87
BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG 18. Wahlperiode Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion im PUA Geschlossene Unterbringung Feuerbergstraße gemäß § 31 Absatz 3 Hmb. PUA-Gesetz Dieses Minderheitenvotum wird vorgelegt von den SPD-Abgeordneten Thomas Böwer, Sabine Boeddinghaus, Jenspeter Rosenfeldt, Rüdiger Schulz und Silke Vogt-Deppe; sie haben dem PUA für die sozialdemokratische Fraktion angehört. 1 1 Die Abgeordnete Dr. Andrea Hilgers, die ebenfalls für die SPD-Fraktion Mitglied des PUA gewesen ist, ist kurz vor Beschlussfassung des PUA über den Abschlussbericht aus der Bürgerschaft ausgeschieden. Außerdem waren die SPD-Abgeordneten Gesine Dräger und Dr. Andreas Dressel über geraume Zeit Mitglieder dieses PUA.

BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG fileBÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG 18. Wahlperiode Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion im PUA Geschlossene

  • Upload
    vankhue

  • View
    214

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG

18. Wahlperiode

Minderheitsbericht

der Abgeordneten der SPD-Fraktion

im PUA Geschlossene Unterbringung Feuerbergstraße

gemäß § 31 Absatz 3 Hmb. PUA-Gesetz

Dieses Minderheitenvotum wird vorgelegt von den SPD-Abgeordneten Thomas Böwer, Sabine Boeddinghaus, Jenspeter Rosenfeldt, Rüdiger Schulz und Silke Vogt-Deppe; sie haben dem PUA für die sozialdemokratische Fraktion angehört. 1

1 Die Abgeordnete Dr. Andrea Hilgers, die ebenfalls für die SPD-Fraktion Mitglied des PUA gewesen ist, ist kurz vor Beschlussfassung des PUA über den Abschlussbericht aus der Bürgerschaft ausgeschieden. Außerdem waren die SPD-Abgeordneten Gesine Dräger und Dr. Andreas Dressel über geraume Zeit Mitglieder dieses PUA.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 2 -

Inhaltsverzeichnis des SPD-Minderheitenvotums

Seite

1. Politische Vorgeschichte 6

1.1 Koalitionsvereinbarung 6

1.2 Druck aus Regierungsparteien Schill und CDU 7

1.3 Verfrühte, weil unvorbereitete Inbetriebnahme der GUF 8

1.4 Finanzplanung sah Neubau vor, Geduld des Senats nicht 9

2. Kosten der Eile 11

2.1 Rechtsverstöße und Rechtsunsicherheiten 11

2.1.1 Fehler im Einweisungsverfahren 11

Unsicherheiten bei der Antragstellung 11

Fehlen gesetzlich vorgeschriebener psychiatrischer Gutachten 12

Späte gerichtliche Anhörungen 13

Geschlossene Inobhutnahmen 13

Unterbringungen ohne gültige Beschlüsse 14

2.1.2 Verstöße gegen Rechte der Minderjährigen in der GUF 15

Vertrauensverhältnis zu Verfahrenspflegern und Rechtsanwälten 15

Verstöße gegen das Briefgeheimnis 16

Rechtsunsicherheiten bei der Anwendung physischen Zwangs 16

Rechtsunsicherheiten beim Sicherheitsdienst 18

Psychopharmaka - Beratung und Einverständniserklärungen 20

Unsicherheiten bei der Vergabe von Psychopharmaka 23

Wenig sorgsamer Umgang mit Psychopharmaka in der Einrichtung 23

HIV-Tests ohne Einwilligung 25

Weniger Ausgänge vor den Bürgerschaftswahlen 25

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 3 -

Kindeswohl war nicht immer handlungsbestimmend 26

2.1.3 Fazit 28

2.2 Fehler im Konzept 30

2.2.1 Einjährige Unterbringung hat kaum stattgefunden 30

2.2.2 Phasenmodell nicht bis zum Ende durchgeführt 31

2.2.3 Fehlende Anschlussbetreuung 32

2.2.4 Fehlende wissenschaftliche Evaluation 33

2.3. Fehler am Bau 35

2.3.1 Gelände ist ungeeignet 35

2.3.2 Neubauüberlegungen in der Sozialbehörde 36

2.3.3 Staatsrat prüft Verlagerung nach Altengamme 37

2.3.4 Justizbehörde verweigert Amtshilfe zum Sicherheitskonzept 38

2.3.5 Entweichungen 39

2.3.6 Verpasste Chance Erweiterung 40

2.4. Personal und Pädagogik 42

2.4.1 Qualifikation der Leitung und der pädagogischen Mitarbeiter 42

2.4.2 Personalsituation verhindert kontinuierlichen Erziehungsprozess 44

Kündigungen 44

Krankenstand 45

2.4.3 Fa. Securitas hilft aus 46

2.4.4 Schule 50

2.4.5 Fazit 50

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 4 -

2.5. Gewalt in der GU Feuerbergstraße 52

2.5.1 Quantitatives Ausmaß der Gewalt 52

2.5.2 Gewalt von Jugendlichen und Kindern gegen Dritte 53

2.5.3 Gewalt der Minderjährigen gegen sich selbst 55

2.5.4 Ausgewählte Besondere Vorkommnisse 56

März 2003: Keine BSF-Entscheidung für Mitarbeitersicherheit 56

März 2004 Rollkommando: Übergriffe von Mitarbeitern? 58

2.5.5 Fazit: Die GUF trug strukturell zur Gewalt bei 60

2.6 Kontrolle der Einrichtung durch die Heimaufsicht 62

2.6.1 Überprüfung der GU Feuerbergstraße im April 2003 62

2.6.2 Überprüfung der GU Feuerbergstraße im Januar 2005 63

2.6.3 Arbeitsweise der Heimaufsicht 63

2.6.4 Fazit 64

3. Erfolge der Einrichtung? 65

3.1 Bilanz Frühsommer 2006 65

3.2 Bilanz Frühsommer 2007 66

3.3 Fazit 67

4. Politik und Verantwortlichkeiten 68

4.1 Täuschung von Parlament und Öffentlichkeit 68

4.2 Senatorin Birgit Schnieber-Jastram 69

4.2.1 Information der Senatorin 69

4.2.2 Interesse der Senatorin 70

4.2.3 Aufmerksamkeit der Senatorin 72

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 5 -

Vor-Ort-Termine 73

Fragen zur Rückversicherung 74

Fazit 75

4.2.4 Das Geschäft der Senatorin 75

4.3 Staatsrat in der Sozialbehörde 76

4.4 Erster Bürgermeister von Beust 77

5. Besonderheiten der Untersuchung 79

5.1 Rolle der CDU-Fraktion 79

5.2 Zeuge Innensenator a. D. Ronald Schill nicht auffindbar 80

5.3 Zeuge Justizsenator (a. D.) Dr. Roger Kusch vor Gericht 80

5.4 Protokollaffäre 82

5.5 Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft 83

5.6 Zustandekommen des Abschlussberichts 84

6. Fazit 85

Anlagen

1 Kurze Chronologie der GU Feuerbergstraße

2 Zusammenfassung Gutachten Prof. Dr. Bernzen

3 Ausarbeitung Gegenthesen zum Bewertungsteil

4 Synopse zur Änderungen der CDU am Abschlussbericht

5 Protokoll der PUA Sitzung vom 04. Oktober 2007

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 6 -

Bei der Beantragung des PUA Geschlossene Unterbringung Feuerbergstraße haben die

Antragsteller das Datum der Inbetriebnahme der Einrichtung – 18. Dezember 2002 – als

zeitliche Grenze des Untersuchungsauftrags gewählt. Um die Arbeit des Ausschusses nicht

zu überfrachten, sollten Querelen unter ehemaligen Koalitionspartnern im Vorfeld der

Eröffnung nicht maßgeblicher Gegenstand der Untersuchung werden. Der Auftrag wurde so

formuliert, dass der PUA sich auf die Überprüfung des Senatshandelns im Zusammenhang

mit der bestehenden Einrichtung konzentrieren konnte. Dennoch ist hier kurz auf die

politische Situation im Jahr vor Eröffnung der GU einzugehen, denn diese hat sich

maßgeblich in den Arbeitsbedingungen – und damit im Scheitern – der Geschlossenen

Unterbringung Feuerbergstraße niedergeschlagen.2

1. Politische Vorgeschichte

Die Einrichtung der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße ist das Ergebnis einer Politik, die auf Symbole setzt statt auf Sorgfalt. Das Heim hat sich nie davon erholen können, dass es völlig überhastet in Betrieb genommen wurde.

Das Heim ist gescheitert, weil die Politik darauf bestand, unter allen Umständen noch im Jahr 2002 eine Geschlossene Unterbringung in Hamburg einzurichten.

1.1 Koalitionsvereinbarung Im Zuge des Regierungswechsels Ende 2001 haben sich die damaligen Koalitionspartner CDU, FDP und Partei Rechtsstaatliche Offensive (Schill) verständigt, „für Intensivtäter (insbesondere Gewalttäter und Dealer) die erforderliche Zahl von Plätzen in geschlossenen Einrichtungen“ bereitzustellen. „Die Einrichtungen“, so hieß es im Koalitionsvertrag weiter, „orientieren sich an den modernen Grundsätzen zur erzieherischen Betreuung“. Eine Zusammenarbeit mit umliegenden Bundesländern werde dabei „angestrebt.“

Alle drei Koalitionspartner hatten in ihren Wahlprogrammen die Einführung geschlossener Unterbringung junger Straftäter angekündigt: So hatte die FDP „als letztes Mittel die Einrichtung von geschlossenen Abteilungen in Jugendheimen nach modernen Betreuungs- und Erziehungskonzepten“ erreichen wollen, die Schill-Partei die „Einrichtung eines

2 Die Verfasser dieses Minderheitenvotums haben sich selbstverständlich bemüht, die Quellen der angeführten Zitate präzise zu nennen. Dennoch kann es im Einzelfall vorkommen, dass in dieser Stellungnahme genannte Zitate sich nicht auf genau derjenigen Seite wiederfinden, die wir in den Fußnoten angegeben haben. Das hat technische Gründe: Da im Laufe der Zeit mit verschiedenen Versionen einiger Dokumente – insbesondere der Vernehmungsprotokolle, aber auch des PUA-Abschlussberichts – und vor allem mit verschiedenen EDV-Systemen gearbeitet wurde, kann es vorkommen, dass sich Seiten in verschiedenen Fassungen der gleichen Texte verschoben haben. Dafür bitten wir um Nachsicht und um die Geduld, in Zweifelsfällen eine oder zwei Seiten vor oder nach der genannten Stelle nachzusehen.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 7 -

geschlossenen Heims für den harten Kern von Intensivgewalttätern unter Kindern und Jugendlichen mit 100 Plätzen.“ Noch weiter ging die CDU, die unter dem Stichwort „Gesicherte Unterbringung für jugendliche Straftäter“ in ihrem Wahlprogramm ausführte:

„Über 200 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 21 Jahren sind in Hamburg als sogenannte Intensivtäter registriert, die wiederholt bei Delikten der Rauschgift- und Gewaltkriminalität oder bei einer Sachbeschädigung oder Leistungserschleichung aufgegriffen wurden. (…) Wir werden für diesen Personenkreis eine gesicherte Unterbringung schaffen, in der die Jugendlichen sozialpädagogisch intensiv betreut werden.“

Im Ergebnis wurde die GU Feuerbergstraße Mitte Dezember 2002 und damit knapp 14 Monate nach der Wahl des Senats aus CDU, Schill und FDP eröffnet:3 Seinerzeit waren die Umbauarbeiten noch nicht vollständig abgeschlossen, das Personal noch nicht zusammengestellt, Lehrkräfte gab es zu diesem Zeitpunkt auch keine.

1.2 Druck aus Regierungsparteien Schill und CDU In dem der Eröffnung vorangegangenen Jahr hatte es immer wieder Auseinandersetzungen in der Koalition um die geplante Einrichtung gegeben: Bald nach dem Regierungswechsel hatte der Koalitionspartner der CDU, die Schill-Partei, begonnen, auf die zügige Schaffung einer großen Einrichtung zu drängen. In den Besprechungen der Regierungsparteien hat sich der damalige Zweite Bürgermeister und Innensenator Schill ab Frühjahr 2002 immer wieder erkundigt, warum es nicht vorangehe.4 Von Monat zu Monat gab es mehr kritische Nachfragen in Richtung Sozialbehörde, die mit der GU beauftragt war – von Seiten der Medien, der Koalitionspartner, aber auch aus den Reihen der CDU. Der damalige Justizsenator Dr. Roger Kusch (CDU) berichtete dem Untersuchungsausschuss, Schill habe „mit zu Recht kritischen Worten“ bemängelt, dass die Einrichtung noch nicht bestehe.5 Er,

3 Welch hohe politische Bedeutung der Einrichtung zugemessen wurde, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Polizeiführung gegenüber den entsprechenden Dienststellen anordnete, ihr über besondere Geschehen gesondert zu berichten (nämlich in Meldungen über sogenannte „Wichtige Ereignisse“). Diese Formulare wurden dem Ausschuss nicht mit der regulären Aktenvorlage übermittelt, sondern erst auf ausdrückliche Nachforderung. Der PUA hat erst im Zuge einer Zeugenaussage von der Existenz dieser Unterlagen in der Innenbehörde erfahren, vgl. auch Anfrage Drs. 18/6521. 4 Aussage Schnieber-Jastram, Wortprotokoll Nr.18/47 vom 22. Juni 2007, Seite 14; Aussage von Beust, Wortprotokoll Nr. 18/43 vom 08. Juni 2007, Seite 22. 5 Aussage Kusch, Wortprotokoll Nr. 18/22 vom 5. Mai 2006, Seite 15f.: „An die Zahl von Interventionen und das Datum kann ich mich nicht erinnern, denn das Jahr 2002 – ich spreche jetzt von 2002 – liegt für mein Gedächtnis doch schon ziemlich lang zurück. Aber Herr Schill kam in der Regel mit irgendeinem kleinen Büchlein in der Hand in den Senat, dem er einige Erkenntnisse entnahm und in das er auch gelegentlich etwas hineinschrieb. Das fiel mir auf, weil ich ohne Büchlein in den Senat kam und deshalb nichts hatte, wo ich lesen konnte, und auch nichts, wo ich hineinschreiben konnte. Es kam gelegentlich vor, dass er es aufschlug, sich dann meldete und dann erkennbar sich ein Stichwort aus diesem Büchlein holte und das dann vortrug. Mindestens zweimal, aber vielleicht auch drei- oder viermal – da die Abläufe relativ ähnlich waren, kann ich nicht sagen, wie oft ich dieses Ereignis verfolgen durfte – nannte er mit zu Recht kritischen Worten den Umstand, dass in der Feuerbergstraße immer noch nichts passiert sei, schwierig oder vielleicht noch negativer.“

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 8 -

der Justizsenator, habe in dieser Frage den Eindruck gehabt, dass „die Mehrheit am Tisch atmosphärisch auf der Seite von Schill“ gewesen sei.6

Sozialsenatorin Schnieber-Jastram (CDU) stand somit unter „erheblichem hochpolitischen Druck“, diese Einrichtung schnell zu eröffnen.7

Zugleich kristallisierte sich zunehmend auch in der Öffentlichkeit heraus, dass die Behörden in der Beurteilung der Größe der benötigten Einrichtung uneinig waren. Innensenator Schill sprach wiederholt von „200 unterzubringenden Intensivgewalttätern“8; es würden „mindestens hundert gefährliche Zeitbomben durch Hamburg laufen“.9 Die Sozialbehörde strebte eine viel kleinere Einrichtung an. Letztlich einigte man sich pro forma auf eine Zahl von 90 einzurichtenden Plätze; tatsächlich aber hatte die Sozialbehörde nicht die Absicht, eine so große Einrichtung, wie sie im Senat beschlossen war, in absehbarer Zeit zu realisieren.10 Dem damaligen Sozialstaatsrat Meister oblag es in der Praxis, eine Einigung mit der Innenbehörde zu erreichen.11 Er hatte die Leitung der Innenbehörde auf den Gedanken vorzubereiten, dass das zu gründende Heim zunächst nur über sechs bis 18 Plätze verfügen und auf bis zu 25 Plätze erweiterbar sein sollte.12

1.3 Verfrühte, weil unvorbereitete Inbetriebnahme der GUF Der hohe Druck, die Einrichtung zu öffnen, führte dazu, dass die Leitung der Sozialbehörde die Geschlossene Unterbringung unter allen Umständen noch vor Ablauf des Jahres 2002 eröffnet haben wollte.13

Im Ergebnis wurde die Einrichtung völlig überhastet in Betrieb genommen. Träger, Gebäude und Personal waren unzulänglich vorbereitet, das Konzept pädagogisch und rechtlich nicht ausreichend durchdacht.

Der Konzeptentwurf für die GU Feuerbergstraße wurde erst im Februar 2003 fertig gestellt – zwei Monate nach Betriebsbeginn. Die Heimaufsicht hatte ihre Betriebserlaubnis erteilt ohne

6 Nur Schill habe die Kritik deutlich geäußert. „Aber genauso, wie es atmosphärisch zu spüren und fast zu beobachten war im Jahr 2003, dass in der Feuerbergstraße manches nicht stimmt, hatte ich jedenfalls den Eindruck, dass die Mehrheit am Tisch atmosphärisch auf der Seite von Schill war.“ Kusch, Wortprotokoll vom 05.05.2006, Seite 16. 7 Aussage Schnieber-Jastram, Seite 27. 8 Er hielt daran bis zum Ende fest, vgl. Rede Ronald Schills im Plenum der Bürgerschaft am 25. Februar 2004, Seite 3355. 9 Aussage von Beust, Seite 16. 10 Aussage Schnieber-Jastram, Seite 28. 11 Aussage von Beust, Seite 16. 12 Aussage Meister, Wortprotokoll Nr. 18/27 vom 18.08.06, Seite 11. 13 Der damalige Geschäftsführer des LEB, Herr Lerche, sagte aus, dass es eine Vorgabe der Behörde gab, dass die Einrichtung 2002 ihren Betrieb aufnehmen sollte (Wortprotokoll 18/10 vom 28.10.2005, S. 30). Staatsrat Meister sagte aus, die Behörde habe sich bei der Eröffnung schon im Verzug gesehen, es wäre hohe Zeit gewesen und es wäre sein Wunsch gewesen, sobald als möglich zu eröffnen (Wortprotokoll 18/8, S. 67).

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 9 -

– wie üblich und seit 2005 gesetzlich vorgeschrieben – das am 20. Februar 2003 erstellte Konzept gesehen zu haben.14

Der Träger, der staatliche „Landesbetrieb Erziehung und Berufsbildung“, eröffnete das Heim in dem Glauben, dass ein Neubau folgen würde,15 Mitarbeiter nahmen ihre Tätigkeit in der gleichen Annahme auf,16 die Heimaufsicht erteilte die Betriebserlaubnis für die Feuerbergstraße unter dem Eindruck, dass es sich um eine „vorübergehende Situation“ und um ein „Provisorium“ handele.17

1.4 Finanzplanung sah Neubau vor, Geduld des Senats nicht Der Senat hätte drei Möglichkeiten zur räumlichen Unterbringung der Einrichtung gehabt: die Interimslösung Feuerbergstraße, ein Neubau, eine Dauerlösung Feuerbergstraße. Die finanziellen Vorgaben bestätigen, dass es sehr ernsthafte Neubauplanungen gab18 und das Gebäude in der Feuerbergstraße nur vorübergehend genutzt werden sollte:19

Das Senatskonzept vom September 2002 hatte für einen provisorischen Umbau des Kinder- und Jugendnotdienstes (KJND) Investitionsmittel in Höhe von 1,5 Mio. Euro in Aussicht gestellt, die Mittel für die endgültige Einrichtung wurden zwischen 3,5 bis 4,5 Mio. Euro beziffert und sollten im Haushalt 2003 zurückgestellt werden.20

Der dann umgesetzte, zunächst mit 290.000 Euro veranschlagte Umbau in der Feuerbergstraße war in den Unterlagen der Bauabteilung des LEB als Interimslösung vorgestellt worden.21 Sie wurde von der Behördenleitung vermutlich bevorzugt, weil sie innerhalb von zwei Monaten bis zum Dezember 2002 zu realisieren war. Ein Neubau hätte mit all den notwendigen Ausschreibungsverfahren und dem größeren baulichen Aufwand nicht vor dem Jahresende 2003 eröffnet werden können. Die dritte Variante, eine Dauerlösung Feuerbergstraße, hätte zehn Monate bis zur Fertigstellung gebraucht und 4,5

14 Konzept Entwurf 20. Februar 2003, in BSF A-33; zur üblichen Praxis, zur Betriebserlaubnis auch das Konzept einer Jugendhilfeeinrichtung hinzuziehen siehe PUA-Abschlussbericht, S. 69. 15 Geschäftsführer des LEB Herr Lerche, Wortprotokoll 18/10 vom 28.10.2005, S. 55ff. 16 Aussage Herr Apitz, Wortprotokoll 18/39 vom 27.04.2007, S. 33; Aussage Herr Freiesleben, Wortprotokoll 18/38 vom 13.04.2007, S. 19f. 17 Aussage Frau Eltner Heimaufsicht, Wortprotokoll 18/46 vom 18.06.2007, S. 105.; Aussage Herr Fischer, Wortprotokoll 18/49 vom 06.07.2007, S. 16f. 18 Die CDU hat bei der Beschlussfassung über den Abschlussbericht Passagen, die der Arbeitsstab zu den Neubauplanungen formuliert hat, mit Mehrheitsbeschluss aus dem Berichtstext gestrichen. 19 Vgl. auch Drs.17/3264, Anfrage des Abg. Hesse vom September 2003 (S. 3). Dort werden die Baukosten bis zum September 2003 mit rd. 500.000 Euro beziffert; es heißt, „angesichts des nicht genau vorhersehbaren Bedarfs“ sei entschieden worden, mit der Geschlossenen Unterbringung in der Feuerbergstraße „zu beginnen.“ 20 Niederschrift über die Senatssitzung vom 03. September 2002, in Generalakten der Justizbehörde. Az. JB4212/2/2-2. Vgl. auch PUA-Abschlussbericht, S. 185ff. 21 LEB 13, Herr Petersen Vermerk vom 6. August 2002. Zentrale Arbeitsvorhaben 04/2002: Geschlossene Unterbringung, Bauliche Umsetzung, in BSF A-5. Im von der BSF ausgearbeiteten Senatskonzept vom November 2002 war nur noch von Investitionsmitteln in Höhe von 290.000 Euro die Rede, Konzept des Senats, November 2002, S.10.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 10 -

Mio. Euro gekostet.22 Auch hier wäre das Ziel der Behördenleitung, noch im Jahr 2002 zu eröffnen, nicht erreicht worden. Tatsächlich waren bis zum Dezember 2003, auch nachdem Türen und Zäune nachgerüstet worden waren, rd. 800.000 Euro in den Bau investiert worden. Diese Summe liegt deutlich unter der Investitionssummen von 4 bis 5 Mio. Euro, die für eine Einrichtung im Dauerbetrieb berechnet worden waren.23

22 Die Interimslösung Feuerbergstraße, Fertigstellung in 2 Monaten Dezember 2002, geschätzte Kosten 290.000 Euro. Neubaulösung: Fertigstellung Jahresende 2003, geplant waren zunächst zwei Einrichtungen, eine für Kinder (2,75 Mio. Euro) und eine für Jugendliche (5,38 Mio. Euro). Bauträger und Baugrundstück standen am 6. August 2002 bereits zur Verfügung. Dauerlösung Feuerbergstraße Fertigstellung in 10 Monate, angeblich Dez. 2002, Kosten 4.5 Mio. LEB 13, Herr Petersen Vermerk vom 6. August 2002: Zentrale Arbeitsvorhaben 04/2002: Geschlossene Unterbringung, Bauliche Umsetzung, in BSF A-5. 23 Herr Petersen, Leiter der Bau und Grundstücksabteilung LEB, an Amt SF, SF 412, Frau Agbaglo am 12. Dezember 2003 Kosten für bauliche Maßnahmen im Zusammenhang mit der Wiedereinführung der Geschlossenen Unterbringung, in BSF A-5.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 11 -

2. Kosten der Eile

2.1 Rechtsverstöße und Rechtsunsicherheiten

Die Einweisungsverfahren und die Behandlung der Minderjährigen in der Geschlossenen Unterbringung waren oftmals gekennzeichnet durch eine erhebliche Rechtsunsicherheit, in einigen Fällen sogar durch Rechtsverstöße der beteiligten Stellen, vom Jugendamt FIT, den Vormündern, den Gerichten, dem engagierten Sicherheitsdienst über die Heimleitung und Betreuer bis hin zu den behandelnden Ärzten.

Alle diese Fachleute bewegten sich auf neuem, für sie zunächst unbekanntem Terrain. Eine sorgfältige juristische Abklärung der Verfahren und eine ebenso sorgfältige Aufklärung aller Beteiligten wäre Aufgabe der Behörde für Soziales und Familie – bei Bedarf unter Mithilfe der Justizbehörde – gewesen. Mit den juristischen Vorerfahrungen aus dem offenen Jugendhilfebereich und juristischem Laienverständnis mussten die Mitarbeiter immer wieder an ihre Grenzen stoßen. Bitten aus der Belegschaft der GUF um juristische Abklärung von Dienstanweisungen, Umgang mit den Rechtsbeiständen der Jugendlichen und vor allem in gewalttätig eskalierenden Situationen, ist die Behörde zum Teil gar nicht, zum Teil erst mit erheblicher Verspätung oder sogar erst als Reaktion auf Arbeitsergebnisse des PUAs nachgekommen.

2.1.1 Fehler im Einweisungsverfahren

Unsicherheiten bei der Antragstellung

Es gab beim einweisenden Jugendamt FIT, vor allem in der Anfangszeit, Unsicherheiten bei der Frage, wer überhaupt eine Geschlossene Unterbringung beantragen kann. Das Gesetz sieht vor, dass nur die Sorgeberechtigten, also die Eltern – sofern ihnen das Sorgerecht nicht entzogen wurde – diesen Antrag stellen dürfen. Weigern sich die Eltern, so bleibt dem Jugendamt die Möglichkeit, beim Gericht den Entzug des Sorgerechts zu beantragen.24 Die stellvertretende Leiterin des FIT sagte dazu aus: „Am Anfang, in der ersten Zeit – ich wusste nicht, dass das so lange war – haben wir das noch gar nicht so genau gewusst. Es muss ja der Sorgeberechtigte machen, diese Anträge zu stellen. Aber das war am Anfang noch gar nicht so deutlich.“25

Bei dem Jugendlichen J 20 findet sich in den Akten kein von den sorgeberechtigten Eltern unterzeichneter Antrag, sondern nur ein Antrag, der von Mitarbeitern des FIT unterzeichnet war.26 Auch bei weiteren Jugendlichen ließ die Aktenlage Fragen offen, ob es stets die sorgeberechtigte Person war, die den Antrag stellte. Bei dem Jugendlichen J 03 merkte der Arbeitsstab an, es sei unklar, „warum die Mutter des Minderjährigen vom FIT fälschlich als

24 Siehe dazu auch die Ausführungen des PUA-Abschlussberichts, V.3.1.2. 25 Wortprotokoll 18/36 vom 16.02.2007, S. 57. 26 Wortprotokoll 18/36 vom 16.02.2007, Anmerkung des stellvertretenden Arbeitsstableiters Herrn Uthmann, S. 83.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 12 -

antragsberechtigt angesehen wurde“ und „warum der Antrag nicht von der in der BSF gemäß § 55 Abs. 2. Satz 1 SGB VIII beauftragten Person (sogenannten Amtspflegerin) gestellt wurde.“27 Bei dem Minderjährigen J 04 sei offen, „warum das FIT sich für antragsberechtigt erachtete.“28

Diese Rechtsunsicherheiten waren in hohem Maße dazu geeignet, Elternrechte zu beschädigen, oder auch andersherum, die Rechte der Minderjährigen von Seiten der Amtspfleger nicht ausreichend zu vertreten. In einem Bereich, der so stark in die Rechte von Kindern und Eltern eingreift, sind solche Unklarheiten nicht vertretbar.

Späte oder fehlende gesetzlich vorgeschriebene psychiatrische Gutachten

Für die Einweisung in eine geschlossene Unterbringung ist ein psychiatrisches Gutachten einzuholen (§§ 70 ff FGG).29 Eine einstweilige Unterbringung muss zumindest mit einer ärztlichen Stellungnahme versehen sein. Diese unabhängige Expertise soll die Objektivität für einen Beschluss des Gerichts sichern, der tief in die Persönlichkeitsrechte eines Menschen eingreift.

Von siebzig Gerichtsverfahren im Untersuchungszeitraum, standen diese ärztlichen Empfehlungen nur sechs Mal vor der Beschlussfassung des Gerichts zur Verfügung.30 Vierzehn Betreute lebten zwischen zwei Wochen und zehn Monaten in der Einrichtung, bevor das Gericht in einem erneuten Beschluss das Gutachten würdigte, durchschnittlich dauerte es ein Vierteljahr.31 Für zwei Jugendliche lag das Gutachten erst nach der Entlassung vor.32 Sechs Minderjährige lebten dort, ohne dass es je ein Gutachten oder eine Stellungnahme gab. 33

Die rechtzeitige Erstellung eines Gutachtens oder einer Stellungnahme war damit eine seltene Ausnahme. Fast ein Drittel der Minderjährigen lebten in der GUF, ohne dass bis zu ihrer Entlassung ein unabhängiger Gutachter ihre Unterbringung als notwendig und alternativlos erachtet hätte. Für die Mehrheit der Gutachten, die nach der Einweisung in die GUF erstellt wurden, bleibt festzuhalten, dass sie immer vor der Schwierigkeit standen, zu einer Frage Stellung nehmen zu müssen, die das Gericht bereits, wenn auch oft vorläufig, beantwortet hatte.

27 Arbeitsstabvermerk Nr. 49, S. 2f. 28 Arbeitsstabvermerk Nr. 49, S. 4. 29 Bernzen, S. 115. 30 Zahlen nach dem Arbeitsstabvermerk Nr. 52, diese sechs Beschlüsse galten für die fünf Jugendlichen J 07, J 08, J 10, J 16 u. J 24. 31 Zahlen nach dem Arbeitsstabvermerk Nr. 52, J 03, J 04, J 05, J 06, J 09, J 13, J 14, J 16, J 17, J 18, J 19, J 21, J 22. 32 Zahlen nach dem Arbeitsstabvermerk Nr. 52, J 17, J 22. 33 Zahlen nach dem Arbeitsstabvermerk Nr. 52, J 01 für 2 Mal einen Monat, J 11 für 3 Wochen, J 23 für 10 Tage, J 25 für 3,5 Monate, J 02 für einen Monat, J 12 für 2 Wochen.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 13 -

Insgesamt wird mit dieser Praxis ein zentrales Sicherungsinstrument ad absurdum geführt, das bei der schwer zu treffenden Feststellung helfen soll, ob die Maßnahme für das Kindeswohl angemessen und alternativlos ist.

Zwei der verspäteten Gutachten sprachen sich im Übrigen gegen die Unterbringung aus. Der eine Jugendliche war zu diesem Zeitpunkt bereits drei Wochen in der Feuerbergstraße und blieb auch nach Eingang des Gutachtens noch mehr als vier Wochen dort. Der andere Jugendliche lebte beinahe sieben Wochen in der Einrichtung bevor ein Gutachter eingeschaltet wurde und sich gegen die Unterbringung aussprechen konnte. Dieser Jugendliche wurde erst drei Monate später entlassen.34

Ein Problembewusstsein beim Jugendamt, der GUF, der Justizbehörde oder der BSF war nicht zu erkennen.

Späte gerichtliche Anhörungen

Um sich selbst ein Bild von dem Betroffenen und seiner Situation zu machen, hat das Gericht die Minderjährigen prinzipiell persönlich anzuhören. Diese gerichtlichen Anhörungen der Betreuten erfolgten regelhaft erst Tage und Wochen nach der Unterbringung. Nur jeder Vierte in der GUF betreute Jugendliche wurde vor seiner Einlieferung in die Feuerbergstraße vom Richter gehört. Alle anderen Minderjährigen verbrachten zwischen einem bis zu 50 Tagen (durchschnittlich 10 Tage) in der Einrichtung, ohne dass sie sich gegenüber dem Richter zu ihrer Einweisung äußern konnten.35 Das liegt vor allem an der von Prof. Dr. Bernzen scharf kritisierten Praxis der Inobhutnahmen und der einstweiligen Anordnungen der Geschlossenen Unterbringung.36

Geschlossene Inobhutnahmen

Geschlossene Inobhutnahmen nach § 42 SGB VIII erlauben es, Kinder und Jugendliche für 24 Stunden ohne richterlichen Beschluss und Zustimmung der Eltern geschlossen unterzubringen. Der Freiheitsentzug ist nach einem Tag zu beenden, wenn kein gerichtlicher Beschluss dazu vorliegt.37

Acht Minderjährige wurden zunächst über geschlossene Inobhutnahmen in die Feuerbergstraße eingewiesen. Nur einer wurde am selben Tag wieder entlassen.38 Bei den anderen Jugendlichen schlossen sich vorläufige Beschlüsse des Familiengerichts an. Damit war für rund ein Drittel der dort lebenden Jugendlichen das Verfahren von größter Eile geprägt, die Einweisungen erfolgten sozusagen auf den letzten Drücker. Große Eile birgt allerdings immer die Gefahr, dass in den Verfahren nicht alle Vorschriften beachtet und nicht alle vorgeschriebenen Schritte gemacht werden. Diese Gefahr hat sich, wie oben gezeigt, in

34 Drs. 18/3782, Antwort zu Frage 6. 35 Drs. 18/6222, S. 1 und Anlage. 36 Bernzen, S. 115, 204-206, 209. 37 Siehe dazu auch Bernzen, S. 65-67 u. PUA-Abschlussbericht, V.3.2. 38 Drs. 18/1925, Anlage 4, Jugendliche Nr. 1, 10, 11, 12, 13, 14, 24, 25.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 14 -

vielen Verfahren realisiert. In München beispielsweise liegt die Häufigkeit von solchen Eilverfahren am Anfang einer geschlossenen Unterbringung bei 15%.39

Die geschlossene Inobhutnahme ist überdies nur bei akuter Gefahr für Leib und Leben der Minderjährigen oder Dritter zulässig. In allen anderen Fällen können solche Eilmaßnahmen nicht auf den § 42 SGB VIII gestützt werden. Prof. Dr. Bernzen berichtet in seinem Gutachten, das FIT habe vor allem dann von der geschlossenen Inobhutnahme Gebrauch gemacht, „wenn der Minderjährige u.a. aus Polizeigewahrsam in die Einrichtung überführt werden soll. In zwei Fällen wurde aus der Jugendwohnung in Obhut genommen, bzw. nach jugendgerichtlicher Verhandlung, in der kein Haftbefehl ausgesprochen worden ist.“40 In zwei Fällen waren Jugendliche geschlossen in Obhut genommen worden, weil eine erneute Straftat vorlag oder vermutet wurde, dass weitere Straftaten verübt werden könnten. Bei beiden wurde in den Anträgen nicht von einer Gefahr für Leib und Leben ausgegangen.41 Damit waren die Einweisungen nicht rechtmäßig.

So wünschenswert es ist, die Jugendlichen von Straftaten abzuhalten oder für verübte Straftaten zur Verantwortung zu ziehen, sowenig ist die geschlossene Inobhutnahme dafür das geeignete Instrument. An dieser Stelle zeigt sich noch einmal eine nicht zu akzeptierende Unschärfe bei den Einweisungsverfahren.

Unterbringungen ohne gültige Beschlüsse

Mit Sicherheit einer der schwersten Verstöße gegen die Rechte der Betreuten, die der PUA feststellen musste, waren die dreizehn Unterbringungen von Kindern und Jugendlichen, ohne gültige gerichtliche Beschlüsse. In diesen Fällen wurden die bestehenden Einspruchsfristen ignoriert.

Der Arbeitsstab des PUA hatte in seinem Vermerk 18 dazu ausgeführt: „Jedenfalls 13 Minderjährige hielten sich zeitweise in der GU auf, ohne das beachtet wurde, dass die getroffenen familiengerichtlichen (einstweiligen) Unterbringungsbescheide noch nicht wirksam waren. (...) Zwei Minderjährige blieben über den Zeitpunkt hinaus in der GUF, der familiengerichtlich als spätester Zeitpunkt des Endes der Aufenthaltsmaßnahme festgelegt worden war.“42

Dieser Umstand wurde von dem renommierten Rechtsgutachter Prof. Dr. Bernzen bestätigt. „In einer Reihe von Fällen wurde die Betreuung von Minderjährigen in der Einrichtung in der Feuerbergstraße begonnen oder fortgesetzt, obwohl die gerichtlichen Beschlüsse noch nicht wirksam waren. Insbesondere waren dies die Fälle, in denen die Beschwerdefrist noch lief und die sofortige Wirksamkeit nicht angeordnet worden war. Für Zeiträume bis zum Eintritt der Wirksamkeit der Entscheidung handelte es sich bei der Betreuung jeweils um eine

39 Silvia Fischer: Verfahrenswege und Verfahrensrealitäten freiheitsentziehender Maßnahmen bei Minderjährigen aus gerichtlicher Sicht. In: Rüth, Pankofer, Freisleder: Geschlossene Unterbringung im Spannungsfeld von Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe. S. 29-46, hier S. 36. 40 Bernzen, S. 89. 41 Bernzen, S. 89f. 42 Vermerk Nr. 18 des Arbeitsstabes vom 6.10.2005, S. 4.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 15 -

rechtswidrige Freiheitsentziehung. (...) Dort wo die Freiheitsentziehung in der Einrichtung rechtswidrig ist, setzten sich die verantwortlichen Mitarbeiter der Gefahr einer Strafverfolgung wegen Freiheitsberaubung gemäß § 239 StGB aus.“43 So hat auch die Staatsanwaltschaft nach Bekanntwerden der Vorgänge im Oktober 2005 ein Vorermittlungsverfahren aufgenommen.44

2.1.2 Verstöße gegen Rechte der Minderjährigen in der GUF

Unzulässige Einschränkungen beim Vertrauensverhältnis zu Verfahrenspflegern und Rechtsanwälten

Jedem in der GUF betreuten Jungen musste ein Verfahrenspfleger zur Seite gestellt werden, der dem Minderjährigen seine Rechte beim familiengerichtlichen Verfahren des Freiheitsentzugs zu erläutern und für sie einzutreten hatte. So schreibt es das Gesetz vor (§ 70b FGG). Verfahrenspfleger können die Jugendlichen auch während ihres Aufenthaltes in der Geschlossenen Unterbringung begleiten und der Einrichtung gegenüber ihre Interessen wahrnehmen. Zudem vertraten Rechtsanwälte Jugendliche aus der GUF bei Strafrechtsverfahren.

Das besondere, geschützte Vertrauensverhältnis zum Anwalt oder Verfahrenspfleger45 wurde in der GUF allerdings nicht respektiert. Betreute der GUF konnten Gespräche mit Verfahrenspflegern und Rechtsanwälten, lt. Senat bis zum Herbst 2003 nur in Anwesenheit von Erziehern und Sozialpädagogen führen. Diese Praxis soll geändert worden sein, als sich ein Anwalt darüber beschwerte.46

Dass es hier einen juristischen Klärungsbedarf gab, war der Heimleitung allerdings bereits im Mai 2003 bewusst. Auf einer Teambesprechung wurde angekündigt, Herr Dr. Bange, als kommissarischer Geschäftsführer des LEB, solle dies klären.47 Im Juli wurde der Arbeitsauftrag an einen Sozialpädagogen der GUF zurückgegeben, der feststellte, dass es immer noch Unsicherheiten bei der Rechtsgrundlage für die Besuchsregelung der Anwälte und Verfahrenspfleger gäbe.48 Die einschlägige Dienstanweisung dazu wurde erst ein knappes Jahr später, im Juni 2004, erlassen: „Auf die Anwesenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Telefonaten der Jugendlichen mit ihren Verfahrenspflegern und Anwälten wird in Zukunft verzichtet. (...) Grundsätzlich ist es dem Jugendlichen sofort zu ermöglichen, seinen Anwalt und Verfahrenspfleger zu sprechen, soweit es das Tagesgeschehen

43 Bernzen, S. 155f. 44 Das Verfahren war im Sommer 2007 noch nicht beendet. Näheres dazu unter Ziffer 5.5 dieses Votums. 45 „Bei den Kontakten mit Verfahrenspflegern und Rechtsanwälten ist aufgrund des gesetzlich geschützten persönlichen Vertrauensverhältnisses zwischen diesen und dem Minderjährigen eine Steuerung durch oder eine Teilnahme von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Einrichtung unzulässig.“ Bernzen, S. 169. 46 Drs. 18/3014, Vorbemerkung. 47 Teambesprechung, Protokoll v. 20.05.2003, in BSF C-3. 48 Teambesprechung, Protokoll v. 08.7.2003, in BSF C-3.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 16 -

zulässt.“49 Es ist zu vermuten, dass Kontakte der Minderjährigen zu Verfahrenspflegern und Rechtsanwälten noch bis zu diesem Zeitpunkt nicht in jedem Fall unter vier Augen stattgefunden hatten.

Auch in dieser Frage haben Behörde und Träger, trotz ausdrücklicher Bitten aus der GUF, versäumt, mit juristischem Sachverstand rasch zu einer Klärung der Situation beizutragen, bevor die Rechte von Minderjährigen beeinträchtigt wurden.

Verstöße gegen das Briefgeheimnis

Alle eingehenden und ausgehenden Briefe der Minderjährigen wurden in der GUF regelhaft gelesen und zumindest in einem Falle auch kopiert und zu den eigenen Akten genommen.50 Mit dieser Regelung stand nicht nur der geschützte private Bereich der Jugendlichen grundsätzlich den Blicken der Betreuer offen, die Einrichtung hatte damit auch die Kontrolle über die Post an Verfahrenspfleger und Aufsichtskommission. Das Heim sah sein Handeln durch das Erziehungsrecht gedeckt. Prof. Dr. Bernzen widerspricht dem deutlich: „Für die skizzierte Praxis der freien und unbeschränkten Postkontrolle, die bis zum 19. Oktober 2005 bestand, muss in weiten Teilen deren Rechtswidrigkeit angenommen werden.“51

Rechtsunsicherheiten bei der Anwendung physischen Zwangs

Obgleich es in der GUF wöchentlich mehrfach zu Angriffen und Übergriffen von Minderjährigen auf Mitarbeiter und andere Jugendliche kam, gab es in der Einrichtung erst im Herbst 2004 eine juristisch überprüfte Dienstanweisung zu der Frage, was Mitarbeiter in solchen Situationen tatsächlich tun dürfen.52 Dabei hatten Mitarbeiter sehr früh auf Klarheit in diesen rechtlichen Fragen gedrungen.53 Auch der Geschäftsleitung des LEB war im späten

49 Zitiert aus der Drs. 18/3014, Antwort zu Frage 1b. 50 Teambesprechung v. 03.03.2003: Eingehende und ausgehende Briefe müssen kontrolliert und inhaltlich geprüft werden, sonst keine Übergabe an Empfänger. Und Teambesprechung vom 07.10.2003, Jugendlichenpost: Die eingehende und ausgehende Post der Jugendlichen läuft immer über die Psychologin (in BSF C-3). Und Dienstanweisung v. 01.04.2004. „Die ein- und ausgehende Post der Jugendlichen ist zu kontrollieren. Post, bei der die Kontrolle verweigert wird, wird nicht abgeschickt, bzw. ausgehändigt. Private Post, eingehende sowie ausgehende, ist zu öffnen und zu lesen. Die Jugendlichen können dafür eine Person des Vertrauens benennen. Behördenpost der Jugendlichen ist durch die anwesenden MitarbeiterInnnen zu öffnen und mögliche Termine werden im Kalender vermerkt. Der Jugendliche erhält, wenn notwendig, eine Erklärung bzw. Erläuterung des Inhalts. Der Brief ist danach im Jugendlichenordner abzuheften“ (zitiert nach Drs. 18/3013). „Die Freundin von J 01 hat ein Paket und Briefe gebracht. Die Briefe habe ich gelesen und nach Rücksprache mit [der Psychologin] kopiert und bis auf einen J 01 gegeben. Der eine Brief und die Kopien liegen bei [der Psychologin] im Büro“ (07.10.2003, Übergabebuch Gruppe 2, in BSF C-7). 51 Bernzen, S. 176. 52 V53 über V5 an FS7: Entwurf einer Dienstanweisung des LEB zum Einsatz physischer Mittel in Gefahren und Krisensituationen. Stand: 25. August 2004, in: BSF B-15. Diese erreicht die Mitarbeiter in der Einrichtung in Form einer Dienstanweisung erst am 24.09.2004 und in einer Dienstbesprechung am 20.10.2004 (Protokoll Dienstbesprechung v. 20.10.2004, in BSF B-8). 53 Teambesprechung Protokoll v. 28.04.2003: Wunschliste des Personals an den neuen kommissarischen Leiter Dr. Bange. Teambesprechung, Protokoll vom 06.05.03: Zusage des damaligen kommissarischen Leiters des LEB, Dr. Bange, diese rechtlichen Fragen zu klären (in BSF C-3).

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 17 -

Frühjahr 2003 noch sehr bewusst, dass es einen juristischen Klärungsbedarf gab und vermerkte auf ihrer To-Do-Liste: „Die neuen Regeln für den Einrichtungsbetrieb müssen rechtlich überprüft werden“, und gleich dahinter notierte sie: „Rechtliche Überprüfung durch BSF kommt nicht voran, ggf. ext. Gutachten.“54 Im August wird in der Liste vermerkt: „Rechtliche Überprüfung nicht erforderlich.“55

Auf die Frage im Ausschuss, warum eine solche rechtliche Überprüfung im August 2003 nicht mehr erforderlich war, wusste Herr Dr. Bange keine Antwort und verwies darauf, dass die Klärung Aufgabe des LEB gewesen sei.56 Der Geschäftsführer des LEB, Herr Müller, sagte indes aus, dass die Behörde eine solche juristische Überprüfung für nicht erforderlich hielt und er aus der BSF über Herrn Dr. Bange die Botschaft erhalten habe, dass man sich dort mit der Frage nicht beschäftigen möchte.57

Erst nachdem es schon Strafanzeigen gegen Pädagogen gekommen war und die Ermittlungsverfahren zu einer weiteren Verunsicherung führten,58 bewegte sich die Behörde allmählich und veranlasste ihre Rechtsabteilung, eine Dienstanweisung zu entwerfen, die den Mitarbeitern den rechtlichen Rahmen verdeutlichte.59 Der Senat hat in diesem Zusammenhang in Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage ausgeführt, die Behörde habe in dem Moment gehandelt, in dem „Zweifel an der Verfahrenssicherheit beim Einsatz physischer Mittel in Gefahren- und Krisensituationen aufgekommen“ seien. Diese Zweifel, so die Senatsauskunft, seien im August 2004 aufgetaucht.60 Wie geschildert, hatten die Bediensteten der GU bereits ab dem Frühjahr 2003 um eine rechtliche Klärung gebeten.

54 Dr. Bange u. Herr Müller: Vermerk Optimierung der GU in der Feuerbergstraße. Eintrag D 1, Juni, August. Nachträglich von Dr. Bange dem PUA überlassen. 55 Ebd. 56 Herr Dr. Bange zeigte sich überrascht, dass diese rechtliche Überprüfung nicht stattgefunden hat und sagte aus, er habe die Umsetzung dieser Liste für eine Aufgabe des LEB gehalten. Wortprotokoll 18/9, 27.09.2005, S. 94 57 Herr Müller, der Geschäftsführer des LEB, hingegen sagte aus, die BSF habe ihm verdeutlicht, dass die rechtliche Überprüfung nicht gewünscht sei (Wortprotokoll 18/11, S.127-129). Er hätte sich bei einer externen juristischen Prüfung über den Wunsch der Behörde hinweggesetzt und zudem habe er im August 2003 wegen der wirtschaftlichen Talfahrt seines Betriebes der rechtlichen Überprüfung nicht allzu viel Priorität eingeräumt (ebd. S. 128f). 58 Die Mitarbeiter seien durch interne Ermittlungen verunsichert und trauten sich in gewaltbesetzten Konfrontationen nicht mehr, wie zuvor, mit körperlichen Einsatz die Konflikte zu deeskalieren. In solchen Situationen hätten Mitarbeiter die gewaltbereiten Jugendlichen durch Haltetechniken fixiert, um Gefahr für sich und andere abzuwenden. Aufgrund solcher Vorkommnisse sei es zu vielen Verleumdungen gekommen. Die Verfahrenspfleger und ihre Aussagen gegenüber den Jugendlichen heizten die Situation weiter an (siehe Vermerk von Heimleiter Herrn Weylandt an den Geschäftsführer des LEB, Herrn Müller, weitergeleitet an den Abteilungsleiter Herrn Dr. Bange und den Amtsleiter Herrn Riez und Herrn Mose, Präsidialabt. BSF, vom 24.06.2004, in BSF B-3). 59 Zunächst wurde noch der LEB aufgefordert „dringend und umgehend“ eine Heimordnung zu erstellen, die regelt, wie sich Mitarbeiter in einer solchen Notwehrsituation verhalten sollen, und wie eine solche Situation zu dokumentieren ist (siehe Vermerk des Abteilungsleiters Dr. Bange an den Geschäftsführer des LEB vom 25.07.2004, in Akte BSF A-20). Der LEB entwirft eine erste Fassung und überlässt sie der Behörde zur Überarbeitung. Die Dienstanweisung tritt schließlich am 24.09.2004 in Kraft. 60 Senatsauskunft Drs. 18/3026, Ziffer 10f.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 18 -

Hier sind pädagogische Mitarbeiter in schwerwiegenden rechtlichen Fragen viel zu lange allein gelassen worden. Sie trugen das erhebliche Risiko, sich entweder strafbar zu machen oder im anderen Falle schlicht und einfach Prügel zu kassieren. Für die dort betreuten Kinder und Jugendlichen erhöhte diese Rechtsunsicherheit das Risiko unangemessenen Einschreitens durch die Erzieher und Sozialpädagogen, sei es durch zu späte Nothilfe oder überzogene körperliche Zwangsmaßnahmen.

Rechtsunsicherheiten beim Sicherheitsdienst

Die Dienstanweisungen der Sicherheitsdienst-Mitarbeiter schrieben vor, dass bei Fluchtversuchen nur Maßnahmen der sogenannten Nacheile zulässig sind. Ist ein Minderjähriger gestellt, darf er festgehalten werden bis der Pädagoge eintrifft. Sicherheitsdienst-Mitarbeiter haben nicht die Eigenschaft und nicht die Befugnisse eines Polizeibeamten.61 Zum Umgang mit den Klettbändern wurde geregelt: Klettband zum Fixieren, nach Absprache mit dem Pädagogen.62 Für Konfliktsituationen galt: Erst wenn alle Mittel durch den Pädagogen ausgeschöpft sind, darf der Sicherheitsdienst-Mitarbeiter zum Einsatz kommen.

So deutlich die Dienstanweisungen waren, so schwer war es, diese Weisungen einzuhalten. Probleme gab es in der Praxis nicht nur, weil es in eskalierenden Situationen oftmals sehr schnell gehen musste, sondern auch, weil nicht in jedem Falle ein Pädagoge überhaupt anwesend war. Der Arbeitsstab hat in seinem Vermerk 25 festgestellt, dass Sicherheitsdienst-Mitarbeiter einen 13-Jährigen zwei Mal mit Klettbändern fixierten, ohne dass die Akten einen Anhaltspunkt geben, dass ein Pädagoge dies angewiesen oder auch nur in der Nähe war.63 Darüber hinaus gab es acht Situationen, in denen Sicherheitsdienst-Mitarbeiter ohne sicher festzustellende Anwesenheit von Pädagogen Minderjährige zu Boden brachten oder mit Haltegriffen fixierten.64 Ob dieses Vorgehen in allen Fällen von einem Notwehrrecht abgedeckt war, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen; deutlich macht es allerdings, dass Sicherheitsdienst-Mitarbeiter in kritischen Situationen mit Minderjährigen allein waren und ohne pädagogische Leitung und Unterstützung agieren mussten.

61 Dienstanweisungen Sicherheitsdienst, Teil 1, Objektspezifische Anweisungen, S. 7. 62 Ebd., S. 8. 63 Arbeitsstabvermerk Nr. 25, S. 3, Vorkommnisse am 17. und 20. Juli 2004. 64 „'Jugendlicher wurde von mir zu Boden gebracht und fixiert, im Anschluss auf Zimmer gebracht.' Es liegen keine Anhaltspunkte für die Anwesenheit eines GUF-Mitarbeiters vor. (...) 'S. wurde von M. und mir zu Boden gebracht und fixiert.' Herr M. ist Mitarbeiter von Securitas. Es liegen keine Anhaltspunkte für die Anwesenheit eines GUF-Mitarbeiters vor. (...) '9.00 Uhr, D. beleidigt MA R. und greift ihn unmittelbar darauf mit Fußtritten und Schlägen. D. wird von S. und mir fixiert bis er ruhig ist.' Herr S. und Herr R. sind Mitarbeiter von Securitas, es liegen ansonsten keine Erkenntnisse vor, ob ein GUF-Mitarbeiter anwesend war. (...) 'D. drehte durch und bewirft Herrn K. mit einem Schuh. Danach versuchte er mich zu treten und wurde dann von mir zu Boden gebracht und fixiert. Nach 10 Minuten hatte D. sich wieder beruhigt und versprach Besserung.' Herr K. ist Securitas-Mitarbeiter, es liegen keine Anhaltspunkte für die Anwesenheit eines GUF-Mitarbeiters vor. (...) 'E. und J. müssen fixiert werden nach Auseinandersetzung.' Es liegen keine Anhaltspunkte für die Anwesenheit eines GUF-Mitarbeiters vor. (...) 'Ich fixierte J. mit Hr. H.' Es liegen keine Anhaltspunkte für die Anwesenheit eines GUF-Mitarbeiters vor.“ (vgl. Arbeitsstabvermerk Nr. 25) „'D. wird fixiert, nachdem er versucht hat R. und im Anschluss K. anzugreifen.' Es liegen keine Anhaltspunkte für die Anwesenheit eines GUF-Mitarbeiters vor.“ (vgl. Arbeitsstabvermerk Nr. 25 a).

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 19 -

Besonders kritisch zu sehen ist dies im Falle des sehr schwierigen Minderjährigen J 16, für den die Psychologin der Einrichtung die klare Weisung gegeben hatte, ihn möglichst nicht zu fixieren.65 Er wurde von Sicherheitsdienst-Mitarbeitern binnen sechs Wochen zweimal mit Klettbändern gefesselt, zweimal zu Boden gebracht und mit Haltegriffen fixiert.66

Der Sicherheitsdienst hat darüber hinaus zumindest in einem Falle zweifelsfrei die Grenzen der Nacheile überschritten. So ist ein entwichener Jugendlicher von zwei Mitarbeitern unter der Ansage „kommst du freiwillig mit oder sollen wir dich fixieren?“ dazu gebracht worden, in das Auto des Sicherheitsdienst-Mitarbeiters zu steigen und sich zur Einrichtung zurückbringen zu lassen.67 Die CDU-Mehrheit im Ausschuss hat diese klare Feststellung und die Belege zu diesem Sachverhalt allerdings aus der Darstellung im Abschlussbericht des PUA gestrichen.68

65 Vermerk der Psychologin vom 18.06.2004: „Im Falle von delinquenten Verhalten von J 16 ist unbedingt auf eine Fixierung des JU zu verzichten. In diesem Kontext soll auf ausreichenden Abstand von JU und Betreuer geachtet werden. Sollte der JU trotzdem angefasst werden müssen, ist unbedingt die körperliche Unversehrtheit des JU zu gewährleisten.“ (in C-4-19). 66 Arbeitsstabbericht Nr. 25 u. 25a, Vorkommnisse am 17.07.2004, 20.07.2004, 26.08.2004 und 02.09.2004. 67 Siehe Wortprotokoll 18/49 vom 06.07.2007, S. 72. 68 Mit dem CDU-Änderungsantrag Nr. 57 wurde folgender Text, den der Arbeitsstab für den Abschlussbericht formuliert hatte, gestrichen:

„Ein besonders augenfälliges Beispiel stellt die Rückführung des entwichenen Jugendlichen J 17 vom 8. Dezember 2004 dar. Am 6. Dezember 2004 hatte ein Sicherheitsdienst-Mitarbeiter in der Einrichtung die Frühschicht übernommen. Er legte den Schlüssel auf einen Schreibtisch im Securitas-Büro. Der Schlüssel wurde nicht, wie vorgesehen, an den diensthabenden Sozialpädagogen übergeben, damit dieser ihn in den Schlüsselkasten einschließt. Der Schlüssel wurde sodann von einem der Jugendlichen mitgenommen. Beide Jugendliche ergriffen schließlich die Flucht. In der Einrichtung wurden daraufhin sämtliche Schlösser der Außentüren gegen neue Schlösser ausgetauscht.

Die anschließende Rückführung des Jugendlichen erfolgte sodann durch zwei Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes. Einer der beiden äußert sich zu diesem Hergang in seiner Vernehmung: Um einer Regresshaftung der Firma Securitas zu entgehen, habe er sich zusammen mit seinem Kollegen an deren arbeitsfreiem Tag auf eigene Initiative in einen bestimmten Stadtteil begeben, zunächst um den entwendeten Schlüssel wieder zu erlangen. Ihm sei bewusst gewesen, dass der Jugendliche in seiner unmittelbaren Nachbarschaft bei dessen Mutter wohnte. Dort habe er mit seinem Kollegen gemeinsam Ausschau nach dem Jugendlichen gehalten.

Nach einer Zeit hätten sie ihn entdeckt, während er mit seinem Fahrrad die Gegend befuhr. Es sei ihnen schließlich gelungen, den Jugendlichen auf seinem Fahrrad zu stellen. Der eine Securitas-Mitarbeiter habe sich vor das Fahrrad gestellt und hielt das Lenkrad festgehalten, während der andere sich hinter den Jugendlichen gestellt habe, um einen Fluchtversuch zu unterbinden. Ersterer habe den Jugendlichen nach dem Schlüssel gefragt. Der Jugendliche habe erwidert, dieser befände sich bei dessen Mutter. Daraufhin habe er seine Mutter angerufen, die nach ca. einer Stunde den Schlüssel an den Securitas-Mitarbeiter ausgehändigt habe, während der Jugendliche von den Mitarbeitern in das Auto gesetzt worden sei. Hiernach habe der Jugendliche wörtlich entgegnet: „Ihr habt ja den Schlüssel, lasst mich doch laufen, lasst mich doch laufen.“ Die Mitarbeiter hätten hierauf geantwortet: „Nein, das können wir nicht machen. Kommst du freiwillig mit oder sollen wir dich fixieren?“ Dann habe der Jugendliche gesagt, „Okay, bevor ihr das macht, setze ich mich ins Auto“. Anschließend führte der Securitas-Mitarbeiter in seiner Vernehmung aus: „Ja, er meinte auch, er ist zu müde, hat da keinen Bock mehr drauf. Seine Mutter geht ihm wohl auf dem Keks, hat er mir gesagt, und er will seine kleinen Geschwister nicht in Gefahr bringen oder wenn jetzt wieder die Polizei auftaucht, wie es schon so oft war, kommt er lieber freiwillig mit“.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 20 -

Das Dienstbuch des Sicherheitsdienstes legt einen weiteren Fall nahe. Darin wird beschrieben, dass die Mutter eines weggelaufenen Jugendlichen nachts in der GUF anrief und berichtete, dass ihr Sohn noch in der Nacht zu ihr kommen wolle und man ihn doch abholen solle – allerdings nicht mit der Polizei, weil sie Sorge habe, dass er dann vom Balkon springe und sich verletze. Daraufhin schickte der diensttuende Sicherheitsdienst-Mitarbeiter nach telefonischer Rücksprache mit der Psychologin des Heims zwei seiner Kollegen zur Wohnung der Mutter. Zum weiteren Sachverhalt heißt es in den Notizen: „MA X hat angerufen, dass J 24 über den Balkon geflohen ist, dass sie ihn aber stellen konnten und in ca. 30-45 Minuten in der GUF eintreffen werden.“69 Ein Pädagoge taucht in den Aufzeichnungen nicht auf; ob der Jugendliche freiwillig mitkam, ist zumindest zweifelhaft.

Rechtlich fragwürdig war auch das Anlegen von Klettbändern und sogar Handschellen70 bei den Arztbesuchen von Minderjährigen.71

Psychopharmaka ohne ausreichende Beratung und Einverständniserklärungen

Zehn Minderjährige in der GUF haben während des Untersuchungszeitraums Psychopharmaka erhalten, dass entspricht 40% der dort Untergebrachten. Dies ist für eine Jugendhilfeeinrichtung ein sehr ungewöhnlicher Umstand.72 Bei neun Minderjährigen begann die Medikation in der GUF, ein Jugendlicher wurde schon mit Psychopharmaka behandelt bevor er in die Einrichtung kam.73 Je dichter die Einrichtung belegt war, umso häufiger wurden Psychopharmaka verschrieben.74

Die Verabreichung von Psychopharmaka muss mit einer Aufklärung der Sorgeberechtigten oder den einwilligungsfähigen Jugendlichen durch den Arzt verbunden sein sowie mit einer

Erneut haben die Mitarbeiter den Jugendlichen ins Auto gesetzt. Auf Nachfrage, ob der Jugendliche freiwillig sich ins Auto begeben habe, antwortete der Securitas-Bedienstete: „Also, er hat mich auf jeden Fall angespuckt. Ich weiß jetzt nicht, ob da schon im Auto oder war das später, wo seine Mutter da war. Das weiß ich jetzt mehr so genau. Auf jeden Fall hat er mich angespuckt. Wir haben ihn gefragt, möchte er friedlich mitkommen oder sollen wir ihn fixieren. Und dann hat er gesagt, nein, er kommt freiwillig mit. Da wir wussten, dass er sehr aggressiv ist, aus dem Heim her, ist er nachher mit hinten eingestiegen, weil: „Wenn ich vorne sitze und der mir in den Rücken knallt, da habe ich keinen Bock drauf.“

Dieser von dem Securitas-Mitarbeiter in seiner Vernehmung geschilderte Ablauf markiert einen offenkundigen Verstoß gegen Ziffer 6 der Securitas-Dienstanweisung Teil 1. Die Begrenzung der Maßnahmen der Sicherheitsdienst-Mitarbeiter bei Fluchtversuchen auf die Nacheile wurden in diesem Fall deutlich überschritten.“ 69 Dienstbuch Sicherheitsdienst, Eintrag vom 11.03.2004. 70 Übergabebuch Gruppe 2, 2003, Einträge u.a. am 9. August, 26. August, 1. September, 11. September, in: BSF -7. 71 Bernzen, S. 167. 72 Dem Senat waren auf Nachfrage der CDU nur drei weitere Jugendhilfeeinrichtungen bekannt, in denen Psychopharmaka verabreicht wurden (Stand September 2005): der Margarethenhort für psychisch kranke Jugendliche, eine Wohngruppe des Rauhen Hauses, in dem die Medikamente ausgeschlichen wurden und eine Wohngruppe des LEB (Drs. 18/2793, S. 23). 73 Drs. 18/1953, Antwort auf Frage 1.4. 74 Die Psychologin der Einrichtung wies auf diesen Umstand hin (siehe Wortprotokoll 18/28 vom 01.09.2006, S. 61f.).

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 21 -

für das Medikament festgelegten Einwilligungserklärung derselben.75 Der Arbeitsstab stellt fest:

„Insgesamt ist zu bemerken, dass in den Akten keine Hinweise auf die Untersuchung der Einwilligungsfähigkeit der Minderjährigen und nur zum Teil Einwilligungen von Sorgeberechtigten vorliegen, wobei diese Einwilligungen bei fehlender ärztlicher Aufklärung – die Aufklärung durch die betreuende Psychologin war unzureichend – nicht wirksam war.“76

75 Arbeitsstabvermerk Nr. 12/13, S. 4. 76 Arbeitsstabvermerk Nr. 12/13, S. 13. Im einzelnen führt der Vermerk aus (weitergehende Erkenntnisse aus dem Arbeitsstabvermerk Nr. 51 oder den Jugendlichenordnern finden sich in Klammern dahinter):

J 20: „Hinweise auf die Aufklärung und eine Einwilligung des Sorgeberechtigten sind aus der Akte nicht gegeben“, S. 1.

J 17: Einverständniserklärung der Mutter für Risperdal. Aber eine Aufklärung der Mutter durch den Arzt ist aus den Akten nicht ersichtlich, sie wurde von Frau Weber über das Medikament informiert. Keine Einverständniserklärung für Truxal. J 17 bekommt auch Truxal-Saft, regelmäßig im Dezember und Januar 2004 u. bei Bedarf, S. 2. (Siehe auch Arbeitsstabvermerk Nr. 51, Mündliche Einverständniserklärung des Jugendlichen am 11.06.2004, nicht deutlich, für welches Medikament.)

J 16: Die gesundheitssorgeberechtigte Pflegerin willigt pünktlich ein zur Vergabe von Risperdal. Aber eine ärztliche Aufklärung durch den Arzt ist in den Akten nicht zu finden. Es findet sich keine Einwilligung für Truxal. Truxal wurde vom Februar bis zum April 2005 vergeben, S. 4.

J 09: „Keine schriftliche Einwilligung. Vermerk, dass am 11.06.2004 in Absprache mit X [dem Vater] Risperdal verschrieben wurde“. Mündliche Absprache erfolgte vor Vergabe des Medikamentes. Eine Aufklärung des Vaters wird aus den Akten nicht ersichtlich und für das zwei Tage lang verschriebene Psychopharmakon Neurocil lag keine Einwilligung vor, S. 5.

J 24: Die einzige Einwilligung, die in den Akten enthalten ist, betrifft eine allgemeine Untersuchung des Gesundheitszustandes durch einen Psychiater. Allerdings war die Medikation zuvor schon in stationärer Behandlung durchgeführt worden, S. 6. (Undatierte Einwilligungserklärung nachgereicht, vgl. Arbeitsstabvermerk Nr. 51.)

J 06: Einverständniserklärung der Vormünderin für Risperdal, nachdem das Medikament bereits 8 Tage eingenommen worden war. Aufgeklärt über das Medikament wurde sie durch die Psychologin, S. 8.

J 07: „Keine Einwilligung in den Akten enthalten. Jedoch hat J 07 geäußert, dass er die Psychopharmaka einnehmen will. Dies könnte ein Hinweis auf eine Einwilligung sein.“ „Ein Hinweis auf eine Aufklärung über die möglichen Nebenwirkungen ist in den Akten nicht enthalten.“ Er erhielt Psychopharmaka vom 3. Februar bis zum Ende des Untersuchungszeitraums, S. 9.

J 03: Eine Einwilligung der Mutter, damals nicht gesundheitssorgeberechtigt, liegt in den Akten des Arztes vor (vgl. Arbeitsstabvermerk Nr. 51). Zustimmung der Gesundheitssorgeberechtigten Vormünderin am 17.06.2004. Eine Aufklärung durch den Arzt ist in den Akten nicht ersichtlich. Der Jugendliche hatte das Medikament seit seiner Einweisung im Dezember 2003 bekommen, die Vergabe wurde im März durch seine Flucht unterbrochen. Nach Aktenlage hat der Jugendliche das Medikament für drei bis vier Monate ohne Einwilligung der gesundheitssorgeberechtigten Person bekommen (Vermerk vom 17.05.2004 vom Jugendlichen unterschrieben, in Akte BSF C-4-11).

J 05: Einwilligung der Pflegerin für Risperdal am 26.10.2004. Hinweise für eine ärztliche Aufklärung sind in der Akte nicht enthalten. Vergabe von Risperdal bereits seit dem 24.09.2004. Ein Monat ohne Einwilligung. Vergabe von Truxal ohne Einwilligungserklärung vom 24.11.2004 bis 02.12.2004, S. 12. u. Arbeitsstabvermerk Nr. 51.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 22 -

Nach Aktenlage gab es für zwei Jugendliche gar keine schriftliche Einwilligung (J 20, J 07), für vier Jugendliche gab es nicht für jedes Medikament die notwendige Einwilligung (J 17, J 16, J 09, J 05). Für drei Jugendliche wurden die Psychopharmaka für einige Tage bis zu drei Monaten ohne vorliegende Einwilligung verabreicht (J 06, J 03, J 05), für einen weiteren Jugendlichen lag nur eine mündliche Einwilligungserklärung vor.

Drei behandelnde Ärzte wurden im Untersuchungsausschuss dazu befragt:

Der Hausarzt führte aus, er sei davon ausgegangen, dass die Einverständniserklärungen vorhanden waren, da es sich bei der Feuerbergstraße ja um eine rechtsstaatliche Institution handelte.77 Er habe nicht die Sorgeberechtigten über die Medikamente aufgeklärt und sei von der ausreichenden Reife der Jugendlichen ausgegangen.78 Ob er die Jugendlichen über die Wirkung der Medikamente aufklärte, wollte der Zeuge unter Hinweis auf das Aussageverweigerungsrecht nicht beantworten.79 Von einer Einwilligung der Jugendlichen in die Behandlung mit Psychopharmaka berichtet der Hausarzt nicht.80

Der mit der GUF kooperierende niedergelassene Psychiater sagte aus: „Ich bin anfangs davon ausgegangen, dass das von der Feuerbergstraße geregelt ist. In der Praxis bei mir sieht das so aus, dass ich grundsätzlich Kinder mit Eltern behandele und ich insofern da nie ein Einverständnis brauche, weil die Eltern anwesend sind. Und für mich hatte die Feuerbergstraße das Umgangsrecht und ich bin davon ausgegangen, dass die dafür gesorgt haben. Als ich bemerkt habe, dass es Unklarheiten gibt, habe ich dafür gesorgt, dass das sehr genau dokumentiert werden muss und ich das auch zur Vorlage bekomme.“81 Auf die Nachfrage des Vorsitzenden, wann denn dieser Zeitpunkt war, als er die Einrichtung auf dieses Problem aufmerksam machte, führte der Psychiater aus: „Ab dem Zeitpunkt. Das ist ja Thema im Untersuchungsausschuss gewesen, wo das an mich auch herangetragen wurde, und da habe ich dann dafür gesorgt, dass ich abgesichert bin, auch, dass ich genau weiß, ob ich die verordnen darf.“82 Diese Aussagen legen nahe, dass bis zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses in den Akten des Arztes keine Einwilligungserklärungen der Sorgeberechtigten vorlagen.

Der mit der GUF kooperierende Psychiater des Wilhelmstiftes führte aus, dass die Einholung von Einverständniserklärungen zum klinischen Alltagsgeschäft gehöre, und er sich nicht vorstellen könnte, es grundsätzlich versäumt zu haben, Sorgeberechtigte aufzuklären oder Einverständniserklärungen einzuholen.83 Er lieferte fünf Einverständniserklärungen nach: davon waren zwei undatiert, eine um einen Monat verspätet und eine Einverständniserklärung stammte von der nicht sorgeberechtigten Mutter.84

77 Wortprotokoll 18/32, 24.11.2006, S. 72. 78 Wortprotokoll 18/32, 24.11.2006, S. 74. 79 Wortprotokoll 18/32, 24.11.2006, S. 74. 80 Wortprotokoll 18/32, 24.11.2006, S. 69-81. 81 Wortprotokoll 18/28, 01.09.2006, S. 78. 82 Wortprotokoll 18/28, 01.09.2006, S. 78. 83 Wortprotokoll 18/33, 20.12.2006, S. 59. 84 Arbeitsstabvermerk Nr. 51.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 23 -

Die Beweisaufnahme hat damit keineswegs ergeben, dass sich die fehlenden Einverständniserklärungen in den Akten der Ärzte wiederfinden, wie es die CDU in ihrer Pressekonferenz vom 04.10.2007 behauptet hat. Tatsächlich wurde in der Befragung deutlich, dass zwei Ärzte von ihrer Pflicht, die Einverständniserklärung bei den Sorgeberechtigten einzuholen, (zunächst) nichts wussten und dass sie fälschlicherweise davon ausgegangen waren, dass das Erziehungsrecht der GUF auch die Gesundheitsfürsorge umfasste. Hier wäre ein Hinweis aus der Einrichtung über ihre tatsächlichen Rechte dringend erforderlich gewesen.

Unsicherheiten bei der Vergabe von Psychopharmaka

Ein weiteres rechtliches Problem erwuchs der Einrichtung bei Kindern und Jugendlichen, die sich weigerten, die ihnen verschriebenen Psychopharmaka einzunehmen. Immerhin sieben der zehn Medikamentierten verweigerten die Einnahme – manche nur in ein bis zwei Situationen, andere wiederholt, ja bis zu 62 Mal.85 Fast bis zum Ende des Untersuchungszeitraums bestand keine Klarheit darüber, wie mit diesen Weigerungen umzugehen sei. Erst im November 2004, nach Drängen von Seiten eines Mitarbeiters,86 wurde auf einer Dienstbesprechung klargestellt, dass eine Zwangsmedikation nicht von Mitarbeitern durchgeführt werden dürfe. Es solle mit pädagogischen Mitteln darauf reagiert werden und wenn trotzdem die Einnahme verweigert würde, solle der Amtsarzt oder das Wilhelmstift benachrichtigt werden. Der Heimleiter wolle sich beim FIT weiter kundig machen, welche Möglichkeiten noch bestehen.87 Tatsächlich muss eine Zwangsmedikation immer gerichtlich genehmigt werden – also auch Amtsarzt und Wilhelmstift können solche Maßnahmen nicht ohne weiteres durchführen.88 Hintergrund dieser Dienstanweisung war die massive Weigerung eines Jugendlichen, Risperdal zu nehmen. Die Einrichtung reagierte darauf mit Zigarettenentzug, Streichung von Freizeitspaß und der Androhung einer Depotspritze.89

Wenig sorgsamer Umgang mit Psychopharmaka in der Einrichtung

Kritisch zu beurteilen, ist der wenig sorgsame Umgang der Einrichtung mit der Vergabe von Psychopharmaka. Die beim Untersuchungsausschuss geladene Sachverständige Frau Dr. Köttgen hielt es für wünschenswert, wenn die Erstvergabe der Neuroleptika Truxal und Risperdal unter enger ärztlicher Begleitung mit medizinischem Personal stattfindet, da die Nebenwirkungen sehr erheblich sein können. So seien neben einer möglichen Schädigung

85 Drs. 18/2204, S. 7. 86 Eintragungen im Übergabebuch Gruppe 2, 31.10.2004, in BSF C-7. 87 Protokoll Dienstbesprechung 02.11.2004, in BSF B-8. 88 Sachverständige Frau Dr. Köttgen, Wortprotokoll 18/33, 20.12.2006, S. 29. 89 Eintragungen im Übergabebuch Gruppe 2, 23.10.2004, 25.20.2004, 27.10.2004, 31.10.2004, in BSF C-7.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 24 -

von Leber und Nieren auch eventuelle parkinsonähnliche Symptome im Blick zu behalten, die schon in geringen Dosierungen bleibend sein könnten.90

In der GUF wurden die Psychopharmaka in der Regel von den Betreuern verabreicht, die über keine medizinischen oder pflegerischen Vorkenntnisse verfügten. Sie waren nicht ausreichend im Bilde über Wirkungen und Risiken der Vergabe dieser Medikamente. So schrieb ein Mitarbeiter im Juli 2003 in das Übergabebuch an seine Kollegen, Truxalsaft sei ein Beruhigungsmittel und könne „bei Bedarf“ bei J 09 eingesetzt werden.91 Zwei Tage später wundert sich seine Kollegin, dass Truxal „ein ziemlicher Hammer“ zu sein scheint und Magenschmerzen verursache.92

Im Sommer 2004 gab der Heimleiter Anweisung, dass J 16, ein Junge, der einzeln in der GUF betreut wurde, sein Risperdal von Sicherheitsdienst-Mitarbeitern erhalten sollte und diese die Vergabe auch zu dokumentieren hatten.93 Diese Anweisung wurde im September 2004 wieder aufgehoben.94 Das erreichte aber offenbar nicht alle Sicherheitsdienst-Mitarbeiter, so dass im Oktober dieser Junge eine doppelte Portion durch Sicherheitsdienst und Betreuer verabreicht bekam.95 Zudem fehlte es bis Januar 2005 an einem abschließbaren Medizinschrank. Dies monierte die Heimaufsicht, die die Psychopharmaka offen auf einem Sideboard hatte stehen sehen.96 So ist denn auch zu erklären, warum zwei Kinder und ein Jugendlicher in der Einrichtung sich im Juni 2004 mit 7 bis 20ml Risperdal selbst „versorgen“ konnten97 und auch, warum das Medikament am 22.10.2004 einfach verschwand.98

Die Praxis der Einrichtung im Umgang mit den Psychopharmaka macht sehr deutlich, dass es hier an ärztlicher und rechtlicher Beratung fehlte. Heimleitung, Betreuer und auch die Psychologin waren nicht ausreichend darauf vorbereitet, ein Heim zu betreiben, in dem 40% der Minderjährigen Psychopharmaka verschrieben bekamen. Ihre Mittlerrolle zwischen den Ärzten und den Vormündern, bzw. Eltern bei der Einwilligung, ihre Rolle als Beobachter von

90 Sachverständige Frau Dr. Köttgen, Wortprotokoll 18/33 vom 20.12.2006, S. 15. 91 Eintrag im Übergabebuch, 24.07.2003, in BSF C-7 92 Eintrag im Übergabebuch, 26.07.2003, in BSF C-7. 93 „J 16: wohnt in Gruppe C [Einzelunterbringung]. Nach Auskunft von Herrn Weylandt ist J 16 organisatorisch und administrativ mit angebunden. Das Risperdal ist gestellt worden und für J 16 mit nach drüben gegeben worden. Fa. Securitas vergibt und dokumentiert diesbezüglich. Weiterhin soll die Dokumentation drüben erst mal auch dort stattfinden. Dies wird von Fa. Securitas vor Ort geleistet“ (Eintrag vom 09.07.2004, Übergabebuch Gruppe 1, 2004, in BSF C-7). 94 „Risperdalausgabe nur durch Betreuer“ (Eintrag vom 18.09.2004, Übergabebuch Gruppe 1, 2004, in BSF C-7). 95 „J 16: Heute habe ich die Securitas darüber informiert, dass sie keine Medikamente an die Jugendlichen ausgeben dürfen. J 16 hatte die doppelte Portion Risperdal am Morgen, da ich nicht wusste, dass er schon bekommen hatte. Dumm gelaufen“ (Eintrag vom 22.10.2004, Übergabebuch Gruppe 1, 2004, in BSF C-7). 96 Örtliche Prüfung gemäß § 46 KJHG, durchgeführt am 13.01.2005 (vgl. BSF B-11). Herr Weylandt bestätigte diesen Umstand, es kann Situationen gegeben haben, in denen aus Unachtsamkeit die Psychopharmaka offen herumstanden und es bis zu diesem Zeitpunkt an abschließbaren Medizinschränken fehlte (Wortprotokoll 18/4, 30.06.2005, S. 94). 97 Übergabebuch Gruppe 2, 26.06.2004, in BSF C-7. 98 Übergabebuch Gruppe 2, 22.10.2004, in BSF C-7.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 25 -

möglichen Nebenwirkungen und bei Medikamentenverweigerung war bis zum Ende des Untersuchungszeitraums unklar. Damit waren die Mitarbeiter nicht nur des Sicherheitsdienstes, sondern auch der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße zwangsläufig überfordert. Rechtsgutachten der Behörde zu diesem Thema wurden erst im Juni und September 2005 erstellt, als dieses Thema durch die Beratung im PUA und parlamentarische Anfragen nicht mehr zu übersehen war.99

HIV-Tests ohne Einwilligung

Bei einigen Jugendlichen in der Einrichtung wurden HIV-Tests durchgeführt. Dies geschah vorrangig, um die Mitarbeiter vor möglichen Infektionen zu schützen – ein nachvollziehbarer Wunsch.100 Dennoch ist für eine so weitreichende Untersuchung eine Einwilligung der Betroffenen oder der Sorgeberechtigten notwendig. Der von dem Untersuchungsausschuss befragte Hausarzt sagte aus, er habe fünf HIV-Tests bei Jugendlichen gemacht. Die Frage, ob er vor der Blutabnahme für die HIV-Tests eine Einwilligung eingeholt habe, verneinte er.101

Weniger Ausgänge vor den Wahlen

„Für die nächsten sechs Wochen, also bis zu den Wahlen, steht der Sicherheitsaspekt bei Ausgängen im Vordergrund.“102 Gemeint waren die Bürgerschaftswahlen im Februar 2004. Auf Vorhalt dieser Passage aus einer Dienstbesprechung erinnerte sich ein damaliger Mitarbeiter der GUF, dass diese Anweisung von der Leitung kam. Diese habe eine derartige Weisung damit begründet, „dass es politisch sehr unklug wäre, wenn in dieser Zeit etwas passieren sollte, da es möglicherweise unser aller Arbeitsplätze gefährden könnte.“103 Ein anderer ehemaliger Mitarbeiter erinnerte sich, dass diese Anweisung nicht aus dem Kernteam kam und verwies bei der Motivation auf höhere Hierarchieebenen: „ (...) wenn es wieder zu einer Entweichung kommt, das würde ja unmittelbar auch von der Presse wieder aufgegriffen werden und das wäre dann für die politischen Akteure unangenehm.“ Auf die Nachfrage, welche politischen Akteure konkret gemeint seien: „Schnieber-Jastram, Herr Meister. (...) Für uns Mitarbeiter natürlich auch und für die Leitung auch, alle, die in dieser Einrichtung arbeiteten (...).“104

Herr Staatsrat Meister gab in seiner Vernehmung an, er habe diese Weisung nicht veranlasst.105 Frau Senatorin Schnieber-Jastram, erklärte, dass ihr eine solche Anweisung aus der Behörde nicht bekannt sei.106 Doch auch wenn die Behördenleitung diese Weisung

99 Drs. 18/3026, S. 3. 100 PUA-Abschlussbericht, S. 324f. 101 Wortprotokoll 18/32 vom 24.07.2006, S. 77. 102 Protokoll Dienstbesprechung vom 13.01.2004, in BSF B-8. 103 Wortprotokoll 18/38 vom 13.04.2007, S.115. 104 Wortprotokoll 18/38, 13.04.2007, S. 53. 105 Wortprotokoll 18/8, 19.09.2005, S. 47. 106 Wortprotokoll 18/47, 22.06.2007, S. 115.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 26 -

nicht gegeben hat, deutlich wird, wie hoch der politische Druck auf das pädagogische Alltagsgeschehen war. Hier wurden aus Sorge um den Arbeitsplatz und den politischen Ruf der Behördenleitung den Jugendlichen Freiheitsbeschränkungen auferlegt und mögliche pädagogische Entwicklungsschritte auf die wahlkampfreie Zeit verschoben.

Kindeswohl war nicht handlungsbestimmend

Nicht immer kam die Behörde ihrer Schutzfunktion für die ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen nach. Im Falle des 12-jährigen J 11 muss im Ergebnis festgestellt werden, dass das Kindeswohl nicht Richtschnur des Handelns war. So kam aus der BSF die Aufforderung, diesen Jungen gegen seinen Willen von der Presse fotografieren zu lassen. Durch seine Zustimmung ermöglichte das FIT die „freiwillige“ Ausreise des jungen Roma in das Kosovo, einem Gebiet, in dem er als Angehöriger dieser Volksgruppe alles andere als sicher war.

Zu den Vorfällen im Einzelnen:

Nicht ohne Stolz verkündete die Pressestelle der BSF am 16.07.2003, dass sie einen 12-Jährigen in der GUF untergebracht hatte, über den die Presse in den Tagen zuvor wg. zahlreicher Straftaten berichtet hatte. J 11 sei geschlossen in Obhut genommen, ein Eilantrag bei Gericht auf GU sei gestellt worden, ebenso ein Antrag zum Sorgerechtsentzug der Eltern.107 So informiert, waren die Medien faktisch eingeladen, vor dem Gelände der GUF auf die Ankunft des Jungen zu warten und sie fotografisch festzuhalten.108 Nicht vollständig zufrieden war der Koalitionspartner und Zweite Bürgermeister Schill: „Ich würde ihn sofort ausweisen, wenn dies rechtlich möglich wäre“, verkündete er gegenüber dem Abendblatt. Dass dies nicht geschähe, hänge mit dem Abschiebestopp ins Kosovo zusammen.109

Das Familiengericht hob nach drei Wochen, am 7. August, den Unterbringungsbeschluss auf; es folgte damit den Empfehlungen von drei renommierten Gutachtern.110 Der Triumph wurde zum Desaster. Der Junge musste noch am selben Tag aus der Einrichtung entlassen und in eine offene Anschlussunterbringung gebracht werden. Diese Entscheidung sorgte für einigen politischen Wirbel. CDU- und Schill-Fraktion kritisierten diese scharf und sprachen von „verantwortungslosen Gutachtern“ und titulierten den Jungen als „tickende Zeitbombe“ (Frank-Michael Bauer), Klaus Peter-Hesse (CDU) sah hier eine „zweifelhafte Entscheidung“ des Gerichts vorliegen.111

Auch die BSF war empört und teilte Empörung und Entlassungstag via Pressestelle den Redaktionen so zeitig mit,112 dass die Fotografen sich pünktlich zur Überführung vor der GUF

107 Pressemitteilung BSF vom 16.07.2003. 108 Dienstbuch Securitas, Eintrag vom 17.07.2003. 109 Hamburger Abendblatt vom 17.07.2003: „Räuber ... (12) jetzt im geschlossenen Heim.“ 110 Gerichtssprecherin Sabine Westphalen im Hamburger Abendblatt vom 8.8.2003. 111 Hamburger Abendblatt vom 08.08.2003: „Kindergangster ... (12) wieder auf freiem Fuß).“ 112 Pressemitteilung der BSF vom 07.08.2003.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 27 -

einfinden konnten. Im Übergabebuch der Gruppe 2 der GUF wird vermerkt: „Die Wegfahrt mit S 12 (Sicherheitsdienst-Mitarbeiter) und einem Kollegen vom KJND wurde von den Kollegen der Presse im Bild festgehalten. Später kam noch ein Anruf aus der Pressestelle des Staatsrats: Warum wir denn J 11 auf der Fahrt so verstecken würden und warum er so unauffällig verschwinden sollte und weggebracht würde?“ Der Sicherheitsdienst-Mitarbeiter, der J 11 auf seinen Weg in offene Anschlussunterbringung in Schleswig-Holstein begleitete, notiert im Übergabebuch der Einrichtung: „Dienstbeginn ab 15.30. Grund hierfür war die Überführung von J 11 nach Heide. Bis kurz vor Heide wurden wir von zeitweise zwei Fahrzeugen verfolgt, welche ich der Presse zuordnen würde. Aus einem der Kfz. wurde wiederholt versucht, Fotos von J 11 zu machen. Der Jugendliche war darüber sichtlich beunruhigt und wollte sich nach eigenen Angaben nicht fotografieren lassen. Im weiteren Verlauf der Überführung erhielt ich diverse Anrufe von Personen, die für die Behörde arbeiten, mit der Bitte, bei nächster Gelegenheit zu halten (berufen wurde sich auf Herrn Müller, Frau Hansen, Herrn Dr. Bange), damit vom Jugendlichen Fotos gemacht werden können. Bestätigt wurde dieses Anliegen von Frau Kristian.“113

Die Anrufe aus der Pressestelle, sei es aus der BfI oder der BSF, sind nicht bestätigt worden.114 Tatsächlich aber hatte der zuständige Abteilungsleiter Herr Dr. Bange, in Absprache mit der Pressestelle der BSF, die Empfehlung ausgesprochen, den Wagen zu stoppen und den Jungen fotografieren zu lassen.115 Der Anruf wurde von der stellvertretenden Leiterin des FIT getätigt.116 In den Schriftlichen Kleinen Anfragen dazu verwies die Behörde darauf, dass das nachfolgende Pressefahrzeug, den Wagen mit dem Kind bedrängte und man durch das Foto eine Unfallgefahr abwenden wollte.117 Der Sicherheitsdienst-Mitarbeiter gab in seiner Vernehmung an, es gab Drängelei, aber keine Unfallgefahr. So konnte er sich daran erinnern, angerufen worden zu sein, nicht aber daran, selbst beim FIT oder der GUF angerufen zu haben.118 Auf die Idee, im Falle großer Bedrängnis, die Autobahnpolizei um Hilfe zu ersuchen, ist niemand gekommen. Letztlich ist es den Pressefotografen nicht gelungen, den Jungen zu fotografieren, weil der Mitarbeiter des KJND und der Sicherheitsdienst-Mitarbeiter, sich – richtigerweise – nicht an die Weisung der Behörde hielten. Der Geschäftsführer des Landesbetriebes, Herr Müller, der von seinem KJND-Mitarbeiter über diesen Vorfall aufgeklärt wurde, beschrieb diesen Vorgang später vor dem Ausschuss als „befremdlich“ und „sehr ungewöhnlich“ und distanzierte sich deutlich von dem Geschehen. Er hatte seine Auffassung dazu auch dem Amtsleiter Herrn Riez mitgeteilt, an eine Reaktion des Amtsleiters auf diesen Hinweis konnte sich Herr Müller nicht mehr entsinnen.119

113 Übergabebuch Gruppe 2, 07.08.2003, in BSF C-7, zitiert nach dem Arbeitstabvermerk Nr. 44, S. 2. 114 Nach Kenntnis der zuständigen Behörden habe es einen solchen Anruf nicht gegeben (vgl. Drs. 18/3112, S. 3). 115 Drs. 18/3047, S. 1. 116 „Und letztendlich, um das Ende mal vorweg zu nehmen, habe ich dann angewiesen – so kann man da in dem Fall auch sagen, so war das –, dass der Bus anhält und dass es ein Foto gibt. Das war abgestimmt mit Dr. Bange“ (Frau Kristian, Wortprotokoll 18/36, 16.02.2007, S. 20). 117 Drs. 18/3012, S. 1. 118 Wortprotokoll 18/41, S.13 u.17. 119 Wortprotokoll 18/40, S.27, 33.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 28 -

Zwei Wochen später meldete die Pressestelle der BSF: „Der 13-jährige (J 11) hat heute um kurz nach 15 Uhr mit seiner Mutter und seinen beiden Geschwistern freiwillig die Rückkehr in das Kosovo angetreten. Mitarbeiter der Behörde für Inneres haben den 13-Jährigen heute Morgen mit Genehmigung der Amtspflegerin des Familieninterventionsteams (FIT) aus der Jugendhilfeeinrichtung in Schleswig-Holstein abgeholt und zum Flughafen gebracht.“120

Für eine Abschiebung der Familie lag ein Abschiebehindernis vor, das Kosovo galt zu dieser Zeit als nicht sicher für Angehörige der Roma. Bislang waren daran alle Abschiebungsbemühungen der Innenbehörde gescheitert.121 Auf die Nachfrage im Ausschuss an die zuständige Amtspflegerin, was sie nur einen Monat nach ihrem Antrag auf Sorgerechtsentzug zu der Einschätzung hatte gelangen lassen, dass der Aufenthalt bei der ausreisewilligen Mutter dem Kindeswohl dienlicher sein sollte als der Aufenthalt in einer Jugendhilfeeinrichtung in Schleswig-Holstein, führte sie aus: „Als der Jugendliche in der Einrichtung war, einige Wochen glaube ich, bekam ich die Information von der Innenbehörde, dass es geplant sei, die ganze Familie in den Kosovo zurückzuführen, dass es aber Gespräche gegeben habe mit der Mutter und die Mutter den Wunsch geäußert habe, freiwillig auszureisen, weil sie da irgendwelche Gelder bekommen würden. Aber die Bedingung sei, dass sie ihre Kinder alle mitnehmen müsse oder wolle. Und das hat dazu geführt, dass ich mich damit einverstanden erklärt habe, dass das Kind in die Familie zurückgeführt wird, damit er nicht allein in Deutschland bleiben muss.“122 Diese Aussage ist insofern nicht ganz stimmig, da die Zeugin ausgeführt hatte, dass an die Ausreise und die dafür ausgezahlten Gelder die Bedingung geknüpft war, alle Kinder mitzunehmen. Wäre J 11 in Deutschland geblieben, wären es damit auch seine Mutter und seine Geschwister. Ein Gespräch mit ihrem Pflegling oder der Mutter über die Abreise hatte sie nicht geführt.

Der Fall des J 11 macht deutlich, dass die GUF nicht allein als Jugendhilfeeinrichtung verstanden wurde, sondern auch eine sicherheitspolitische Kompetenz des Senats unterstreichen sollte. Traten diese beiden Ziele in Spannung, war der Druck auf die Mitarbeiter so hoch, dass das Wohl des Kindes nicht immer mit der nötigen Vehemenz in den Vordergrund gestellt wurde.

2.1.3 Fazit

Die Leitung der Sozialbehörde hat es unterlassen, dafür zu sorgen, dass die Mitarbeiter des FIT und der GUF, die auf dem sensiblen Gebiet der Freiheitsentziehungen tätig werden sollten, über die rechtlichen Rahmenbedingungen ihrer schwierigen Arbeit aufgeklärt wurden. Selbst wenn die Mitarbeiter explizit um solche Hinweise gebeten haben, wurde ihnen die Unterstützung der Behörde versagt oder erst mit großer Verzögerung gewährt.

Die Mitarbeiter mussten zudem mit Umständen umgehen, die in der Jugendhilfe mehr als ungewöhnlich sind: mit der Vergabe von Psychopharmaka und der Zusammenarbeit mit einem Sicherheitsdienst. Auch hier gab es juristische und medizinische Herausforderungen und Fallstricke, die allein mit dem Erfahrungswissen von Sozialpädagogen und Psychologen

120 Pressemitteilung der BSF vom 28.08.2003: „(J 11) ist freiwillig ausgereist.“ 121 Die Welt vom 16.07.2003: „Kindergangster soll in geschlossenes Heim.“ 122 Wortprotokoll 18/37, 30.03.2007, S. 91.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 29 -

nicht zu bewältigen waren. Hier hätte für die Mitarbeiter der GUF, aber auch für die beteiligten Ärzte und das Sicherheitsdienstunternehmen, klarer vereinbart werden müssen, was sie dürfen und was nicht.

In anderen Fällen, wie bei dem Umgang mit J 11 oder bei den eingeschränkten Ausgängen vor den Wahlen, wird deutlich, wie sehr sich die Mitarbeiter unter Druck sahen, politisch Erwünschtes umzusetzen, auch wenn eine direkte Weisung aus der Präsidialabteilung fehlte.

Dass dreizehn Minderjährige zeitweise ohne rechtswirksame Gerichtsbeschlüsse in der Einrichtung in der Feuerbergstraße festgehalten wurden, wird von der CDU-Mehrheit im Abschlussbericht mit wenigen Sätzen als „Nichtbeachtung formaler Fragen“ abgetan. Diese Umschreibung mag der Motivation der Handelnden gerecht werden, welche diese rechtlichen Vorgaben sicher nicht bewusst missachteten, aber nicht dem Ausmaß der festgestellten Verstöße gegen Prinzipien unseres Rechtsstaates.123

Es wäre nicht zu diesen Fehlern gekommen, wenn die Sozialbehörde den Bediensteten von Familieninterventionsteam, GU Feuerbergstraße, LEB und Securitas rechtzeitig sorgfältige Ausarbeitungen an die Hand gegeben hätte, welche Vorschriften bei der Einweisung und Unterbringung von Jugendlichen zu beachten sind.

Im Untersuchungszeitraum, d.h. ab Inbetriebnahme der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße,124 hat es in der Sozialbehörde nur vier Rechtsprüfungen im Zusammenhang mit dem Betrieb der Einrichtung gegeben (davon zwei im LEB und zwei durch die Rechtsabteilung der BSF).125 Es gab mehr Pressekonferenzen der Sozialbehörde als Rechtsgutachten.

123 Immerhin haben Staatsrat und Sozialsenatorin die Öffentlichkeit bereits bei Bekanntwerden der Vorgänge im Oktober 2005 ausdrücklich wissen lassen, sie würden „diese Fehler außerordentlich bedauern“ (Abendblatt vom 11.10.2005). Zudem hat die Staatsanwaltschaft Vorermittlungen wegen möglicher Delikte der Freiheitsberaubung im Amt durchgeführt. 124 Vor Eröffnung war zwar ein Grundsatzvermerk über die Geschlossene Unterbringung erstellt worden. Diese rechtlichen Überlegungen wurden allerdings nicht in der BSF angestellt, sondern im LEB. Zudem erfolgte die Prüfung nicht im Zusammenhang mit dem Senatskonzept, sondern im Oktober 2001, also vor dem Regierungswechsel. 125 Senatsauskunft Drs. 18/3026, Ziffer 10.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 30 -

2.2 Fehler im Konzept Das Konzept der GUF sah vor, dass die Kinder und Jugendlichen dort mindestens ein Jahr lang leben und dabei ein Vier-Phasen-Modell durchlaufen sollten. An dessen Ende stand die Entlassung in eine Anschlussunterbringung oder die Rückführung in die Familie.

Die erste Phase diente der Orientierung,

die zweite Phase der Konsolidierung,

die dritte Phase sollte allmählich das Erlernte auch in unbegleiteten Ausgängen erproben und die Jugendlichen in externe Schulen oder Ausbildungsgänge einbinden und

in der vierten Phase schließlich sollten die Minderjährigen über Freizeitaktivitäten selbst entscheiden, sie sollten mit Unterstützung der Einrichtung schulische oder berufliche Perspektiven erarbeiten und die Anforderung des Alltags weitgehend, ihrem Alter entsprechend, selbständig bewältigen können.126

Das von Senat und BSF vorgegebene Konzept für die Geschlossene Unterbringung erschien im Grunde in weiten Zügen durchdacht. Das Konzept litt jedoch von vornherein unter einem Konstruktionsfehler, der es – im Zusammenwirken mit der mangelnden Sorgfalt in anderen Feldern – unmöglich machte, die selbst gesetzten Erziehungsziele zu erreichen. Die unrealistische Festlegung auf mindestens ein Jahr Betreuung in der Geschlossenen Unterbringung mit einem festen Phasenmodell und der Verzicht auf offene Plätze in der Einrichtung führte zu unfruchtbar kurzen Betreuungszeiten und zu vielen Wiedereinweisungen in die GUF. Der schnelle Wechsel von Betreuungsorten und Bezugspersonen ist Gift für jeden Erziehungsprozess – er wurde in Kauf genommen, um nicht in den Ruch der Kuschelpädagogik zu gelangen.

2.2.1 Einjährige Unterbringung hat kaum stattgefunden

Die Festlegung auf das einjährige Phasenmodell entsprach weder den Hilfebedürfnissen der hochproblematischen Zielgruppe, noch den Einweisungsbeschlüssen durch die Richter, die gehalten sind, dem schweren Eingriff in die Grundrechte der Minderjährigen sehr enge Grenzen zu setzen.127 Es war zu keinem Zeitpunkt zu erwarten, dass die Richter stereotype Beschlüsse über ein Jahr ausstellen würden.

Bundesweit umfasst die Hälfte der Gerichtsbeschlüsse eine Unterbringungsdauer von zunächst 6 Wochen bis 3 Monate, um dann erneut prüfen zu können.128 Genau das geschah in Hamburg: Im Untersuchungszeitraum haben nur drei von zwanzig entlassenen

126 Dieses Phasenmodell galt bis zum Ende des Untersuchungszeitraums (Konzept vom 20.02.2003, S. 12-16, in BSF A-33. Ähnlich auch Senatskonzept S. 7f., im Anhang S. 43, BSF-Konzept vom November 2002, S. 8 unten, im Anhang S. 56). BSF- und Senatskonzept sprechen von einem Drei-Phasenmodell, das die Phase 4 und 3 zusammengefasst hat. 127 Vgl. Bernzen, S. 66-68 u. 80. 128 Sabrina Hoops, Hanna Permien: Kinder und Jugendliche und Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Jugendhilfe, in ZJJ 1/2005, S. 47.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 31 -

Jugendlichen ein Jahr ohne Unterbrechungen in der Einrichtung gelebt129 – drei weitere verbrachten ihr Jahr dort mit großen, teilweise monatelang andauernden Lücken.130 Die Hälfte der Jungen lebte keine 2,5 Monate in der GUF,131 vier weitere waren 4-10 Monate dort untergebracht.132 Besonders besorgniserregend ist die Quote der Rückläufer von 30%: Sechs Jugendliche wurden noch ein zweites Mal eingewiesen, nachdem sie entlassen und anderweitig betreut worden waren.133

2.2.2 Phasenmodell nicht bis zum Ende durchgeführt

Das Modell blieb in der praktischen Umsetzung über weite Strecken graue Theorie: Kein Minderjähriger hat je die Abschlussphase 4 erreicht.134

Bis zum April 2006 konnten gerade einmal 15% der Jugendlichen aus der dritten, der sogenannten Erprobungsphase, entlassen werden. Die übergroße Mehrheit von 84% verließ die Einrichtung aus den Anfangsphasen oder war nur so kurz dort, dass das Phasenkonzept nicht greifen konnte135 Noch bis Mitte Mai 2007 hatten nur fünf von 37 entlassenen Jugendlichen (13,5 %) die dritte Phase erreicht.136 Dieses Ergebnis zeigt deutlich die Grenzen eines derartigen pädagogischen Konzepts.

Prof. Dr. Bernzen hat in seinem Gutachten zu Recht kritisiert, dass ein starres Phasenmodell den hochindividuellen Problemen und Entwicklungsmöglichkeiten der Minderjährigen nicht gerecht werden konnte. Die Hilfepläne des Jugendamtes mussten sich bei der geschlossenen Unterbringung „unzureichend und stereotyp“137 allein an diesem Phasenmodell ausrichten – ein Umstand, den auch das FIT bemängelte.138

129 Drs. 18/1925, Anlage 2, Nr. 6, 14, 15. 130 Drs. 18/1925, Anlage 2, Nr. 8 ,10 ,11. 131 Drs. 18/1925, Anlage 2, Nr. 1, 2, 3, 4, 5, 7, 16, 21, 24, 25. 132 Drs. 18/1925, Anlage 2, Nr. 9,12,13,17. 133 Drs. 18/1925 Anlage 2, Nr. 2, 8, 10, 11, 12, 13. 134 „In der Praxis kam die Phase 4 nicht zur Anwendung.“ Die vierte Phase wurde im Oktober 2006 durch Umstellung auf ein „Drei-Phasen-Konzept“ abgeschafft, Drs. 18/6259. 135 Bernzen, S.142. 5 von 33 Entlassenen wurden bis zum April 2006 aus der Phase 3 entlassen (= 15%). 14 Minderjährige wurden aus den Phasen 1 und 2 entlassen (= 42%). Bei 14 Minderjährigen kam das Konzept nicht zur Anwendung, weil die Jugendlichen zu kurz in der Einrichtung waren oder aber außerhalb des Phasenkonzeptes erzogen wurden (= 42%). Vgl. Drs 18/4335, Antwort zu 2a. 136 Senatsauskunft Drs. 18/6259. 137 Bernzen, S. 61. 138 Zu den begrenzten Hilfeplänen für geschlossen untergebrachte Minderjährige in Hamburg, siehe Bernzen, S. 58-61.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 32 -

2.2.3 Fehlende Anschlussbetreuung

Es ist in diesem Zusammenhang immer wieder auf die Richter gezeigt worden, die oftmals Beschlüsse mit nur kurzer Einweisungsdauer fassten.139 Bei den engen Grenzen, die ihnen das Gesetz setzte, hatten sie keine andere Wahl. Um längerfristige Aufenthalte Minderjähriger in der Einrichtung zu erreichen, war die Behörde jedoch nicht auf das Wohlwollen der Gerichte angewiesen. Tatsächlich hat die Senatsseite ihr zur Verfügung stehende Instrumente, längere Unterbringungen zu ermöglichen, nicht genutzt.

So hätte sie durch die Angliederung offener Plätze dafür sorgen können, dass Kinder und Jugendliche ausreichend Zeit erhielten, sich auf ihre Pädagogen und die Einrichtung einzulassen. Stattdessen kaprizierten sich die politisch Verantwortlichen auf die reine Geschlossenheit und sorgten so dafür, dass sich eine zentrale Lebenserfahrung der Minderjährigen zum x-ten Male wiederholte: Die Beziehungen zu Erwachsenen sind brüchig und wenig verlässlich. In den ersten Konzeptentwürfen des LEB war dieses Problem durchaus erkannt worden. Die Minderjährigen sollten nach der geschlossenen Phase mit ihrem Bezugsbetreuer in eine eng angegliederte, offene Wohngruppe auf demselben Gelände wechseln können.140

Diese Beschreibung stieß im Senatskonzept auf einiges Misstrauen. Dennoch spielte sich die Praxis in der Einrichtung Feuerbergstraße in noch größerer Geschlossenheit ab als im Senatskonzept vorgesehen. Denn laut Senatskonzept sollten die Minderjährigen lediglich die erste Phase in einem fluchtsicheren Gebäudekomplex verbringen, die anschließenden Phasen sollten in einem nach innen offenen und nur nach außen gesicherten Gelände verbracht werden. Allerdings sollte die Geschlossene Unterbringung je nach Erfahrungswerten auch für spätere Phasen des Konzepts geprüft werden.141

Im BSF-Konzept ist von diesen offenen angegliederten Wohngruppen nicht mehr die Rede.142 Offene Plätze in einer geschlossenen Einrichtung hätten nach Wankelmut und Kuschelpädagogik gerochen und noch dazu hätte es eines Neubaus bedurft, dessen einjährige Bauphase, die Geduld des Koalitionspartners Schill und den Frieden im Senat weiter strapaziert hätten.

Die Fachleute haben an der Forderung nach einer Anbindung offener Plätze oder ambulanter Betreuungsformen festgehalten. Insbesondere als die Einrichtung auf 18 Plätze ausgebaut wurde, knüpften sie wieder an diese Diskussion an.143 Ihnen wurde knapp

139 Z.B. Frau Kristian, stellvertretende Leiterin des FIT: „Oftmals waren kurzfristige Zeiträume durch den Richter genehmigt. Dadurch haben sich die Jugendlichen nicht wirklich eingelassen – ist ja irgendwie, denke ich mal, sehr nachvollziehbar –, weder auf die Leute dort noch auf das Konzept, auf die Schule, auf gar nichts, weil sie immer dachten: ‘Noch 14 Tage, noch eine Woche, noch zwei Tage und ich bin wieder draußen.’ Das ist ein Aspekt, um eine kontinuierliche Arbeit, die ja im Phasenmodell aufeinander aufbauen soll, schlecht führen zu können.“ Wortprotokoll 18/36 vom 16.02.2007, S. 15. 140 Konzeptionelle Rahmenbedingungen der geschlossenen Unterbringung für Kinder ohne Datum Sommer/Herbst 2002, in BSF A-33. 141 Senatskonzept, S. 8, siehe Anhang, S. 44. 142 BSF-Konzept, S. 6-10, siehe Anhang, S. 54-58. 143 Ein Konzept für eine Anschlussunterbringung wird von Herrn Weylandt und Herrn Dr. Bange erstellt (so angekündigt im Protokoll Dienstbesprechung vom 10. Februar 2004, in BSF B-8). Herr Dr. Bange

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 33 -

beschieden, diese Ausrichtung sei „fachpolitisch nicht gewünscht.“144 Erst im August 2006 feierte die Senatorin diese, bis dahin vier Jahre lang unerwünschte Idee als Weiterentwicklung der GUF - auch in der Hoffnung, damit die Belegungsquote der Feuerbergstraße zu verbessern.145 Mit Leben ist diese offene Abteilung bis heute nicht erfüllt, nur sehr vereinzelt sind Jugendliche offen in der GUF betreut worden.146 Das mag daran liegen, dass die offene Betreuung in einem geschlossenen Bau stattfindet147 und keine grundsätzlichen Unterschiede zur Konzeption der Geschlossenen Unterbringung aufweist.148

Soweit der Abschlussbericht den geplanten Betreuungszeitraum von einem Jahr als angemessen bezeichnet, und allein die restriktive Einweisungspraxis der Familiengerichte für die faktisch kürzeren Aufenthalte der Betreuten verantwortlich macht,149 geschieht dies gegen die Expertise von Prof. Dr. Bernzen und ohne Beachtung der Handlungsmöglichkeiten des Senats.

2.2.4 Fehlende wissenschaftliche Evaluation

Von Seiten des Senats und der CDU-Fraktion wird immer wieder unterstrichen, man habe mit der GU Feuerbergstraße pädagogisches Neuland betreten. Umso mehr hat es die BSF versäumt, die Arbeit im pädagogischen Neuland extern evaluieren und wissenschaftlich begleiten zu lassen. Eine solche Evaluierung wurde z.B. im Jugendausschuss der Bürgerschaft am 8. April 2003 nachgefragt. Senatsvertreter erklärten damals noch, dass eine „begleitende Evaluation im Sinne einer Prozessbegleitung“ erstellt werden sollte.150 Im Untersuchungszeitraum hat eine externe Evaluation indes nie stattgefunden. Wenn die CDU von der ständigen Evaluierung der GUF spricht, kann sie damit nichts anderes meinen als den Versuch, mit eigenen Mitteln nachzubessern, wie z.B. bei der baulichen Sicherheit oder in eskalierenden Situationen. Diese Momente des Gegensteuerns und Verbesserns sind

empfiehlt dem Staatsrat bei der Erweiterung auf 18 Plätze die weiteren 6 Plätze offen anzulegen, das würde eine Anschlussbetreuung ermöglichen und wäre überdies billiger. Es solle in diesem Zusammenhang auch über einen Neubau nachgedacht werden (Vermerk Dr. Bange an Staatsrat Meister: „Informationen zur GU“ vom 5. März 2004, in BSF A-20). Der Geschäftsführer des LEB, Herr Müller, setzte sich beim Amt für die Einrichtung einer intensiv betreuten Wohngruppe mit 4-7 Plätzen ein, weil es Schwierigkeiten bereite, die Jugendlichen in anderen Regeleinrichtungen der Jugendhilfe unterzubringen und so eine enge personelle und räumliche Nähe zur GUF gewährleisten (Herr Müller an den Amtsleiter Herrn Riez und dessen Stellvertreter Herrn Dr. Hammer, am 26. April 2004, in BSF B-7). 144 So gibt es der Geschäftsführer des LEB an den Heimleiter Herrn Weylandt weiter (Herr Müller an Herrn Weylandt, 8. Juni 2004, in BSF B-7). 145 Pressemitteilung BSG vom 28. August 2006: „Weiterentwicklung des Konzepts zur Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße“. 146 Im zweiten Halbjahr 2006 war die offene Gruppe mit 0,5 Minderjährigen belegt (Drs. 18/5672), im ersten Halbjahr 2007 wurde kein Jugendlicher dort betreut (Drs. 18/6561) und im Monatsdurchschnitt Juli 2007 waren 0,6 Minderjährige dort untergebracht (Drs. 18/6749 Neufassung). 147 Zäune und andere Sicherungsmaßnahmen wurden nach Auskunft des Senats nicht zurückgebaut. Nur eine Zwischentür wurde baulich verändert (Drs. 18/5075, Antwort zu Fragekomplex 7). 148 Senatsauskunft 18/5359, Ziffer 1.7. 149 PUA-Abschlussbericht, S. 516. 150 Drs. 17/2624, Bericht des Jugend- und Sportausschusses.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 34 -

durchaus anzuerkennen; sie ersetzen aber nicht den Blick von außen, der Prozesse, Methoden und Zielerreichung nach wissenschaftlichen Standards überprüft. Für ein so umstrittenes und neues Projekt hätte dies zum Handwerk gehört.

Eine qualifizierte externe Evaluation wurde auch von Prof. Dr. Bernzen angeraten. Sie solle Methoden, Vernetzungen und Wirkung der geschlossenen Unterbringung untersuchen und dabei Eltern und andere Sorgeberechtigte, Minderjährige, Mitarbeiter der GUF und des FIT befragen. Heranzuziehen seien auch psychologische Tests und die Jugendhilfestatistik. Es sollte dabei nicht nur um die Straffreiheit der Minderjährigen gehen, sondern auch um die Zufriedenheit der Jugendlichen und ihrer Familien, das regelmäßige Erscheinen in der Schule, die Zufriedenheit der Mitarbeiter, die Teilnahme am Anti-Aggressionstraining, Initiative der Minderjährigen, Befolgung des Regelkanons in der Einrichtung, erfolgreiche Ausgänge und die Mitwirkung an der Erarbeitung eigener beruflicher Perspektiven.151

Die BSF hatte in Reaktion auf das Bernzen-Gutachten erklärt, sie werde den Empfehlungen folgen. Im Bezug auf die Evaluation hat sie dies bis heute nicht getan.152 Die Behörde verweist in diesem Zusammenhang auf ein Verfahrenscontrolling zwischen Familiengerichten, FIT und GUF, das sicherlich sehr wünschenswert ist, und auf die große Studie des Deutschen Jugendinstitutes, das bundesweit den Stand der Geschlossenen Unterbringungen ermittelt, zu dem Innenleben einzelner Heime aber keine Untersuchungen anstellt.

Es bleibt zu vermuten, dass es in der Behörde bis heute schlicht kein Interesse an einer externen Beurteilung der Geschlossenen Unterbringung gibt. Das ist nicht zuletzt deshalb bedauerlich, weil es weniger um die Beurteilung einer Politik geht als um die Begutachtung des Erfolges einer Jugendhilfemaßnahme für die betroffenen Minderjährigen.

151 Bernzen, S. 104-106. 152 Senatsauskünfte Drs. 18/7093, 18/4893 und 18/4739.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 35 -

2.3 Fehler am Bau Das Gebäude in der Feuerbergstraße war von Anfang an ungeeignet für die Geschlossene Unterbringung. Die Lage war zu zentral und die Räumlichkeiten zu eng. Tatsächlich war auch die Sozialbehörde vom Standort Feuerbergstraße nicht so überzeugt, wie bis heute öffentlich beteuert wird: Der Staatsrat hat Alternativen geprüft.

Der Senat hat es unterlassen, den vorhandenen Sachverstand zu bündeln, um die Geschlossene Unterbringung so gut und sicher wie möglich räumlich unterzubringen, was Entweichungen begünstigte. Durch ihre Weigerung, an den Sicherheitsstandards mitzuarbeiten, trägt die Justizbehörde Mitverantwortung für Ausbrüche.

2.3.1 Gelände ist ungeeignet

Der Untersuchungsbericht der CDU-Mehrheit kommt zu dem Schluss, „die grundsätzliche Entscheidung für die Gebäude in der Feuerbergstraße“ sei „richtig“ gewesen. Zum Zeitpunkt der Eröffnung der GUF, so die Bewertung der CDU-Fraktion, wäre es „nicht verantwortbar gewesen, einen teuren Neubau zu erstellen, der sich ggf. später sowohl in der Größe als auch in den konzeptionellen Anforderungen als unzureichend erwiesen hätte.“153

Es kann nicht ausgeschlossen werden – insofern hat die CDU-Mehrheit nicht Unrecht –, dass sich ein etwaiger Neubau unter bestimmten Gesichtspunkten als unpassend herausgestellt hätte. Derartige Überlegungen sind jedoch spekulativ. Sicher festgestellt werden kann hingegen, dass das ausgewählte Haus an der Feuerbergstraße sowohl im Hinblick auf die Größe des Areals, als auch im Hinblick auf die konzeptionellen Anforderungen ungeeignet war und ist.

Die Lage innerhalb der Stadt und die damit verbundene schnelle Erreichbarkeit von Familien und Freunden bilden naturgemäß einen Anreiz für Entweichungen. Die räumliche Nähe zum Kinder- und Jugendnotdienst war hochproblematisch.154 Nicht zuletzt, weil Jugendliche in den beiden Einrichtungen sich kannten, kam es immer wieder zu Kontakten, die kaum zu kontrollieren waren.155 In den Akten findet sich eine ganze Reihe Besonderer Vorkommnisse, die auf derartige Begegnungen zurückgingen.156

Das Areal ist zu klein, zudem war das Außengelände mangels ausreichender Sicherungsmaßnahmen bis September 2003 nur eingeschränkt nutzbar. Räumliche Standards, die aus pädagogischen Gründen angebracht gewesen wären, konnten nicht gewahrt werden.157 Die Flure wurden als zu eng bezeichnet, bei Konflikten könnten die

153 PUA-Abschlussbericht, S. 548. 154 Vgl. auch PUA-Abschlussbericht, S. 368. 155 Kündigungsschreiben der Psychologin der GUF vom 27.04.2003, in BSF B3. 156 Zum Beispiel am 01.08.2003, 11.12.2003 sowie 27.07.2004. 157 „Aus den Fortbildungsmaßnahmen zur Vermeidung und Deeskalation von Gewaltsituationen wurde deutlich, dass ein wesentlicher Aspekt die Vermeidung von körperlicher Nähe und das Herstellen von Distanz ist. Dies lässt sich in den Räumen der Feuerbergstraße nur unzureichend umsetzen. Die räumlichen Bedingungen und baulichen Standards in der Feuerbergstraße bleiben weit hinter den vergleichbaren Einrichtungen in Deutschland zurück. Sowohl zur Sicherung der Arbeit bei den bestehenden 12 Plätzen als auch für die nächste Ausbaustufe sind besondere bauliche Maßnahmen

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 36 -

Jugendlichen sich nicht aus dem Weg gehen.158 Die Zimmer der Minderjährigen sind mit einer Größe von 8m² außerordentlich klein; es passen gerade einmal ein Schreibtisch, eine Kommode (kein Kleiderschrank) und ein Bett (ohne Nachttisch) hinein.159 Seit Jahrzehnten werden in Neubauten keine so kleinen Kinderzimmer mehr gebaut.

2.3.2 Neubauüberlegungen in der Sozialbehörde

Tatsächlich war auch die Sozialbehörde vom Standort Feuerbergstraße nicht so überzeugt, wie bis heute öffentlich beteuert wird. Anders als im Abschlussbericht von der CDU-Fraktion dargestellt, ist man nicht nur im LEB, sondern auch bei den Fachleuten der Behörde selbst immer wieder auf Neubauüberlegungen zurückgekommen:160

- So wurde beispielsweise in einer E-Mail der Behörde an den LEB betr. das „strategische Verfahren wg. GUF“ Ende März 2003 auf der einen Seite ausgeführt, dass eine Neubaulösung sich anböte, wenn erkennbar sei, dass eine Belegung von zwölf Plätzen in absehbarer Zeit erreicht werde. Zugleich wurde der LEB mit der Grobplanung eines solchen Projektes beauftragt.161

- Auch im Rahmen der Erweiterung der Einrichtung auf 18 Plätze wurde im Frühjahr 2004 erneut die Option eines Neubaus erwähnt. So erkundigte sich die zuständige Abteilung in einem Vermerk an den Staatsrat, ob auf Dauer mit der Einrichtung in der Feuerbergstraße gerechnet werden müsse oder nicht doch an einen Neubau gedacht werde.162

zur Verhinderung von Eskalationen und zur Unterstützung der pädagogischen Zielsetzung erforderlich. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass bauliche Veränderungen und die Ausweitung der Plätze in der Feuerbergstraße nur unter erschwerten Bedingungen möglich sein wird: Sicherungsmaßnahmen von Außengeländen werden sich nicht verstecken lassen. Es wird lange hohe Zäune geben. Dies kann von Jugendlichen als Aufforderung zum Überwinden aufgefasst werden. Darüber hinaus wird es für die Jugendlichen in fortgeschrittenen Phasen schwerer, die Einrichtung auch freiwillig als ihren normalen Lebensort zu akzeptieren.“ (Geschäftsführer des LEB, Vermerk Herr Lerche an den Staatsrat vom 27.03.2003, in BSF B-14. Vgl. auch Aussagen Herr Lerche Wortprotokoll 18/10, 28.10.2005, S. 56f.). 158 „Die räumliche Enge der GU erschwert den dort untergebrachten Jugendlichen das Leben auf eine unzumutbare Weise. Die Jugendlichen haben aufgrund belastender Lebensereignisse eine Überlebensstrategie der Flucht und Vermeidung entwickelt, die sich in einer hohen Mobilität und motorischer Unruhe zeigt. In der GU müssen die Jugendlichen zur Geschlossenheit die Unterbringung in einem 8qm großen Zimmer aushalten. Die beengten Flure lassen es nicht zu, dass 'verfeindete Parteien' sich aus dem Weg gehen können, das bedeutet Konfrontationen, die zur Eskalation führen können, schwer vermeidbar sind.“ (Kündigung der Psychologin der GUF vom 27. April 2003, z. K. an den Staatsrat und die Senatorin, Eingangsstempel 12.05.03, in BSF B-3). 159 In der Einrichtung gibt es zwar einige größere Zimmer, diese sollen allerdings als Mehrbettzimmer dienen – was gegen die Leistungsvereinbarung verstößt, die seit Februar 2004 ausdrücklich nur Einzelzimmer vorsieht (Leistungsvereinbarung vom 25.02.2004, in BSF A-34). 160 Vgl. dazu auch die Ausführungen im PUA-Abschlussbericht, Seite 368f. 161 Aus der Antwort des Amtes FS vom 28.03.2003 auf Bitte des Staatsrates um strategische Vorschläge; diese sollten nach ausdrücklicher Ansage Herrn Meisters vom seinerzeit urlaubenden Amtsleiter Riez verantwortet werden, was auch per Email-Abstimmung im Urlaub geschah (BSF B-14). 162 FS 7 Bange Vermerk an Staatsrat Meister vom 05. März 2004 betr. Informationen zur GU, in BSF A-20 GU.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 37 -

- Noch im Frühsommer 2004 wurde in einem als „streng vertraulich“ gekennzeichneten Vermerk an den Staatsrat im Zuge der Überlegungen zur Einrichtung einer dritten Gruppe formuliert: „Möglicherweise müssen wir noch einmal über den Standort Feuerbergstraße nachdenken. Falls wir zu dem Schluss kommen, der Standort ist aus den oben genannten Gründen zu risikobehaftet, sollten wir zeitnah einen Neubau ins Auge fassen.“163 (Die dritte Gruppe sollte auf die Zielgruppe der auf Bewährung verurteilten jugendlichen Täter bzw. der als sehr schwierig eingeschätzten Minderjährigen ausgerichtet werden.)

2.3.3 Staatsrat prüft Verlagerung nach Altengamme

Zudem hat sich herausgestellt, dass Sozialstaatsrat Meister noch im Dezember 2004 ernsthaft geprüft hat, die Geschlossene Unterbringung an einen anderen Standort zu verlagern:164

Nach der Schließung der Sozialtherapeutischen Anstalt Altengamme im Herbst 2004 gab es Überlegungen in Sozial- und Justizbehörde, das Haus in der Feuerbergstraße aufzugeben und das ehemalige Gebäude der JVA Altengamme für die Geschlossene Unterbringung zu nutzen: Der damalige Staatsrat Lüdemann hatte der Sozialbehörde die neue Verwendung des Geländes in Altengamme unter Hinweis auf ein kurzes Gespräch der beteiligten Senatsmitglieder in einem Schreiben angeboten.165

Obwohl das fachlich zuständige Amt in der Behörde wiederholt feststellte, das Angebot sei „nicht sinnvoll“, da bereits die Größe der Einrichtung mit einer Kapazität von 60 Plätzen „ein unüberwindliches Hindernis für eine sinnvolle Nutzung durch die BSF“ darstelle,166 hat Staatsrat Meister ausdrücklich darauf bestanden, das Gelände zu besichtigen.167 Die Geschäftsführung des LEB wurde daraufhin Ende Oktober 2004 beauftragt, die Nutzung der ehemaligen Anstalt Altengamme für die GUF zu prüfen und Aussagen zur Wirtschaftlichkeit zu treffen. Die Prüfung kam zu dem Ergebnis, die Bewirtschaftung des Geländes würde teurer werden als in der Feuerbergstraße.168

163 Vermerk FS 7 Bange vom 28.05.2004 „Streng vertraulich“ an SV Meister, in BSF, Akte A-20 GU. 164 Der PUA hat von der Prüfung des Standorts Altengamme nur durch eine Zeugenaussage erfahren; die Unterlagen zu diesen Erwägungen, die immerhin ein halbes Jahr andauerten, hatte der Senat dem Ausschuss zunächst vorenthalten und erst auf ausdrückliche Nachforderung des Ausschusses nachgeliefert. Auch eine Darstellung des Sachverhalts im Abschlussbericht des PUA fehlt, da die CDU eine entsprechende Ergänzung mit ihrer Mehrheit abgelehnt hat. 165 Schreiben vom 08.09.2004: „Diese Überlegung ist bereits zwischen der Bürgermeisterin und dem Justizsenator kurz erörtert worden“ (Akte BSF Altengamme). 166 Vermerk FS Riez an Staatsrat Meister vom 22.09.2004 (Akte BSF Altengamme): „Sie hat eine Kapazität von 60 Plätzen. Damit ist sie rund viermal so groß wie die Einrichtung in der Feuerbergstraße. Um etwa den gleichen Faktor wäre sie auch überdimensioniert für die Unterbringung von Mädchen. Selbst wenn man auf die Idee käme, die Anstalt für beide Zwecke zu nutzen, wäre sie noch etwa doppelt so groß wie der Platzbedarf.“; mit gleichem Tenor Vermerk Bange an Riez vom 03.12.2004 (vgl. Akte BSF Altengamme). 167 Notiz Staatsrat Meister 26.09.04 auf dem Vermerk von Herrn Riez: „Bitte Besichtigung organisieren – unbeschadet der bisherigen Argumente. Beteiligung FS, V1, SV“ (Akte BSF Altengamme). 168 Akte BSF Altengamme, Vermerk Müller an den Steuerungsausschuss 25.11.2004 in Beantwortung von dessen Auftrag vom 21.10.2004 (der sich nicht in den übermittelten Akten findet).

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 38 -

Dennoch fand am 09. Dezember 2004 eine Begehung der mittlerweile stillgelegten Justizvollzugsanstalt Altengamme mit den Staatsräten Meister und Lüdemann statt.169 Als das zuständige Amt im Anschluss an der Überzeugung festhielt, dass die Überkapazitäten in einer möglichen GU Altengamme nicht abzufangen gewesen wären,170 wurde das Angebot der Justizbehörde Mitte Februar 2005 offiziell abgelehnt.171

2.3.4 Justizbehörde verweigert Amtshilfe zum Sicherheitskonzept

Die Justizbehörde hat mit Wissen und Wollen von Senator Kusch die Erarbeitung zusätzlicher Sicherungsmaßnahmen in der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße boykottiert.

Es fehlte beim Umbau der Feuerbergstraße an Expertise für elementare Sicherheitsfragen.172 Es gab während des Umbaus und auch danach, als die Mängel sichtbar wurden, keine effektiven Beratungen durch Mitarbeiter des Strafvollzugsamtes. Diese hatten nur einmal im Februar 2003 an einer Begehung der Einrichtung teilgenommen. Das Abendblatt meldete daraufhin, dass ein Sicherheitsbeamter der Justizbehörde schwere Sicherheitsmängel in dem Heim festgestellt habe, die vorgeschlagenen Verbesserungen von der BSF aber mit der Erklärung abgelehnt worden waren, dies sei eine Jugendhilfeeinrichtung und kein Gefängnis. Ein falscher Zungenschlag in der daraufhin erfolgenden Pressemitteilung der BSF über den Unterschied zwischen Jugendhilfe und Strafvollzug allerdings veranlasste die Justizbehörde, von Amtshilfen in dieser Frage abzusehen:173

Die Gründe hierfür lagen nicht in fachlichen Dissensen, sondern in einer Verärgerung der Leitung der Justizbehörde über missglückte Vergleiche zwischen Strafvollzug und Jugendunterbringung in einer Pressemitteilung der Sozialbehörde aus dem März 2003.174 Die Sozialbehörde hatte darin erklärt, es gebe in der Feuerbergstraße - anders als im Strafvollzug - keine elektrischen Zäune. Tatsächlich gibt es aber auch im Hamburger Strafvollzug keine. Obwohl die fehlerhafte Darstellung in der Pressemeldung noch am selben Tag durch die Sozialbehörde korrigiert wurde,175 weigerte sich die Justizbehörde fortan, ihr Know-how in die Einrichtung einzubringen.

Auch eine ungefragte Intervention des Innenstaatsrats Wellinghausen vermochte Justizsenator Kusch nicht zu weiteren Unterstützungen zu veranlassen.176

169 Außerdem haben die Amtsleiter Riez und Düwel sowie die Leiterin der Präsidialabteilung daran teilgenommen. 170 Akte BSF Altengamme, Vermerk Riez an Staatsrat Meister vom 27.01.2005. 171 Schreiben Staatsrat Meister an Staatsrat Lüdemann vom 18.02.2005, in Akte BSF Altengamme. 172 PUA-Abschlussbericht, S. 374, Z.1f. 173 Aussage Staatsrat a. D. Horstmann, Wortprotokoll 18/16, S. 17-22. Siehe auch PUA-Abschlussbericht, S. 175-178. 174 Aussagen Horstmann und Düwel. 175 Pressemitteilungen der BSF vom 12. März 2003. 176 Schreiben Staatsrat Wellinghausen an Senator Kusch vom 27. Juni 2003. Darauf die Anmerkung von Staatsrat Horstmann, er habe Staatsrat Wellinghausen mitgeteilt, dass die Justizbehörde leider

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 39 -

2.3.5 Entweichungen

Bauliche Mängel, die auf die übereilte Inbetriebnahme der Einrichtung und sicher auch auf die unzureichende Unterstützung durch die Mitwirkung der Justizbehörde zurückzuführen waren, führten zu zahlreichen Entweichungen. Anders als im Abschlussbericht der CDU suggeriert, hat sich das Problem der Ausbrüche nach der Anfangsphase aber nicht erheblich entspannt. Der Abschlussbericht geht in der Bewertung von elf „Entweichungen aus dem Gebäude“ aus177 und betont sodann, „die Mehrzahl der Entweichungen“ habe „in den ersten Monaten nach Eröffnung der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße stattgefunden“:178

Diese Darstellung trifft nicht zu. Da sie bei der Bewertung des Geschehens in die Irre führt, soll sie hier richtig gestellt werden. Zwar hat es in der Tat – glücklicherweise – langfristig eine Reduzierung der Entweichungen aus der Einrichtung gegeben. Tatsächlich stellt sich die Entwicklung wie folgt dar (basierend auf den vom Arbeitsstab gewerteten Entweichungen aus dem Gebäude)179.

In der „Anfangsphase“ gelangen den in der GU Feuerbergstraße untergebrachten Jugendlichen demnach vier Entweichungen aus dem Gebäude:

nicht helfen kann, in JB 4432-4-1. Aussage Staatsrat a. D. Horstmann, Wortprotokoll 18/16, S. 18. Vgl. auch PUA-Abschlussbericht, S. 175-178 und S. 373. 177 Siehe auch die Übersicht des Arbeitsstabes Band II Anhang IX Besondere Vorkommnisse, S. 161- 173. 178 PUA-Abschlussbericht, Ziffer 3.4.1, S. 461. 179 Im Zusammenhang mit Entweichungen aus der GUF kommt es nicht selten zu unterschiedlichen Zahlenangaben. Diese haben ihre Ursache zum einen in voneinander abweichenden Senatsauskünften (vgl. PUA-Abschlussbericht, S. 475.), außerdem in unterschiedlichen Definitionen, welche Flucht als Entweichung gezählt wird und welche nicht. So hat der Arbeitsstab zusätzlich zu elf „Ausbrüchen“ aus dem Gebäude im engeren Sinne acht Vorgänge als „Weglaufen“ gezählt, von denen einige in Beantwortung parlamentarischer Anfragen wiederum als „Entweichung aus dem Gebäude“ bewertet wurden.

Legt man bei einer Zählung diejenige Bewertung der Vorgänge zugrunde, die der Senat in Beantwortung einer Großen Anfrage der CDU-Fraktion angewandt hat, gab es im Untersuchungszeitraum 13 Entweichungen aus dem Gebäude der Feuerbergstraße (bei insgesamt 20 entwichenen Jugendlichen). Davon haben vier im ersten Halbjahr nach der Inbetriebnahme stattgefunden und sieben im ersten Jahr des Betriebs. Darüber hinaus sind acht Jungen bei begleiteten Ausgängen entwichen (Senatsantwort vom 5. April 2005, Drs. 18/1925, Anlage 4 ab Seite 29; ergänzt durch die Daten ab 15. März 2005 aus Drs. 18/2351).

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 40 -

Auszuwertende Zeiträume Gezählte Entweichungen aus dem Gebäude

12. Februar 2003 04. März 2003 11. März 2003

Erstes Halbjahr nach Inbetriebnahme Vier Entweichungen (Mitte Dezember2002 bis Mitte Juni 2003)

25. April 2003 09. August 2003 Erstes Betriebsjahr insgesamt

6 Entweichungen 06.Oktober 2003 13.März 2004 17. Mai 2004 11. September 2004

Zweites Betriebsjahr insgesamt: vier Entweichungen

06. Dezember 2004 Drittes Betriebsjahr bis April 2005 21. Januar 2005 Quelle: Übersicht im Anhang zum Untersuchungsbericht, Band II, Seite 161ff.

Im Jahr 2003 waren in 6 Fluchten insgesamt neun Minderjährige aus dem Gebäude weggelaufen, in 2004 waren es in 4 Fluchten ebenfalls acht Minderjährige.

Die Senatorin hat in ihrer Vernehmung betont, sie habe den Staatsrat nach jeder Entweichung angewiesen, die GU Feuerbergstraße entweichungssicher zu machen.180 Es gibt insofern keine Notizen in den Akten, denen ein derartiges Engagement der Senatorin entnommen werden könnte. (Allerdings findet sich in den Protokollen der Dienstbesprechungen in der Feuerbergstraße ein Hinweis, dass in der Zeit des „heißen Wahlkampfes“ vor der Bürgerschaftswahl 2004 in besonderem Maße darauf geachtet werden sollte, Entweichungen möglichst zu verhindern.)181

2.3.6 Verpasste Chance Erweiterung

Auch nach dem Ausbau auf der Einrichtung auf 18 Plätze wurde das Gebäude intern als „suboptimal“ bezeichnet.182

Der LEB hatte die Erweiterungspläne zuvor erneut zum Anlass genommen, für einen Neubau zu werben. Das hatte keinen Erfolg, obwohl man ihn durchaus auch in der BSF für pädagogisch sinnvoller hielt als die Umbaumaßnahmen für den Ausbau,183 deren Kosten sich

180 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 92f. 181 Protokoll der Dienstbesprechung vom 13.01.2004 (Akte BSF B-8): „Für die nächsten 6 Wochen, also bis zu den Wahlen, steht der Sicherheitsaspekt bei Ausgängen im Vordergrund.“ Vgl. auch SPD-Minderheitenvotum Kapitel 2.2. 182 Bericht für den Steuerungsausschuss vom 27. Mai 2004, Pkt. 2.3, in BSF B-3. 183 Vermerk Herr Müller an Herrn Dr. Bange vom 7. Mai 2003, in BSF A-5 Bauakte 1 sowie Vermerk Müller an FS 21 vom 12. Mai 2003, Erweiterung auf dem Gelände Feuerbergstraße, in BSF A-6. FS7 Herr Dr. Bange an Staatsrat Meister, 5. März 2004, Informationen zur GU, in BSF A-20. Vermerk Herr

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 41 -

auf mehr als eine halbe Million Euro summierten (zum Abschluss der Bauarbeiten im August 2004: 400.000 Euro plus 200.000 Euro Umzugskosten für den Jugendpsychiatrischen Dienst und die Adoptionsstelle).184

Entgegen anderslautender Empfehlungen des LEB und Dr. Banges versäumte die Behördenleitung, die im Zuge des Ausbaus zusätzlich eingerichteten Plätze als offene Plätze zu gestalten.185. Die Sozialbehörde lehnte eine an die GU Feuerbergstraße angeschlossene Nachsorgeeinrichtung als „fachpolitisch nicht gewünscht“ ab.186 Viel später – im Spätsommer 2006 – hat die Behörde tatsächlich eine Umwidmung sechs geschlossener in offene Plätze beschlossen.187 Die Sozialsenatorin hat diese Umstrukturierung in einer Pressekonferenz als Weiterentwicklung des Konzeptes angepriesen, welche auf Erfahrungswerten beruhe.188 Die nötigen Erfahrungen waren in der Praxis aber bereits zwei Jahre zuvor gemacht worden.189

Müller, Geschäftsführer LEB, an BSF FS, Herrn Riez, 7. April 2004, in BSF A-20. Vgl. auch Vermerk Herr Müller, Geschäftsführung LEB, 24. März 2004, Ausbauplanung GUF, in BSF A-6. 184 Vermerk LEB 14 Herr Petersen: Kostendarstellung Erweiterung um sechs Plätze, Stand 12.08.2004. Von Herrn Müller, Geschäftsführer LEB, an Amtsleiter Herrn Riez, in BSF A-6. Vermerk Kosten für die Umzüge: Schreiben von FS 41 an den Staatsrat mit Bitte um Entscheidung, vom 4. April 2003, in BSF B-14. 185 Vermerk Dr. Bange an Staatsrat Meister: Informationen zur GU vom 5. März 2004, in BSF A-20. Aussage Weylandt Wortprotokoll 18/31, S. 22f. Zu den Schwierigkeiten, Jugendliche aus der GUF in geeignete Anschlussbetreuung unterzubringen, siehe Aussage Dr. Bange, Wortprotokoll 18/11, S. 149, vgl. auch PUA-Abschlussbericht, S. 334-336 (von der CDU-Fraktion verändert). 186 Vermerk von Herrn Müller, Geschäftsführer LEB, vom 8. Juni 2004, in BSF B-7. 187 Ein entsprechender erneuter Umbau der Einrichtung verursacht nach Senatsauskunft Kosten in Höhe von rund 40.000 Euro; zusätzliche Kosten in Höhe von knapp 10.000 sind bereits entstanden; Antwort auf die Anfrage des Abg. Böwer Drs. 18/5075, Ziffer 7.1. 188 Pressemitteilung der BSG vom 28.08.2006: „ (…) Gleichzeitig hat die Sozialbehörde eine Umstrukturierung der Einrichtung beschlossen. Grund dafür ist die Erfahrung, dass eine gelungene Anschlussbetreuung einen großen Einfluss darauf hat, inwieweit die Geschlossene Unterbringung langfristig zu einer positiven Veränderung bei den Jungen führt. Um den Jungen sowohl in Bezug auf den Ort als auch auf die Betreuung Beständigkeit und Verlässlichkeit zu geben, werden sechs der bisher 18 geschlossenen Plätze in Zukunft offene Plätze sein und für die Anschlussbetreuung zur Verfügung stehen.“ 189Siehe auch SPD-Minderheitenvotum, Kapitel 2.2.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 42 -

2.4 Personal und Pädagogik Eine der Hauptschwierigkeiten der GUF war der Aufbau eines stabilen, qualifizierten Mitarbeiterstamms. Das lag sicher auch darin begründet, dass die Betreuung in einer geschlossenen Unterbringung in Hamburg ein Novum war und Erfahrungen in der Regel nicht mitgebracht, sondern erst gesammelt werden mussten. Gerade dieser Umstand allerdings hätte eine deutlich umsichtigere Personalpolitik erfordert, als in den ersten Jahren der GUF erkennbar geworden ist.

2.4.1 Qualifikation der Leitung und der pädagogischen Mitarbeiter

Es ist fraglich, ob die Leitung der Einrichtung ausreichend qualifiziert war. Anders als in den Leistungsvereinbarungen zunächst vorgesehen, oblag sie keinem Diplompsychologen, sondern einem Sozialpädagogen.190 Die eigentliche pädagogische Leitung wurde in weiten Teilen vom stellvertretenden Heimleiter übernommen, einem erfahrenen Erzieher, der seine Qualifikation zur Konfrontationspädagogik aus seiner dreißigjährigen Berufspraxis ableitete.191

Das Konzept der „Konfrontativen Pädagogik“ schien allenfalls der ersten Generation von Sozialpädagogen in den (nicht dokumentierten) Fortbildungen der ersten Wochen 2003 nahegebracht worden zu sein.192 Pädagogische Mitarbeiter, die ihren Dienst in der GU zu einem späteren Zeitpunkt aufgenommen hatten, berichteten von einem „learning by doing“ angeleitet durch den stellvertretenden Leiter, von fehlenden Fortbildungen und mangelnder theoretischer Fundierung.193

Dies widerspricht der Betriebserlaubnis der Einrichtung, die regelmäßige praxisorientierte Fortbildungen mindestens einmal jährlich verlangt.194 Angesichts der neuartigen Aufgabe war diese Forderung angemessen und wurde übrigens auch durch höhere finanzielle Zuweisungen durch das Amt gefördert. Da sich die Heimaufsicht eine Belegprüfung vorbehielt,195 war die Einrichtung zu einer sorgsamen Dokumentation verpflichtet. In den Akten finden sich nur sehr spärliche Hinweise auf Fortbildungen der Mitarbeiter. Von 31 Pädagogen hatten zwei eine Fortbildung in „Stoffkunde“ (Drogen) bzw. „Psychodramatischen Methoden“ absolviert.196 Der Heimleiter hatte an einem Workshop zu „Qualitätsstandards für

190 Arbeitsstabvermerk Nr. 46, S. 177. 191 Aussagen des stellvertretenden Heimleiters Herr Sonntag, Wortprotokoll 18/52 vom 19.07.2007, S. 27. 192 Wortprotokoll 18/38, S.10. 193 Wortprotokoll 18/38, S.45, 62; Wortprotokoll S. 9, 28, 29 und Wortprotokoll 18/38, S. 77f. 194 Betriebserlaubnis vom 16. Dezember 2002, 28. Juli 2003 u. 3. Januar 2005, in BSF B-7, B-10. 195 14.000 Euro wurden für Supervision und Fortbildung zur Verfügung gestellt (siehe Mail-Verkehr Herr Möller-Beimbrink (LEB) an Frau Eltner (Heimaufsicht und Trägerberatung) vom 19. Januar bis 29. Januar 2004. Mail Herr Möller-Beimbrink an Herrn Weylandt vom 11. Februar 2004 (in Akte BSF A-32). Für Supervisionen und Honorare der ehemals angestellten Psychologinnen wurden rd. 9.000 Euro ausgegeben. Belege für Fortbildungen finden sich nicht, siehe BSF A-9, auch nicht im Fortbildungsordner BSF A-8. 196 Arbeitsstabvermerk Nr. 46.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 43 -

freiheitsentziehende Maßnahmen“ teilgenommen.197 Darüber hinaus finden sich Hinweise über einen abgesagten Motorsägenlehrgang des stellvertretenden Heimleiters198 und eine Kostenabrechnungen der Fa. Lifeguard für Selbstverteidigungskurse der Pädagogen im Frühjahr 2003.199 Im Frühjahr 2004 führte die Firma Securitas den Kurs „Deeskalation“ durch.200 Fortbildungen zur Konfrontationspädagogik oder von Pädagogen und Psychologen durchgeführte Deeskalationstrainings sind in den Akten nicht nachweisbar. Angesichts der schweren und neuen Aufgabe, der sich die Mitarbeiter in der Einrichtung stellen mussten, reichten die Qualifizierungsbemühungen der Einrichtung nicht aus.

Das führte zu Unsicherheiten des Personals im Umgang mit den Betreuten. Im September 2003 wurde in einer Teambesprechung problematisiert, dass das „Legen“, gemeint ist das physische zu Boden bringen, der Jugendlichen in letzter Zeit „überstrapaziert“ worden sei.201 Ein Mitarbeiter regte an, die Art und Weise der Konfrontationen mit den Jugendlichen zu überdenken.202 Anlässlich des Mordes an einer Erzieherin in einer geschlossenen Einrichtung in Rheinland-Pfalz wurde erneut über das Ausmaß an Konfrontationen in der GUF nachgedacht und notiert: „Wir haben ein Niveau erreicht, auf dem ein Schritt zurück unsererseits Grenztestungen der Jugendlichen auslöst. Bitte eher die Gelegenheit zum Konfrontieren suchen, Zeitpunkt der Eskalation selbst bestimmen.“203 Die Frage, ob ausreichend und in der richtigen Vehemenz konfrontiert wurde, war immer wieder ein Konfliktpunkt in der Einrichtung.204 Im März 2005 sollten sogar Securitas-Mitarbeiter angehalten werden, Fehlverhalten pädagogischer Mitarbeiter in sogenannten Mängellisten aufzuführen, die an die Heimleitung weitergegeben werden sollten. Unter einem solchen Fehlverhalten subsumierte die Leitung insbesondere uneinheitliches Verhalten bei Sanktionen und fehlende Intervention bei Beleidigungen oder Bedrohungen.205

Wenig hilfreich erscheint vor diesem Hintergrund, dass zunehmend Erzieher eingestellt wurden, die ihre Arbeit mit deutlich weniger theoretischem Hintergrundwissen über Störungsbilder und Belastungen der Jugendlichen aufnehmen mussten als Sozialpädagogen. Diese Einstellungspraxis verstieß zudem gegen die Leistungsvereinbarungen, die grundsätzlich eine 100%ige Ausstattung mit Sozialpädagogen vorsahen.206 Im Jahr 2003 war die Einrichtung zwei Monate lang mit 100% Sozialpädagogen

197 Anmeldung zum Workshop „Qualitätsstandards für freiheitsentziehende Maßnahmen in der Jugendhilfe“ am 5. u. 6. Oktober 2004, in BSF A-8. 198 Protokoll Teambesprechung vom 12. August 2003, in BSF C-3. 199 Rechnung der Fa. LifeGuard Fitness - Beratung - Schulung im April und Mai 2004 über 7 Stunden, in BSF B-4. 200 Vermerk Dr. Bange an Staatsrat Meister v. 16. März 2004, in BSF B-3. 201 Teambesprechung vom 10.09.2003, in BSF C-3. 202 Teambesprechung vom 04.11.2003, in BSF C-3. 203 Teambesprechung vom 25.11.2003, in BSF C-3. 204 „Es dürfen keine Lücken mehr zugelassen werden, es bedarf klarer Grenzsetzungen. Herr Sonntag fühlt sich von den Mitarbeitern boykottiert, da er wiederholt auf die eben genannten Themen hinwies und die Arbeit im Team nach wie vor uneins ist.“ Teambesprechung vom 3.12.2003, in BSF C-3. 205 GUF / Securitas Gesprächsrunde vom 1. März 2005, in BSF A-12a. 206 Leistungsvereinbarung vom 18.12.2002 gültig bis September 2003: 100% Sozialpädagogen; Leistungsvereinbarung vom 22.09.2003 gültig bis Januar 2004: 100% Sozialpädagogen mit einer

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 44 -

gestartet, bis zum April 2005 war deren Anteil auf 43% gesunken.207 Damit lag die Qualifikation der Mitarbeiter deutlich unter dem Standard, zu dem sich der LEB der Stadt gegenüber verpflichtet hatte.

„Ich habe im Verlauf der 15 Monate, die ich nun in der Geschlossenen Unterbringung arbeite hochmotivierte, aber im Umgang mit dissozialen Jugendlichen sehr unerfahrene Sozialpädagogen und Erzieher erlebt“, fasst die erste Psychologin der Einrichtung ihre Erfahrung zusammen. Die Einrichtungsleitung habe es nicht verstanden, diesen Mitarbeitern ein differenziertes pädagogisches Programm an die Hand zugeben.208 Träger und Behörde haben dies laufen lassen, obgleich Mitarbeiterfluktuation und Krankenstände als Alarmzeichen hätten erkannt werden können.

2.4.2 Fluktuation und hoher Krankenstand verhindern kontinuierlichen Erziehungsprozess

Kündigungen

Von 31 eingestellten Pädagogen schieden 20 wieder aus. Das bedeutet, dass rund zwei Drittel der Belegschaft das Handtuch warf, wobei die Beschäftigung im Durchschnitt nach sieben Monaten endete.209 In den Kündigungen wird die hohe Arbeitsunzufriedenheit deutlich. Acht Mitarbeiter gingen, weil sie die Gewalt in der Einrichtung nicht länger aushielten.210 Achtmal verließen Mitarbeiter die Einrichtung mit der Begründung, dass ihnen die Arbeitsweise in der GUF unprofessionell, wenig unterstützend, wenig schützend, reglementierungswütig oder aggressionsschürend erschien (Doppelungen möglich).211 Zwei Mitarbeitern wurde vom LEB gekündigt, weil sie lange krankgeschrieben und in therapeutischer Behandlung waren. Bei beiden Mitarbeitern wird in der Akte deutlich, dass die Erkrankungen mit der Arbeit in der GUF in Zusammenhang standen.212

Die Fluktuation in der GUF lag 2003 bis 2005 bei 36% pro Jahr. In den vergleichbaren Intensivbetreuten Wohnungen (IBW) hatte sie in den Jahren 1999 bis 2002 23% betragen, in der JGG-Unterbringung (zur Vermeidung von Untersuchungshaft) 19%.213

Der schnelle Wechsel von pädagogischem Personal offenbart die schlechten Arbeitsbedingungen im Heim und war desaströs für Kinder und Jugendliche, deren

Absenkungsperspektive auf 60%; Leistungsvereinbarung vom 4. Februar 2004 bis zum Ende des Untersuchungszeitraums: 100% Sozialpädagogen. Alle Leistungsvereinbarungen in BSF A-34. 207 Zahlen ergeben sich aus der Analyse des Arbeitstabsvermerks Nr. 46. 208 Versetzungsgesuch Psychologin vom 13. März 2004, in BSF B-3. 209 Vgl. Arbeitsstabvermerk Nr. 46, Tabelle 2, Tätigkeitszeiten der Betreuer. 210 Kündigungsschreiben und Versetzungsgesuche in den Personal-Akten BSF C-5-3, 7, 13, 21, 25, 35, 37, 38. 211 Kündigungsschreiben und Versetzungsgesuche in den Personal-Akten BSF C-5-1, 3, 7, 13, 21, 35, 38, 41. 212 Kündigungsschreiben in den Personalakten BSF C-5-31, -6. 213 Quelle LEB, in Drs.18/2793, S. 9.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 45 -

Freiheitsrechte mit dem Versprechen eingeschränkt wurde, dort im Heim stabile und zuverlässige Beziehungen zu ihren Erziehern aufbauen zu können.214 Die hohe Fluktuation habe es, so sagte ein ehemaligen Betreuer, sehr schwer gemacht, ein Team aufzubauen, und sinnvolle pädagogische Arbeit leisten zu können“215

An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die CDU-Fraktion bei der Abstimmung über den Abschlussbericht mit ihrer Mehrheit einen vom Arbeitsstab formulierten Satz aus dem Text strich, welcher die Einstellung der Mitarbeiter zu ihrer Arbeit betraf. Im Zusammenhang mit der von Betreuerinnen und Betreuern an der Einrichtung geübten Kritik hatte der Arbeitsstab vorgeschlagen, den Abschnitt „3.7. Fazit zu BV“ mit folgendem Satz enden zu lassen: „Zur Klarstellung ist hierbei anzufügen, dass sämtliche der hier zitierten Mitarbeiter nach ihren Äußerungen in anderen Zusammenhängen hinter dem Konzept einer geschlossenen Unterbringung standen.“216

Krankenstand

Verschärft wurde die unstete Personalsituation durch den hohen Krankenstand. Im Untersuchungszeitraum waren die auf den 22 pädagogischen Stellen beschäftigten Mitarbeiter insgesamt 2.270 Tage krankgeschrieben.217 Im Jahr 2003 handelte es sich pro Person um 24,4 Tage, 2004 um 35 Tage und 2005 um 37,4 Tage.218

Die Arbeit in der GUF war im Ergebnis gesundheitsschädlich. Der Vorsitzende des Personalrats des LEB, Herr Mecke, notierte dazu: „Die physische und psychische Belastung ist so groß, dass von einer ständigen und nachhaltigen Gefährdung der Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten ausgegangen werden muss.“219

Bis heute scheint sich daran nur wenig geändert zu haben; 2006 und 2007 fielen Mitarbeiter an 35 bzw. 37,4 Arbeitstagen wegen Krankheit aus.220

Kündigungen und Krankenstände führten immer wieder zu Personalengpässen. Die GUF konnte den Betrieb für die geplanten 12 bis 18 Plätze nur während 5 Monaten im

214 Lt. Senatskonzept war eine „intensive Beziehungsarbeit“ eine der Grundlagen der Konzeption (Senatskonzept Ziffer 4, S. 10). Vgl. auch Konzeptentwurf der GUF vom 20. Februar 2003. „Vor diesem Hintergrund ist es von besonderer Relevanz, den Jugendlichen einen Rahmen zu bieten, in dem sie die in familiären Kontexten vermisste emotionale Nähe, Zuwendung und Kontinuität erfahren können“ (in BSF A-33). Auch in dem Konzeptentwurf vom 15. März 2005 wird auf die Notwendigkeit von langfristigen, tragfähigen und haltgebenden Strukturen hingewiesen (Konzeptentwurf des LEB vom 15.03.2005, S. 4 ff., in BSF A-33).

Die stellvertretende Leitung des FIT, Frau Kristian, beschrieb den Mitarbeiterwechsel als „hart zu verschmerzen“ (Wortprotokoll 18/36. S. 16f.). Eine Sozialpädagogin erklärte, dass die Mitarbeiterfluktuation, das Konzept gefährdete und bei den Jugendlichen zu großen Enttäuschungen führte (Wortprotokoll 18/32, S. 10). 215 Wortprotokoll 18/38, S. 84. 216 Ersatzlos gestrichen durch Änderungsantrag der CDU-Abgeordneten Nr. 66. 217 Drs. 18/1953, S. 4f. 218 Drs. 18/5061. 219 Brief vom Personalrat Herrn Mecke an Herrn Dr. Bange v. 06.08.2004, in BSF A-3. 220 Drs. 18/6641.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 46 -

Untersuchungszeitraum gewährleisten. In den übrigen 23 Monaten des Untersuchungszeitraums verfügte das Heim nicht über ausreichend Personal.221

Dieser Personalmangel führte dazu, dass der in der Betriebserlaubnis vorgesehene Doppeldienst222 nur mangelhaft gewährleistet war. Ein Betreuer gab in seiner Vernehmung an, dass er sich an Zeiten erinnere, an denen er für zwei Wohngruppen allein zuständig war, obwohl zwei Betreuer pro Wohngruppe hätten anwesend sein müssen. Es seien regelhaft Dienste bis zu 24 Stunden geleistet worden, womit gegen das Arbeitsrecht verstoßen worden sei. Es habe Dienste gegeben, in denen er bis zu 30 Stunden und mehr gearbeitet habe. Der Personalmangel machte es schwer, den Dienst aufrecht zu erhalten und er gefährdete auch das Bezugsbetreuersystem.223

2.4.3 Securitas hilft aus

Das Mehrheitsvotum der CDU kommt zu dem Schluss: „Die Aussage, dass Securitas- Mitarbeiter auch pädagogische Aufgaben übernommen haben, konnte nicht belegt werden. (...) Entscheidende Bedeutung kommt daher den übereinstimmenden Aussagen der Securitas-Mitarbeiter zu, dass sie gerade nicht pädagogisch tätig geworden sind.“224

Diese kühne These stimmt nur in dem Sinne, dass Securitas-Mitarbeiter nicht pädagogisch tätig wurden, weil sie dafür gar nicht ausgebildet waren. Ansonsten sprechen die Belege in den Akten eine klare Sprache: Securitas half aus, wenn die in der Betriebserlaubnis vorgeschriebenen pädagogischen Doppeldienste nicht abgedeckt werden konnten. Das Sicherheitsunternehmen sprang auch schon einmal für längere Zeiträume ein, wenn überhaupt kein Pädagoge in einer Gruppe oder bei einzeln untergebrachten Jungen anwesend war.

Am 21. September 2004 wurde auf einer Dienstbesprechung mitgeteilt „Herr X [Erzieher] ist noch bis zum bis zum 1.10. krankgeschrieben, seine Dienste werden in Gruppe A durch Securitas abgedeckt.“225 Dieser Ersatzdienst war offenbar noch häufiger Praxis: „Da kein ständiger Securitas-Mitarbeiter mehr in Gruppe 2 ist, sind ab sofort Doppeldienste angezeigt.“226

Der stellvertretende Heimleiter führte vor dem Untersuchungsausschuss aus:

„Es gab Tage, an denen Mitarbeiter von Securitas dort sich alleine in der Gruppe aufhielten. Wie viele Tage es jetzt im Einzelnen waren, das kann ich Ihnen so nicht sagen.“227 Und auf

221 Die notwendigen Betreuerzahlen ließen sich bis zum Ende des Untersuchungszeitraums nicht realisieren. Tätigkeitszeiten der Betreuer in der GUF siehe Arbeitsstabvermerk Nr. 46, Tabelle 2. 222 Betriebserlaubnis vom 16. Dezember 2002, 28. Juli 2003 u. 3. Januar 2005, in BSF B-7, B-10. 223 Wortprotokoll 18/38, S 83-86 u. 105f. Zu den Verstößen gegen das Arbeitsrecht siehe Arbeitsstabvermerk Nr. 46, S.175. Zum Thema Bezugsbetreuersystem vgl. PUA-Abschlussbericht, S. 103. 224 PUA-Abschlussbericht, S. 498. 225 Protokoll Gesamtteam am 21.09.2004, in BSF B-8. 226 Teambesprechung Gruppe 2 am 04.01.2005, in BSF C-3. 227 Wortprotokoll 18/30, 13.10.2006, S. 10.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 47 -

Nachfrage zum Securitas-Einsatz für den im September erkrankten Kollegen erklärte er: „Es war einfach so, dass der Kollege ausfiel und dass wir nicht genügend Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen zur Verfügung hatten und dass ich dann sehr wahrscheinlich auch den Mitarbeitern von Securitas gesagt habe: 'Pass mal auf, der Mitarbeiter X fällt aus, die anderen können jetzt nicht kommen. Du bist heute mal für eine gewisse Zeit des Tages alleine.' Das ist vorgekommen.“228

Zwei Sozialpädagogen bestätigen diese Praxis in ihren Aussagen vor dem Ausschuss:

• Ein Mitarbeiter führte aus, die Tagdienste von Securitas seien zum einen eingeführt worden, um die Sicherheit zu erhöhen und „zum anderen, weil teilweise solche personellen Engpässe herrschten, dass der Dienst eigentlich nur noch mit Unterstützung von der Fa. Securitas aufrecht zu erhalten war.“229

• Eine andere Mitarbeiterin erklärte dem Untersuchungsausschuss auf die Frage, ob pädagogische Doppeldienste von Securitas-Mitarbeitern abgedeckt wurden. „In Krankheitsfällen ja. Und auch aufgrund der hohen Fluktuation sehr häufig.“230

• Derjenige Mitarbeiter, der im CDU-Mehrheitsbericht als Zeuge zitiert wird, solche Ersatzdienste durch Securitas seien nur sehr kurz und selten gewesen, hatte am 31. Januar 2004 aufgehört dort zu arbeiten – eine Woche, bevor es zur ersten Ersatzbetreuung von Securitas in der Einrichtung kam.231

Nicht ganz korrekt ist zudem die oben zitierte Behauptung im Mehrheitsvotum, dass Securitas-Mitarbeiter durchgängig ausgesagt hätten, sie hätten nicht pädagogisch gearbeitet.

• Ein Securitas-Mitarbeiter bestätigte, dass er eine Tagesreflektion durchgeführt habe, nachdem ihm der Ausschuss die entsprechende Passage aus dem Dienstbuch vorgelegt hatte, in dem er diesen Vorgang selbst notiert hatte (Eine Erkenntnis, die sich übrigens im Sachteil des Abschlussberichtes wiederfindet und auf dem Weg in den Bewertungsteil verloren gegangen sein muss).232

Diese pädagogischen Ersatzdienste waren dem Sicherheitsunternehmen selbst nicht ganz geheuer. Der Geschäftsführer von Securitas drang im Januar 2005 darauf, dass in Zukunft seine Mitarbeiter zu „Quasi-Betreuungs- und Beschäftigungsaufgaben“ nicht mehr heranzuziehen seien.

• In einem Gespräch mit dem LEB „macht Herr Müller [Geschäftsführer der Securitas] deutlich, dass die derzeitige Aufgabenwahrnehmung seiner Mitarbeiter über das hinausgeht, was ursprünglich im Jahr 2003 vertraglich vereinbart wurde. Seine Mitarbeiter übernehmen in der GUF nicht nur klassische Objekt- und

228 Wortprotokoll 18/30 vom 13.10.2006, S.11. 229 Wortprotokoll 18/38 vom 13.04.2007, S. 115. 230 Wortprotokoll 18/32 vom 02.11.2006, S. 48. 231 Personalakte A-24. 8. Februar 2004: ein Securitas-Mitarbeiter beaufsichtigt Gruppe A, „da kein Pädagoge für die Gruppe da ist“ (Dienstbuch Securitas). 232 Wiederzufinden im PUA-Abschlussbericht, S.385.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 48 -

Personenschutzaufgaben, sondern werden gelegentlich auch für 'Quasi-Betreuungs- und Beschäftigungsaufgaben' eingesetzt. (...) Dies entspricht nicht ihren Aufgaben und auch nicht ihrer Qualifikation.“ Die Securitas-Mitarbeiter wurden angewiesen, sich umgehend beim Einsatzleiter zu melden, wenn sie wieder mit Jugendlichen allein gelassen werden.233

In den (von Pädagogen geführten) Übergabebüchern der GUF und in den (von Securitas-Mitarbeitern geführten) Dienstbüchern gibt es 20 Einträge, die darauf hinweisen, an welchen Tagen Sicherheitsdienstmitarbeiter pädagogische Dienste allein abdeckten:

• 9. September 2003: Ein Securitas-Mitarbeiter bleibt in der Nähe eines Jungen, der sich vorwiegend allein im Gebäude aufhält (Dienstbuch Securitas).

• 8. Februar 2004: Ein Securitas-Mitarbeiter beaufsichtigt Gruppe A, „da kein Pädagoge für die Gruppe da ist (...) 19.00 auf Wunsch des Pädagogen wurde von mir die Tagesreflektion und Medikamentenvergabe durchgeführt“ (Dienstbuch Securitas). Im Übergabebuch der Pädagogen ist der Securitas-Mitarbeiter offiziell als Betreuer für die fünfköpfige Gruppe eingetragen, im Hause ist ein Pädagoge für zwei Gruppen (Übergabebuch, in BSF C-7, Gr. 1).

• 15. Juli 2004: „J 16 hatte heute morgen einen handgreiflichen Konflikt mit Securitas. Bin am Nachmittag/Abend einige Male drüben gewesen. Da lief der Junge gut“ (Übergabebuch der Pädagogen BSF C-7 Gr. 1).

• 17. Juli 2004: Securitas-Mitarbeiter notiert gemeinsame Erledigung der Hausdienste bei J 16, Freizeitaktivitäten mit J 16, J 16 geht Fußballspielen, rastet aus, Securitas-Mitarbeiter tragen ihn in sein Zimmer, er randaliert, ihm wird der Recorder entzogen, er beleidigt den Securitas-Mitarbeiter, greift ihn schließlich an, wird von zwei Sicherheitsmännern fixiert, zieht sich eine Schwellung zu, wird in Krankenhaus zur Untersuchung gebracht (Dienstbuch Securitas). An keiner Stelle wird ein Pädagoge erwähnt, der Anweisung dazu gegeben hätte. Im Übergabebuch der Pädagogen wird nur erwähnt, dass der [pädagogisch nicht vorgebildete] Interessensgruppenleiter Herr X für einige Stunden bei J 16 war. Die körperlichen Auseinandersetzungen am Abend werden vermerkt, auch hier taucht kein Pädagoge in den Aufzeichnungen auf. (Übergabebuch BSF C-7 Gr.1).

• 24. Juli 2004: 19.05 „Tagesreflektion gemeinsam mit Gruppe A“ (Dienstbuch Securitas).

• 27. Juli 2004: Beaufsichtigung von J 16, ab Mittag begleitet von einer pädagogisch nicht vorgebildeten Honorarkraft. Die Anwesenheit eines Pädagogen wird nicht erwähnt (Dienstbuch Securitas).

• 5. August 2004: Bewachung von J 16, der am frühen Nachmittag die [ebenfalls anwesende, pädagogisch nicht vorgebildete] Honorarkraft mit einem Messer angreift. Ein Pädagoge war in dieser Situation nicht anwesend (Dienstbuch Securitas).

• 26. August 2004: J 16 erhält Anweisung, das Playstation-Spiel zu beenden und flippt aus, er wird fixiert, nachdem er zunächst den Securitas-Mitarbeiter und dann

233 Gesprächsvermerk: Einsatz des Sicherheitsdienstes in der GUF. Securitas, GUF, LEB, 25.01.2005, in BSF B-4.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 49 -

die [pädagogisch nicht vorgebildete] Honorarkraft anzugreifen versuchte (Dienstbuch Securitas). Ein Pädagoge ist in dieser Situation nicht anwesend. Es gibt auch keinen Eintrag dazu im Übergabebuch der Pädagogen.

• 2. September 2004: J 16 dreht durch und bewirft die [pädagogisch nicht vorgebildete] Honorarkraft mit einem Schuh, versucht den Securitas-Mitarbeiter zu treten, wird zu Boden gebracht und dort 10 Minuten fixiert. Der Junge hatte anschließend rote Druckstellen im Gesicht und drohte damit, den Securitas-Mitarbeiter anzuzeigen (Dienstbuch Securitas). Wieder ist kein Pädagoge in dieser Szene erwähnt.

• 30. September 2004 Zwei Securitas-Mitarbeiter sind als Betreuer eingetragen. (Übergabebuch BSF C-7 Gruppe 1). Ein Securitas-Mitarbeiter übernimmt Betreuertätigkeiten in Gruppe A (Dienstbuch Securitas).

• 10. Oktober 2004: 19.00 Uhr Securitas-Mitarbeiter „fungiert als Betreuer in Gruppe A“, ein Sicherheitsmitarbeiter „betreut“ J 16 (Dienstbuch Securitas). Selber Tag: „J 16 war in C-Gruppe verbannt“ (Übergabebuch C-7).

• 25. Oktober 2004: „Ich war heute mal wieder ganz alleine für J 16 zuständig“ (Dienstbuch Securitas).

• 27. Oktober 2004: 7:00 Uhr „Betreuertätigkeit bei J 16“ (Dienstbuch Securitas). „J 16 kaum gesehen – doch wenn strahlte er (...)“ (Übergabebuch BSF-C7, Gr.1).

• 28. Oktober 2004, 7:00 Securitas-Mitarbeiter notiert „Betreuertätigkeit in Gruppe A“, „Wichtig J 16 kein Betreuer“ (Dienstbuch Securitas).

• 5. November 2004: „War heute viel allein mit ihm (J 16). Kein Betreuer vor Ort.“, (Dienstbuch Securitas).

• 7. November 2004: Beaufsichtigung von J 16, „kein Betreuer für ihn da“ (Dienstbuch Securitas).

• 12. November 2004: Securitas-Mitarbeiter übernimmt J 16 und B-Gruppe, „da kein Betreuer da ist“ (Dienstbuch Securitas).

• 22. November 2004: Securitas-Mitarbeiter, der an diesem Tag J 16 beaufsichtigt, notiert: „Ein Wunder ist geschehen!!! Es war ein Betreuer anwesend“ (Dienstbuch Securitas).

• Januar 2005: „7: 00 Für J 17 gibt es keine Betreuer.“ Um 14.00 kommt ein Pädagoge dazu (Dienstbuch Securitas).

• Januar 2005: 7:00 Dienstbeginn, wieder kommt der Pädagoge erst um 14.00 Uhr (Dienstbuch Securitas).

Deutlich wird: Securitas-Mitarbeiter führten zweimal Tagesreflektionen durch, sie vergaben Psychopharmaka, sie verbrachten ganze Vor- und Nachmittage allein mit Jugendlichen. Das waren Tage, an denen Pädagogik nicht stattfand. An einigen dieser Tage kam es zu erheblichen körperlichen Auseinandersetzungen zwischen den Minderjährigen und den Sicherheitsdienst-Mitarbeitern. Besonders ein sehr schwieriger Junge (J 16) war über weite Strecken in einem gesonderten Gebäude mit Securitas-Mitarbeitern allein. Die Pädagogen,

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 50 -

so führte ein ehemaliger Betreuer aus, gingen dort „ab und zu mal nach dem Rechten gucken.“234

2.4.4 Schule

Weder personell noch konzeptionell trug die Beschulung den Schul- und Lernproblemen und den Störungsbildern der Jugendlichen Rechnung.

Bis zur ersten Festanstellung eines ausgebildeten Lehrers verging fast ein Jahr.235 Der Unterricht wurde zunächst von Sozialpädagogen und ab Februar 2003 dann von dem Privatunternehmen Fa. Curriculum durchgeführt, das nicht ausgebildete Lehrkräfte, sondern Lehramtsstudierende in die Einrichtung sandte.236 Die später eingestellten Lehrer waren ausgebildete als Gymnasial- und Sportlehrer und damit – anders als im Konzept vorgesehen – nicht in besonderem Maße für den Unterricht mit dieser Schülerschaft ausgebildet.

Noch zwei Jahre nach Betriebsbeginn formulierte der Leiter des FIT Kritik über den unangemessenen Frontalunterricht. Die daraufhin geforderte methodenvielfältige Neukonzeptionierung wurde erst im April 2005 der Leitung vorgestellt.237 Die von der Heimleitung in diesem Zusammenhang für notwenig gehaltenen Fortbildungen der Lehrer haben bis zum Oktober 2006 nicht stattgefunden.238

2.4.5 Fazit

Die Arbeit in der Geschlossenen Unterbringung gehört mit zu den anspruchsvollsten Aufgaben, denen sich Pädagoginnen und Pädagogen stellen können – das gilt nicht zuletzt, weil es in Hamburg zuvor keine Gelegenheit gab, unter geschlossenen Bedingungen zu arbeiten. Diese Arbeit wurde nicht durchgängig von dafür qualifiziertem Personal geleistet, z.T. ersetze die schlichte Beaufsichtigung durch einen Sicherheitsdienst eine professionelle Betreuung.

• Von Anfang an hätte eine gezielte Personalentwicklung in diesem Bereich vorangebracht und Mitarbeiter stärker unterstützt werden müssen. Dazu reichte es nicht, dass die Behörde die Fortbildungen vorschrieb, ohne je die Einhaltung

234 Wortprotokoll 18/38, S. 120. Ähnlich auch die Aussage einer ehemaligen Betreuerin vgl. Wortprotokoll 18/38, S. 48. 235 Drs. 18/1953 u. 18/2496. 236 Drs. 17/2536, 18/1953 u. 18/2496. 237 Protokoll Sitzung GUF Leitung und Lehrer am 17.11.2004, in BSF A-11. Das Schulkonzept für besonders problematische Schüler wird am 2. Februar 2005 vorgelegt (Überlegungen zur täglichen Betreuung von Jugendlichen, die selbst mit den Anforderungen des bereits auf problematische Schüler ausgerichteten Schulalltags überfordert sind, Kopie von Weylandt und Sonntag, 2. Februar 2005, in BSF A-11). Am 6. April 2005 wird ein Schulkonzept vorgelegt. Neu an dem Konzept ist der Wille zur Methodenvielfalt, Stichworte sind Gruppenarbeit, Partnerarbeit, Stillarbeit für besonders schwierige Schüler, Projektunterricht (Neukonzept für die GUF o.Dat., vorgelegt zur Leitungssitzung mit den Lehrern am 6. 4. 2005, in BSF A-11a). 238 Drs. 18/5075, S. 5, Frage 7.2.2.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 51 -

der Absprachen zu überprüfen. Dazu reichte es auch nicht, dass die pädagogische Leitung des Heims Broschüren über Fortbildungsangebote im Dienstzimmer auslegte. Dazu hätte es eines Fortbildungsplans bedurft, der gemeinsam mit den Mitarbeitern entwickelt und auch tatsächlich realisiert wird.

• Darüber hinaus hätten der außerordentlich hohe Krankenstand und die enorme Fluktuation Behörde und Träger zu einem genaueren Blick in das Alltagsgeschäft der GUF veranlassen müssen. Eine Befragung der Mitarbeiter über Arbeitszufriedenheit, ihre Probleme und Befürchtungen, musste der Personalrat in zähem Ringen durchsetzen.239

• Gänzlich verfehlt war der Einsatz von Mitarbeitern des Sicherheitsunternehmens zur Abdeckung von Personalengpässen. Diese Einsätze waren keine seltene Ausnahme, sondern vor allem im Herbst 2004 Alltag. Solche Einsätze, insbesondere, wenn sie durch keinen Pädagogen begleitet wurden, mussten Securitas-Mitarbeiter überfordern und führten in der Folge auch zu schweren körperlichen Auseinandersetzungen mit den Minderjährigen. Der Träger hat hier seine rechtliche Verpflichtung verletzt, die Betreuung stets durch geeignete Kräfte sicherzustellen. Auch nachdem entsprechende Vorwürfe laut geworden waren, hat die Senatorin keine Informationen aus ihrer Behörde eingeholt und dieses Problem lange Zeit heruntergespielt.240

• Besonders schwer wiegen die Versäumnisse der Behörde und des Trägers bei der späten und unzureichenden Einrichtung der Heimschule. Die Einrichtung ohne Lehrer starten zu lassen, war fahrlässig.

239 Eine Gefährdungsanalyse, die genau diesen Fragen nachging, wurde erst im Februar 2005 auf den Weg gebracht. 240 Drs. 18/4837 u. 18/4787.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 52 -

2.5 Gewalt in der GUF In keiner anderen Jugendhilfeeinrichtung in Hamburg und vermutlich auch nicht Deutschland ist es zu soviel Gewalt gekommen wie in der Feuerbergstraße.241

Der wichtigste Indikator dafür sind die sogenannten Besonderen Vorkommnisse: Meldungen, die von den Heimen an die Heimaufsicht weitergeben werden müssen, wenn es zu gewalttätigen, strafrechtlich relevanten Ereignissen, schweren Unfällen, gehäuften Erkrankungen, Suiziden und Suizidversuchen oder Katastrophen im Zusammenhang mit den betreuten Kindern und Jugendlichen kommt.242

2.5.1 Quantitatives Ausmaß der Gewalt

Im Untersuchungszeitraum wurden von allen anderen Hamburger stationären Jugendhilfeeinrichtungen (mit rund 800 Minderjährigen) 187 „Besondere Vorkommnisse“ gemeldet; die GUF (mit jahresdurchschnittlich rd. 6 Jugendlichen) meldete 154 „Besondere Vorkommnisse“.243 Das entsprach rund 45% aller Meldungen in Hamburg, obgleich die Bewohner der GUF gerade mal 0,75% der Kinder und Jugendlichen in Hamburger Heimen ausmachten.

Heimaufsicht und Heimleitung haben diese exorbitante Auffälligkeit mit den Besonderheiten der Klientel in der GUF zu begründen versucht. Keiner würde bezweifeln, dass in der Feuerbergstraße mehr Gewalt zu erwarten war als in einem Kinderschutzhaus; gleichwohl kann dieser Hinweis die extreme Häufung nicht in Gänze erklären. Die Intensivbetreuten Wohnungen (IBWs), die vor der Einrichtung der GUF eine ähnliche Klientel betreuten, hatten durchschnittlich alle zwei Monate ein „Besonderes Vorkommnis“ gemeldet, die GUF meldete – rein rechnerisch – wöchentlich eines.244 Die Meldungen aus der Feuerbergstraße gehörten so sehr zum Alltag der Heimaufsicht, dass diese schon einmal besorgt nachfragte, wenn die „Besonderen Vorkommnisse“ aus der GUF ausblieben: „Die Meldungen der 'Besonderen Vorkommnisse' erfolgten in der Vergangenheit fast täglich. Seit dem 04.03.2005 sind uns keine Vorkommnisse mehr gemeldet worden. Ich bitte Sie, mir den Grund dafür schriftlich darzulegen.“245 Der Heimleiter erklärte, aufgrund der geringen Belegung und der guten Gruppenkonstellation sei es zurzeit sehr ruhig.246

241 Der Einrichtungsleiter berichtete auf einer Dienstbesprechung in der GUF, die Wissenschaftlerinnen des Deutschen Jugendinstituts hätten die GUF als „bundesweit einzigartig wahrgenommen (...) aufgrund des Alters unserer Klientel, der engen Anbindung an die Justiz und des hohen Aggressionspotentials“ (Protokoll Dienstbesprechung 20.04.2004, in BSF B-8). 242 Siehe zur genauen Definition, zu Meldegängen und ähnlichen Fragen PUA-Abschlussbericht, S. 406-412. 243 Besondere Vorkommnisse anderer Einrichtungen, Drs. 18/2793, Anlage 4. BVs lfd. Nr. 290, vom 7.1.02 bis BV lfd. 477 am 11.04.2005, S. 98-115. 244 Besondere Vorkommnisse anderer Einrichtungen, Drs. 18/2793, Anlage 4. LEB IBW 33 BVs in 55 Betriebsmonaten = 0,6 BV / Monat, GUF 154 Bvs in 28 Betriebsmonaten = 5,5 BVs/ Monat. 245 Mail von Frau Böhlke (Heimaufsicht FS2224) an den Heimleiter Herrn Weylandt, 23.03.2004, in BSF B-11 Bl.744. 246 Mail von Herrn Weylandt an Frau Böhlke, 24.03.2004, in BSF B-11 Bl.745.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 53 -

Tatsächlich hatte die Gewalt in der GUF, vor allem im März 2003 und im Sommer und Herbst 2004, ein Ausmaß angenommen, dass die Heimleitung und die Geschäftsführung des LEB immer wieder in hoher Not an die Behörde appellieren ließ:

• „Die Mitarbeiter fühlen sich am Rande der Belastungsgrenze, sie erkennen unter den bestehenden Rahmenbedingungen kaum noch Handlungsmöglichkeiten“, schrieb im März 2003 Herr Lerche, der Geschäftsführer des LEB, nach einem gewalttätigen Angriff Jugendlicher an den Staatsrat.247

• Am 16. März 2004 berichtet der Abteilungsleiter Herr Dr. Bange dem Staatsrat von der Erschöpfung der Mitarbeiter und der Angst vor Übergriffen.248

• Im Sommer 2004 schrieb der Heimleiter an den Geschäftsführer des LEB: Die Belegung mit extrem gewaltbereiten und pädagogisch nicht mehr erreichbaren Jugendlichen habe dazu geführt, dass zwei Mitarbeiter bereits gekündigt hätten, weil sie nicht mehr dafür garantieren könnten, in Konfliktsituationen angemessen reagieren zu können. Er resümierte: „Zur Zeit ist eine pädagogische Arbeit nur in sehr eingeschränktem Maße möglich.“249

Acht Mitarbeiter wiesen in ihren Kündigungsschreiben oder Versetzungsgesuchen ausdrücklich auf die Gewalt in der Einrichtung hin, die sie nicht länger mehr hinnehmen wollten.250

2.5.2 Gewalt von Jugendlichen und Kindern gegen Dritte

Gewalt gegen andere Jugendliche und gegen die Betreuer und Sicherheitsdienstmitarbeiter spielte bei den „Besonderen Vorkommnissen“ der GUF die größte Rolle. Der Arbeitsstab zählt 73 „Besondere Vorkommnisse“, die in Zusammenhang mit Straftaten oder Regelverletzungen standen, 144 angezeigte Straftaten der Jugendlichen, 4 Strafanzeigen gegen die Mitarbeiter. Es kam zu 68 Strafverfahren vor den Jugendgerichten und mindestens 8 verhängten Jugendstrafen mit einem Strafmaß zwischen 8 Monaten und 2 Jahren. In den überwiegenden Fällen wurde wg. Körperverletzung ermittelt.251

Fast alle Jugendlichen verübten oder erlitten Gewalt in der GU Feuerbergstraße; nur drei Eingewiesene tauchen insoweit nicht auf – nicht zuletzt, weil sie nur wenige Tage in der Einrichtung wohnten. 59 Mitarbeiter der GUF und des Sicherheitsdienstes erlitten körperliche Angriffe.252

„Das gesamte pädagogische Konzept der GUF zielt darauf ab, Gewaltbereitschaft abzubauen.“ Da ja keine Betreuten verletzt worden seien, sei davon auszugehen, dass diese

247 Mail von Herrn Lerche, Geschäftsführer des LEB, an Staatsrat Meister,27.03.2003, in BSF B-14. 248 Vermerk Dr. Bange an Staatrat Meister, 16.03.2004, in BSF B-3. 249 Herr Weylandt an Herrn Müller, Geschäftsführer LEB, 24.06.2004, in BSF B-3. 250 Kündigungsschreiben und Versetzungsgesuche in den Akten C-5-3, C-5-7, C-5-13, C-5-25, C-5-21, C-5-21, C-5-37, C-5-38, C-5-31. 251 PUA-Abschlussbericht, S. 450f. 252 PUA-Abschlussbericht, S. 455.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 54 -

Maßnahmen angemessen und ausreichend waren. Zu diesem Schluss kommt das Mehrheitsvotum der CDU.253 Zu einer solchen Sichtweise verhalf u.a. die Streichung der folgenden Passage im ersten Entwurf des Abschlussberichts des Arbeitsstabes, der die Steigerung der gewalttätigen „Besonderen Vorkommnisse“ von 2003 auf 2004 herausarbeitete.

„Diese 73 Fälle verteilen sich auf die Jahre, wie folgt:

Jahr Anzahl BV mit Gewalt Durchschnitt im Monat

2003 6 Fälle 0,5 Fälle

2004 57 Fälle 4,75 Fälle

2005 bis einschl. April 10 Fälle 2,5 Fälle

„Auffällig ist zunächst, dass 2004 die Dichte der 'Besonderen Vorkommnisse' im Verhältnis zu 2003 sehr stark zugenommen hat. Den obigen Durchschnittswerten ist fast eine Verzehnfachung zu entnehmen.“254

Tatsächlich ist es in der GUF im Untersuchungszeitraum in keiner Weise gelungen, das Problem der Gewalt in den Griff zu bekommen. Die Zusammenarbeit mit einem Sicherheitsdienst mag in einigen Situationen Schlimmeres verhindert haben. Andererseits stiegen die 'Besonderen Vorkommnisse' besonders stark an, als Securitas-Mitarbeiter (vor allem im Herbst 2004) die Lücken in der Betreuung durch Pädagogen füllen mussten. Reduzieren konnte der Einsatz des Sicherheitsdienstes die Zahl der Gewaltausbrüche indes nicht.

Der Hinweis aus dem Mehrheitsvotum, es seien keine Betreuten verletzt worden,255 bagatellisiert in unzulässiger Weise die Geschehnisse. Er übersieht neben den 144 Strafanzeigen und 68 Strafverfahren gegen die Täter einen Nasenbeinbruch,256 zwei Suizidversuche eines Jugendlichen im Anschluss auf Attacken durch Mitbewohner257 und gesundheitliche Belastungen der Mitarbeiter258 – um nur einige der Konsequenzen solcher Übergriffe zu benennen.

253 PUA-Abschlussbericht, S. 551. 254 PUA-Abschlussbericht (Entwurfsfassung), S. 452, ersatzlos gestrichen durch den CDU-Änderungsantrag Nr. 63. Auf Nachfragen, warum diese Passage gestrichen werden sollte, antwortet der CDU-Obmann: „Kein Kommentar“. 255 PUA-Abschlussbericht, S. 551. 256 Arbeitsstabvermerk Nr. 56, Anlage 2, BV 21 vom 06.11.2003. 257 Arbeitstabvermerk Nr. 56, Anlage 3, BV 33 vom 22.02.2004, BV 58 vom 05.07.2004. 258 Z.B. die posttraumatische Belastungsstörung eines Mitarbeiters, der daraufhin seinen Dienst quittierte (vgl. BSF C-5-3, siehe auch Wortprotokoll 18/44 vom 13.06.2007, Seite 51).

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 55 -

2.5.3 Gewalt gegen sich selbst

Insgesamt 28 „Besondere Vorkommnisse“ wurden notiert, in denen die Betreuten sich selbst verletzten, Suizid androhten oder Selbstmordversuche verübten. Insbesondere vier Minderjährige fielen mit diesen Verhaltensweisen auf. Nur bei einem von diesen Jungen wird in den Akten deutlich, dass er ein solches Verhalten seit frühester Kindheit, also schon vor seiner Einweisung in die GUF, zeigte.259 Bei mindestens zwei anderen Jugendlichen zeigt sich, dass die Selbstverletzungen und - schlimmer noch - die ernsthaften Suizidversuche als Reaktion auf ihre Situation in der Geschlossenen Unterbringung zu verstehen sind.

J 17 fügte sich mehrfach Prellungen an den Händen oder kleine Schnittverletzungen zu. Ein Gutachten aus dem Dezember 2004 macht deutlich, dass der Junge sich selbst verletzte, weil er annahm, aus Krankenhäusern oder auch der Psychiatrie leichter weglaufen zu können als aus dem Heim. Wiederholt äußert er Suizidabsichten, sollte er noch länger in der GUF bleiben müssen. Der Jugendliche war mit drei Monaten Unterbrechung fast anderthalb Jahre in der GUF. Schon bei seinem ersten Aufenthalt hatte er versucht, über die Androhung von Suizid aus der Einrichtung entlassen zu werden: Seinerzeit hat er sich gemeinschaftlich mit zwei weiteren Jugendlichen Scherben von Glühbirnen an die Halsschlagader gesetzt; die Situation konnte erst mit Hilfe der Polizei entschärft werden. Bei seiner zweiten Einlieferung häuften sich die Selbstverletzungen in dramatischer Weise.260 Im Fall dieses, im Alter von 12 Jahren eingelieferten Jungen verfehlte die geschlossene Unterbringung ohne Frage ihren einzig legitimen Zweck, die Förderung des Kindeswohls. Sie ist eben kein Selbstzweck, sondern, wie Prof. Dr. Bernzen betont, sofort zu beenden, wenn eine Verbesserung der Situation des Minderjährigen ausbleibt.261 Selbstverletzungen, die sich so eindeutig auf die Situation in der Einrichtung beziehen, sind dann ein nicht zu übersehender und kaum falsch zu verstehender Hinweis darauf.

Ähnlich gelagert und noch tragischer ist der bereits erwähnte Fall von J 20. Dieser Junge galt laut Gutachten des jugendpsychiatrischen Dienstes und der Jugendpsychiatrie als geistig behindert; vorgeschlagen wurde zunächst die Unterbringung in einem heilpädagogischen Heim. Ein psychiatrisches Gutachten aus dem Wilhelmstift beschrieb den Jugendlichen als vielfach traumatisiert, ein pädagogisches Gutachten warnte bereits vor der Einweisung, eine Unterbringung in der GUF könne eine erneute Traumatisierung zur Folge haben.262 Dieser Jugendliche unternahm zwei ernstzunehmende Suizidversuche in der Feuerbergstraße. Beide Male war der Auslöser ein heftiger Streit und die körperliche Auseinandersetzung mit

259 PUA-Abschlussbericht, S. 412f. 260 PUA-Abschlussbericht, S. 418-422. 261 Siehe auch Bernzen. Er führt aus: „Verschließt sich der Minderjährige der Hilfe, kann der erzieherische Bedarf gerade nicht gedeckt werden. Entweder müsste der Bedarf neu formuliert oder die Hilfe beendet werden. Auch dies findet derzeit nicht statt“ (S. 68). Geschlossene Unterbringung ist „schon dann zu beenden, wenn sie nicht mehr für den Untergebrachten nützlich, sondern lediglich in ihrer Wirkung für ihn selbst neutral zu betrachten ist“ (S. 79f.). 262 J 20, Arbeitsstabvermerk Nr. 41, S. 52-54. Zu dem zweiten Suizidversuch Eintragungen 9. u. 13. 7.04, in BSF C-7, Übergabebuch Gruppe 2, 2004. BV vom 04.07.2004., 05.07.2004 u. 12.07.2004, in BSF B-1. Siehe auch Zeugenaussage Herr Thiem, der erläuterte, dass der Jugendliche in die GUF überwiesen wurde, weil er dort nicht weglaufen konnte, die Einrichtung allerdings nicht über heilpädagogische Qualifikationen verfügte (Wortprotokoll 18/35 S. 29-32, 39). Die Zeugin Frau Kristian bestätigt den heilpädagogischen Bedarf (Wortprotokoll 18/36, S. 66f.).

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 56 -

anderen Jugendlichen, in deren Gefolge er von Betreuern zu Boden gebracht oder mit Haltegriffen in einen anderen Raum geführt wurde.263 Der Junge war – so sein Gutachter – dem Gruppendruck in der Einrichtung nicht gewachsen. Er habe sich dort als randständig wahrgenommen und sei durch die Konflikte in der Einrichtung erheblich belastet worden. Nach seinem ersten Suizidversuch riet der Gutachter davon ab, den Jungen länger als vereinbart in der GUF zu lassen. Trotz dieser Warnung wurde er wenige Monate später wieder eingewiesen und versuchte dort erneut, sich das Leben zu nehmen. Auch hier empfahl der Gutachter dringend, den Jungen aus der Einrichtung herauszunehmen.

In den Akten gibt es keinen Hinweis darauf, dass der Jugendliche zuvor zu Suizid oder Selbstverletzung geneigt hätte.264 Der Anteil der Einrichtung an den suizidalen Tendenzen des Jugendlichen ist folglich nicht zu übersehen. Gleichwohl wurde der 14-Jährige nach keinem der Suizidversuche aus der Einrichtung herausgenommen. Erst als er Mitarbeiter und Jugendliche in der Einrichtung massiv angriff, verließ er die GUF und wurde von der Polizei in Untersuchungshaft überführt.265

2.5.4 Ausgewählte Besondere Vorkommnisse

März 2003: Präsidialebene verweigert Entscheidungen zu Sicherheit der Mitarbeiter

In der Nacht vom 20. März 2003 griffen drei Jugendliche ihre Sozialpädagogen mit Faustschlägen an, drohten mit einer 11 cm langen Glasscherbe und versuchten einem Mitarbeiter eine Kugelschreiberfeder ins Auge zu stechen. Die Situation konnte nur mit Hilfe der Polizei unter Kontrolle gebracht werden. Dieser Vorfall war der Auftakt weiterer Angriffe und Morddrohungen gegen Pädagogen in den folgenden Tagen. Er führte zu einer posttraumatischen Belastungsstörung eines Mitarbeiters, der daraufhin seine Kündigung einreichte.266

Zu dem Hintergrund dieses Gewaltausbruchs ist gehörte der erhebliche Druck, der von der Präsidialabteilung der Behörde ausgeübt wurde, um weitere Entweichungen aus der GUF zu verhindern.267 Angesichts der ersten Fluchten aus der GUF hatte es in den Wochen zuvor viel negative Berichterstattung gegeben. Eine Woche vor dem Angriff der Jugendlichen im Heim war die Weisung erteilt worden, dass es keine Außenaktivitäten mit den Betreuten mehr geben dürfe, um keine Gelegenheit zur Flucht zu bieten.268 In der Praxis beschränkte sich damit die Außenfreizeit auf ein neun mal neun Meter großes Atrium. Drei Tage später findet sich in den Übergabebüchern der Hinweis, der Bereichsleiter des LEB, Herr Schrader, hätte berichtet: „Der Druck ist z.Zt. enorm groß, so dass bei einer weiteren Entweichung

263 PUA-Abschlussbericht, S. 412-413. 264 PUA-Abschlussbericht, S. 424. 265 Arbeitsstabvermerk Nr. 56, Anlage 1, BV 63 vom 13.07.2004. 266 Siehe BV vom 20.03.2003 u. Nachtrag, in BSF B-1 sowie Übergabebuch Einträge vom 20.03.2003, 21.03.2003 u. 24.03.2003, in C-7 2003. Zum Ablauf PUA-Abschlussbericht, S. 455-457. 267 Siehe dazu die Aussage von Staatsrat Meister, er habe im März 2003 deutliche Hinweise gegeben, die Fluchten abzustellen (Wortprotokoll 18/08, S. 41). 268 Eintrag Übergabebuch am 13. März 2003, BSF C-7.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 57 -

'Köpfe rollen' werden. Die nächsten Monate darf hier kein Jugendlicher entweichen.“269 Tags darauf wurde der Heimleiter zum Staatsrat gebeten.270 Die BSF hatte den Druck erfolgreich nach unten durchgereicht.

Die Mitarbeiter der Einrichtung fühlten sich nach dem Angriff vom 20. März von den Jugendlichen bedroht und von den Vorgesetzten allein gelassen. „Ich finde hier ein absolutes Pulverfass, nebst einem Kollegen, der seine zweite Nacht macht und dementsprechend auf ist, vor (...) Meine beiden Telefonate mit Chef [gemeint ist Herr Weylandt] und Superchef [Herr Schrader] haben nichts ergeben und lassen mich nur an diesem Arbeitsplatz zweifeln. Weiterhin hat Fluchtverhinderung oberste Priorität. Dementsprechend kein Fußball im Außenhof, keine Arbeit im Wald.“271 Einen Tag später heißt es: „Tchakaa! Wär' doch gelacht, wenn wir uns von einer Bande entwicklungsverzögerter Halbwüchsiger frustrieren lassen würden! Oder Großkopferten, die uns als Kanonenfutter verwenden wollen.“272

Die Vorgabe aus der Präsidialebene, Fluchten unter allen Umständen zu verhindern, erhöhte das Risiko von Gewaltausbrüchen in der Einrichtung. Der Geschäftsführer des LEB, Herr Lerche, und der stellvertretende Leiter des Amtes für Jugend, Herr Dr. Hammer, baten schließlich den Staatsrat um die Erlaubnis, das größere Außengelände, trotz erhöhter Fluchtgefahr, wieder für die Jugendlichen nutzen zu dürfen: „Alle Mitarbeiter der GUF seien sich darüber einig, dass die Gewalttaten sich nicht nur auf Fehlbelegung, sondern auch auf die seit längerer Zeit andauernden, verschärften Sicherheitsmaßnahmen beziehen.“273 Der Staatsrat vermerkte auf den Schreiben nur, dies sei operatives Geschäft. Der Amtsleiter Herr Riez solle entscheiden.274 In seiner Vernehmung äußerte Staatsrat Meister dazu „Und gerade als es darum ging, gegen den Rest der Welt quasi die Einrichtung zu etablieren, neigten die Pädagogen in meinem Haus durchaus dazu, sich (...) sie waren sehr anlehnungsbedürftig.“275 Die Präsidialebene war nicht bereit, die politische Verantwortung für das von ihr unter hohem Druck eröffnete, sicherheitstechnisch unausgereifte und flächenmäßig ungenügend ausgestattete Provisorium zu übernehmen und verweigerte die Entscheidung, Mitarbeiter und Betreute zu schützen und dafür politisch unbequeme Fluchten aus der Einrichtung in Kauf zu nehmen.

In der Folge wurde der Einrichtung am 28. März 2003 auf Weisung des Amtsleiters Herrn Riez unter engen Vorgaben wieder gestattet, das Außengelände zu nutzen.276 In den Akten gibt es allerdings einen Hinweis darauf, dass dieser Entschluss vom Staatsrat nicht mitgetragen wurde und er sich vielleicht doch in das operative Geschäft eingemischt hatte. So wird in einer Telefonnotiz vom 14. April über ein Gespräch zwischen Frau Engler aus der

269 Eintrag Übergabebuch am 16. März 2003, BSF C-7. 270 Aussage Herr Weylandt, Wortprotokoll 18/05, S. 31. 271 Eintrag im Übergabebuch am 24.03.2003, in BSF C-7. 272 Eintrag im Übergabebuch am 25.03.2003, in BSF C-7. 273 Vermerk Dr. Hammer an Staatsrat Meister, 27. März 2003, in BSF B-14. Ähnlich in der Argumentation Vermerk Herr Lerche an Staatsrat Meister, 27. März 2003, in BSF B-14. 274 Ebd. 275 Staatsrat Meister, Wortprotokoll 18/08, S. 44. 276Von Herrn Riez autorisierter Entscheidungsvorschlag von Herrn Dr. Hammer, dem Staatsrat zur Kenntnis am 28. März 2003, in BSF B-14.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 58 -

Rechtsabteilung des LEB und Herrn Weylandt davon gesprochen, dass der Staatsrat Meister, die Anweisung gegeben habe, dass nur der Innenhof genutzt werden dürfe.277 Inwieweit es tatsächlich eine solche Anweisung durch den Staatsrat gab, ließ sich bei den Vernehmungen der Zeugen nicht klären. Staatsrat Meister sagte aus, er habe nie eine solche operative Anweisung getroffen, der Heimleiter Herr Weylandt hielt eine solche Anweisung durchaus für möglich.278 Jedenfalls wird in dieser Telefonnotiz deutlich, dass das Interesse der Behördenleitung an der Verhinderung von Fluchten so ausgeprägt war, dass ein direktes Eingreifen des Staatrats in den Alltag des Heims zumindest für plausibel gehalten wurde.

Im April 2003 entwichen erneut Jugendliche279 – und ein Kopf rollte. Der damalige Geschäftsführer Herr Lerche bat um die Entbindung von seinen Aufgaben280 und kam damit der Entlassung durch Staatsrat Meister zuvor.281

Symptomatisch an den Reaktionen der Behördenleitung war deren Widersprüchlichkeit: Während mit großer Sensibilität auf pressewirksame Fluchten reagiert wurde, blieb man im Umgang mit der weniger öffentlich bekannten Gewalt innerhalb der Einrichtung dickfällig und behäbig.

März 2004: Rollkommando: Übergriffe von Mitarbeitern auf Jugendliche?

Am 11. März 2004 kam es zu schweren Konfrontationen zwischen Jugendlichen und Pädagogen. Wegen etlicher Verweigerungen und Provokationen, die von den diensthabenden Betreuern als latent bedrohlich empfunden wurden, kamen der stellvertretende Heimleiter und weitere Mitarbeiter zur Unterstützung in die Einrichtung. Es kam zu Handgreiflichkeiten und Anwendung physischen Zwangs. Im Gefolge dieses Vorfalls beschuldigte ein Jugendlicher den stellvertretenden Heimleiter, ihn gewürgt zu haben und zeigte ihn an.282

Dieses Ereignis wurde nicht als „Besonderes Vorkommnis“ notiert – obgleich es hätte gemeldet werden müssen. Ein Mitarbeiter der Einrichtung, der am fraglichen Tag nicht gearbeitet hat, aber einen Tag später Dienst tat, fertigte einen Bericht an die Personalleitung, in dem er seine Eindrücke und Gespräche mit Betroffenen schilderte und von einem „Rollkommando“ sprach. Alle Jugendlichen seien zusammen geschrieen und körperlich sanktioniert worden. Zwei Jugendliche hätten ihm Händeabdrücke am Hals gezeigt, die durch die stellvertretende Heimleitung entstanden sein sollten. Dies sei ihm durch einen am 11. März diensthabenden Mitarbeiter bestätigt worden.283 Der Anzeige erstattende

277Telefonnotiz Frau Engler, Herr Weylandt, in BSF C-5-7, Zusatzakte. 278Herr Weylandt, Wortprotokoll 18/05, S. 47ff.; siehe auch Staatsrat Meister, Wortprotokoll 18/08, S. 36. 279 Pressemitteilung der BSF vom 27.0.4.2003. 280 Pressemitteilung der BSF vom 28.04.2003. 281 Siehe Aussagen Staatsrat Meister, Wortprotokoll 18/8, S. 72-78. 282 Zum Ablauf des Ereignisses siehe auch PUA-Abschlussbericht, S. 457-459. 283 Protokoll ohne Datumsangabe, in Personalakte BSF C-5-21.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 59 -

Jugendliche, J 03, sagte bei der Polizei aus: „Der stellvertretende Leiter, Herr Sonntag, packte mich am Kragen, drückte mich etwas hoch und presste mich an die Wand und rief 'Was willst du hier rumdiskutieren?' Ich bekam kaum Luft und hatte Todesangst.“284 Herr Sonntag sagte in den sich anschließenden Ermittlungen aus, er habe den Jugendlichen lediglich an den Schultern gepackt und nicht gewürgt.285 Diese Aussage wurde von mehren Betreuern bestätigt.

Der Mitarbeiter, der von einem „Rollkommando“ gesprochen hatte, erklärte vor dem Untersuchungsausschuss, er könne sich an rote Abdrücke am Hals des einen Jugendlichen erinnern (die mithin noch am Tag nach dem Vorfall sichtbar gewesen seien).286 Herr Sonntag machte hier in dieser Frage von seinem Recht auf Auskunftsverweigerung Gebrauch.287 Ein weiterer Mitarbeiter der Einrichtung erklärte vor dem Untersuchungsausschuss, er könne sich nicht vorstellen, dass bei dieser Konfrontation gewürgt wurde.288 Eine Rekonstruktion, was genau an diesem Tag geschah, ist zuletzt auch deshalb nicht möglich gewesen, weil der Mitarbeiter, der seine Kollegen über die Vorfälle des 11. März 2004 unterrichtet hatte, für eine Zeugenaussage nicht zur Verfügung stand.

Was bleibt, sind Ungereimtheiten:

• So war es ausgerechnet der stellvertretende Leiter Herr Sonntag und damit der Beschuldigte, dem die Pädagogen ihre für die Polizei bestimmten Berichte über den Vorfall am 11. März 2003 aushändigen mussten. Mit Herrn Sonntag sammelte derjenige die Zeugenaussagen ein und übermittelte sie an das Dezernat Interne Ermittlungen, gegen den das Strafverfahren geführt wurde.289

• In einem der – ansonsten stets akkurat geführten – Übergabebücher fehlen Eintragungen von diesem Tag, ohne dass die Zeugen erklären konnten, warum.

• Und drittens erklärte der anzeigende Jugendliche J 03, dass er keine Gelegenheit erhielt, sich wie von ihm gewünscht, ärztlich untersuchen zu lassen, um seine Verletzungen zu dokumentieren. Im Ergebnis war gerade das Fehlen dieser Dokumentation einer der Gründe, weshalb das Ermittlungsverfahren gegen Herrn Sonntag beendet wurde.

Dass dieser Arztbesuch von vorgesetzter Stelle für sinnvoll gehalten und erwartet wurde, legt der Vermerk von Dr. Bange an den Staatsrat nahe, der fünf Tage nach dem Vorkommnis die desolate Situation in der GUF beschrieb und auch von der Strafanzeige gegen den stellvertretenden Heimleiter berichtete. Darin hieß es, es gäbe wieder einen Machtkampf zwischen Jugendlichen und Erziehern: „Gestern sind mit den Minderjährigen, die die Anschuldigung erhoben haben, Gespräche geführt worden. Bei dem Jugendlichen, der angab, verletzt worden zu sein, ist überprüft worden, ob es tatsächlich Verletzungen gibt.

284 Aussage J 03 am 14. März 2004, in JB lfd. Nr. 10. 285 Aussage Herr Sonntag, in JB lfd. Nr.10. 286 Wortprotokoll 18/48 vom 29.06.07, S. 16. 287 Wortprotokoll 18/48 vom 29.06.07, S. 18. 288 Wortprotokoll 18/55 vom 31.08.07, S.13f. 289 Herr Sonntag, Wortprotokoll 18/52, S. 30-32.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 60 -

[Dann gelöscht der folgende Satz] Für eine Verletzung gibt es keine Anzeichen. [Ersetzt durch] Heute findet ein Arztbesuch statt, um weitere Sicherheit in dieser Frage herzustellen.“ In diesem Vermerk macht Dr. Bange auf die sehr angespannte Situation in der GUF aufmerksam. Er teilt dem Staatsrat mit,

• dass es trotz aller Bemühungen nicht gelinge, geeignetes Personal für die Konfrontationspädagogik zu finden“,

• dass es immer wieder zu Übergriffen gegen das Personal komme,

• dass die Mitarbeiter am Rande der Erschöpfung stünden,

• die Mädchen aus dem benachbarten KJND die Stimmung in der GUF anheizten,

• und die Jugendlichen damit drohten, „die Einrichtung wieder zu übernehmen“.290

Als eine der Gegenmaßnahmen verwies Dr. Bange auf ein verpflichtendes Konflikttraining der Mitarbeiter. Dieses Training wurde allerdings nicht von ausgebildeten Konfrontationspädagogen oder anderen Experten aus Pädagogik oder Psychologie erteilt, sondern vom Sicherheitsdienst der GUF.291

Alles in allem wird an diesem Vorfall die Überforderung des Heims deutlich. Die Psychologin der Einrichtung nahm die Ereignisse des 11. März 2004 zum Anlass, endgültig um Versetzung zu bitten: Es sei der Einrichtungsleitung nicht gelungen, den Pädagogen ein differenziertes pädagogisches Konzept an die Hand zu geben.292

2.5.5 Fazit: Die GUF trug strukturell zur Gewalt bei

In der GUF lebten Minderjährige, die Gewalt ihr Leben lang als schmerzhaftes, aber legitimes Mittel der Auseinandersetzung erlernt hatten und die über andere Formen der Kommunikation häufig nicht in ausreichendem Maße verfügten. Viele Minderjährige hatten eine sehr geringe Frustrationstoleranz und eine sehr eingeschränkten Impulskontrolle. Das erklärt, warum Gewalt in der Einrichtung zu erwarten war. Das exorbitant hohe Ausmaß der Gewalt allerdings allein zu einem Problem der Jugendlichen zu erklären, blendet die Verantwortung der Einrichtung, der Behörde und der Politik aus.

Der Bau war nicht geeignet und schürte Aggressionen. Fachleute hatten früh darauf hingewiesen, die politische Führung, die sich für das Provisorium Feuerbergstraße entschieden hatte, hat nicht reagiert. Je dichter die Belegung wurde, um so höher war die Gewalt.

Die Unruhe durch Personalwechsel, die Überbrückungen pädagogischer Dienste mit dem Einsatz von Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes machten es schwer, ausreichend erzieherischen Einfluss auf die Betreuten nehmen zu können. Es gelang weder Heimleitung noch dem Träger, die Mitarbeiter in dieser Situation ausreichend zu unterstützen und damit einen stabilen Mitarbeiterstamm aufzubauen.

290Ebd. 291Ebd. 292 Versetzungsgesuch der Psychologin vom 13. März 2004, in BSF B-3.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 61 -

Zudem hat sich das pädagogische Konzept der Einrichtung in der Praxis als nicht flexibel genug erwiesen. Ungeschickt (weil ungelernt) ausgeführte Konfrontationen beförderten Gewalt. Erst kurz vor Ende des Untersuchungszeitraums wurde diese Problematik von der Einrichtung selbst erkannt:

„Die bisherige pädagogische Ausrichtung, klare Grenzen, Regeln und Strukturen zu

vermitteln, hat bei Jugendlichen mit schweren Persönlichkeitsstörungen zu ausgeprägten

Eskalationen geführt. Zu starre Grenzen und Sanktionen, die aufgrund der Störungsbilder

nicht realisiert werden konnten, hatten zur Folge, dass ein kaum zu durchbrechender

Kreislauf an Widerstand, Gewalt immer weiterer Grenzüberschreitung und entsprechenden

Gegen-Reaktionen in der Einrichtung entstand.“293 Ob und inwieweit Konsequenzen aus

dieser Einschätzung gezogen wurden, entzieht sich der Kenntnis.

Eine externe Evaluierung hätte die Probleme schneller erkannt und kompetente Hilfestellung leisten können. Die Installation dieser Evaluation ist von der Behördenleitung nicht gewollt gewesen.

293 Konzeptentwurf März 2005 o. Autor, in BSF A-33 Konzept.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 62 -

2.6 Kontrolle der Einrichtung durch die Heimaufsicht

Der CDU-Mehrheitsbericht stellt fest, die Stelle, die für die Heimaufsicht zuständig gewesen sei – die Sozialbehörde – sei dieser Aufsichtspflicht nachgekommen.294 Diese Einschätzung wird den Ergebnissen der Untersuchung nicht gerecht.

2.6.1 Überprüfung der GU Feuerbergstraße im April 2003

Bereits bei der ersten Überprüfung im laufenden Betrieb wurden gravierende Defizite bei der Personalausstattung der Einrichtung übersehen: In dem Bericht über diese Überprüfung heißt es: „Freiheitsentziehung stellt einen gravierenden Eingriff in Persönlichkeitsrechte dar. Alle an den pädagogischen Prozessen in der Einrichtung Beteiligten sind für diese Tätigkeit gezielt ausgewählt und mit besonderer fachlicher und juristischer Kompetenz ausgestattet, um entsprechend zu agieren. Nur so ist die Rechtmäßigkeit des praktischen Handelns im Betreuungsfeld der GUF sicherzustellen.“295

Tatsächlich waren gerade im Zeitpunkt der örtlichen Prüfung der Heimaufsicht – im April 2003 – fachlich nicht „besonders kompetente“ Mitarbeiter angestellt. Offenbar ist der Heimaufsicht entgangen, dass es seinerzeit noch keine Lehrerinnen und Lehrer in der Einrichtung gab. Zudem stand Betreuungspersonal nur eingeschränkt zur Verfügung: Damals wurden zwei eigentlich als Nachtwachen eingestellte Mitarbeiter als Sozialpädagogen beschäftigt, obwohl sie nicht über die entsprechende Qualifikation verfügten: Ein Student der Erziehungswissenschaften wurde von Ende März bis Ende September 2003 als Betreuer beschäftigt, eine Nachtwache, die als einzige Formalqualifikation über einen Realschulabschluss verfügte, sogar im Zeitraum März 2003 bis September 2004.296

Auf den Umstand, dass Mitarbeiter ohne pädagogische Ausbildung auf Betreuerstellen tätig waren, ist die Heimaufsicht durch ein anonymes Schreiben ausdrücklich hingewiesen worden.297 Die Behörde nahm sich zwar zunächst dieser Hinweise an. Im Anschluss des Besuches der Einrichtung, welcher im Zuge dessen stattfand, kümmerte sich die Heimaufsicht jedoch nicht um die Qualifikation des eingesetzten Personals. Sie monierte in

294 PUA-Abschlussbericht, Seite 486. 295 Bericht Heimaufsicht über örtliche Überprüfung gemäß 46 KJHG (SGB VIII) v. 22. April 2003, in BSF B-07. 296 Im Mehrheitsbericht ist nach einer von der CDU beschlossenen Änderung in diesem Zusammenhang nur von „einer Nachtwache“ die Rede (Seite 344); es waren aber zwei, wie sich aus den Ausführungen im PUA-Abschlussbericht ergibt (Seite 343). 297 Anonymes Schreiben an „Michael“ betr. Informationen zu GU und FIT (ohne Datum), weitergeleitet mit Schreiben vom 04.07.2003 von der Heimaufsicht an den Leiter der GUF, in Akte BSF B-7: „Fakt ist, dass in der GU 4 Sozialpädagogen vor einigen Wochen von Jugendlichen körperlich angegriffen worden. Daraufhin habe sich fast alle Kollegen krankschreiben lassen. Es hat tierischen Druck vom Einrichtungsleiter gegeben und 3 Mitarbeiter haben einen Versetzungsantrag gestellt und 1 Mitarbeiter hat gekündigt. (...) Um den laufenden Betrieb aufrecht erhalten zu können, wurden kurzfristig, begrenzt auf 1/2 Jahr, 2 Mitarbeiter die keine pädagogische Ausbildung haben, in der GU eingesetzt. Beide sind Studenten und waren als Nachtwachen in der GU beschäftigt.“

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 63 -

erster Linie einen mutmaßlich für die Minderjährigen gefährlichen Zierteich, der seinerzeit auf dem Gelände angelegt wurde.298 Im Ergebnis dauerte die Beschäftigung des offensichtlich unqualifizierten Personals über 18 Monate an.

Zudem bleibt die Frage offen, aufgrund welcher Erkenntnisse die Heimaufsicht zu dem Schluss kam, alle Beteiligten seien mit „besonderer juristischer Kompetenz“ ausgestattet. Dass es der Einrichtung insbesondere an juristischer Unterstützung fehlte, ist durch die in den Vermerken des Arbeitsstabes und im Gutachten von Prof. Bernzen festgestellten Rechtsverstöße in bedauerlichem Ausmaß belegt.

2.6.2 Überprüfung der GU Feuerbergstraße im Januar 2005

Im Untersuchungszeitraum hat die Heimaufsicht die GU Feuerbergstraße offenbar zuletzt Mitte Januar 2005 vor Ort überprüft.299 Anlass der Besichtigung war im Übrigen nicht die Berichterstattung im Dezember 2004, in der Jugendliche in Interviews eine schlechte Behandlung in der Einrichtung beklagten, und die daran anschließende Aufforderung einer Deputierten an die Senatorin, die Heimaufsicht um eine Prüfung der Einrichtung zu bitten; Grund des Besuches war die beantragte Erweiterung der Kapazität der Einrichtung auf 18 Plätze.300

2.6.3 Arbeitsweise der Heimaufsicht

Der lange für die GU Feuerbergstraße zuständige Mitarbeiter der Heimaufsicht hat in seiner Vernehmung ausgesagt,301 wenn es Vorwürfe gab, habe er in der Regel den Einrichtungsleiter darauf angesprochen. Auf diese Weise habe er auch die Darstellungen der beiden Jugendlichen hinterfragt, die sich Ende 2004 in Medien über Drangsalierungen und die Vergabe von Psychopharmaka beklagt hatten. Er habe keine schriftlichen Unterlagen geprüft und sich zum Beispiel Dokumentationen der Vergabe der Medikamente nicht angesehen. Er habe nicht mit Verfahrenspflegern, sorgeberechtigten Elternteilen oder den Jugendlichen selbst gesprochen.302 Es sei nicht seine Aufgabe, darauf zu achten, ob Anliegen und Rechte von Jugendlichen gewahrt werden; das obliege den Verfahrenspflegern.303

298 Schreiben der Heimaufsicht an die Leitung der GUF vom 21.07.2003 in Akte BSF B-7.: „Aus Sicht der Heimaufsicht stellt so ein Teich erhebliche Gefährdungen für minderjährige Betreute dar. Angesichts der Faszination, die Wasser auf Kinder und Jugendliche jeden Alters bekanntermaßen ausübt, stellt so ein Gewässer ein großes Risiko für die in der GUF betreuten jungen Menschen dar.“ Die Angelegenheit konnte erst nach Vermittlung durch Amtsleiter Riez mit einem Kompromiss geregelt werden, Mail von FS 24 an die Heimaufsicht vom 31.07.2003, in Akte BSF B-10. 299 Vgl. Bericht der Heimaufsicht über örtliche Prüfung vom 13. Januar 2005, in Akte BSF B-7; s. a. PUA-Abschlussbericht, Seite 490f. 300 Schreiben von FS 2221 (Heimaufsicht) an LEB GUF betr. Besichtigung im Rahmen des Antrags auf Erweiterung der Betriebserlaubnis. 17.11.2004, in Akte BSF B-11. 301 Wortprotokoll Nr. 18/49 vom 06.07.2007 302 Wortprotokoll vom 06.07.2007, Seite 37f. 303 Wortprotokoll vom 06.07.2007, Seite 39.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 64 -

Jugendliche, die ihm erzählt hätten, in der Einrichtung drangsaliert oder geschlagen worden zu sein, hätte er nicht ernst genommen. Über derartige Schilderungen habe er mit dem Einrichtungsleiter geschmunzelt.304 Über Strafanzeigen, die Jugendliche gegen Mitarbeiter stellen, werde er nicht informiert.305 Aufgrund der teilweisen Personenidentität (J 17) deutet einiges darauf hin, dass Betreute dem Mitarbeiter der Heimaufsicht von Vorkommnissen am 11. März 2004306 berichtet haben (als ein Pädagoge handgreiflich geworden ist), ohne dass dieser ihnen Glauben schenkte.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Aufsichtsbehörde solchen Mängeln, die dem Betrachter ins Auge springen – insbesondere baulicher Art – immer nachgegangen ist und dafür Sorge getragen hat, dass sie abgestellt wurden. Tauchten andere Fragen auf – etwa hinsichtlich der Qualifikation des Personals oder der Formen der Betreuung – hat man sich in aller Regel damit begnügt, den Leiter der Einrichtung anzusprechen. Verneinte dieser etwaige Schwierigkeiten, hatte sich die Angelegenheit erledigt, eine weitergehende Kontrolle hat es offenbar nicht gegeben.

2.6.4 Fazit

Aufgabe der Heimaufsicht ist es, sicherzustellen, dass das Wohl der Kinder und Jugendlichen in den Einrichtungen gewährleistet ist.307 Dafür kann es nicht ausreichen, dass man es dabei belässt, die Leitung eines Heimes zu befragen, ob in ihrem Heim alles in Ordnung ist. Ein bisschen näher muss eine Aufsicht hinsehen.

304 Wortprotokoll vom 06.07.2007, Seite 39f, 42ff. 305 Wortprotokoll vom 06.07.2007, Seite 40. 306 Vgl. Ausführungen zu Ziffer 2.6 dieses Votums, Vorfall im März 307 Vgl. die Ausführungen im PUA-Abschlussbericht, Seite 47f.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 65 -

3. Erfolge der Einrichtung?

Eine der wichtigsten Fragen im Zusammenhang mit der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße muss sein, ob der Aufenthalt in der Einrichtung den dort betreuten Jugendlichen gut getan hat. Die Geschlossene Unterbringung Feuerbergstraße ist erfolgreich, wenn sie möglichst vielen Minderjährigen maßgeblich dabei helfen kann, ihre Persönlichkeit zu stabilisieren, und es letztlich gelingt, ihnen den Weg in ein Leben ohne Kriminalität zu bahnen.

Der CDU-Mehrheitsbericht kommt im Ergebnis zu der Feststellung, die Geschlossene Unterbringung Feuerbergstraße sei „alternativlos“.308 Der Abschlussbericht enthält keine Aussage darüber, ob sich der Aufenthalt in der GU Feuerbergstraße auf die Entwicklung der dort untergebrachten Minderjährigen positiv ausgewirkt hat.

Auch der Senat hat bisher jede Feststellung vermieden, dass eine längerfristige Unterbringung in der Einrichtung den Jugendlichen üblicherweise hilft.309 Einen Zusammenhang, ob Minderjährige, die über einen längeren Zeitraum in der GU betreut wurden, danach weniger häufig straffällig werden oder weniger schwerwiegende Delikte verüben, behauptet der Senat jedenfalls nicht.

Eine wissenschaftliche Evaluation der Arbeit der Einrichtung, welche diese Fragen beantworten könnte, gibt es bis heute nicht,310 obwohl die zuständige Sozialsenatorin Schnieber-Jastram öffentlich mitgeteilt hat, sie wolle die diesbezüglichen, konkreten Vorschläge des Gutachters Prof. Dr. Bernzen aufgreifen. 311

So bleiben zunächst nur grobe Indikatoren, um zu einer Einschätzung zu gelangen, wie erfolgreich die GUF arbeiten konnte: die Frage nach weiteren Straftaten, die Frage nach der Kontinuität in der Anschlussunterbringung und die Frage danach, ob regelmäßig schulische oder berufsbildende Angebote besucht wurden. Diese Daten hat die Behörde aus Anlass parlamentarischer Anfragen erhoben.312

3.1 Bilanz Frühsommer 2006 Die Sozialsenatorin hat im Dezember 2005 von einer „im Großen und Ganzen ordentlich funktionierenden Einrichtung“ gesprochen.313 Im August 2006 sah sie in der GUF einen „leistungsfähigen und unverzichtbaren Bestandteil der Hamburger Jugendhilfelandschaft“.314

308 PUA-Abschlussbericht, Seite 552. 309 Vgl. etwa Senatsauskunft Drs. 18/4760. 310 Senatsauskunft vom 09. Oktober 2007, Drs. 18/7093, siehe dazu auch Ziffer 2.2 dieses Votums. 311 Pressemitteilung der BSF vom 22. Dezember 2005. 312 Informationen zur Entwicklung und insbesondere zur Straffälligkeit von in der GU untergebrachten Minderjährigen finden sich zum Beispiel in den Anfragen der Abg. Sardina, Drs. 18/4335, Blömeke, Drs. 18/4690 und Böwer ,Drs. 18/4760. 313 Bei der Vorstellung der Bewertung des Bernzen-Gutachtens, BSF-Pressemitteilung vom 22.12.2005. 314 Bei der Vorstellung der Änderung des Konzeptes der GUF, BSF-Pressemitteilung vom 28.08.2006

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 66 -

Seinerzeit hat sie geschildert, knapp die Hälfte der Jungen, die in der GU gewesen seien (nämlich 46%), hätte eine positive Entwicklung gemacht.

Bei einer Auswertung der von der Senatorin angeführten Daten315 zeigt sich ein wenig überzeugendes Bild:

• Zwei Drittel der aus der GU entlassenen Jugendlichen haben erneut Straftaten begangen, die meisten von ihnen verübten auch Gewaltdelikte. Die Straftaten summieren sich auf mehr als 100, darunter zahlreiche schwerwiegende Delikte wie Raub, schwere Körperverletzung, Einbruchs- und Bandendiebstahl.

• Acht der bis dahin 33 entlassenen Jungen kamen in Haft, das ist fast jeder vierte.

• Eine ganze Reihe der Minderjährigen, denen der Senat nach ihrem Aufenthalt in der GU einen „positiven Verlauf“ bescheinigte, hatte wiederum mehrere Jugendhilfemaßnahmen durchlaufen und schwerste Straftaten verübt. So hat der Senat beispielsweise den Fall eines Jugendlichen als Erfolg bewertet, der nicht zur Schule ging und nach der GU vier verschiedene ambulante und eine stationäre Hilfe zur Erziehung absolviert hat (immerhin hat er lediglich eine Straftat begangen).

• Bis heute hat der Senat nicht in einem Fall von einem Schulabschluss der Jungen aus der GUF berichtet.

3.2 Bilanz Frühsommer 2007 Der Versuch einer Fortschreibung dieser Angaben mit einer weiteren Anfrage im Mai 2007316 war nur mäßig erfolgreich: Es stellte sich heraus, dass die Sozialbehörde kein Auge auf ehemals in der GU Betreute hatte.

Bis dahin waren 37 Jugendliche aus der GU entlassen worden. Zu 19 dieser Minderjährigen konnte der Senat jedoch keine Angaben machen. Zur Begründung wurde u.a.317 ausgeführt, 14 der Jungen seien inzwischen volljährig geworden und würden deshalb nicht mehr vom Familieninterventionsteam betreut, weshalb dem Senat keine Informationen zu ihnen vorliegen würden.318 Das bedeutet, dass der Senat nicht aufmerksam verfolgt, wie sich die vormals in der GU Betreuten entwickeln. Denn bei den hochgradigen sozialen Belastungen und Entwicklungsrückständen der ehemaligen Betreuten wäre zu erwarten, dass zumindest einige von ihnen im Rahmen der Hilfen für junge Volljährige bis zum 21. Geburtstag weiter

315 Es handelt sich um Angaben, die der Senat Mitte Mai 2006 zur Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage zusammengestellt hatte: Anfrage des Abg. Sardina, Drs. 18/4335. 316 Senatsantwort auf die Anfrage des Abg. Böwer, Drs. 18/6259. 317 Außerdem: zwei dieser Jungen stammten nicht aus Hamburg, einer sei in sein Herkunftsland ausgereist, einer gerade erst aus der Haft entlassen und ein weiterer hätte gerade erst die Einrichtung gewechselt. 318 Von den übrigen 18 Minderjährigen seien vier in Straf- oder Untersuchungshaft, bei zwei weiteren gebe es derzeit einen „schwierigen Verlauf“. Die meisten der anderen Jungen besuche regelmäßig die Schule.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 67 -

betreut werden (diese Möglichkeit sieht Kinder- und Jugendhilfegesetz in § 41 ausdrücklich vor).

Da in der Zwischenzeit auch die meisten derjenigen Jungen volljährig geworden sind, die während des Untersuchungszeitraums in der GU untergebracht waren, kann über die aktuelle Situation und Perspektiven dieser Gruppe praktisch keine Aussage getroffen werden.

3.3 Fazit Ob die Betreuung den Jugendlichen trotz aller Widrigkeiten geholfen und das Ziel der Behörde erreicht hat, sie dabei „zu unterstützen, verantwortungsvoll sich selbst und anderen gegenüber zu handeln“319, kann also schwerlich beurteilt werden. Die vorliegenden Daten und die im PUA zu den Maßnahmen im Anschluss an die GU gewonnenen Erkenntnisse320 sprechen eher gegen diese These.

Es bleibt der Eindruck, dass es ohne wissenschaftliche Evaluation nicht nur keine Handhabe, sondern auch kein Interesse der Behörde gab, die weitere Entwicklung ihrer ehemaligen Schützlinge zu verfolgen.

319 Senatorin Schnieber-Jastram in der BSF-Pressemitteilung vom 28.08.2006. 320 So wurde erwogen, Jugendliche nach ihrer Entlassung in einem Hotel am Hansaplatz oder bei der Bundeswehr unterzubringen.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 68 -

4. Politik und Verantwortlichkeiten

4.1 Täuschung von Parlament und Öffentlichkeit Die Leitung der Sozialbehörde hat die Öffentlichkeit im Zuge des Betriebs der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße nicht immer zutreffend informiert. Wiederholt wurden insbesondere Entweichungen Minderjähriger oder andere Besondere Vorkommnisse in der Einrichtung verschwiegen bzw. sogar geleugnet.

Im CDU-Mehrheitsbericht ist ein Vorgang aus dem Januar 2005 aufgeführt, als eine Entweichung von der Behördenleitung bewusst verschwiegen worden war, weil ihr Bekanntwerden die Stimmung bei einem Pressetermin zur Bilanz des FIT (31.01.2005) hätte verderben können.321 Das Verschweigen der Flucht hat der damalige Landesvorsitzende der CDU, Dirk Fischer, gegenüber Medien scharf kritisiert;322 Staatsrat Meister hat schließlich die alleinige Verantwortung für diesen Vorgang323 übernommen.324 Dabei handelt es sich jedoch nicht um den einzigen Sachverhalt, in dem die Öffentlichkeit getäuscht wurde.

So hat die Sozialsenatorin anlässlich einer Pressekonferenz zur Einjahresbilanz der GU am 7. Januar 2004 mitgeteilt, es habe von Mai bis Juli 2003 eine Überprüfung und Nachbesserung des Sicherheitskonzeptes gegeben. „Seither“, so der Wortlaut der Pressemitteilung, sei es „nicht mehr zu einem Ausbruch aus dem Gelände gekommen“. Tatsächlich hat es im Zeitraum Spätsommer 2003 bis zum Zeitpunkt der Pressekonferenz Anfang 2004 mehrere Entweichungen aus dem Gebäude (also Ausbrüche) gegeben, nämlich am 26. bzw. 27. Juli, am 09. August und am 6. Oktober 2003.325

Zudem hat der Arbeitsstab des Untersuchungsausschusses festgestellt, dass in Beantwortung parlamentarischer Anfragen beispielsweise Übergriffe Minderjähriger gegen Bedienstete oder die Zahl der Fixierungen mit Klettbändern nur unvollständig dargestellt wurden.326 Hinzu kommen die im Mehrheitsbericht dargestellten divergierenden Zahlenangaben zu Entweichungen.327

321 PUA-Abschlussbericht, Ziffer 2.2.1. (Seite 474), Hamburger Abendblatt und Bild-Hamburg vom 25.02.2005. 322 Pressemitteilung von Hamburg1, Anfang März 2005. 323 In den Akten findet sich übrigens eine mit dem Wort „Entwurf“ gekennzeichnete Pressemitteilung des LEB mit Datum vom 23.01.2005, mit welcher über die Entweichung am 21.01.05 informiert werden sollte. Dieses Papier enthält keinen Hinweis darauf, wer letztlich entschieden hat, dass die Veröffentlichung unterblieb. 324 Interview Staatsrat Meisters im Hamburger Abendblatt vom 01.03.2005. 325 Senatsauskunft Drs. 18/1925, Seite 29. 326 Ergebnisse des Vermerks Nr. 57 des Arbeitsstabes 327 PUA-Abschlussbericht, Ziffer 2.2.2, Seite 475.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 69 -

4.2 Senatorin Birgit Schnieber-Jastram

Die Sozialsenatorin und Zweite Bürgermeisterin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) hat genug Hinweise erhalten, die darauf hindeuteten, dass es erhebliche Missstände im Bereich der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße gab. Sie ist diesen Hinweisen zu keiner Zeit nachgegangen. Sie hat sich nicht aufgerufen gefühlt, sich um etwaige Schwierigkeiten zu kümmern. Zur Lösung von Problemen hat sie nichts beigetragen, weder eigenes Handeln, noch eigene Ideen, nicht einmal Fürsorge und Aufmerksamkeit für diejenigen, die nach ihrer Sicht die Aufgaben alleine zu bewältigen hatten – Probleme, die sie durch die Eile und mangelnde Sorgfalt bei der Wiedereinführung der GU in hohem Maße selbst verantwortet.

4.2.1 Information der Senatorin

Der Abschlussbericht der CDU-Mehrheit kommt zu dem Schluss, die Senatorin sei „von den effektiv bestehenden Problemen“ durch ihren Staatsrat Klaus Meister „nur unzureichend unterrichtet worden“; sie habe „nicht erkennen können, ob vorhandene Probleme ggf. die Zielerreichung auf der strategischen Ebene gefährdeten“.328 Diese Einschätzung des CDU-Mehrheitsberichts setzt zum einen voraus, dass es Aufgabe allein des Staatsrates – und nicht auch der Senatorin selbst – war, sie über wichtige Fragen auf dem Laufenden zu halten, und stellt zweitens fest, der Staatsrat sei dieser Aufgabe nicht gerecht geworden.

Dagegen hat die Sozialsenatorin in ihrer Vernehmung ausdrücklich betont, wie zufrieden sie – auch rückblickend – mit der Informationspolitik des Staatsrats war. Politisch relevante (und folglich „strategisch“ bedeutsame) Sachverhalte habe er ihr stets vermittelt.329

Die Senatorin wurde auch mehrfach unmittelbar mit der Situation in der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße konfrontiert.

- So hat die Psychologin der GU ihre (erste) Kündigung Ende April 2003 auch an Staatsrat und Senatorin übermittelt und damit dafür gesorgt, dass die ausführliche Begründung der Kündigung zu ihrer Kenntnis gelangt. In ihrem Schreiben beschrieb die Psychologin u.a. den Mangel an Personal und die fehlerhafte Auswahl der Minderjährigen durch das FIT und bezeichnete den Standort und das Gebäude der Einrichtung als ungeeignet.

- Am 30. Juni 2004 schrieb der zuständige Abteilungsleiter einen Vermerk an die Senatorin, mit dem ein behördeninternes Gespräch mit der Behördenleitung vorbereitet werden sollte.330 Anlass war eine Flucht drei Minderjähriger, eine blutige Messerattacke eines

328 PUA-Abschlussbericht, S. 545. 329 Aussage Schnieber-Jastram: „Der Staatsrat hat anlassbezogen berichtet und Sie können sicher sein, dass Herr Meister nichts ausgelassen hat, sondern über alles, was wichtig ist, auch berichtet hat.“; „Die [Definition dessen, was politisch relevant ist und was operativ ist] lag in der Regel beim Staatsrat, wobei ich mich da sehr gut auf ihn verlassen konnte. Er hatte ein ausgesprochen gutes Gefühl dafür, was politisch zu beurteilen ist. Und im Zweifel hat er mich lieber einmal mehr informiert.“ (Vernehmung der Zeugin Schnieber-Jastram am 22. Juni 2007, Wortprotokoll Nr. 18/47, S. 66 und 76). 330 Ob dieses Gespräch, das für den 06. Juli 2004 vorgesehen und durch Vermerke vorbereitet war, überhaupt unter Beteiligung der Senatorin stattgefunden hat, ist unklar. Hinweise, dass es Folgerungen aus dem Gespräch gegeben haben könnte, finden sich nicht in den übermittelten Akten. Die Senatorin erinnerte sich in ihrer Vernehmung (Seite 69f.) nicht an diesen Vorgang. Der für die GU

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 70 -

ehemaligen GUF-Betreuten auf einen Kellner in Farmsen und der Versuch dreier Minderjähriger, sich mittels der Drohung, sich selbst zu verletzen, aus der Einrichtung freizupressen. Dr. Bange wies darauf hin, dass Mitarbeiter gekündigt hätten, weil aus ihrer Sicht „Pädagogik (...) derzeit nur schwer möglich“ sei. Er problematisierte die Belegung mit Jugendlichen, die in der GUF „kaum unter Kontrolle zu halten“ seien und führte aus, „Die GU war und ist – leider immer noch mit solchen Jugendlichen zumindest teilweise überfordert.“331

- Im Sommer 2004 wandte sich eine weitere Mitarbeiterin der GU an die Senatorin. In deren Bürgersprechstunde am 5. Juli 2004 schilderte sie die hohe Fluktuation und den hohen Krankenstand der Mitarbeiter, ein Fehlen von Supervision und den Mangel an Anschlusskonzepten für die betreuten Minderjährigen.

- Die Senatorin hat zwar angegeben, die ihre Behörde betreffenden Antworten des Senats auf parlamentarische Anfragen nicht zu studieren, wodurch sie zum Beispiel erfahren hätte, dass die Beschulung der Jugendlichen in der GU über geraume Zeit nicht durch ausgebildete Lehrkräfte, sondern durch Studierende eines externen Nachhilfeinstituts erfolgte.332 Sie hat jedoch betont, sie verfolge aufmerksam die Medienberichterstattung. Mitte Dezember 2004 zum Beispiel las die Senatorin die Berichterstattung über die Aussagen zweier aus der Einrichtung entwichener Jugendlicher, schenkte deren Aussagen über Fesselungen und Psychopharmaka jedoch keinen Glauben.333

Die Sozialsenatorin hat ausreichend Hinweise auf Missstände im Bereich der Geschlossenen Unterbringung erhalten.

4.2.2 Interesse der Senatorin

Der Senatorin fehlte jedoch das Interesse an den praktischen Problemen ihrer Politik. Auf welche Weise ihre politischen Vorgaben umgesetzt wurden, welche Schwierigkeiten dabei auftauchten und welche Fortschritte erzielt wurden, hat sie nicht verfolgt.

Nach allem, was der PUA den übermittelten Akten und den Schilderungen der Senatorin selbst entnehmen konnte, war die Sozialsenatorin an zwei Entscheidungen beteiligt: Sie hat den vom Staatsrat ausgewählten Standort zur Kenntnis genommen334 und die tatsächliche Zahl der Plätze der Einrichtung gebilligt.335 Zwar wird man der Senatorin zustimmen können, dass sich ein Regierungsmitglied nicht mit jeder Einzelheit des Verwaltungshandelns beschäftigen muss: So handelt es sich etwa bei der Gesundheitsfürsorge in einer Jugendhilfeeinrichtung in der Tat um „operatives Geschäft“,336 um dessen Details der Präses

in der Behörde faktisch zuständige Mitarbeiter Dr. Bange hat ausgesagt, an keinem Erörterungstermin mit der Senatorin teilgenommen zu haben. 331 Vermerk FS 7 / Dr. Bange an BGM II. Gespräch über Kinder und Jugenddelinquenz am 6.7.2004, 16.00 Uhr. Vfg. BGM II über FS, V1, SV zur Kenntnisnahme, in BSF A-20. 332 Senatsantworten auf Anfragen der Abg. Rogalski-Beeck, Drs. 18/2436 und 17/2536. 333 Vernehmung der Zeugin Schnieber-Jastram am 22. Juni 2007, Wortprotokoll Nr. 18/47, Seite 33 und 48. 334 Aussage Schnieber-Jastram im PUA ,Seite 12f. 335 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 14f. 336 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 23.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 71 -

einer Behörde sich nicht kümmern müssen sollte. Die Senatorin hat jedoch nicht nur der Gesundheitsfürsorge keine Beachtung geschenkt, sie hat sich in keiner Weise um die Umsetzung dieses Projektes gekümmert, das immerhin auf den Koalitionsvertrag und einen Senatsbeschluss zurückging:

• Senatorin Schnieber-Jastram hatte nach eigener Aussage kein Interesse daran, ob die sachliche und personelle Ausstattung der Einrichtung ausreichend war.337

• Sie hat sich keinerlei Entscheidungen prinzipiell vorbehalten.338

• Mit Fragen der Kosten der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße hat sie sich allenfalls „am Rande“ auseinandergesetzt,339 auch nicht mit dem Sprung bei den Kosten des privaten Sicherheitsdienstes in den Jahren 2004 und 2005.

• Die hohe Personalfluktuation war kein Thema für die Senatorin,340

• ebenso wenig der hohe Krankenstand in der Einrichtung.341

• Die Senatorin war nicht daran beteiligt, dass mit der Fa. Securitas ein privates Sicherheitsunternehmen für die Unterstützung der Betreuer in der GU Feuerbergstraße engagiert worden ist.342

• Ihr war noch bei ihrer Vernehmung im PUA im Sommer 2007 nicht bekannt, dass die Justizbehörde sich seit Mitte März 2003 geweigert hatte, LEB und Sozialbehörde bei der Verbesserung des Sicherheitskonzeptes zu unterstützen.343

• Sie konnte sich nicht daran erinnern, in die Abberufung des Geschäftsführers des LEB im April 2003 eingebunden gewesen zu sein.344

• Nicht einmal von den Versuchen Jugendlicher, sich in der GU Feuerbergstraße das Leben zu nehmen, hat die zuständige Senatorin etwas mitbekommen.345

So passt es ins Bild, dass Senatorin Schnieber-Jastram im Untersuchungsausschuss keine Aussagen treffen und nur Vermutungen darüber anstellen konnte,

• an welche Ansprechpartner sich die Mitarbeiter der GU Feuerbergstraße bei rechtlichen Fragen hätten wenden können,346

• ob und durch wen die Beschulung der Minderjährigen gewährleistet wurde347

337 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 15: „Das war operatives Geschäft.“ 338 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 8. 339 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 17. 340 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 21, 66: „Auch das ist operatives Geschäft.“; Seite 70ff.: Die Frage der Mitarbeiter (…) ist ein reines Organisationsproblem für den Landesbetrieb.“ 341 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 21, 73. 342 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 17. 343 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 20, 90f. 344 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 9. 345 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 125. 346 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 7. 347 Aussage Schnieber-Jastram im PUA Seite 29, 39

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 72 -

• oder ob ihr die Pressemitteilungen des – zu ihrer Behörde gehörenden – Landesbetriebs Erziehung und Berufsbildung regelhaft nachträglich zur Kenntnis gegeben werden.348

4.2.3 Aufmerksamkeit der Senatorin

Die für die GU Feuerbergstraße verantwortliche Senatorin hat zu keiner Zeit versucht, sich ein eigenes, realistisches Bild von der Einrichtung zu verschaffen. Sie hat sich zwar sehr über die zahllosen Entweichungen geärgert, aber nie hinterfragt, welche Gründe diese Minderjährigen wohl dazu gebracht haben, die Einrichtung unbedingt und unverzüglich verlassen zu wollen.349 Sie hat offenbar zu keiner Zeit genau hingesehen:

• Die Senatorin hat nicht einen der Vermerke oder Bewertungen der Heimaufsicht über die Einrichtung angesehen.350

• Die Senatorin hat nicht einmal mit dem für die Geschlossene Unterbringung zuständigen Amtsleiter Riez gesprochen,351

• oder gar mit dem zuständigen Fachreferenten ihrer Behörde Fragen erörtert, die mit der Einrichtung in Zusammenhang stehen.

• Sie weist zwar die Einschätzung zurück, sich ausschließlich auf den Staatsrat verlassen zu haben,352 hat aber nach eigener Aussage ausschließlich mit diesem gesprochen.353

Die Senatorin hat behauptet, sie hätte immer wieder nachgefragt, ob im Bereich der GU Feuerbergstraße alles seine Ordnung habe. Immerhin Dutzend Mal hat sie in ihrer Vernehmung wiederholt, ihr sei „immer wieder versichert worden, dass alles in der Einrichtung rechtens sei“.354 Auch bei Besuchen vor Ort habe es keine Hinweise auf Schwierigkeiten gegeben.

Hinterfragt man diese Darstellung, ergeben sich erhebliche Zweifel an der Schilderung der Senatorin:

348 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 35. 349 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 101. 350 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 84. 351 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 40. 352 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 106. 353 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 40, 49, 52, 104. 354 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 6, 30, 34, 36f., 40, 47, 49, 52, 53, 62, 83, 99f., 107.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 73 -

Vor-Ort-Termine

Die Senatorin hat in ihrer Vernehmung sehr viel Wert darauf gelegt, sich „immer wieder persönlich in der Einrichtung informiert“ zu haben.355 Nähere Details vermochte sie jedoch auf Nachfragen zu diesen Vor-Ort-Terminen nicht zu nennen.

So konnte sie keinerlei Angaben dazu machen, wie häufig sie die Einrichtung besucht hat und aus welchem Anlass, in wessen Begleitung sie war und mit wem sie dort gesprochen hat.356 Erinnerlich war ihr lediglich die Tatsache, dass sie bei diesen Besuchen nie über Mängel informiert oder auf besondere Probleme hingewiesen worden sei.357 Die übrigen Ausführungen der Senatorin hierzu waren widersprüchlich.358

Bemühungen, Näheres über etwaige Informationsbesuche der Senatorin in der Einrichtung zu erfahren, hat sich der Senat verweigert.359 Demnach liegt die Vermutung nahe, dass sich die Senatorin lediglich aus Anlass von Presseterminen in der Feuerbergstraße aufgehalten und bei diesen Gelegenheiten nicht den Eindruck vermittelt hat, an ernsthaften Gesprächen mit den dort Beschäftigten interessiert zu sein.

In ihren Kündigungsschreiben haben Pädagogen der GUF immer wieder verschiedenste Mängel der Einrichtung aufgezeigt. Der Personalrat schätzt die Anzahl der Beschwerden, die ihn von Mitarbeitern der GUF erreicht haben, im Vergleich zu anderen Einrichtungen als „außergewöhnlich hoch“ ein.360 Daraus folgt: Hätte die Senatorin sich in der Feuerbergstraße nach etwaigen Schwierigkeiten erkundigt, wäre sie über Probleme aufgeklärt worden. Stattdessen hat sie denjenigen Hinweisen, die sie erreicht haben, keine Aufmerksamkeit oder gar – wie bei Medieninterviews zweier entwichener Jugendlicher361 – keinen Glauben geschenkt.

355 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 6, 10, 11, 25, 58. 356 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 55, 58. 357 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 6, 10, 11. 358 So hat die Senatorin zum einen ausgeführt, sich an spontane Besuche der Einrichtung nicht erinnern zu können, um dann zu erläutern (Aussage Seite 58), dass es in der Anfangsphase „manchmal wichtig“ gewesen sei, „dort einfach aufzutauchen, mit ihnen [den Mitarbeitern] zu sprechen, um sie auch bei der Stange zu halten.“ Dagegen hat sie ansonsten in ihrer gesamten Vernehmung die Aufgabe, das Personal der GU zu halten, als „reines Organisationsproblem“ ausschließlich dem LEB zugewiesen (Aussage Seite 21, 66, 70, 71, 72). 359 So hat der Ausschuss die Behörde mittels Aktenvorlageverlangen um Übermittlung des Terminkalenders und etwaiger Vermerke gebeten, die zur Vor- oder Nachbereitung möglicher Besuche für die Senatorin erstellt worden sein könnten. Dieses Ersuchen des Ausschusses blieb ebenso unbeantwortet wie entsprechende Schriftliche Anfragen an den Senat des Abg. Böwer, Drs. 18/6524 und 18/6565. 360 Aussage des Vorsitzenden des Personalrats des LEB Mecke im PUA vom 29. Juni 2007, Wortprotokoll Nr. 18/48, Seite 71. 361 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 33f.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 74 -

Fragen zur Rückversicherung

Die Senatorin hat in ihrer Vernehmung wiederholt – nach eigener Einschätzung „gebetsmühlenartig“362 – ausgeführt, auf Rückfragen sei ihr immer gesagt worden, in der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße sei alles rechtens. Jeder Vorwurf zum Beispiel aus der Medienberichterstattung und jede Beschwerde sei zum Anlass genommen worden, die Rechtmäßigkeit der Arbeit zu prüfen.363 Eine schriftliche Beantwortung derartiger Prüfbitten hielt sie allerdings für entbehrlich.364

Tatsächlich hat es laut Senatsauskunft im Untersuchungszeitraum lediglich vier Hinweise bzw. Prüfungen rechtlicher Art im LEB und in der Rechtsabteilung des BSF gegeben.365 In den vom Senat übermittelten Akten gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass bestimmte Fragen auf Bitten der Senatorin – oder auch des Staatsrats – überprüft werden sollten oder geprüft wurden. Es existieren nur wenige Papiere, in denen es um die Prüfung möglicher Rechtsverstöße geht. Es gibt auch keinerlei Anzeichen in den Unterlagen, dass Beschwerden – ob rechtlich begründet oder nicht – zu einem veränderten Verfahren geführt hätten; tatsächlich ist es erst im Jahre 2006 zu maßgeblichen Änderungen der Vorgaben wie der Verfahren in der Praxis gekommen, nachdem Prof. Bernzen seine gutachterlichen Empfehlungen vorgelegt hatte. In den Unterlagen findet sich mithin keine Bestätigung der Aussage der Senatorin, ausnahmslos jeder Vorwurf sei überprüft worden.

Auch in der Einrichtung ist diese aufmerksame Hinwendung scheinbar nicht immer bemerkt worden. Dort hat man zwischenzeitlich eher den Eindruck gewonnen, dass Meldungen über Probleme die Behördenleitung eventuell gar nicht erreicht haben. Anders konnte man sich offenbar nicht erklären, dass es auf bestimmte Informationen keine Reaktion der Behörde gab.366

Wenn sich die Senatorin tatsächlich so häufig wie behauptet rückversichert hat, fragt sich, weshalb ihr zu keiner Zeit auffiel, dass sie so häufig Anlass hatte, nachzufragen.

362 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 47: „Ich kann nur wiederholen an dieser Stelle, was ich schon mehrfach gebetsmühlenartig gesagt habe: Ich habe mich immer wieder rückversichert, ob alles rechtens sei. Und mir ist immer wieder die Antwort gegeben: Ja, es sei alles rechtens.“ 363 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 61. 364 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 42. 365 Senatsauskunft Drs. 18/3026, Ziffer 10; nach Einsetzung des PUA wurden bis zur Beauftragung von Prof. Bernzen im Herbst 2005 zwei weitere Rechtsgutachten in der BSF erstellt. 366 So hat sich der Geschäftsführer des LEB veranlasst gesehen, dem Einrichtungsleiter der GUF schriftlich zu versichern, dass die Probleme der BSF bekannt sein müssen. Schreiben des Geschäftsführers Müller an Herrn Weyland betr. „Informationen über die Situation in der GUF an die BSF“ vom 22.06.2004 (Akte BSF B-7): „Sehr geehrter Herr Weylandt, wir hatten gestern darüber gesprochen, ob die BSF hinreichend über die Situation informiert ist, die durch bauliche Gegebenheiten und insbesondere die Belegungspraxis der jüngeren Zeit entsteht. Ich hatte Ihnen zugesagt, einige Schriftstücke zu übersenden, die belegen, dass die Themen bei der BSF, Herrn Dr. Bange und Herrn Riez, bekannt sind. Der Vermerk von FS 7 vom 16. März 2004 ist offenbar an den Staatsrat gegangen. Die letzten Informationen an den Staatsrat habe ich bislang nicht von Herrn Dr. Bange erhalten, habe aber keine Zweifel, dass diese wie von ihm gegenüber mir und gestern auch Ihnen erläutert, existieren. Mit freundlichen Grüßen Müller“.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 75 -

Fazit

Wenn die Sozialbehörde tatsächlich jedem Hinweis aus der Presse nachgegangen367 wäre, hätte es darüber Unterlagen geben müssen. Wenn es tatsächlich so viele Überprüfungen und Nachfragen über die Einrichtung gegeben hätte, wie die Senatorin sie nach eigener Aussage veranlasst haben will, hätten die Rechtsverstöße früher auffallen müssen. Die Senatorin hat in ihrer Vernehmung unterstrichen, selbst die Berichterstattung über die Vergabe von Psychopharmaka im Dezember 2004 sei zum Anlass von Prüfungen genommen worden, obwohl sie diesen Vorwürfen von Jugendlichen keinen Glauben schenkte. Tatsächlich hat es eine rechtliche Überprüfung im Zusammenhang mit der Vergabe von Psychopharmaka in der Behörde erst im Juni 2005 gegeben.368

Umso mehr stellt sich die Frage, weshalb die Senatorin konsequent darauf verzichtete, die ihr (nach eigener Aussage ausschließlich vom Staatsrat) gegebenen Auskünfte mit schriftlichen Ergebnisberichten unterlegen zu lassen. In den Fällen, in denen sie sich veranlasst sah, Fragen oder Sachverhalte über den Staatsrat in die Fachämter zu übermitteln, hat sie entweder bewusst oder leichtfertig auf jegliche inhaltlichen Rückmeldungen verzichtet.369 Sie kennt mithin den Gehalt der Antworten nicht. Ihr ist nicht einmal bekannt, ob ihr Büro ein Managementsystem führt, das kontrolliert, ob derartige Fragen – wie sie zum Beispiel in Bürgersprechstunden aufgeworfen werden – adäquat bearbeitet werden.370

4.2.4 Das Geschäft der Senatorin

Eine große Rolle spielte in den Vernehmungen der Sozialsenatorin das sogenannte operative Geschäft.371 Das operative Geschäft zeichnet sich dadurch aus, dass es im Berufsleben der Sozialsenatorin nicht die geringste Rolle spielt. Denn operatives Geschäft ist alles, was nach Auffassung der Senatorin nicht Aufgabe einer Senatorin ist.

„Ich habe damals den politischen Auftrag erteilt, diese Einrichtung einzurichten. Im Weiteren war es Sache des Amtes, der Betroffenen, diesen Auftrag auch umzusetzen.“372 „Die Einrichtung der Geschlossenen Unterbringung mitsamt Suche [nach der] Trägerschaft war Aufgabe des Staatsrates.“373 „Für das operative Geschäft hatte der Staatsrat die alleinige Verantwortung, das heißt, er hat entsprechende Dinge dann veranlasst.“374 „Ein operatives Geschäft wäre kein operatives Geschäft, wenn es nicht dort gelöst würde, wo es

367 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 100. 368 Senatsauskunft Drs. 18/3026. 369 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 42, 46f., 49, 52. 370 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 64. 371 Das gilt im Übrigen auch für die Vernehmungen ihres Staatsrats Meister. Denn operatives Geschäft ist auch nicht Aufgabe des Staatsrats. 372 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 8. 373 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 7. 374 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 75.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 76 -

hingehört.“375 „Herr Abgeordneter, ich glaube, dass das operatives Geschäft ist, die Positionen zweier Behörden zu einigen.“376

Aufgabe der Senatorin ist nach Ansicht der Senatorin also nicht einmal, ressortübergreifende Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, wenn sie zwischen den Behördenapparaten ins Stocken geraten sind: Der Justizsenator hat sich wenige Monate nach Inbetriebnahme geweigert, den Sachverstand seiner Behörde in die Einrichtung in der Feuerbergstraße einzubringen, um das Entweichen von Minderjährigen möglichst verhindern zu helfen. Es wäre die Aufgabe der Senatorin gewesen, ihren Kollegen aus dem Justizressort zum Einlenken zu bewegen.

Die Senatorin hat selbst eingeräumt, von Problemen und Missständen im Bereich der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße keine Ahnung gehabt zu haben. Die dortigen Schwierigkeiten sind ihr gegenüber aber nicht geleugnet worden; sondern sie hat sich nicht ernsthaft erkundigt. Sie hat kein Interesse am operativen Geschäft gezeigt. Sie wollte nichts davon wissen, auf welche Schwierigkeiten ihre Mitarbeiter stoßen, welche Ideen sie entwickeln, unter welchen Bedingungen sie arbeiten und welche Etappensiege sie erreichen – und erst recht nicht, welche Unterstützung sie benötigen.

Politische Aufträge sind für die Menschen da. Wer sich so wenig für die Umsetzung seiner politischen Aufträge interessiert, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er sich überhaupt für die betroffenen Menschen interessiert.

Hätte Sozialsenatorin Schnieber-Jastram ihre Verantwortung wahrgenommen, wäre sie nicht ahnungslos und tatenlos geblieben. Sie hätte sich um das operative Geschäft gekümmert.

4.3 Staatsrat in der Sozialbehörde Der im Untersuchungszeitraum als Sozialstaatsrat tätige Klaus Meister wurde im März 2006 im Zuge der Protokollaffäre in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Er selbst hat später seiner Vermutung Ausdruck verliehen, die Entlassung sei nicht allein wegen der Geschehnisse um in die Sozialbehörde gelangte Unterlagen des PUA Feuerbergstraße erfolgt, sondern vor dem Hintergrund einer Unzufriedenheit des Senats mit den Vorgängen in der GU Feuerbergstraße insgesamt.377

Zur Bewertung seiner Tätigkeit im Zusammenhang mit der GU Feuerbergstraße formuliert die CDU-Mehrheit im Abschlussbericht: „Auftretende Problemfälle (wie z.B. die Entweichungen) wurden jenseits der rein administrativen Ebene wahrgenommen und wenn notwendig zur Lösung gebracht. Der zuständige Staatsrat Meister hat klar für entsprechende Entscheidungshierarchien gesorgt.“378 Was die Mehrheitsfraktion mit dieser Aussage meint, bleibt ihr Geheimnis: Denn entweder wurden die Probleme von den jeweils in der Entscheidungshierarchie administrativ zuständigen Ebenen gelöst oder eben nicht.

375 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 72. 376 Aussage Schnieber-Jastram im PUA, Seite 77. 377 In seiner Vernehmung im PUA Protokollaffäre am 09. Februar 2007. 378 PUA-Abschlussbericht, Seite 552.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 77 -

In der Regel legte der damalige Staatsrat der Sozialbehörde in der Tat sehr großen Wert auf die Einhaltung in der Behördenhierarchie vorgeschriebener Wege. Im Zusammenhang mit dem LEB und der GUF verstieß er aber bewusst dagegen. Der LEB war nicht Teil eines der Ämter der Sozialbehörde, sondern direkt beim Staatsrat angebunden. Obwohl er also persönlich bis Ende 2004 unmittelbarer Vorgesetzter des LEB war, hat er diese Aufgabe nicht wahrgenommen, sondern faktisch dem Amtsleiter Riez überlassen. In der Praxis wurde die Aufsicht also anders gehandhabt als in der Behördenhierarchie formal vorgeschrieben – über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren.379 (Die CDU-Mehrheit hat übrigens verhindert, dass dieser Umstand – obwohl sachlich unumstritten – im Abschlussbericht des PUA Erwähnung findet.)380

Festgestellt werden muss, dass der Staatsrat seiner Verantwortung weder als direkter Vorgesetzter des LEB noch als Verwaltungschef der Gesamtbehörde gerecht geworden ist. Die Senatorin trägt die politische Verantwortung dafür, dass die GU Feuerbergstraße zunächst überhastet eröffnet und im Anschluss im Stich gelassen wurde. Der Staatsrat hätte die administrativen Instrumente in der Hand gehabt, dafür zu sorgen, dass die Einrichtung von Behördenseite ausreichend Unterstützung erfährt. Diese Aufgabe hat er nicht wahrgenommen.

4.4 Erster Bürgermeister von Beust Der CDU-Mehrheitsbericht stellt im Zusammenhang mit der Heimaufsicht fest, „in einigen Fällen“ sei „auch der Senat einschließlich des Ersten Bürgermeisters durch die BSF über besondere Ereignisse im Zusammenhang mit der GUF informiert“ worden.381 Derartige Informationswege hat der Ausschuss nicht feststellen können.

Zwar haben Bürgermeister von Beust – bzw. sein Büro – Hinweise auf Missstände im Bereich der GU erreicht, etwa ein Schreiben (allerdings anonymer) Polizeibeamter der Polizeidirektion West vom 24. März 2003 betr. „Unhaltbare Zustände Feuerbergstraße, FIT“382 oder ein informell übermittelter Vermerk aus der Abteilung Öffentliche Sicherheit der Innenbehörde, in dem ausführlich die Befürchtung begründet wird, angesichts verschiedener Probleme in der Praxis werde „die Konzeption von GUF und FIT zunehmend in Frage gestellt“.

379 Staatsrat Meister hätte es jederzeit in der Hand gehabt, die Regelung über die formale Anbindung den realen Gegebenheiten anzupassen; dies geschah mit Wirkung zum 1. Januar 2005. 380 Die SPD-Abgeordneten hatten beantragt, den Text zum LEB Ziffer 1.1.3.4. auf Seite 40 wie folgt zu ergänzen: „Der LEB ist Teil der BSF und unterliegt deren Aufsicht und Steuerung. Innerhalb der BSF oblag die Aufsicht und Steuerung des LEB formal bis zum 31. Dezember 2004 unmittelbar dem Staatsrat der Sozialbehörde, bei dem der Landesbetrieb in organisationsrechtlich direkt angebunden war. Er war unmittelbarer Vorgesetzter des Landesbetriebs. Faktisch jedoch oblagen Aufsicht und Steuerung während des gesamten Untersuchungszeitraums dem Amt für Jugend und Familienpolitik (FS), da der Staatsrat diese Aufgaben in der Praxis nicht wahrnahm, sondern den Amtsleiter FS zwischengeschaltet hatte. 381 PUA-Abschlussbericht, Seite 493. 382 Akte BSF B-14; Die Beamten sorgten sich vor allem um die Entweichungen, aber auch um die personelle Ausstattung und Arbeitsfähigkeit des Familieninterventionsteams.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 78 -

Tatsächlich hat der Erste Bürgermeister der Einrichtung aber keine Aufmerksamkeit geschenkt; so war ihm beispielsweise in seiner Vernehmung nicht bekannt, welche Gruppe Jugendlicher in der GUF untergebracht wird (Er ging davon aus, die Einrichtung sei für die Vermeidung von Untersuchungshaft gedacht.)383 Er will die Fachsenatorin allenfalls „en passant“ darauf angesprochen haben, ob man die „Anfangsschwierigkeiten“ denn in den Griff bekäme.384

Bürgermeister von Beust hat in seiner Vernehmung ausgesagt, er habe erst Mitte Oktober 2005 – seinerzeit gab es Medienberichte über vom Arbeitsstab des PUA festgestellte Rechtsverstöße – wahrgenommen, dass es im Bereich der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße ernsthafte Probleme gegeben habe, denen er sich widmen sollte.385 Offenbar war nicht einmal die Einsetzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses Anlass für den Regierungschef gewesen, sich ernsthaft nach der Arbeit der Einrichtung, etwaigen Ergebnissen und möglichen Problemen, zu erkundigen.

In der Vergangenheit hatte er Vorwürfe über Missstände in Jugendheimen zum Anlass genommen, Rücktrittsforderungen anzukündigen. 386 Darauf angesprochen, Mitarbeiter einer Intensivbetreuten Wohnung (IBW) in Bergedorf seien mehrfach Opfer von Bedrohungen und gewalttätigen Übergriffen jugendlicher Heimbewohner geworden, hatte von Beust noch als Oppositionsführer unterstrichen: „Erhärten sich die Vorwürfe, werden wir den Rücktritt der Jugendsenatorin und der Justizsenatorin fordern.“387

In der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße sind mehr als 20 Minderjährige und über 50 in der Einrichtung tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Opfer von Gewalt geworden.388

383 Aussage von Beust Wortprotokoll Nr.18/43 vom 08.06.2007, Seiten 14, 19. 384 Aussage von Beust Wortprotokoll Nr.18/43 vom 08.06.2007, Seite 54. 385 Aussage von Beust Wortprotokoll Nr. 18/43 vom 08.06.2007, Seiten 25f., 43, 54: „Ich habe mich so lange nicht intensiv informiert, bis ich den Eindruck hatte – das habe ich schon mal zitiert – dass hier gehäuft Rechtsmissbräuche aufgetreten sind, Rechtsmissbräuche aufgetreten sind, nicht schon eine Vorstellung, sondern Rechtsmissbräuche aufgetreten sind, die ein Handeln notwendig machen. Das war im Oktober 2005.“ 386 Welt am Sonntag vom 29. August 1999, Seite 84. 387 Der historischen Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass eine Rücktrittsforderung in diesem Zusammenhang im Nachhinein nicht formuliert wurde. 388 PUA-Abschlussbericht, Seite 455.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 79 -

5. Von Beugehaft und Protokollaffäre – Besonderheiten der Untersuchung

5.1 Rolle der CDU-Fraktion Die sozialdemokratischen Mitglieder im PUA bedauern, dass die CDU-Bürgerschaftsfraktion nichts zur Untersuchung der Vorgänge in der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße und dem entsprechenden Senatshandeln beitragen wollte.

Die CDU-Mehrheit hat die Aufklärung der Missstände nicht unterstützt, sondern zunächst mit Anträgen versucht, den von den Oppositionsfraktionen formulierten Untersuchungsauftrag (Drs. 18/2017) um eine Überprüfung der in den Jahren 1981-2001 zur Bekämpfung der Jugendkriminalität ergriffenen Maßnahmen zu ergänzen (Drs. 18/2077). Nachdem die Bürgerschaftskanzlei und offenbar auch der Arbeitsstab des PUA389 in rechtlichen Expertisen zu dem Ergebnis gekommen waren, dass die von der CDU-Mehrheit beschlossenen Ergänzungen in weiten Teilen unzulässig waren, zog die CDU ihren Antrag zunächst teilweise, dann komplett zurück.

Die CDU-Mehrheit hat an einer objektiven Bestandsaufnahme der Situation in der Feuerbergstraße offenbar kein Interesse gehabt. Sie hat letztlich nichts zur Beweisaufnahme beigetragen. Der PUA hat weit über 50 Zeugen vernommen, die CDU-Abgeordneten haben nur eine Zeugin benannt: keine Vertreterin der Senatsseite, sondern die persönliche Mitarbeiterin des Obmanns der SPD-Fraktion im PUA.390

Berücksichtigt man zudem die Verzögerungen durch die Protokollaffäre391 und den Umstand, dass die CDU-Mehrheit selbst über die Terminierung der Sitzungen entschied, erscheint die Kritik der CDU über die Dauer der Untersuchung als wenig gerechtfertigt. Ähnliches gilt im Übrigen für die Klage der CDU-Mehrheit über die durch den Ausschuss verursachten Kosten: Diese entstehen vor allem durch die Beschäftigung von Mitarbeitern im Arbeitsstab. Die CDU-Fraktion hat selbst für eine Kostenexplosion gesorgt, als sie im Juni 2007 ohne Vorankündigung per Tischvorlage, ohne jede Begründung im Ausschuss und im Alleingang eine Verdoppelung der Mitarbeiterzahl beschloss.

389 Es hat sich herausgestellt, dass der Arbeitsstab des PUA offenbar eine Expertise erstellt und beschlossen hatte, welche den Oppositionsabgeordneten im PUA entgegen § 16 Absatz 2 des PUA-Gesetzes nicht übermittelt worden war. 390 Der Gegenstand ihrer Vernehmung soll hier kurz genannt werden, da er weder in den vom Arbeitsstab erstellten Ausführungen im Sachbericht noch in den von der CDU vorgenommenen Ergänzungen enthalten ist: Die CDU-Fraktion hatte ihre Anhörung im Sommer 2007 verlangt, weil sie sich zum Jahreswechsel 2004/05 in ihrer Eigenschaft als Deputierte der BSF mit einem Schreiben an die Sozialsenatorin gewandt hatte. Vor dem Hintergrund verschiedener Medienberichte über etwaige Vorkommnisse in der GUF hatte sie die Senatorin gebeten, die Heimaufsicht einzuschalten. Andere Mitglieder der BSF-Deputation wurden nicht im PUA als Zeugen geladen. 391 Siehe dazu im Folgenden unter Ziffer 5.4.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 80 -

5.2 Zeuge Innensenator a. D. Ronald Schill nicht auffindbar Dem Untersuchungsausschuss ist es nicht gelungen, den ehemaligen Innensenator und Zweiten Bürgermeister Ronald B. Schill als Zeuge zu vernehmen.

Als Präses der Behörde für Inneres im Zeitraum von der Inbetriebnahme der GU Feuerbergstraße Mitte Dezember 2002 bis Mitte August 2003 kam Herr Schill naturgemäß als Zeuge für den Untersuchungsgegenstand Betracht. Der PUA war zudem gehalten, ihn näher zu Vorgängen zu befragen, die er in der Plenarsitzung der Bürgerschaft am 25. Februar 2004 geschildert hat.392 Seinerzeit hatte der frühere Innensenator die Aufstockung der Einrichtung von zwölf auf achtzehn Plätze und die Zahl der Einweisungen als zu gering kritisiert. Obwohl die Polizei dem Familieninterventionsteam fast 2.000 schwer kriminelle Jugendliche gemeldet habe, habe dies nur zur 26 Anträgen und 16 Einweisungen geführt. Zudem sei es der zuständigen Sozialsenatorin Schnieber-Jastram nicht gelungen, die Einbringung fluchtsicher zu machen:393 „Wenn in dieser Koalition etwas gründlich danebengegangen ist, dann war es das geschlossene Heim. Man muss schon unter erheblichen Wahrnehmungsstörungen leiden, hier von einem Erfolg zu sprechen, wenn man 200 gesicherte Plätze ankündigt und es auf zwölf nicht gesicherte Plätze bringt, die nichts anderes sind als ein Haus der offenen Tür.“

Obwohl durch Medienberichte offenkundig war, dass Innensenator a. D. Schill sich in Brasilien aufhält, sind sämtliche Bemühungen, eine ladungsfähige Anschrift des Zeugen zu erlangen, fehlgeschlagen – von Nachfragen bei den Anwälten Schills in Deutschland über Erkundigungen bei brasilianischen Behörden und den dortigen Auslandsvertretungen der Bundesrepublik bis zu einer Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung gemäß § 131a Strafprozessordnung (um den Aufenthaltsort Schills in Erfahrung zu bringen, hätte er bei Einreise in das Schengen-Gebiet durch die Grenzkontrolle befragt werden können).

5.3 Zeuge Justizsenator (a. D.) Dr. Roger Kusch vor Gericht Der Untersuchungsausschuss war gezwungen, ein Beugehaftverfahren gegen den damaligen Justizsenator Dr. Roger Kusch anzustrengen. Kusch hatte sich in seiner ersten Vernehmung am 10. Februar 2006394 mehrfach geweigert, bestimmte Fragen der Abgeordneten zu beantworten. Danach hatte die qualifizierte Minderheit im PUA keine andere rechtliche Möglichkeit, eine Aussage zu erreichen, als einen Antrag auf Erzwingungshaft zu stellen.

392 Protokoll der Bürgerschaftssitzung vom 25.02.2004, Seite 3355. 393 „Irgendwann, nachdem ich wieder einmal im Senat interveniert hatte, habe ich dann nach vier Wochen beruhigt festgestellt, dass es aus der Feuerbergstraße keine Fluchten mehr gegeben hat. Da habe ich mich schon gefreut und mir gedacht, jetzt haben sie endlich Türen eingebaut, bis ich feststellte, in den letzten vier Wochen war gar keiner mehr drin. Das heißt, diese ganze Geschichte hat nur Unsummen Geld gekostet, aber effektiv sehr, sehr wenig gebracht, und zwar deswegen, weil Frau Schnieber-Jastram es sich natürlich in ihrer Sozialbehörde, die sie übernommen hat, mit niemandem verscherzen wollte“ (Protokoll der Bürgerschaftssitzung v. 25.02.2004, Seite 3355). 394 Wortprotokoll Nr. 18/17, Seite 22ff.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 81 -

Dr. Kusch hatte die Auskunft auf Fragen über Gespräche verweigert, die er mit anderen Mitgliedern des Senats über die GU Feuerbergstraße geführt hat. Stein des Anstoßes war die Frage des SPD-Abgeordneten Dr. Andreas Dressel:395 „Hatten Sie Kenntnis davon, dass der damalige Innensenator Schill mehrfach mit Schnieber-Jastram über die GUF gesprochen hat und dabei das unzureichende Sicherheitskonzept massiv kritisiert hat?“. Auf diese Frage hat Senator Kusch nicht geantwortet und sich auf den geschützten Senatsbereich berufen.

Eine Prüfung dieser Aussageverweigerung durch den Arbeitsstab ergab, dass diese Frage zulässig war und Kusch sie beantworten müsse. Der Zeuge dürfe nur dann die Aussage verweigern, wenn die Frage in Zusammenhang mit der Vorbereitung einer Senatsentscheidung stehe. Kusch müsse, so der Arbeitsstab, glaubhaft machen, dass eine solche Senatsentscheidung anstand. Der Zeuge Kusch hielt hingegen an seiner Rechtsauffassung fest und gab keine Auskünfte.

Da der Arbeitsstab die Rechtsauffassung der SPD und GAL unterstützt hatte, wendeten die Oppositionsfraktionen das – an dieser Stelle eindeutige – PUA-Gesetz an, das in einem ersten Schritt die Verhängung eines Ordnungsgeldes von 500 Euro vorsieht. Es wird dargestellt, dass in der Folge das Gesetz auch die Möglichkeit einer Beugehaft vorsieht. Ein Antrag auf Verhängung eines Ordnungsgeldes wurde mit Mehrheit der CDU abgelehnt.

Das PUA-Gesetz sieht vor, dass der Untersuchungsausschuss mit Minderheitenrecht beim Amtsgericht Hamburg Haft für die Erzwingung der Zeugenaussage vorsehen kann. Die GAL hat diesen Antrag gestellt; der Ausschuss hat diesen Antrag entsprechend § 25 Absatz 3 PUA-Gesetz beschlossen und einige Tage später beim Amtsgericht Hamburg eingereicht,396 um die Aussagepflicht des Justizsenators gerichtlich feststellen zu lassen.

Letztendlich hat der Senat dem Zeugen Kusch mit Beschlüssen vom 13. April 2006 (erweiterte Aussagegenehmigung) und vom 4. Mai 2006 (uneingeschränkte Aussagegenehmigung) gestattet, im PUA vollständig und „auch insoweit auszusagen, als die Behandlung des Beweisthemas auf Ebene des Senats oder in unmittelbarer Vor- und Nachbereitung einer Behandlung auf Ebene des Senats in Frage steht“.397 Da er somit von der Pflicht entbunden war, bestimmte Senatsinterna vor Blicken von außen zu schützen, konnte er sich hierauf nicht mehr berufen und musste aussagen.

Der Zeuge Dr. Kusch wurde am 5. Mai 2006 erneut vernommen;398 das Verfahren beim Amtsgericht wurde sodann – da faktisch erledigt – beendet.399

395 Der Abgeordnete Dressel war wie die Abgeordnete Gesine Dräger für die SPD-Fraktion zunächst Mitglied im PUA Geschlossene Unterbringung Feuerbergstraße. Als der zur Protokollaffäre von der Bürgerschaft eingesetzte Untersuchungsausschuss seine Arbeit aufnahm, wechselten beide Abgeordneten in diesen Ausschuss. 396 Az 162 Gs 177/06. 397 Vgl. Schriftliche Kleine Anfrage des Abg. Dressel, Drs. 18/4266. 398 Wortprotokoll 18/22 vom 5. Mai 2006, Seite 3ff. 399 Schreiben des Amtsgericht Hamburg an den PUA vom 12. Juni 2006.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 82 -

5.4 Protokollaffäre Anfang März 2006400 wurde bekannt, dass Behörden vertrauliche Protokolle und Unterlagen dieses Untersuchungsausschusses angefordert haben, welche dann auf Senatsseite kursierten. Infolge der Vorgänge um die Protokollaffäre verzögerte sich die Beweisaufnahme im PUA Feuerbergstraße um rund vier Monate, da der Ausschuss gezwungen war, seine eigentliche Untersuchung zu unterbrechen und die vorangegangenen Zeugenaussagen zu überprüfen.

Es musste festgestellt werden, dass diverse Mitarbeiter der Senatskanzlei, der Sozialbehörde und der Justizbehörde im Besitz von Vernehmungsprotokollen des PUA waren und – bis hin zu Amtsleitern – in diesen gelesen hatten. Des Weiteren war ein vertrauliches Vernehmungsprotokoll zunächst innerhalb der Justizbehörde und dann aus der Verwaltung heraus an zwei externe Personen versandt worden. Der rund 50-seitige Vermerk Nr. 18 des Arbeitsstabes war laut Senatsauskunft auf Veranlassung der Behördenleitung der BSF gezielt aus dem Bereich des Untersuchungsausschusses, wahrscheinlich aus dem Kreis der Mitarbeiter der CDU-Bürgerschaftsfraktion beschafft worden.401 Die in diesem Vermerk getroffenen Feststellungen (über die Einweisung Minderjähriger ohne rechtsgültige Gerichtsbeschlüsse) waren letztlich Anlass für die Leitung der Sozialbehörde, mit Prof. Bernzen einen externen Gutachter mit einer Überprüfung der Arbeit in der GU Feuerbergstraße zu beauftragen.

Nicht geklärt werden konnte in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer Krisensitzung, welche der Erste Bürgermeister nach eigener Aussage402 am 11. Oktober 2005 einberufen hat. Nachdem Medien über die Feststellungen des Vermerks berichtet hatten,403 will Bürgermeister von Beust die Sozialsenatorin, den Sozialstaatsrat sowie den Chef der Senatskanzlei zu einem Gespräch am folgenden Tag gebeten haben. Dabei sei es darum gegangen, aufzuklären, was es mit den von den Medien genannten Rechtsverstößen auf sich habe, und die Schwierigkeiten abzustellen. Diese Darstellung wirft insofern Fragen auf, als ein derartiges Krisengespräch zuvor von niemandem erwähnt worden war und sich die Senatorin in jenen Tagen gar nicht zu einer solchen Sitzung hätte einfinden können, da sie sich dienstlich in der Türkei aufgehalten hat. Weitere Auskünfte zu diesem Gespräch hat der Senat auf Nachfragen verweigert.404

Im Zuge der Affäre wurde zunächst am 20. März 2006 der Staatsrat der Sozialbehörde, Klaus Meister, entlassen; eine Woche darauf folgte die Entlassung des Justizsenators Dr. Roger Kusch. Zur Aufklärung der Vorgänge setzte die Bürgerschaft mit Beschluss vom 12. April 2006 einen weiteren Untersuchungsausschuss ein (Drs. 18/3989), der seinen Bericht im Sommer 2007 vorgelegt hat (Drs. 18/6800). Auf diesen Bericht – und insbesondere das darin enthaltene Minderheitenvotum – wird hier zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen.

400 Vgl. Wortprotokoll des PUA 18/19 vom 3. März 2006, Seite 78 ff. 401 Antwort auf die Schriftliche Kleine Anfrage des Abg. Böwer, Drs. 18/3919. 402 Wortprotokoll des PUA 18/43 vom 8. Juni 2007, Seite 25. 403 Berichterstattung NDR Hörfunk sowie Hamburger Abendblatt vom 10.10.2005. 404 Schriftliche Kleine Anfragen der Abg. Böwer und Dressel, Drs. 18/6543 sowie 18/6606.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 83 -

5.5 Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Die Untersuchungen des PUA haben zu Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Bezug auf Vorgänge im Bereich der GU Feuerbergstraße geführt. So wurden im Frühsommer 2005 Vorermittlungen zur Vergabe von Psychopharmaka an Minderjährige in der Einrichtung aufgenommen, im Oktober 2005 griffen die Strafverfolgungsbehörden auch Vorwürfe der Freiheitsberaubung auf.405

Der Untersuchungsausschuss hat die Vorermittlungsverfahren – wie in § 30 Abs. 5 PUA-Gesetz vorgesehen – dadurch unterstützt, dass der Staatsanwaltschaft Akteneinsicht gewährt und erforderliche Auskünfte erteilt wurden. Die Unterstützung der Sozialbehörde erfolgte nicht immer prompt: So wurden von der Staatsanwaltschaft beantragte Aussagegenehmigungen zwar zügig von der Rechtsabteilung der Sozialbehörde erteilt; sie wurden der Strafverfolgungsbehörde aber erst übermittelt, als es eine parlamentarische Anfrage zu diesem Vorgang gab.406

Im Ergebnis führte die Vergabe von Psychopharmaka an in der GU Feuerbergstraße betreute Minderjährige am 23. Juni 2005 zu Vorermittlungen wegen möglicher Körperverletzung (§ 223 StGB) bzw. Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) in fünf Fällen.407 Das Vorermittlungsverfahren wurde am 30. Mai 2007, also zwei Jahre nach seiner Aufnahme, abgeschlossen. Gegen einen Jugendpsychiater ist ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der Körperverletzung bzw. der versuchten Körperverletzung in zwei Fällen eingeleitet worden, das im Sommer 2007 noch nicht abgeschlossen war.408

Infolge der Berichterstattung über Feststellungen des Arbeitsstabes (Vermerk Nr. 18) zu Einweisungen Jugendlicher ohne rechtswirksame Gerichtsbeschlüsse wurden am 11. Oktober 2005 Vorermittlungen wegen Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) oder Vollstreckung gegen Unschuldige (§ 345 StGB) aufgenommen.409 Das Vorermittlungsverfahren war Ende Juni 2007 noch nicht zu einem Ergebnis gelangt.410

Schließlich wurde im Januar 2006 durch einen Hamburger Anwalt Strafanzeige wegen Freiheitsberaubung, Körperverletzung und Verletzung des Postgeheimnisses gestellt, welche offenbar in die bestehenden Vorermittlungen Eingang gefunden hat. Im Hinblick auf die HIV-Tests im Bereich der GU Feuerbergstraße hat die Staatsanwaltschaft im Übrigen kein Verfahren eingeleitet, da sie – nach den ihr vorliegenden Erkenntnissen – keinen Anfangsverdacht für eine Straftat sah.411

405 Zum Verlauf der Vorermittlungsverfahren vgl. Senatsantwort zur Anfrage des Abg. Böwer, Drs. 18/5024. 406 Senatsantworten auf die Anfragen des Abg. Böwer, Drs. 18/2904 und 18/2939. 407 Senatsantworten auf Anfragen der Abg. Steffen, Drs. 18/4006 und Böwer, Drs. 18/6267. 408 Senatsantwort zur Anfrage des Abg. Böwer, Drs. 18/6515, Ziffer 1. 409.Senatsantworten Drs. 18/4006 und Drs. 18/6267. 410 Senatsantwort Drs. 18/6515, Ziffer 1 411 Senatsantworten Drs. 18/6267 und Drs. 18/6515, Ziffer 3.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 84 -

5.6 Zustandekommen des Abschlussberichts Der Arbeitsstab des Untersuchungsausschusses war gezwungen, den Entwurf für den Abschlussbericht unter sehr hohem Zeitdruck zu erstellen, der sich vor allem durch eine allzu ehrgeizige Terminplanung der CDU-Mehrheit ergab. Im Ergebnis hat der Arbeitsstab daher wichtige Feststellungen aus eigenen Stellungnahmen – wie den Vermerk 18 über die zeitweilige Rechtswidrigkeit des Aufenthalts von 13 Minderjährigen in der GU oder die Ausarbeitung über Vorkommnisse im Zusammenhang mit dem Kind J11 – nicht ausreichend berücksichtigen und in den Abschlussbericht aufnehmen können.

Zudem hat sich in den Beratungen des PUA über den Bericht herausgestellt, dass die Leiterin des Arbeitsstabes maßgeblich Einfluss auf eine ganze Reihe von Formulierungen zur Bewertung der Vorgänge (im Abschnitt IX) genommen und für den Senat günstigere Feststellungen veranlasst hat, als ursprünglich im Arbeitsstab vereinbart worden war.412 Es hat Hinweise gegeben, dass es insoweit eine Einflussnahme aus der CDU-Fraktion auf den Text gegeben hat, bevor der Entwurf formal vom Arbeitsstab beschlossen und allen Mitgliedern des PUA übermittelt worden ist. Die CDU-Fraktion hat eine derartige Beteiligung auf Nachfrage nicht ausdrücklich verneint.413

412 Vgl. Wortprotokoll der Sitzung des PUA Nr. 18/57 vom 1. Oktober 2007. 413 Vgl. das Statement des Obmanns der CDU, Wortprotokoll der Sitzung des PUA Nr. 18/58 vom 4. Oktober 2007, Seite 5 und 7f.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 85 -

6. Fazit

Das Experiment der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße ist gescheitert, ein Neuanfang erforderlich.

Der Senat ist mit dem Versuch, eine Einrichtung der geschlossenen Heimerziehung isoliert nur für Hamburg verantwortungsbewusst einzurichten und erfolgreich zu betreiben, gescheitert – zu Lasten der betreuten Jugendlichen, auf dem Rücken der Mitarbeiter der GU und auf Kosten der Hamburger Steuerzahler.

Überhastete Inbetriebnahme

Die Eröffnung der Einrichtung im Dezember 2002 erfolgte übereilt und unter anhaltendem Druck aus CDU und Schill-Partei. Der politische Erwartungsdruck führte dazu, dass

• die Standortfrage niemals vorurteilsfrei geprüft wurde,

• zu keinem Zeitpunkt ernsthaft nach erfahrenen privaten Trägern gesucht wurde,

• konzeptionell die Erfahrungen süddeutscher Einrichtungen nicht ausreichend

verarbeitet wurden,

• von vornherein keine systematische Evaluation geplant und eine unabhängige

professionelle Begleitung vermieden wurde.

Undurchsichtige In-sich-Geschäfte

Ein weiterer Grundfehler war, die GUF als Einrichtung der Stadt zu betreiben. Die undurchsichtige Gemengelage aus politischer Leitung der Sozialbehörde, Fachabteilungen, Heimaufsicht, Landesbetrieb Erziehung und Berufsbildung (LEB) und der GUF selbst führte erkennbar zu „In-Sich-Geschäften“, Absenkungen der Standards der Heimaufsicht und unzulässigen politischen Beeinträchtigungen des pädagogischen Alltagsgeschäfts. Eine solche Konstruktion wäre außerhalb Hamburgs, z.B. in Bayern und Baden-Württemberg, nicht geduldet worden.

Systematische Rechtsverstöße

Erkennbar abwegig ist der Versuch der CDU-Mehrheit, die zahllosen Rechtsverstöße im

Betrieb der GUF und bei ihrer politischen Begleitung als Formalien auf der Arbeitsebene

oder in der Anfangsphase zu verniedlichen:

• Es steht fest, dass im Aufnahmeverfahren und während des Aufenthalts der Betreuten immer wieder gegen Gesetze verstoßen wurde; damit wurden jedenfalls in objektiver Hinsicht verschiedene Straftatbestände verwirklicht, etwa Freiheitsberaubung im Amt, Körperverletzung (u.a. durch nicht genehmigte Verabreichung von Psychopharmaka, Verletzung des Postgeheimnisses).

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 86 -

• Es steht fest, dass im laufenden Betrieb der GUF vorsätzlich arbeitsrechtliche Bestimmungen missachtet wurden, etwa das Arbeitszeitgesetz.

• Es steht fest, dass die Pressestelle der Sozialbehörde systematisch gegen die Maßgaben des Sozialdatenschutzes verstoßen hat. Das gilt insbesondere für die Umstände um einen damals erst 12-jährigen Jungen, über den aus unmoralisch motivierter Effekt-Hascherei Informationen an Medien gegeben wurden.

Es wird Aufgabe aller Beteiligten sein – der Heimaufsicht, der Personalvertretung, der Sorgeberechtigten, Verfahrenspfleger und Rechtsanwälte, der Familiengerichte, der Aufsichtskommission, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GUF und nicht zuletzt der Behördenleitung, der Staatsanwaltschaft und des Amtes für Arbeitsschutz – dafür Sorge zu tragen, dass die Geschlossene Unterbringung Feuerbergstraße kein rechtsfreier Raum ist.

Organisierte Verantwortungslosigkeit im „System GUF“

Der Versuch der CDU-Mehrheit, diese Rechtsverstöße auf fahrlässige Unkenntnis der Beteiligten zurückzuführen, ist ebenso durchsichtig wie durch die Fakten widerlegt: Tatsächlich waren diese Rechtsverstöße dem „System GUF“ immanent. Begünstigt durch die Anbindung des LEB und der GUF an die Sozialbehörde (und eine Zeit lang sogar an deren politische Führung direkt) und programmiert durch den politischen Druck, der auch nach der Bürgerschaftswahl 2004 nicht nachließ, waren die Rechtsverstöße im System eines vorauseilenden Gehorsams angelegt und nahezu erforderlich, um dem politischen Erwartungsdruck zu genügen. Die Leitung der Behörde tat weder vor Inbetriebnahme noch bei laufendem Betrieb so gut wie nichts, um Rechtsverstöße durch Aufklärung und Unterstützung zu vermeiden. Die Grundfehler bei Einrichtung und Betrieb der GUF rächten sich zwangsläufig. Die gravierenden Verstöße der Sozialbehörde gegen die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gegenüber den Beschäftigten der GUF kommen ergänzend hinzu.

Ein Fall für den Rechnungshof

Die Kosten der Unterbringung beliefen sich im Untersuchungszeitraum pro Minderjährigem und Monat auf ca. 25.000 Euro. Die Fortführung einer Einrichtung unter dieser – bundesweit sicher einzigartigen – finanziellen Belastung kommt einer Verbrennung von Steuergeldern gleich. Diese Kosten der GUF wurden an keiner Stelle in den Haushaltsansätzen der Hilfen zur Erziehung im Übrigen ausgeglichen und waren deshalb im Ergebnis aus den Budgets der bezirklichen Jugendämter zu tragen. Die Last der Show-Politik des CDU- Senats wurde den Eltern und Minderjährigen in den sieben Bezirken auferlegt, die die Unterstützung des Staates brauchen.

Die unangemessen hohen Kosten der GUF gehen vorrangig auf zwei Faktoren zurück:

• Zunächst verursacht der Einsatz eines privaten Sicherheitsdienstes erhebliche Kosten. Ein solcher Sicherheitsdienst in einer Einrichtung der Jugendhilfe ist bundesweit einmalig und ist insbesondere nicht geeignet, Gewalteskalationen zu verhindern. In diesem Einsatz lag der pädagogische Offenbarungseid einer Behördenleitung, die offenbar keinen Weg mehr sah, die Probleme mit pädagogischen Mitteln in den Griff zu bekommen.

Minderheitsbericht der Abgeordneten der SPD-Fraktion - 87 -

• Finanziell gravierend wirkt sich angesichts stabiler Fixkosten zudem aus, dass die Einrichtung in der Feuerbergstraße aus rein politischen Gründen am Bedarf vorbei geplant und ausgebaut wurde.

Das Problem der strukturellen Unterauslastung war bekannt; es wurde bereits in einem Strategiepapier der Innenbehörde aus dem Frühjahr 2003 angesprochen, das Senatskanzlei und die Leitung der Sozialbehörde spätestens im Sommer 2003 erreichte. Seit April 2005, dem Zeitpunkt der Einsetzung des Untersuchungsausschusses, wird versucht, der Unterauslastung mit der Aufnahme Minderjähriger aus anderen Bundesländern zu begegnen. Die Kosten können auf diese Weise kaum aufgefangen werden.

Finanziell betrachtet ist die GUF überdimensioniert; unter dem Aspekt einer sinnvollen pädagogischen Binnendifferenzierung bei vernünftigem Personaleinsatz, der die festgestellten gravierenden Fehler vermeidet (übermäßige Fluktuation, hohe Leistungsverdichtung, unverantwortliche außerordentlich hohe Krankenstände), ist sie hingegen zu klein. Dieses Dilemma ist einer isolierten Hamburger Einrichtung nicht zu beheben.

Der Standort war und ist nach wie vor ungeeignet. Die Geschlossene Unterbringung Feuerbergstraße ist umgehend zu schließen. In Kooperation der norddeutschen Bundesländer ist eine neue, moderne Einrichtung der geschlossenen Heimerziehung zu schaffen. Diese soll Minderjährigen, deren Kindeswohl (z.B. durch Verwahrlosung) bedroht ist, den betroffenen Eltern und der Öffentlichkeit diejenigen Hilfen gewähren, die nach dem Sozialgesetzbuch VIII der soziale Rechtsstaat unseres Grundgesetzes gewähren will und muss, und zwar

• kostengünstig,

• unter strikter Wahrung der Rechte der Betreuten und rechtsstaatlicher Grundsätze im Übrigen bei gleichzeitiger Wahrung der legitimen Interessen der Allgemeinheit am Schutz gegen Straftaten,

• im Rahmen des Systems der Hilfen zur Erziehung nach dem Sozialgesetzbuch VIII und nicht als „Kinderknast“,

• auf hohem pädagogischen Niveau und fachkundig begleitet.

Die übereilt in politischer Hysterie und getragen vom Opportunismus des Beust-Senats geschaffene Geschlossene Unterbringung Feuerbergstraße hatte von Beginn an keine reelle Chance, diesen Ansprüchen gerecht zu werden.