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David P. Billington Der Turm unD Die Brücke Die neue Kunst des Ingenieurbaus

Billington, David P.: Der Turm und die Brücke - Die neue Kunst des Ingenieurbaus

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Billington, David P. Der Turm und die Brücke Die neue Kunst des Ingenieurbaus In den USA längst ein Klassiker, erscheint "The Tower and the Bridge" endlich in deutscher Übersetzung. Billington leitet die Prinzipien des Ingenieurbaus als eigenständige Kunstform her und liefert neue Argumente für die ästhetische Diskussion im Bereich der Ingenieurbauwerke.

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Page 1: Billington, David P.: Der Turm und die Brücke - Die neue Kunst des Ingenieurbaus

Billington begründet in diesem Buch die neue, eigenständige Kunstform des Ingenieurbaus (Structural Art), die er als gleichberechtigt neben der Architek-tur stehend proklamiert. Nicht zufällig nennt der Titel die klassischen Domä-nen des Bauingenieurs, wobei Billington konkret die epochalen Bauwerke Eiffelturm und Brooklyn Bridge im Sinn hat.

In leicht lesbarem Stil und auf unterhaltsame Weise stellt Billington die Ideale, Prinzipien und Methoden der Kunst des Ingenieurbaus dar. Er verdeut-licht ihre historische Entwicklung anhand der Bauwerke herausragender In-genieure wie Telford, Maillart, Freyssinet und Menn.

Durch die Erläuterung der Ideale der Structural Art gibt Billington dem Leser gut begründete Argumente für eine ästhetische Diskussion im Bereich der Ingenieurbauwerke an die Hand. So hat dieses zeitlose Buch das Poten-zial, der Debatte um Baukultur und insbesondere um gestalterische Aspekte im Ingenieurbau im deutschsprachigen Raum neue Impulse zu verleihen.

David P. Billington

www.ernst-und-sohn.de9 7 8 3 4 3 3 0 3 0 7 7 6

ISBN 978-3-433-03077-6

»Dieses Buch ist ›Pflichtlektüre‹ und Hochgenuss für den ›Ingenieurbau-künstler‹, bei dessen Bauten der Zusammenhang von Form und Kraftfluss ablesbar ist und die sich durch die Ideale Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Eleganz auszeichnen.«

Jörg Schlaich

Prof. em. David P. Billington lehrte über 50 Jahre lang an der Fakultät für Bauingenieur-

wesen der Universität Princeton, New Jersey, USA.

D. P. B

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Inhaltsverzeichnis

Geleitwort zur deutschen Ausgabe IXVorwort XI

1 Eine neue Tradition: Kunst im Ingenieurbau 1Eine neue KunstformDie Ideale der Structural ArtDie Geschichte der Structural ArtIngenieurbau und WissenschaftBauwerke und MaschinenIngenieurbau und ArchitekturDie drei Dimensionen von BauwerkenStructural Art und die Gesellschaft

Teil 1Das Zeitalter des Eisens

2 Thomas Telford und die neue Kunstform 23Die zweite EisenzeitThomas Telford und die Kunst der BrückeTelford und die Grenzen des konstruktiv MachbarenKunst und PolitikTelfords ÄsthetikWissenschaft und Ingenieurbau

3 Brunel, Stephenson und die Eisenbahn 39Das Problem der FormRobert StephensonIsambard Kingdom BrunelDie Spannung zwischen Structural Art und WirtschaftBrunel und Stephenson

4 Gustave Eiffel und der Sichelbogen 53Ein Turm und eine AusstellungIngenieurbauwerk und ArchitekturGustave EiffelDer Crystal Palace von 1851 und die Pariser Weltausstellung 1867Große Weiten, große Höhen

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Inhaltsverzeichnis

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Die erste Sichelbogenbrücke: DouroDie zweite Sichelbogenbrücke: Garabit

5 John Roebling und die Hängebrücke 64Brunel und RoeblingImmigrant und IngenieurRoebling und die Grenzen des konstruktiv MachbarenDie Ohio River BridgeRoeblings Ideale

6 Die Brücke und der Turm 75Höhepunkt und AufklärungDie Funktion folgt der FormDie KostenunsicherheitWirtschaftlichkeit und KreativitätStructural Art und der KünstlerVorläufige Gedanken zu Structural Art

Teil 2Das neue Zeitalter von Stahl und Beton

7 Jenney und Root: Die erste Chicagoer Schule 89BürotürmeGotik als NostalgieWolkenkratzer und KathedralenDie erste Chicagoer SchuleWilliam Le Baron JenneyJohn Wellborn RootRoot und Sullivan

8 Große Stahlbrücken von Eads bis Ammann 101Wolkenkratzer und BrückenChicago gegen St. Louis: Die Eads BridgeDie Brücke über den Firth of ForthDer Übergang: Gustav LindenthalDie Hell Gate BridgeModerne Formen aus Stahl: Othmar AmmannDie George Washington BridgeWissenschaft und KonstruktionHell Gate und BayonneZwei Visionen: Ammann und Steinman

9 Robert Maillart und neue Formen in Stahlbeton 135Der Werkstoff des 20. JahrhundertsDeutsche Wissenschaft, französische Industrie

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Inhaltsverzeichnis

VII

Die Schweizer SyntheseRobert MaillartNeue Formen für BrückenNeue Formen für Gebäude

10 Dachgewölbe und nationale Stile 157Die Vorstellungskraft des Ingenieurs und lokale TraditionenDischinger, Finsterwalder und die deutsche SchuleNervi und die italienische TraditionDie spanische Schule: Gaudí, Torroja und CandelaCandela und die Tugend der Schlankheit

11 Eugène Freyssinets Leitgedanke 179Ein neues MaterialEugène FreyssinetDie Anfänge der Vorspannung in der freien NaturLe Veurdre und die Ästhetik von BögenDünne Gewölbeschalen: Orly und BagneuxFreyssinet und Maillart

12 Arbeit und Spiel: Neue Betongewölbe 196Formen und FormelnCandela, Maillart und die Aversion gegen die HässlichkeitDie neue schweizerische SyntheseHeinz Islers SchalenIsler und die wissenschaftliche Theorie

13 Neue Türme, neue Brücken 214Wettbewerb und SpielFazlur Khan und die Zweite Chicagoer SchuleDer Ausdruck des Tragwerks in hohen GebäudenTürme aus BetonTürme aus StahlKhan und TeamarbeitDer explosionsartige Ausbau der FernstraßenChristian MennVom Felsenauviadukt zur GanterbrückeDie Konstruktion der GanterbrückeDemokratie und Konstruktion

Epilog: Ingenieurbau als Kunst 243Konstruieren und KunstKonstrukteure und Künstler

Anmerkungen 251Abbildungsverzeichnis 275Stichwortverzeichnis 279

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23Der Turm und die Brücke. 1. Auflage. David P. Billington.© 2014 Ernst & Sohn GmbH & Co. KG. Published 2014 by Ernst & Sohn GmbH & Co. KG

Kapitel 2

Thomas Telford und die neue Kunstform

Wir sahen in Kapitel 1, dass es zwei wesentliche Phasen der Structural Art gibt.Die erste folgte direkt auf die industrielle Revolution. Sie begann im späten18. Jahrhundert und verbreitete sich im Laufe der nächsten 100 Jahre über dieganze Welt. Die zweite Phase begann im späten 19. Jahrhundert und dauert bisheute an. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden liegt in den verwendetenMaterialien und den errichteten Bauwerken. In der ersten Phase ist das MaterialEisen und die Konstruktionen sind meist optisch komplex. In der zweiten kom-men Stahl und Beton zum Einsatz und die Konstruktionen sind in der Regel op-tisch einfacher.

Der Eiffelturm und die Brooklyn Bridge sind Bauwerke, die zwischen bei-den Zeiträumen stehen. Sie waren keine technischen Durchbrüche, sondern – alsdie letzten Konstruktionen der beiden berühmtesten Brückenbauer des 19. Jahr-hunderts – Höhepunkte und Verheißungen. Ihr Hauptzweck war in beiden Fällen,zuvor nie gesehene Dimensionen mit Eisen zu überspannen, dem Material der in-dustriellen Revolution. Eiffels und Roeblings Werke prägen die moderne Welt,weil sie neue Formen in Eisen, in neuen Dimensionen und an bleibenden Stand-orten erschufen. Obwohl es natürlich auch wichtig – wenngleich offensichtlich –ist, dass solche Strukturen nicht vor der industriellen Revolution entstehen konn-ten, weil zuvor noch kein Industrieeisen existierte. Der Turm und die Brücke wa-ren daher in den 1880er Jahren nicht nur Vorboten der Zukunft, sie waren auchGipfelpunkte der Vergangenheit. Der Eiffelturm war aus Eisen, nicht aus Stahl,sodass er in dieser Hinsicht in die erste Phase gehört, aber seine Form gab dieRichtung für neue Formen in Stahl vor. Umgekehrt war Roeblings Brücke dieerste große Brücke, in der Stahl für die Tragseile verwendet wurde, aber ihresenkrechten Pylone und ihre Schrägseile spiegeln die komplexeren Formen derVergangenheit wider. Beide Bauwerke werden in den Kapiteln 4 bis 6 ausführ-licher diskutiert, vor allem im Hinblick darauf, inwiefern sie aus den hier be-trachteten Entwicklungen folgen, inwieweit sie auf die im zweiten Teil diesesBuches beschriebenen Entwicklungen hinführen und inwiefern sie die Ideale derStructural Art versinnbildlichen, denen im Laufe des gesamten Buches unserHauptaugenmerk gilt.

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Die zweite Eisenzeit

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Die zweite Eisenzeit

Bei der Betrachtung der ersten Phase ist die entscheidende Frage, die wir stellenmüssen, was genau während der industriellen Revolution passierte und die neueKunstform bei Bauwerken möglich machte. Ein zentraler Punkt der industriellenRevolution ist ein Material – Eisen. Die neuen Herstellungsverfahren für diesesalte Material waren wesentliche Voraussetzung für die berühmteste technischenEntwicklung des 18. Jahrhunderts in Großbritannien: die Dampfmaschine. Ohnediese neuen Verfahren und das dadurch billige und reichlich verfügbare Eisenwären die Veränderungen in der Industrie nicht so umfassend geworden, dass sieden Begriff „Revolution“ verdient hätten.1 Diese neuen Verfahren ersetzten unteranderem die Holzkohle im Schmelzprozess durch Koks. Dank des Energiekon-zentrats Kohle anstelle des weitaus schwächeren Energiespeichers Holz konntendie Gießereien der West Midlands von nun an Eisen für Maschinen und Kon-struktionen liefern, die zuvor aus Holz bestanden hatten. Die Kohle verdrängtealso bei der Eisenherstellung das Holz, während das Eisen in den Endproduktenebenfalls das Holz ersetzte. In beiden Fällen verdrängte also das dichtere und fes-tere Material die weichere organische Substanz, die die Grundlage der Technikfrüherer Kulturen gewesen war. Anders gesagt ersetzte ein nicht erneuerbarerRohstoff einen nachwachsenden – das ist die entscheidende ökologische Tatsa-che der industriellen Revolution. Die Gesellschaft wandte sich dem Abbau ihresgeologischen Kapitals zu und somit von einer noch extensiveren Nutzung derForstwirtschaft ab. Gleichzeitig erhöhte sich die verfügbare Leistung enorm undeine zentralisierte Produktion wurde immer wirtschaftlicher. Auf diese Weisewurde die Entwicklung der Technik und der Gesellschaft als Ganzes ab dem spä-ten 18. Jahrhundert durch die Entwicklung des Industrieeisens geleitet.

Das dauerhafteste Symbol des Anstiegs der Eisenproduktion im 18. Jahr-hunderts ist die Iron Bridge (Abb. 2.1), die im Jahr 1779 von Abraham Darby IIIaus gusseisernen Einzelteilen erbaut wurde. Sie war seinerzeit die einzige Brückein der Region des Severn River, die das katastrophale Flusshochwasser von 1795überstand. Das war für Thomas Telford, den Gründungspräsidenten der weltweitersten Gesellschaft für Bauingenieurwesen, der Anlass, sich vom Mauerwerk ab-und Metallkonstruktionen zuzuwenden. Telford erschuf eine erste Reihe von Ei-senbrücken, die eindeutig den persönlichen Stil eines Ingenieur-Künstlers zeig-ten. Für ihn war klar, dass die Iron Bridge die Flut einzig aufgrund der Schlüssel-eigenschaft des Eisens – seiner hohen Festigkeit – unbeschadet überstandenhatte. Das frühe Gusseisen war etwa fünfmal so stabil wie Holz und erfordertedaher nur ein Fünftel des Materials, um dieselbe Last zu tragen. Diese drastischeReduktion des erforderlichen Materials ermöglichte Konstruktionen, die währendeines Hochwassers mehr Wasser durch die Brücke fließen ließen. GemauerteBrücken wirkten wie Dämme und bauten einen hohen Wasserdruck auf, der dieKonstruktion leicht zerstörte. Auch Holzbrücken hatten eine ähnliche Stauwir-

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Thomas Telford und die neue Kunstform

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Abb. 2.1

Die Iron Bridge über den Severn (Coalbrookdale/England, 1779) von Abraham Darby III. Diese gusseiserneBogenbrücke war das erste bedeutende aus Eisen erbaute Bauwerk. Mit ihrer Spannweite von 30 m und ihrenhalbkreisförmigen Bögen ähnelt sie in Form und Details früheren Bogenkonstruktionen aus Mauerwerk. Zweider Bogenstreben sind unvollständig; sie enden dort, wo sie auf die Fahrbahnplatte treffen.

kung und waren darüber hinaus auch anfällig für Brüche an den Fugen undschwammen leicht auf.

Die visuelle Leichtigkeit und die bewiesene Stabilität der Iron Bridge brach-ten Telford und andere um die Jahrhundertwende dazu, über das neue Materialund neue Konstruktionsformen nachzudenken. Anfänglich dachten sie verständ-licherweise immer noch in den Kategorien von Konstruktionen aus Stein oderHolz, und viele Konstrukteure versucht lediglich, die bekannten Konstruktionenmit dem neuen Material umzusetzen. Die Iron Bridge selbst hat noch die halb-runde Form, die für Steinbögen typisch war, und ihre aneinandergefügten Einzel-teile erinnern an Holzkonstruktionen.2 Telford erkannte jedoch, dass das neueMaterial auch eine veränderte Denkweise verlangte. Er sah klarer als seine Zeit-genossen die Möglichkeiten einer neuen visuellen Welt aus Eisen voraus, weil ersein Denken stets auf konkrete Objekte anstelle von Theorien richtete, auf diePraxis des Bauens anstelle der Planungsarbeit und auf große öffentliche Bau-werke anstelle von privater Architektur für die Aristokratie.

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Thomas Telford und die Kunst der Brücke

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Thomas Telford und die Kunst der Brücke

Telford wurde 1757 in Glendinning in Schottland geboren. Er begann seine Kar-riere als Steinmetz und arbeitete 1778 am Bau einer Dreifeld-Steinbogenbrückebei Langhold mit. 1782 verließ er Schottland und ging nach London, um ein grö-ßeres Betätigungsfeld zu finden. Dort arbeitete er als Zeichner in einem Architek-turbüro und von 1784 bis 1787 war er mit Umbauten am Shrewsbury Castle inShropshire beschäftigt. Neben diesen architektonischen Arbeiten plante er 1787als technischer Sachverständiger des Kreises seine erste Brücke, bestehend ausdrei Steinbögen, die 1792 in Montford fertiggestellt wurde. Zu dieser Zeit zeich-nete sich sein Talent für große Bauwerke ab, und als die Direktoren des geplan-ten Ellesmere-Kanals ihm die Durchführung dieses gewaltigen Projekts anboten,akzeptierte Telford. Später schrieb er darüber:

Ich fühlte in mir eine stärkere Neigung, Bauwerke von Bedeutung undGröße auszuführen, als architektonische Details von Häusern auszu-arbeiten, daher zögerte ich nicht, ihr Angebot zu akzeptieren, und abdieser Zeit richtete ich meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf dasBauingenieurwesen.3

Diesen Gedanken könnte man als erste bewusste Manifestation des neuen Ingeni-eurberufs ansehen, komplett von der Architektur getrennt und untrennbar mit derindustriellen Revolution verbunden. Telfords Entscheidung führte in direkterFolge zu dem eindrucksvollsten metallenen Monument im Stil des 18. Jahrhun-derts, das heute noch erhalten ist: das Pontcysyllte-Aquädukt für den Ellesmere-Kanal bei Llangollen, das 1805 fertiggestellt wurde und bis heute mit der ur-sprünglichen Konstruktion aus Gusseisen in Betrieb ist.

Ab 1795 arbeitete Telford mit gusseisernen Konstruktionen, aber erst mitder Konstruktion der Bonar Bridge im Jahr 1810 waren seine Ideen bis zu demPunkt gereift, an dem eine neue Form entstehen konnte.4 Für diese Brücke überden Dornoch Firth in Schottland schlug Telford einen gusseisernen Bogen miteiner Spannweite von 46 m vor. Teilweise bevorzugte er diese große Spannweitegegenüber der normalen Lösung aus früheren Zeiten mit zwei Steinbögen wegender Gefahren durch Hochwasser und Eis. Noch wichtiger waren ihm jedoch seineKonstruktionsprinzipien: „... die Konstruktion von Eisenbrücken und ihre äußereErscheinung zu verbessern ... [und] einen beträchtlichen Teil des Eisens und so-mit Gewicht einzusparen“.5 Auf diese Weise legte Telford die zentralen Gedan-ken dieses neuen Paradigmas dar – effiziente Nutzung von Materialien, wirt-schaftliche Bauweise und Erscheinungsbild der resultierenden Konstruktion –,die seither für alle Ingenieur-Künstler gelten.

Telfords eiserne Bogenbrücken waren weder die einzigen derartigen Bau-werke dieser Zeit noch die mit den größten Spannweiten. Die Sunderland-Brücke(oder Wearmouth-Brücke) von 1796 hatte eine Spannweite von 72 m und John

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Thomas Telford und die neue Kunstform

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Rennie – der zu dieser Zeit als einziger Telford den Titel als bester Brückenkon-strukteur Großbritanniens streitig machen konnte – erbaute 1819 die SouthwarkBridge mit einem zentralen gusseisernen Bogen mit einer Spannweite von 73 m.6

Was Telford von seinen Mitstreitern unterscheidet, ist sein klarer persönlicherStil – seine Eisenbögen sind optisch ansprechender als die seiner Zeitgenossenund auch technisch überlegen. Eine aktuelle Zusammenstellung von gusseisernenBrücken aus der Zeit zwischen 1779 und 1871 führt die Brücken in der Reihen-folge ihrer technischen Qualität auf. Von den neun besten genannten Brückenstammen acht von Telford.7 Von diesen acht stehen heute noch fünf.

Die älteste erhaltene Brücke im Stil der Bonar Bridge ist die CraigellachieBridge von 1814 (Abb. 2.2). Ihr Bogen besitzt ein flaches, kreisförmiges Profilmit konstanter Dicke und besteht aus zwei gebogenen Elementen, die durch ge-kreuzte und radiale Streben miteinander verbunden sind. Die dünne Fahrbahn istleicht nach oben gekrümmt und durch dünne Diagonalstreben, die im Wesentli-chen radial verlaufen, mit dem Bogen verbunden. Die ganze Konstruktion istleicht und offen, die Eisenkonstruktion entspricht dem sichtbaren Tragwerk undder Bogen besteht über seine gesamte Länge aus Standardelementen. Obwohl

Abb. 2.2

Die Craigellachie Bridge über den Spey (Elgin/Schottland, 1814) von Thomas Telford. Diese flache,gusseiserne Brücke mit einer Spannweite von 46 m ist das älteste noch erhaltene Exemplar eines Typs, derdie ersten modernen Metallbrücken repräsentiert. Der aus Fachwerkelementen bestehende Bogen läuft mitkonstanter Dicke zwischen den beiden Widerlagern durch.

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Telford und die Grenzen des konstruktiv Machbaren

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einzelne visuelle Elemente von Holzbrücken abgeleitet sind, ist die von Telfordim Jahr 1810 entworfene Gesamtkonstruktion etwas Neues, eine dem Gusseisenangemessene Form.

Über Telfords ästhetische Absichten gibt es keinen Zweifel. Er äußerte sichfeinfühlig über die schottischen Landschaften und die schöne Umgebung vonLlangollen in Wales.8 Er war eng genug mit den Architekten seiner Zeit verbun-den, um ihre Liebe zum Pittoresken zu teilen und sich der Bedeutung der Umge-bung für ein Bauwerk bewusst zu sein. Aber er war auch der erste Bauingenieur,der sich bewusst von den alten Regeln des architektonischen Geschmacks ent-fernte. Er wollte nicht über die alten architektonischen Vorstellungen von Pro-portion, Symmetrie und Rhythmus schreiben, sondern über die neuen techni-schen Fragestellungen Konstruktion, Gewicht und Gründung. Seine Gedankengalten stets dem Aussehen, der Landschaft und der Form, aber für Telford musstedie Schönheit von innen kommen, aus den technischen und wirtschaftlichenRandbedingungen, und nicht von außen aus den über Jahrhunderte in der Archi-tektur der Steinbauten tradierten Bildern und Rezepten.

Telford und die Grenzen des konstruktiv Machbaren

Gusseisen beflügelte die Phantasie Telfords und anderer. Es begründete im tiefs-ten Sinn des Wortes den modernen Ingenieurberuf, indem es die Konstrukteuredazu zwang, über Tragwerke in einem ganz neuen Maßstab nachzudenken. Alsdas britische Parlament 1799 einen Ausschuss einsetzte, der zahlreiche Vorschlä-ge für die dringend benötigte neue London Bridge sichten sollte9, war das fürTelford der Anlass, sich mit Brücken mit sehr großer Spannweite zu befassen.Eine Idee war, die Themse in einem einzigen großen Bogen zu überspannen, umdem Schiffsverkehr eine einfache Passage zu ermöglichen. Das geringe Gewichtund die Festigkeit von Gusseisen zeichneten den Weg zu einer möglichen Lö-sung vor. Von den vielen eingereichten Vorschlägen fand der Ausschuss ThomasTelfords Entwurf aus dem Jahre 1800 am beeindruckendsten, der einen guss-eisernen Bogen mit einer Spannweite von 180 m vorsah. Es folgte eine um-fangreiche Untersuchung der Machbarkeit einer solchen Konstruktion, an derpraktisch alle wichtigen Anwender von Gusseisen aus dem aufstrebenden Ingeni-eurwesen beteiligt waren. Zu den Befragten zählten zahlreiche Universitätspro-fessoren, James Watt, der berühmte Eisengießer John Wilkinson und John Ren-nie. Obwohl es Konsens war, dass Telfords gewaltige und elegante Konstruktionrealisierbar war, setzte das Parlament sie nie um. Dieser Entwurf war der frühesteVorläufer des Eiffelturms und der Brooklyn Bridge. Ihr vorgeschlagenes Eisen-fachwerk und ihre enorme Höhe hätten London visuell ähnlich dominiert wieEiffels Werk Paris fast ein Jahrhundert später, und der zweifellos beeindruckendeBlick auf die Stadt, der sich beim Überqueren einer Brücke bieten sollte, nahm

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die visuelle Spannung von Roeblings zentralem erhöhten Fußweg nach Brooklynvorweg. Ausgerechnet diese Höhe, die Telfords Phantasie so angeregt hatte, führ-te aber zu großen Kosten der Zufahrten zu der Brücke und vermutlich dadurch zuihrer Ablehnung durch das Parlament. Schließlich wurde John Rennie mit demBau der Waterloo Bridge (1817) und der London Bridge (1831) betraut. Er griffdabei auf ältere Pariser Beispiele von mehrbögigen Steinbrücken zurück und ver-stärkte so die vorherrschende Meinung, dass Stein das angemessene Material füreine Stadt sei. Es muss kaum angemerkt werden, dass diese steinerne Selbstdar-stellung nicht Telfords Sache war.

Trotz seiner Bedeutung war Telfords Entwurf für die London Bridge nichtwirklich modern. Vielleicht durch die Sunderland-Brücke von 1796 beeinflusst(die wiederum auf Ideen von Thomas Paine zurückging), schlug Telford eineReihe von parallelen bogenförmigen Elementen vor, ähnlich den drei parallelenBögen der Iron Bridge, nur sehr flach. Obwohl seine kühne Konstruktion anderezu Bögen mit großen Spannweiten inspirierte, entfernte sich Telford selbst baldvon dem Vorläufer Iron Bridge und entwickelte 1810 die neue Form der BonarBridge. In seiner Autobiographie erwähnte Telford den Entwurf für die LondonBridge nicht, und auch in seinem Atlas of Works war er nicht enthalten. In seinemArtikel „Bridge“ von 1812 erwähnte er ihn kurz, ohne aber eine Zeichnung bei-zufügen, und sprach stattdessen lieber ausführlich über die Bonar Bridge und sei-nen Vorschlag für einen 150-m-Bogen über die Menaistraße, ebenfalls im Stil derBonar Bridge.

Nach 1800 wandte Telford seine Energien mehr der Provinz zu, wo er alsAntwort auf die neuen Anforderungen der Industrie neue Formen entwickelnkonnte. 1803 wurde er Ingenieur des Beauftragten für Straßen- und Brückenbauin den schottischen Highlands. In dieser Position begann er – mit der BonarBridge und der Craigellachie Bridge – die ersten Eisenbrücken zu entwerfen, dieaus heutiger Sicht technische Qualität mit einem ansprechenden Äußeren verbin-den. Telford zog es nicht nur von den schottischen Highlands zu den Hügeln vonWales, sondern auch an die Grenzen des konstruktiv Machbaren – allerdingsnicht bei Bögen, sondern bei Hängebrücken und nicht mit Gusseisen als Material,sondern mit Schmiedeeisen.

Die zweite Eisenzeit begann in der Gießerei und manifestierte sich erstmalsin Form von Bögen aus gusseisernen Einzelteilen, die ähnlich wie Steinbögenkonstruiert und zusammengesetzt wurden. Schmiedeeisen entstammt dagegen derSchmiede und wurde im Bauwesen erstmals in den Ketten der Hängebrücken desfrühen 19. Jahrhunderts im großen Maßstab verwendet. Gusseisen kann wie SteinDruck weit besser aufnehmen als Zug und ist wetterfester als Schmiedeeisen.Daher war Gusseisen der offensichtliche Ersatz für Stein in Bogenbrücken, wäh-rend Schmiedeeisen das naheliegende Material für die Ketten der neuen Hänge-brücken war.

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Telford und die Grenzen des konstruktiv Machbaren

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Abb. 2.3

Die Menai Bridge über die Menaistraße (Wales, 1826) von Thomas Telford. Diese schmiedeeiserneKetten-Hängebrücke mit einer Spannweite von 180 m war bei ihrer Fertigstellung die Brücke mit der größtenSpannweite der Welt.

Die ersten drei Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts erlebten den Vormarsch derHängebrücke von exotischen Seilkonstruktionen aus Südamerika und China bisins Herz der industriellen Revolution. Großbritannien bereitete den Weg. Dasgroßartigste Bauwerk dieser Periode war Telfords Brücke über die Menaistraßeim Nordwesten von Wales (Abb. 2.3) mit ihrer Spannweite von 180 m, die 1826fertiggestellt wurde. Sie war die erste britische Brücke, die unbestritten diegrößte Spannweite der Welt besaß.10 Sie ist das wichtigste Bauwerk in Telfordsbemerkenswerter Karriere und symbolisiert heute noch den Aufbruch im vor-viktorianischen Großbritannien. Ihre Konstruktion und ihre spätere Geschichtezeigen sowohl die Verheißung als auch die Gefahren der industrialisiertenWelt.

Die Brücke verlief über den schwierigsten Abschnitt der Straße zwischenLondon und der Fähre nach Dublin in Holyhead auf der Insel Anglesey. Telforderhielt 1810 den Auftrag für das Gesamtprojekt einer besseren Verbindung zwi-schen London und Dublin, das durch die Vereinigung von Irland und Großbri-tannien im Jahr 1800 in Gang gesetzt worden war, und sein Entwurf für die Brü-cke wurde 1817 vom Parlament akzeptiert. Neun Jahre später, am 30. Januar1826, galoppierte die Londoner Postkutsche über die erste Brücke, die direktüber einen Streifen offenen Meeres führte.11

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