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blaues kreuz Für Lebensqualität. Gegen Abhängigkeit. blaueskreuzzuerich.ch Ausgabe 4 Oktober/November 2010 Alkohol. Wo beginnt die Abhängigkeit? Tagebuch eines Alkoholabhängigen. Ab 1. November auf Radio 24 und blaueskreuzzuerich.ch.

Blaues Kreuz Quartalszeitschrift Nr. 4 2010

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Page 1: Blaues Kreuz Quartalszeitschrift Nr. 4 2010

blaues kreuzFür Lebensqualität. Gegen Abhängigkeit.

blaueskreuzzuerich.ch Ausgabe 4 Oktober/November 2010

Alkohol. Wo beginnt die Abhängigkeit?

Tagebuch eines Alkoholabhängigen. Ab 1. November auf Radio 24 und blaueskreuzzuerich.ch.

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In unserem Kulturkreis haben Bier, Wein und Spiri-tuosen eine lange Tradition. Getrunken wird gerneund bei vielen Gelegenheiten. Seien es Familienfeste,Partys, Geschäftsessen oder die kleinen und grösserenErfolge im Alltag. Ein Anlass, um anzustossen, findetsich schnell.

Diese Verhaltensweise, bei der Alkohol mit Spass undEntspannung gleichgesetzt wird, kann nicht selten zurAbwärtsspirale in die Abhängigkeit werden. Genussbedeutet, zu wissen, wann man genug hat.

Bezeichnenderweise trinken wir aber nicht nur aus Freude, sondern auch zur Frust-bewältigung. Der Arbeitsalltag ist oft stressig. Produktionsdruck, Erfolgsdruck,Konkurrenzdruck unter Arbeitskollegen - die Arbeit steht im Mittelpunkt vielerMänner (und Frauen). Die Identifikation mit dem Job ist bedeutend. Viele guteGründe, um nach einem schnell wirksamen Mittel zu suchen, das entspannt undvom Druck entlastet? Hilft Alkohol gegen den Stress? Für den Moment bestimmt.Da wir aber sonst nichts verändern, bleiben Druck und Stress bestehen.

Auch hier geht es die Spirale runter: Man fühlt sich schlecht und müde, also trinktman immer öfter und immer mehr und fühlt sich doch nie wirklich entspannt.

Wer es genau wissen will, verfolgt ab dem 1. November auf Radio 24 und im Internet unter blaueskreuzzuerich.ch das Tagebuch einesAlkoholabhängigen. Während einer Woche stehen Sie morgensmit einem Kater auf, verbergen Ihre Lust aufAlkohol und Ihr heimliches Trinken vor Arbeitskollegen und Freunden und kämpfen sich durch den Tag. Stunde umStunde, von morgens bis abends, eineWoche lang.

Henrik Viertel, Leiter Kommunikation und Fundraising, [email protected]

Blaues Kreuz Zürich, Mattengasse 52, Postfach 1167 8031 Zürich

editorial

Tagebuch eines Alkoholabhängigen

impressum

3 „Grüezi, ich bi dä, wo muess zu ihne cho.“Eine wahre Geschichte über ein normales Ehepaar und Alkohol.

5 Alkoholkonsum und Abhängigkeit. 11 Fragen und AntwortenWann ist genug genug? Wer ist besonders gefährdet? Wann endet der Genuss?

7 Alltag.Was bedeutet Alkoholabhängigkeit im täglichen Leben? Wir durften Sven, 31, begleiten.

blaues kreuz ist die Zeitschrift des Blauen Kreuzes Kantonalverband Zürich für die Mitglieder, Spenderinnen und Spender. Die Zeitschrift erscheint 4-maljährlich. Die Auflage beträgt 83'000 Exemplare. Der Abonnementsbeitrag von CHF 5.- pro Jahr ist im Mitglieds- und Spendenbeitrag inbegriffen.

Verlag Blaues Kreuz Kantonalverband Zürich, Zürich. Redaktion Urs Ambauen, Daniela Büchi, Henrik Viertel. Fotos istockphoto.com, photocase.com. Gestaltung werbebuero schilling, Düsseldorf. Druck Jordi Medienhaus, Belp. ISSN 1664-2422.

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Im Frühjahr 2008 kontaktierte eine Frau Baumann die Beratungs-stelle des Blauen Kreuzes in Zürich und vereinbarte einen Terminmit unserer Beraterin Daniela Büchi.

Es waren die Sorgen um ihren Mann und ihre Erschöpfungsde-pressionen, die sie zur Beratungsstelle am Zwingliplatz führte. Ihr Ehemann trank damals täglich bis zu fünf Liter Bier und seinekörperlichen Beschwerden nahmen zu. Als selbstständiger Unter-nehmer war er frei, auch während der Arbeitszeit zu trinken. Dochauch ohne Vorgesetzte, die hätten eingreifen können, häuften sichdie Schwierigkeiten. Termine wurden nicht eingehalten, Aufträgeunsauber ausgeführt – die Kundenbeschwerden nahmen zu.

Auch im Privatleben nahmen die Probleme zu. Zwischen ihremMann und ihr war keine Beziehung mehr möglich. Konfliktekonnten nicht mehr wirklich bewältigt werden und die Alkohol-problematik wurde als solche von ihrem Partner gar nicht aner-kannt. Und ihr Ehemann veränderte sich durch denAlkoholkonsum: fast tägliche Stimmungsschwankungen, Lustlo-sigkeit, Interessenverarmung und Unzuverlässigkeit wurden zu deut-lichen Wesenszügen. Er war nicht mehr fähig, die Realitätanzunehmen oder eine Vorstellung von einer gemeinsamen Zukunftzu entwerfen. Er lebte in einer Scheinwelt, in der seine Frau als Geistmitwirkte.

Seine Probleme wurden von ihr mitgetragen, die Defizite im privaten und beruflichen Umfeld verdeckt und entschuldigt.Immer stärker entwickelte sich bei Frau Baumann ein Gefühl desAusgebranntseins. Hatte sie zu Beginn geglaubt, ihm in einerschwierigen Lebensphase wirklich helfen zu können, fühlte siejetzt nur noch Hilflosigkeit.

Im Laufe der ersten Gespräche wurden daher zwei Ziele vereinbart: Frau Baumann sollte sich auf ihre eigene Gesundheit konzentrieren.Sich nicht mehr aufopfern, sondern sich selbst Gutes tun und dasGefühl fast permanenter Anspannung, von Unsicherheit und Ohn-mächtigkeit abbauen. Das zweite Ziel bestand darin, ihren alkohol-abhängigen Mann dazu zu bewegen, sein Konsumverhalten zuverändern und eine Suchtfachklinik aufzusuchen.

Was geschrieben in wenigen Zeilen so simpel erscheint, ist in Wirk-lichkeit ein schmerzhafter Prozess, in dessen Verlauf sich sowohl An-gehörige wie Betroffene mit ihren Verhaltensweisenauseinandersetzen und neue erlernen müssen. Das bisherige Lebenmuss meist radikal verändert werden. Jeder Lebensaspekt wird be-sprochen: die Beziehung, der Arbeitsplatz, das soziale Umfeld, dieZiele bezüglich des Alkoholkonsums. Es müssen Rückfallstrategienentworfen und alternative Freizeitbeschäftigungen gefunden werden.Kein Stein bleibt auf dem anderen.

Nach mehreren Gesprächen war Herr Baumann noch nicht bereit,seinen Alkoholkonsum zu verändern. Frau Baumann beschloss dar-aufhin, ihn vorübergehend zu verlassen und zu einer Freundin zuziehen. Herrn Baumann erschütterte das - nie hatte er damit gerech-net, dass sie diese Drohung wahrmachen könnte.

Diese temporäre Trennung erwies sich als heilsamer Schock. Unterder Bedingung, seine Alkoholabhängigkeit anzuerkennen und ineine Therapie einzuwilligen, kehrte Frau Baumann nach 30 Tagenwieder zu ihrem Mann zurück. Ein erstes Gespräch mit Urs Am-bauen, Leiter der Beratungsstellen, war bereits terminiert, konntevon Herrn Baumann allerdings nicht mehr wahrgenommen werden.

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„Grüezi, ich bi dä, wo muess zu ihne cho.“

Einfach weniger trinken. Das sagt sich so leicht und ist in etwa so einfach zu bewerkstelligen, wie den

Winterspeck loszuwerden oder mit dem Rauchen aufzuhören. Also überhaupt nicht. Eine Alkoholerkrankung

bedeutet körperliche und seelische Abhängigkeit. Rückfälle sind eher die Regel als die Ausnahme.

Deshalb ist die Mithilfe einer Beratungsstelle sowohl für die betroffene Person wie auch für die Angehörigen

von grosser Bedeutung. Die Baumanns* sind diesen Weg gegangen.

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Sein Gesundheitszustand hatte sich dermassen verschlechtert, dass ereine psychiatrische Klinik aufsuchen musste. In einem ersten Schritterfolgte die Entgiftung unter ärztlicher Aufsicht. Die dabei auftre-tenden Entzugssymptome wie Übelkeit, Nervosität, Schlafstörungenund der starke Zwang, Alkohol trinken zu müssen sowie Depressio-nen wurden durch die Einnahme von Medikamenten gemildert.

Einigermassen stabil, konnte er die Klinik nach zwei Wochen verlas-sen und entschloss sich nun freiwillig zu einer stationären Alkohol-therapie in der Forel-Klinik in Ellikon. Hier begann die eigentlicheTherapie. Sie bestand aus Langzeitentwöhnung und sozialem Trai-ning. Hier lernte er in Einzel- und Gruppengesprächen, sich kon-struktiv mit sich selbst auseinanderzusetzen. Während des Klinikauf-enthalts konnte auch bereits eine geeignete poststationäre Nachsorgebei Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen gefunden werden.Anlässlich der sogenannten Therapiebörse in Ellikon, während dernachbehandelnde Stellen ihr Angebot den Patienten erläutern, lernteUrs Ambauen nun nach Monaten endlich Herrn Baumann kennen.Im Anschluss einer Präsentation des Blauen Kreuzes ging Herr Bau-mann auf Urs Ambauen zu und stellte sich entwaffnend ehrlich vor:„Ich bi dä, wo muess zu ihne cho.“ Was zum Beginn einer mittler-weile zwei Jahre dauernden erfolgreichen Beratungsbeziehung wurde.

So fand Herr Baumann im Herbst 2008 eine Vertrauensperson, beider er sich aufgehoben fühlte und mit der er gemeinsam mit seinerFrau Paargespräche führen konnte. Unmittelbar nach dem Verlassender Klinik begannen diese Gespräche.

Die Aufrechterhaltung der Abstinenz war nun das wichtigste Ziel – was nach jahrelangem hoch dosiertem Alkoholmissbrauchkeineswegs immer einfach zu erreichen war. Aber dies gelingt HerrnBaumann inzwischen sehr gut, zwei Jahre nachdem seine Frau damals die Beratungsstelle aufsuchte. Der Alkoholkonsum oder gar-missbrauch sind heute selten ein Thema während der Beratungs-

gespräche. Viel entscheidender sind Beziehungsthemen und die reibungslose Reintegration in den beruflichen Alltag.

Da die Beziehung zum Alkohol früher sein Lebensinhalt gewesenwar und er alle anderen privaten und beruflichen Kontakte vernach-lässigt hatte, existierte Herr Baumann für viele Mitmenschen kaummehr. Als Besitzer eines mittelständischen Unternehmens war er jah-relang ausgefallen. Die anfallenden Arbeiten wurden durch Ange-stellte und vor allem durch seine Frau übernommen. Heute, Jahrespäter, konnte er nicht erwarten, vom ersten Tag seiner Rückkehran, wieder seinen Platz einzunehmen. Mitarbeitende, die sich frühernie auf ihn hatten verlassen können und teilweise seine Aufgabenübernommen hatten, sollten nun wieder in die zweite Reihe zurück-treten und ihm die Führung überlassen. Diese Problematik währendder Beratung zu besprechen, sollte verhindern, dass die noch man-gelnde Akzeptanz der Mitmenschen und die eigenen Führungsunsi-cherheiten zu einem Rückfall in eine alkoholabhängigeVerhaltensweise führen.

Die Überwindung einer Alkoholabhängigkeit lässt sich nicht miteiner Medizin erreichen, die man einnimmt und die dann alles wie-der gut macht. Vieles ist heutzutage schnelllebig geworden und nureinen Mausklick im Internet entfernt. Diese Behandlung ist heutewie vor Jahrzehnten ein langer und schwieriger Weg, der zwar zu Gesundheit und Lebensglück führt, aber immer wieder auch vonVersuchungen gesäumt ist. Kleinste Mengen Alkohol können zueinem Rückfall führen, manchmal reicht dazu schon eine Praliné mitAlkohol, um das Verlangen nach mehr zu wecken. Noch Jahre späterwerden im Gedächtnis überwunden geglaubte Muster abgerufen.

Auch deshalb kommen die Baumanns weiterhin regelmässig zur Beratung. Sie freuen sich, dass sie sich als Paar wieder zusammengefunden haben, dass sie das Leben zu zweit wieder geniessen können.

*Name von der Redaktion geändert.

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Das Bier zum Feierabend oder ein Gläschen in Ehrengenehmigen sich viele. Ab welcher Menge sind denntatsächlich gesundheitliche Schäden zu befürchten,wo beginnt die psychische Abhängigkeit?Die Empfindlichkeit gegenüber Alkohol ist bei jedem Menschen an-ders ausgeprägt. Einen absoluten Grenzwert gibt es wohl nicht. MitGesundheitsschäden durch Alkohol müssen Frauen ab einem regel-mässigen Konsum von 1-2 Stangen Bier oder 2 Gläsern Wein undMänner bei 3-4 Stangen Bier oder 3-4 Gläsern Wein pro Tag rechnen.

Die körperliche Abhängigkeit würde man am Auftreten von Entzugssymptomen wie zum Beispiel Zittern oder starkem Schwitzen erkennen. Eine psychische Abhängigkeit kann sich ineiner Störung der Konzentration und der Auffassungsfähigkeit, in Schlafproblemen oder Reizbarkeit äussern. Darüber hinaus existieren aber viele weitere Merkmale.

Der Weg in die psychische Abhängigkeit ist dagegen meistens ein lange unbemerkt und schleichend sich entwickelnder Prozess.

Existieren Warnzeichen?Die Klienten der Beratungsstelle sagen fast alle, dass sie, zurück-blickend gesehen, oft über ihren Alkoholkonsum irritiert gewesenseien, lange bevor andere Menschen sie darauf angesprochen hätten.Wer anfängt über seinen Alkoholkonsum nachzudenken, das Gefühl hat, dass die konsumierten Mengen bedenklich sein könnten,erhält ein wichtiges Warnsignal, das er sehr ernst nehmen sollte.

Weshalb wird man psychisch abhängig?Alkohol und andere Genuss- und Suchtmittel bieten sich in

gewissen Lebenssituationen, die eher als unangenehm empfundenwerden (Ärger, Stress, Beziehungsprobleme, Langeweile, Einsam-keit, Schüchternheit, Abgespanntheit, Schmerzen, Wut, Traueretc.), als Ventil an. Man fühlt sich rasch besser. Eine positive Wirkung, die das Gedächtnis speichert. Gerät manerneut in eine Situation, die eher unangenehme Gefühle auslöst,erinnert man sich an die Substanz und an den angenehmen Zustand, in den man versetzt wird, z. B. beim Trinken. Wird Alkohol vor allem wegen dieser Wirkungserwartung konsu-miert, verlernt man mit der Zeit nüchterne Bewältigungsstrategienfür den Alltags- und Lebensfrust. Je früher man auf die „Problem-lösung“ durch Alkohol setzt, desto eher und schneller entwickeltsich eine Abhängigkeit.

Alkohol wird von vielen Menschen natürlich auch konsumiert, um positive Gefühle während Erfolgs- und Glückserlebnissen,Lust, Euphorie etc. zu verstärken. Werden Alkoholkonsum undGefühlsleben immer häufiger miteinander verknüpft, dann läuftman ebenfalls Gefahr, dass sich die Verbindung von Erleben, Gefühlen und Trinken verselbstständigt.

Sind manche Personen besonders gefährdet?Gefährdeter ist man vor allem bei Lebensübergängen, also vomKind zum Adoleszenten, beim Berufseinstieg, beim Kinder- aufziehen, während einer Lebenskrise oder unmittelbar währendder Pensionierung. Auch biografische Brüche wie Scheidung, Tod, Arbeitslosigkeit, Karriereknick und Krankheit können dazuführen, dass Alkohol oder andere Substanzen und Medikamentemissbräuchlich als Bewältigungshilfe eingesetzt werden.

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Alkoholkonsum und Abhängigkeit. 11 Fragen und Antworten

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Treffen kann es also praktisch jede Person. Bei unseren Klientenstelle ich aber fest, dass diese als Kinder entweder einen eher ver-wöhnenden, vielleicht sogar verzärtelnden oder einen recht stren-gen, manchmal eher zur Verwahrlosung führenden Erziehungsstilerfahren haben. Kinder aus alkoholbelasteten Familien sind zudemsehr viel stärker gefährdet, ebenfalls abhängig zu werden.

Wenn man zum Essen grundsätzlich ein bis zwei Gläser Wein trinkt; wie ist das zu werten?Das ist in den meisten Fällen völlig unproblematisch. Allerdingssind dabei wöchentlich ein oder zwei abstinente Tage sehr empfeh-lenswert. Auch ein alkoholfreier Monat im Jahr schadet bestimmtnicht! Dies ist wichtig, um bewusst eine Gewohnheit zu unterbre-chen und zu überprüfen, welche Bedeutung man diesem Konsumbeimisst. Fällt der gelegentlich Verzicht leicht oder empfinde ichbereits Frustration? Beginne ich zwanghaft nach Gründen zu suchen, die ein Glas Wein rechtfertigen könnten? Dies kann einguter Gradmesser der persönlichen Freiheit sein.

Wie oder woran erkennt man eine latente Suchtgefährdung?Sprechen mich andere Leute wegen meines Alkoholkonsums an?Trinke ich zu oft und zu viel und bei unpassenden Gelegenheiten?Trinke ich regelmässig mehr, als ich mir vorgenommen hatte?Trinke ich trotz negativer Auswirkungen am Arbeitsplatz, in derBeziehung, für die Gesundheit oder gerate ich mit dem Gesetz in Konflikt? Das sind entscheidende Fragen.

Viele bezeichnen sich als Genusstrinker. Gibt es diesenTyp überhaupt?Ja, aber viele missbräuchlich konsumierende Alkoholiker bezeichnen sich gerne als Genusstrinker und verstecken dahinterihre Abhängigkeit. Jeder Konsument und jede Konsumentin sollte sich aber ehrlich fragen, ob wirklich der Geschmack des edlenWeins, die Frische eines kühlen Biers genossen wird oder ob es eher um den berauschten Zustand danach geht?

Wie könnte man also Genusstrinken beschreiben?Der Genuss ist stark mit der Menge und der Häufigkeit verknüpft.Beim Geniessen erlebt man eine positive Sinnesempfindung, diemit körperlichem und geistigem Wohlbehagen verbunden ist. Genuss endet, wo Selbstbeschränkung und Achtsamkeit verlorengehen. Wird etwas zur unbewussten oder zwanghaften Gewohn-heit, verliert es die Genussqualität und wird zur Abhängigkeit.

Welche Gefahren lauern dem Genuss- oder Gelegenheitstrinker auf? Wann könnte man zum Alkoholkranken werden?Wenn man beginnt, heimlich zu trinken, oder wenn man die Mengen erhöhen muss, um eine gewisse Wirkung zu erzielen.Wenn man immer mehr konsumieren kann, ohne das es unmittel-bar zu Nebenwirkungen kommt.

Wie kann man die Gefahren vermeiden?Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist von entscheidender Bedeutung.Wer verunsichert ist, sollte ungeniert eine Fachstelle kontaktieren.

Gibt es typische Alkoholikerkarrieren?Ja und nein. Einerseits ist jede Abhängigkeitsentwicklung sehr einzigartig, andererseits existieren wiederkehrende gemeinsame Elemente: Der Ausstieg wäre immer schon früher möglich gewesen!Aber Scham und Versagensgefühle verhindern, dass sich die betroffenen Personen der Problematik stellen. Abhängigkeit ist eineschleichende Krankheit, die sich über Jahre hinweg entwickelt. Die Übergänge vom massvollen Konsum zur Abhängigkeit sindfliessend. Das Zusammenspiel von körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren vor dem Hintergrund der persönlichen Lebenssituation kann eine Suchtentwicklung eher begünstigen oder eher verhindern.

Wichtig ist aber die Erkenntnis, dass Alkohol eben nicht nur einGenussmittel, sondern auch eine hochgradig abhängig machende,direkt auf das zentrale Nervensystem wirkende Substanz ist. Die meisten der etwa 300'000 Menschen in der Schweiz, die einenproblematischen Alkoholkonsum haben, sind unauffällig und sozialintegriert, also keineswegs der Penner unter der Brücke oder derObdachlose auf der Parkbank, sondern Nachbarn und Nachbarinnen,mit denen wir täglich kommunizieren.

Das Interview wurde mit Urs Ambauen, dem Leiter des FachbereichsBeratung beim Blauen Kreuz Zürich, geführt.

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Alkohol ist eine MedizinVon Alkoholikern hat man ein falsches Bild, man denkt, sie würdenverwahrlost auf Parkbänken sitzen. Bei mir merkt es niemand, ausser vielleicht die Leute im Coop. Wenn ich dort morgens auf-tauche, um Bier zu kaufen, habe ich mich auch schon an der Kasseentschuldigt. Als Alkoholiker hat man dauernd ein schlechtes Gewissen. Alkohol bekommt man überall, vierundzwanzig Stundenam Tag. Praktisch finde ich die Sixpacks, sie sind aber nicht immergut gekühlt. Dann nehme ich noch zwei gekühlte Dosen dazu,damit ich zuhause gleich trinken kann. Vom Sixpack kommen zweiins Gefrierfach, die andern stelle ich normal kühl. So kann ichdann ohne Unterbruch weiter trinken. Im Denner ist es günstiger,aber nicht gekühlt, sonst hätten die ihre Läden voller Alkoholiker.

Angefangen habe ich als TeenagerDamals habe ich mich vor dem Ausgang mit Kollegen warm ge-trunken. An den Partys gabs dann noch mehr. Aufgefallen ist dasniemandem. Auch wenn wir so viel getrunken haben, dass wir unsan nichts mehr erinnern konnten. Das nennt man «Filmriss», es isteine Vergiftung des Gehirns. Meine Eltern haben auch getrunken:Mein Vater ging in den Bastelkeller und kam beschwipst wiederhoch. Nun ist es besser, doch meine Mutter trinkt heute noch viel.Ich bringe das aber nicht als Ausrede. Mein Problem ist, dass ich zuwenig Selbstvertrauen habe, darum habe ich auch keine Ausbil-dung. Das KV habe ich abgebrochen. Seither habe ich an vielenOrten gearbeitet, zuletzt freiberuflich für Zeitungen. Seit diesemSommer habe ich keine Aufträge mehr. Den Medienhäusern geht es

schlecht. Ich bin zum Sozialfall geworden, das wäre nicht nötig ge-wesen. Nun arbeite ich Teilzeit in einem Projekt. Das tut mir gut,weil es meinem Tag eine Struktur gibt.

Ich werde älter und habe immer weniger FreundeAuch habe ich Angst vor den körperlichen Schäden. Ich habe einenentzündeten Magen und Verdauungsprobleme. Natürlich habe ichschon versucht aufzuhören, auch mit Antabus, einem Medikament,das macht, dass man den Alkohol nicht mehr verträgt. Trinkt mantrotzdem, kann es gefährlich werden. Ich habe nach einigen nüch-ternen Tagen getrunken und habe einen zündroten Kopf bekom-men. Heute bin ich bei der Beratungsstelle des Blauem Kreuzes undmache eineWeiterbildung zu digitalen Medien, was mir sehr gefällt.

Abends bin ich meist am Chatten. Ich hatte schon Trinkbekannt-schaften, da haben wir virtuell angestossen und dann Bier getrun-ken. Ich habe auch eine Frau kennen gelernt, die mich dannbesuchen kam. Ich war all die Tage nüchtern, doch als sie abreiste,bin ich abgestürzt.

Meine Bettwäsche ist kaputt. Ich konnte keine neue kaufen, weilich zuviel Geld für Alkohol ausgebe. Wenn der Lohn kommt, mussich schauen, dass ich nicht alles vertrinke. Ich gehe spät ins Bett,weil ich ohne Alkohol sowieso nicht gut einschlafen kann.

*Modelfoto. Name von der Redaktion geändert.

Alltag. Sven*, 31, arbeitet teilzeit und ist alkoholabhängig

Wenn morgens der Wecker piepst, schaffe ich es kaum aus dem Bett. Manchmal stehe ich auch auf, um zu trinken. Wenn man über Nacht langsam ausnüchtert, fühlt man sich am Morgen so leer, dass manlieber gleich wieder loslegt. Meist kommen dann auch die Entzugssymptome und ich werde sehr nervös.

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Wir sind da

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In der Schweiz leben rund 300'000 alkoholabhängige Menschen. Etwa eine Million Angehö-rige sind von dieser Erkrankung mit betroffen. Das sind Väter, Mütter, Jugendliche und Kinder.Über 5’000 Personen sterben jährlich an den Folgen des Alkoholkonsums oder an alkohol-bedingten Krankheiten. Dazu gehören Krebserkrankungen, degenerierte Blutgefässe oderHerzinfarkte.Das Blaue Kreuz Zürich verhindert und mindert diese alkohol- und suchtmittelbedingtenFolgen. Wir wollen, dass junge Menschen in einer Gesellschaft aufwachsen, die sie starkmacht und vor dem Missbrauch von Suchtmitteln schützt. Wir wollen, dass niemand mehrunter den Folgen des Alkoholmissbrauchs zu leiden hat.

Für Lebensqualität. Gegen Abhängigkeit.

In fremden Welten. Die Biographie des Journalisten und ehemaligen Mitarbeiters des Blauen Kreuzes in Zürich, Frank Plopa.

Es beginnt mit einem Abschied: Als 4-jähriger Sohn einer Schweizerin und eines polnischen Internierten verlässt der Autor 1947 die Schweiz und fährt mit seinen Eltern in das kriegszerstörte Polen. In Gubin gründen sein Vater und sein Grossvater ein Bauunternehmen – nur wenige Jahre später werden sie enteignet. Um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, flüchtet der Vater des Autors nach Westberlin.Während des politischen Tauwetters 1956 darf der Autor zusammenmit seiner Mutter und seiner Schwester in die Schweiz ausreisen.

Als junger Mann bricht der Autor auf, um die Welt zu erkunden, und landet in Schweden.Nach einem 2-jährigen Aufenthalt kehrt er zurück und wird Redaktor bei der Schweizer Illustrierten und wechselt zum Entsetzen seines Chefredaktors zum Boulevardjournalismus.Humorvoll und spannend erzählt der Autor von seinen Erlebnissen als Redaktor des Blick und als Auslandsredaktor verschiedener Zeitungen.

Er lernt weltberühmte Politstars kennen, bereist Krisen- und Kriegsgebiete. 1997 stellt die Ostschweiz, bei der er seit rund 14 Jahren beschäftigt ist, ihr Erscheinen ein. „Gibt es ein Leben nach dem Journalismus?“ heisst das letzte Kapitel des Buches. Die Antwort lautet: ja. Der Autor wird Leiter Kommunikation und Fundraising beim Zürcher Blauen Kreuz.

GeschäftsstelleMattengasse 52Postfach 11678031 Zürich044 272 04 [email protected]

PräventionFachstelleMattengasse 528005 Zürich044 272 04 [email protected]

Beratungin ZürichZwingliplatz 18001 Zürich044 262 27 [email protected]

in WinterthurRosenstrasse 58400 Winterthur052 213 02 [email protected]

SelbsthilfegruppenFachstelleMattengasse 528005 Zürich044 271 15 [email protected]

Spendenkonto80-6900-0

blaueskreuzzuerich.ch

Das Blaue Kreuz Zürich wird mit seiner mobilen Blue Cocktail-Bar an der

Präventions-Messe im Hauptbahnhof Zürich alkoholfreie Drinks und Shots anbieten.

Vom 5. bis 7 November offerieren wir Besucherinnen und Besuchern, die diesen Talon ausschneiden und mitbringen,

einen Drink von dunkel-warmer Schokoladenkreation.

Neben unserem Barpersonal wird Sie auch Nationalrätin Barbara Schmid-Federer am Freitag ab 16:30 Uhr am Stand begrüssen. Wir freuen uns auf Ihr kommen.

Erhältlich als Soft- (ISBN 978-3-86991-130-4. € 20.80) oder Hardcover (ISBN 978-3-86991-131-1. € 30.80) per Internet unter edition-octopus.de oder amazon.de oder bei Ihrer Buchhandlung.

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