltnis als solches nur fassen, falls es sich ber sich selbst erhebtund auf sich reflektiert.

    Diese Selbstreflexion wird nach Fichte weder von der formalen Lo-gik, noch von der Naturphilosophie (im Sinne Schellings) vollzogen: Dennder dogmatische Blick der Naturphilosophie ist nach Fichte die bloe fakti-sche Wiederholung des empirischen Sehens, die sich auerdem anmat,wissenschaftliche Begrndung der Empirie zu sein. In der Tat, statt das Se-hen als Reflex des Lebens zu erhellen, fhrt diese Einstellung zur Konzen-tration auf ein fixiertes Bild des Lebens, das innerhalb einer Subjekt-Objekt-Beziehung wahrgenommen wird und das deswegen das Leben alsLeben nicht sehen kann. Die faktische Anschauung der Naturphilosophiefat das Leben als seiendes Sein und verliert das Wesentliche: Die Einsicht,da das Leben selbst Akteur des Sehens ist, indem es lebt. Nicht eine fakti-sche Anschauung, sondern ein anschauliches Denken erffnet also dieMglichkeit, den wesentlichen Zusammenhang von Leben und Sehen auf-zuklren. Und diese Mglichkeit verwirklicht sich, falls in der Sehe (alsoin dem Sehevermgen) ein Leben bleibt, nachdem [...] die Sehe von al-len Exemplaren [abgezogen worden ist] (30r). Das Sehen mu also sichselbst abziehen, um zu erfassen, wodurch es erzeugt wird und als Sehengestaltet bzw. gebildet wird. Darum mu das Sehen selbst zum Sehen kom-men und sich sehen, weil es eben erkennen soll, was abgezogen werdenmu.

    3. Die Lehre des Reflexes als begrifflicher Kern der Transzendentalphilo-sophie

    Der transzendentale Standpunkt ist also derjenige, dank dessen das Sehennicht nur die Bilder (bzw. die Vorstellungen) als bestimmte Produkte desbildenden Lebens erkennt, sondern auch sich selbst als Reflex des Lebens

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    versteht. Man mu also einen Gesichtspunkt erreichen, in dem man einse-hen kann, da das Sehen = Reflex unmittelbaren Lebens, Lebens im Le-bensakte ist: Diese Einsicht, schreibt Fichte, giebt den eigentl. transscen-dentalen Idealismus. (28v)

    Transzendentaler Idealismus ist also gerade die Reflexion des Wis-sens (bzw. des Sehens) auf sich selbst als Reflex des Lebens, in dem dasabsolute Sein, das nach der Selbstreflexion des Reflexes als Leben gesehenwird, sich absetzt.

    Um aber den Reflex als solchen zu fassen, und dies ist die transzen-dentale Mglichkeitsbedingung der Darstellung des Lebens als Lebens,mu das Sehen die Ich-form ausdrcklich annehmen (vgl. 82r): Impli-ziert das Leben durch sein lebendiges Erscheinen ein Sehen, dann mu dasSehen sich seinerseits als solches erkennen, damit das Leben als Leben undnicht in seinem toten Reflex erscheint. So kann das Leben durch den Re-flex sich sehen. Damit das Leben durch das Sehen hindurch erscheint, mudas Sehen also sich selbst als solches sehen: Die Ich-Form wird vom Lebenund im Leben als Reflex und Produkt seines Sichgestaltens gebildet.

    Indem sich die Reflexion des Philosophen ber das Niveau des empi-rischen Bewutseins erhebt, stellt sie das Sehen, das auf der empirischenEbene im Objekt verschwindet und dem Sehen-erzeugenden Bewutseinverborgen bleibt, als sich reflektirend, u. reproducirend (12r pt) dar. Sozeigt sie, da der Reflex eigentlich zweifach ist: Der unmittelbare Reflexfat sein vom Leben Prinzipiertwerden nicht und objektiviert und ttetdemnach das Leben; der zweite Reflex der die Selbstreflexion des erstenReflexes ist erkennt das Leben und sich selbst als lebendigen Reflex desLebens, das sich dadurch als die wahre Realitt erscheint.

    Das erste einfache Sehen (die Anschauung) ist der Reflex des Lebens,der kein Wissen davon hat, ein solcher Reflex zu sein. Da die Anschauungsich nicht als Reflex erkennt, identifiziert sie das Leben als totes Seinund nicht als das Prinzip des Sehens des Sehens eben, damit man das Le-ben sieht, d. h. als lebendiges Bewutseinsprinzip.

    Das Sehen des Sehens hingegen, als Reflex2 (i.e. als Reflex des Re-flexes) sieht im Reflex die organische Einheit von Anschauung und Begriff:Es ist also das Denken, das die Bildlichkeit des Reflexes1 offenbart und dasLeben als dessen Prinzip versteht (vgl. 84v-85r). Mit andern Worten: DasDenken ist die genetische Form der Anschauung, die das Objekt des Sehensals Resultat der (dem empirischen Bewutsein unbewuten) Anschauungs-projektion zu Bewutsein bringt. Das Denken, das also nichts der Anschau-ung hinzusetzt, sondern es [...] ihr nur eine andere Form [gibt]10, sieht

    10. Tat. d. Bew. (1810-1811), SW, Bd. II, s. 563.

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    das Sehen und gewissermaen im Spiegel des Sehens (im Reflex) das Le-ben. Dieses Leben blieb dem ersten, dem anschauliche Denken verborgen,indem es das Leben in ein vergegenstndlichtes Sein verwandelt. Diedunkle Vorstellung, die die Anschauung erzeugt, wird also klar, sobalddie Anschauung als Anschauung von der Reflexion des Denkens erkanntund dargestellt wird.

    Im ersten Reflex (in der Anschauung) erscheint das Leben als tot; imzweiten erscheint das Leben als solches, nmlich als lebendig. Der erste an-schauliche Reflex wird mittelbar durch den zweiten gesehen, und damitfhrt der zweite Reflex die Mannigfaltigkeit der Bilder des Lebens, die dieAnschauung erzeugt, zurck zur Einheit des Begriffs des Bildes des Le-bens, d. h. zur Einheit der Einsicht des Lebens als vivere. Das Verhltnisbeider Reflexe erzeugt also sowohl die Ichform als auch das Grund-schema des erscheinenden Seins (vgl. 84v).

    4. Ich und Sein als Sichtbarkeitsbedingungen des Lebens

    Unsere letzte Aufgabe besteht darin, zu verstehen, wie die bis hierdiskutierte Grundbeziehung von Sehen und Leben das Ich, das Sein und dasVerhltnis von Ich und Sein erklrt. Der Reflex des Reflexes, das Denken,das das Leben als Leben darstellt und erkennt, ist, nach Fichte, die Einheit,die den Flu [des Lebens] begleitet (84r). Diese Einheit, von Fichte alsAuge (82r-v) bezeichnet, ist die Einheit der Apperzeption, die das Lebenstiftet, um sich zu erscheinen: Die organische Synthesis von Anschauungund Begriff (das Bewutsein) existiert nach Fichte nicht nur, insofern sievon dem Ich denke der transzendentalen Apperzeption begleitet wird; imGegenteil, sie ist selbst schon das Ich denke in einer Bestimmung11. DieEinheit der beiden Reflexe ist also organisch, weil jedes der Glieder derSynthesis in Beziehung auf das andere sich setzt: Der Begriff, durch dendas blo anschauliche Denken zum Medium der Erscheinung des Lebenserklrt wird, begreift seinerseits sich selbst, indem er sich als Anschauungsetzt: denn er ist keine Objektanschauung, (d. h. bloes empirisches Sehen),sondern die Anschauung Ich. (87v)

    Die Anschauung Ich ist daher die unmittelbare Wechselwirkungvon Anschauung und Begriff, das Durch beider Reflexe. Die organischeEinheit von Anschauung und Begriff, die Anschauung-Ich ist also dieje-nige intellektuelle Anschauung, die Fichte unter dem Namen anschauli-chen Denkens in Anspruch nimmt, um das Leben in den Bestimmungen zu

    11. Vgl. Logik-2, Meiner, ss. 68-69 (SW, Bd. IX, ss. 178-179).

  • Die Grundbeziehung von Leben und Sehen 211

    fassen, in denen es sich whrend seines Erscheinens absetzt. Die intellektu-elle Anschauung des Ich, d.h. das Medium, um das Leben als Leben zu fas-sen, wird also als das Medium des Sicherfassens des Lebens verstanden, diedas Leben setzt und braucht, um zu erscheinen (vgl. 83r).

    Die organische Beziehung der beiden Reflexe entwirft auerdem dasobjektive Korrelat des Ich, d. h. das empirische (krperliche) Sein12:Denn auf der Ebene des empirischen Wissens des naiven Bewutseins(bzw. Sehens) ist das Sein der Grundreflex (84v) des Lebens, welchesdas projizierte Resultat des anschaulichen empirischen Denkens ist. DiesesDenken verbirgt aber das Leben in demselben Moment, in dem es das Le-ben erblickt; denn es stellt das Leben nur durch seinen blo uerlichen Re-flex (bzw. durch sein Bild) dar. Auf solche Weise hat Fichte den Stand-punkt des empirischen, naiven Bewutsein genetisch erklrt.

    Das reale Leben wird hingegen in Beziehung auf das Grundschemades Seins und im Gegensatz zu diesem durch ein anderes Schema, dasjenigedes Werdens, erblickt. Denn das Schema des festen Seins ist bedingtdurch das komplementre Schema des Lebens als vivere. Das empirischeSein wird also, genau wie das Ich, dessen Korrelat es ist, als Sichtbarkeits-bedingung des Lebens verstanden (82r).

    Die Erfahrung des Lebens geschieht also unmittelbar in beiden sche-matischen Formen, als Sein und als Werden. Sein und Werden sind diezwei Sphren des wirkl. Sehens (86r), d. h. das Ergebnis zweier Mg-lichkeiten, das Leben zu sehen. Durch die Darstellung der Mglichkeitsbe-dingungen der Sicherscheinung des Lebens vollzieht sich sowohl die De-duktion der selbstanschauenden Ichform als auch die Deduktion des Seinsund des Werdens als durch das Ich projizierte Grundschemen und Bilderdes Lebens. Idealismus und Realismus werden insofern als einseitige Posi-tionen zurckgewiesen, die entweder das Ich aus dem Sein oder das Seinaus dem Ich ableiten, ohne die wesentliche Beziehung zwischen Ich undSein zu verstehen, die als die wirkliche Bedingung des Sichdarstellens desRealen (bzw. des Absoluten) zu betrachten ist13 .

    12. Das durch den Reflex des Reflexes dargestellte Leben ist daher die Grundquellealles Seyns (Logik-1, 84v) (selbstverstndlich nicht des absoluten lebendigen Seins, von demdas empirische Sein eben Bild und Reflex ist): Dasjenige des Seins ist also das GrundSchema,auf welches alle andern aufgetragen werden (Logik-1, 84v).

    13. Vgl. Tat. d. Bew. (1813), SW, Bd. IX, s. 535.

  • Alessandro Bertinetto212

    5. Abschlu: Die Philosophie als Nachkonstruktion

    Am Ende dieser Diskussion mchte ich noch auf ein Problem hinweisen,das den epistemologischen Status der philosophischen Reflexion berhauptbetrifft. Der Irrtum, den die Philosophie vermeiden mu, um transzendentalbzw. epistemologisch begrndet zu sein, besteht darin, das transzendental-genetische Sehen in ein empirisch-faktisches Sehen zurckzuverwandeln.Deswegen mu die Einsicht der Beziehung zwischen Leben und Sehenals die nachtrgliche Konstruktion dieser Beziehung von der eigentlichenund ursprnglichen Beziehung selbst unterschieden und als Konstrukt vonihr abstrahiert werden, denn nur so kann das ursprngliche Entspringendieser Einsicht aus dem Erscheinen des Lebens erkannt werden. Die nach-trgliche Konstruktion der philosophischen Reflexion mu als Nachkons-truktion kenntlich gemacht werden und als solche vollzogen werden, damitsie nicht als bloe philosophische Konstruktion erscheint, sondern eben alsNachkonstruktion, d. h. als Reflex einer nicht-subjektiven, und zwar einernicht vom Ich produzierten Einsicht hier ist vom Ich des Philosophen dieRede enthllt wird. Wenn die Nachkonstruktion als einfache philosophi-sche Konstruktion erscheint, so ist das auf die noch unbegriffene Duplizittvon Subjekt und Objekt zurckzufhren, die den Psychologismus der for-malen Logik charakterisiert. Das Ich ist aber fr die transzendentaleReflexion nicht Produzent, sondern im Gegenteil selbst Produkt: Es istnicht nur Bedingung des Erscheinens der Erscheinungen, sondern auchselbst Erscheinung. Das bedeutet, da die vermeintliche Selbstsetzung desIch in der Tat blo das Bild einer Selbstsetzung ist (vgl. 4r).

    Demzufolge, wie Fichte schreibt, ist es auch nicht [...] ein Ich [...]der die WL. denkt (4r). Genauso wie das von der Philosophie als Reflexdes Lebens-erscheinens dargestellte Ich, soll auch die Darstellung derPhilosophie als Reflex der in ihr sich darstellenden Erscheinung des Abso-luten (bzw. des Lebens) gedacht werden. Die Anerkennung der Nachkons-truiertheit der Philosophie unterscheidet die transzendentale Philosophievon der formalen Logik14 und von der Naturphilosophie, deren Standpunktbeim Reflex stehenbleibt und deshalb kein Bewutsein davon hat, Reflexzu sein. Sie, die von den Naturphilosophen und formalen Logikern vertrete-

    14. Vgl. Logik-1, 4r: Mchten wir denn aber lugnen, da auch unsre ?. Nachconstruk-tion sey, Bild.? Wie knnte sie: sie trgt in ihrem Namen W. L. das Bekenntni an der Stirne.Nur ist sie 1.) nicht, wie die Logik [...], Nachconstruktion einer Nachconstruktion. aus dritterHand, sondern aus zweiter: nicht theilweise, u. gestkelt, sondern im ganzen, u. aus einem St-ke. 2) worauf es ankomt: eine Nachconstruktion des Wissens im ganzen durch sich selbst, nichtetwa durch ein occultes Ich.. Dies ist auch hier nur der Reflex. Wie Erkennen Form des Wis-sens, wenn es nicht selbst sich erkennte u. sich darstellte.

  • Die Grundbeziehung von Leben und Sehen 213

    nen theoretischen Positionen, sind eben Schein (nicht Er-scheinung: vgl.4v) und darum wissen sie nicht, da

    das Denken, welches erscheint als durch das Ich gedacht [...] nur der Re-flex des wahren ursprngl. Denkens [ist], das der Philosoph, durchschau-end, sieht; durch welches das Seyn, u. alle Dinge, u. das Ich selbst ist, weitentfernt, da dieses durch dasselbe wre.15

    Diese von der Transzendentalphilosophie vollzogene Selbstreflexion wirdalso in die Analyse des Verhltnisses von Leben und Sehen eingeschlossen,weil sonst durch die Analyse dieses Verhltnisses gerade das verloren ge-hen wrde, was man durch sie enthllen mchte, nmlich die Lebendigkeitdes Lebens. Die Philosophie soll sich als Darstellung dessen anerkennen,was prinzipiell jenseits der Philosophie bleibt und was ihr zu Grunde liegt,weil es die Philosophie als begriffliche Reflexion begrndet. Anders gesagt:Das Sehen,wodurch das Leben als Prinzip des selben Sehens anerkanntwird, soll selbst als Prinzipiat des Lebens, d. h. als vom Leben erzeugt,sich sehen. Die Selbsterkenntnis des Sehens als vom Leben entsprungen istalso die Selbsterkennung des Lebens selbst, in der schematischen Form desWissens, als Wissens- oder als Bewutseinsprinzip. Kurz: Das Leben istPrinzip der Einsicht (der Philosophie), durch die das Leben als Prinzip desSehens gesehen wird. Dies klingt paradox, aber es ist eigentlich nur das(transzendental)logisch konsequente Resultat der Selbstdurchdringung derphilosophischen Reflexion.

    15. Logik-1, 3v pt.