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Seite 1/30 Rechtswissenschaftliches Institut Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht Prof. Dr. iur. Sarah Summers Dozierende: Prof. Dr. iur. Sarah Summers PD Dr. iur. Gwladys Gilliéron PD Dr. Iur. Marc Jean-Richard-dit-Bressel Dr. iur. Omar Abo Youssef Dr. iur. Anna Coninx, MJur Dr. iur. Andreas Eckert Dr. iur. Ulrich Weder Übungen im Strafrecht und Strafprozessrecht Frühlingssemester 2016 Montag, 16-18 Uhr / Dienstag, 16-18 Uhr Bitte beachten Sie nachfolgende Hinweise: Die Sachverhalte 1 - 7 können als Fallbearbeitung schriftlich gelöst werden. Erforderlich ist hierzu eine Anmeldung auf OLAT. Die Einschreibung ist ab dem 14. Dezember 2014, 08:00 Uhr, möglich. Die Anzahl Anmeldungen pro Fall ist beschränkt. Die Fallbearbeitung ist dem Bereich öffentliches Recht im weiteren Sinne zugeordnet. Die einzelnen Fälle werden jeweils in zwei Doppelstunden besprochen (vgl. «Zeitplan und Gruppeneinteilung»). Die Dozierenden bleiben hierbei über das gesamte Semester hinweg in dem Hörsaal, der ihnen gemäss VVZ zugewiesen ist. Die Angaben werden darüber hinaus auf der Homepage des Lehrstuhls Summers aufgeschaltet, sobald die Hörsäle feststehen. Die Fallbearbeitung ist bis spätestens am Sonntag 14. Februar 2016 (entscheidend ist das Datum des Poststempels) einzureichen. Zu spät eingereichte Arbeiten werden nicht berück- sichtigt. Die korrigierten Arbeiten werden am Schluss der zweiten Doppelstunde der jeweili- gen Gruppe abgegeben oder können am Lehrstuhl Summers ab dem 25. Mai 2016 abgeholt werden. Die Fallbearbeitung darf maximal 20 Seiten (exklusiv Deckblatt, Sachverhalt, Verzeichnisse sowie Eigenständigkeitserklärung) bei Schriftgrösse 12 mit der Schriftart «Times New Ro- man» und einem Zeilenabstand von 1,5 umfassen. Zudem muss rechts ein Korrekturrand von 3.0 cm vorhanden sein. Dem Deckblatt müssen die Personalien des Bearbeiters (Name, Vor- name, Adresse, Semester, Matrikelnummer) sowie die Bezeichnung der Lehrveranstaltung entnommen werden können. Am Ende der Fallbearbeitung muss eine vom Verfasser oder der Verfasserin unterschriebene Erklärung mit folgendem Wortlaut angebracht werden: «Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende schriftliche Arbeit selbständig und nur unter Zu- hilfenahme der in den Verzeichnissen oder in den Anmerkungen genannten Quellen angefer- tigt habe. Ich versichere zudem, diese Arbeit nicht bereits anderweitig als Leistungsnachweis verwendet zu haben. Eine Überprüfung der Arbeit auf Plagiate unter Einsatz entsprechender Software darf vorgenommen werden.»

Übungen im Strafrecht und Strafprozessrechtffffffff-bdd6-40b6-0000...Seite 1/30 Rechtswissenschaftliches Institut Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht Prof. Dr. iur. Sarah

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Rechtswissenschaftliches Institut

Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht

Prof. Dr. iur. Sarah Summers

Dozierende:

Prof. Dr. iur. Sarah Summers

PD Dr. iur. Gwladys Gilliéron

PD Dr. Iur. Marc Jean-Richard-dit-Bressel

Dr. iur. Omar Abo Youssef

Dr. iur. Anna Coninx, MJur

Dr. iur. Andreas Eckert

Dr. iur. Ulrich Weder

Übungen im Strafrecht und Strafprozessrecht Frühlingssemester 2016

Montag, 16-18 Uhr / Dienstag, 16-18 Uhr

Bitte beachten Sie nachfolgende Hinweise:

Die Sachverhalte 1 - 7 können als Fallbearbeitung schriftlich gelöst werden. Erforderlich ist

hierzu eine Anmeldung auf OLAT. Die Einschreibung ist ab dem 14. Dezember 2014, 08:00

Uhr, möglich. Die Anzahl Anmeldungen pro Fall ist beschränkt. Die Fallbearbeitung ist dem

Bereich öffentliches Recht im weiteren Sinne zugeordnet.

Die einzelnen Fälle werden jeweils in zwei Doppelstunden besprochen (vgl. «Zeitplan und

Gruppeneinteilung»). Die Dozierenden bleiben hierbei über das gesamte Semester hinweg in

dem Hörsaal, der ihnen gemäss VVZ zugewiesen ist. Die Angaben werden darüber hinaus

auf der Homepage des Lehrstuhls Summers aufgeschaltet, sobald die Hörsäle feststehen.

Die Fallbearbeitung ist bis spätestens am Sonntag 14. Februar 2016 (entscheidend ist das

Datum des Poststempels) einzureichen. Zu spät eingereichte Arbeiten werden nicht berück-

sichtigt. Die korrigierten Arbeiten werden am Schluss der zweiten Doppelstunde der jeweili-

gen Gruppe abgegeben oder können am Lehrstuhl Summers ab dem 25. Mai 2016 abgeholt

werden.

Die Fallbearbeitung darf maximal 20 Seiten (exklusiv Deckblatt, Sachverhalt, Verzeichnisse

sowie Eigenständigkeitserklärung) bei Schriftgrösse 12 mit der Schriftart «Times New Ro-

man» und einem Zeilenabstand von 1,5 umfassen. Zudem muss rechts ein Korrekturrand von

3.0 cm vorhanden sein. Dem Deckblatt müssen die Personalien des Bearbeiters (Name, Vor-

name, Adresse, Semester, Matrikelnummer) sowie die Bezeichnung der Lehrveranstaltung

entnommen werden können. Am Ende der Fallbearbeitung muss eine vom Verfasser oder

der Verfasserin unterschriebene Erklärung mit folgendem Wortlaut angebracht werden:

«Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende schriftliche Arbeit selbständig und nur unter Zu-

hilfenahme der in den Verzeichnissen oder in den Anmerkungen genannten Quellen angefer-

tigt habe. Ich versichere zudem, diese Arbeit nicht bereits anderweitig als Leistungsnachweis

verwendet zu haben. Eine Überprüfung der Arbeit auf Plagiate unter Einsatz entsprechender

Software darf vorgenommen werden.»

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Bitte beachten Sie die Angaben zum Prüfungsstoff des Moduls Strafrecht II:

Allgemeine Lehren des Strafrechts als Grundlage für nachfolgende Gebiete aus dem Beson-

deren Teil des Strafgesetzbuch: Straftaten gegen das Eigentum und Vermögen (Art. 137-151,

156, 158 und 160 i.V.m. Art. 29, 172ter StGB), die Urkundendelikte (Art. 251-257, 317-317bis

StGB), die Kriminelle Organisation (Art. 260ter StGB), die Straftaten gegen die Rechtspflege

(Art. 303-311 StGB), die Strafbarkeit des Unternehmens (Art. 102 StGB), die Grundzüge der

Einziehung (Art. 69-73 StGB) sowie die allgemeinen Lehren des Strafprozessrechts und des

Gerichtsorganisation (GOG).

Die Fallbearbeitungen sind in gedruckter Form direkt dem jeweiligen Dozierenden sowie per E-Mail

als Worddokument oder PDFdokument an [email protected] sowie an die unten angegebene

E-Mailadresse des Dozierenden einzureichen (Sonntag 14. Februar 2016). Die Fallbearbeitungen,

welche von Dr. iur. Andreas Eckert, PD Dr. iur. Gwladys Gilliéron, Dr. iur. Omar Abo Youssef oder Dr.

Anna Coninx betreut werden, müssen in gedruckter Form beim Lehrstuhl von Prof. Dr. iur. Sarah

Summers sowie per E-Mail an [email protected] sowie an die unten angegebene E-

Mailadresse des Dozierenden eingereicht werden.

Nachfolgend finden Sie die Kontaktadressen der einzelnen Dozierenden:

Prof. Dr. iur. Sarah Summers, Treichlerstrasse 10, 8032 Zürich,

[email protected]

PD Dr. iur. Gwladys Gilliéron, c/o Lehrstuhl Summers, Treichlerstrasse 10, 8032 Zürich

[email protected]

PD Dr. iur. Marc Jean-Richard-dit-Bressel, Weststrasse 70, Postfach 9717, 8036 Zürich,

[email protected]

Dr. iur. Ulrich Weder, Molkenstrasse 15/17, Postfach 2251, 8026 Zürich,

[email protected]

Dr. iur. Omar Abo Youssef, Kellerhals Carrard, Rämistrasse 5, 8024 Zürich,

[email protected]

Dr. iur. Anna Coninx, M.Jur., c/o Lehrstuhl Summers, Treichlerstrasse 10, 8032 Zürich

[email protected]

Dr. iur. Andreas Eckert, c/o Lehrstuhl Summers, Treichlerstrasse 10, 8032 Zürich,

[email protected]

Für weitere Fragen steht Ihnen der Lehrstuhl Summers gerne zur Verfügung.

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Fall 1

Prof. Dr. iur. Sarah Summers

Sachverhalt

Andrej, Fjodor und Irina sind im Vorstand des Vereins FRU (Freiheit für die Russen in der Ukraine),

welcher Sitz in Zürich hat, engagiert. Politisch setzt sich der Verein für die Abspaltung der Ostukraine

und den Anschluss an Russland ein.

Um die russische Bevölkerung in der Ostukraine zu unterstützen, werden vom Verein humanitäre

Güter (Nahrungsmittel, Kleider etc.) angekauft und in die Ukraine versandt. Finanziert werden die

Güter durch Spenden von Vereinsmitgliedern.

Während Andrej die Spendenbereitschaft seiner Landsleute mit Hilfe seines Charmes hervorruft, sind

Fjodor und Irina der Überzeugung, das Spenden sei in diesen schwierigen Zeiten eine Pflicht jedes

Landsmannes und jeder Landsfrau. Endsprechend fordern diese beiden bei Hausbesuchen und in

Gesprächen mit den Vereinsmitgliedern diese eindringlich zu minimalen Spenden von Fr. 150.00 pro

Monat auf. Landsleute und insbesondere Vereinsmitglieder, welche spenden würden namentlich im

Internet publik gemacht. Jede Person müsse sich möglicher Folgen der Nichtpublikation ihres Na-

mens selbst bewusst sein. Mehrere Personen wollen sich nicht einer Art Ächtung unter den Landsleu-

ten (Nichtnennung ihrer Namen) ausgesetzt sehen, befürchten Ausgrenzung oder wirtschaftliche

Nachteile für ihre Kleinbetriebe und bezahlen widerwillig.

Andrej überzeugt verschiedene Vereinsmitglieder davon, in ihrem eigenen Namen, d.h. persönlich

Kredite bei der Bank CASH aufzunehmen, diese Geldbeträge aber ganz oder teilweise dem Verein

zur Verfügung zu stellen. Die einzelnen Vereinsmitglieder handeln in der Überzeugung der Sache zu

dienen und willigen auch in das Vorgehen ein, da Andrej ihnen in Aussicht stellt, dass der Verein die

Rückzahlung erledigen wird.

Die Vertragsabschlüsse werden über Dunja, welche ein Büro für Kreditvermittlung führt, abgewickelt.

Die Vereinsmitglieder stellen Dunja ihre Ausweispapiere, Lohnbelege und sonst benötigte Unterlagen

zur Verfügung und unterzeichnen selbst die Kreditanträge. In denjenigen Fällen, in welchen für eine

Gewährung des Kredites zu geringe Einkünfte vorliegen, fabriziert Dunja zusätzliche Lohnabrechnun-

gen aus einem Nebenjob beim Verein. Die Bank CASH ist natürlich interessiert Kredite zu vergeben

und zahlt über ca. fünf Jahre in über 150 Fällen die beantragten Kredite aus.

Die Geldbeträge werden von den einzelnen Vereinsmitgliedern bar bezogen und dann direkt Andrej

übergeben. Dieser lässt das Geld via die Wechselstube Quick GmbH an den Schwesterverein nach

Donezk überweisen. Das Formular A (wirtschaftliche Berechtigung) wird von Igor, dem Betreiber der

Wechselstube, auf den Namen des jeweiligen Spenders ausgefüllt, als Gründe der Überweisung gibt

Igor jeweils persönliche Angelegenheiten der Spender (Hausbau, Heirat oder Ähnliches) an.

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Wie geplant können die Rückzahlungen der Kredite über die sonstigen Spenden finanziert werden

und so verläuft alles anstandslos.

Dr. Stierli, Vize-Chef der Compliance Abteilung der Bank CASH weiss um das Engagement des Ver-

eins. Er kennt sowohl Andrej als auch Igor und ist erfreut über das Kreditvolumen, das vergeben wer-

den kann. Ihm ist zu Ohren gekommen, dass in den Kreditdossiers häufig Lohnbelege aus Nebenein-

künften beim Verein zu finden sind.

Er wundert sich darüber, da er weiss, dass der Verein eine sehr schlanke Verwaltung hat. Trotzdem

weist er mit der Kontrolle befasste Personen der Bank an, Kredite grosszügig zu vergeben. Aufgrund

der bis anhin anstandslosen Abwicklung geht es ihm darum, dass die Bank CASH mit der Kredit-

vergabe auch weiterhin ein gutes Geschäft macht.

Andrej, welcher einen sehr aufwändigen Lebensstil führt und Geldschwierigkeiten hat, behält in der

Folge verschiedene Male, kleinere und grössere Beträge für sich und liefert so nur Teile der Kredite

bei der Wechselstube ab.

Da sich die Situation in der Ostukraine zusehends entspannt, nehmen die Spendeneinnahmen des

Vereins ab. Zusammen mit den von Andrej privat beanspruchten Beträgen entsteht ein Finanzie-

rungsloch, welches dazu führt, dass die bei der Bank CASH aufgenommenen Kredite nicht weiter

zurückbezahlt werden können. Der Verein versucht zuerst noch, den Verpflichtungen nachzukommen,

löst sich dann aber nach Streitereien über die Vorgehensweise auf. Die Bank CASH beschreitet ge-

gen die vertraglich genannten Kreditnehmer den Rechtsweg und muss einen Verlust von zwei Millio-

nen Schweizerfranken akzeptieren.

Es wird in der Folge ein Strafverfahren gegen die ehemaligen Vereinsmitglieder, Andrej, Fjodor und

Irina, die Vermittlerin Dunja und Igor, den Betreiber der Wechselstube eingeleitet. Im Verfahren wird

auch Dr. Stierli befragt. Obwohl er die Abläufe genau kannte, sagt er als Zeuge aus, dass er nichts

zum Verfahren beitragen könne. Im Strafverfahren stellt sich schliesslich heraus, dass Dr. Stierli

blauäugig auf das weitere Funktionieren der Geldmaschine vertraut hat. Das Strafverfahren wird auf

Dr. Stierli ausgedehnt.

Materiellrechtliche Frage:

Hat sich jemand strafbar gemacht?

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Prozessrechtliche Fragen:

1. Durchsuchung / Untersuchung

Als X an der Haustüre der A, welche wegen schweren Widerhandlungen gegen das Betäubungsmit-

telgesetz verhaftet wurde, läutet, treten drei Polizeibeamte in zivil auf ihn zu und bitten ihn Ihnen ins

Hausinnere zu folgen. X gibt keine Auskunft, warum er A besuchen wollte, der polizeilichen Forde-

rung, sich auszuweisen und die Taschen zu leeren kommt er noch im Hauseingang nach. X geht

auch auf die weitere Forderung seine Kleider ganz abzulegen ein. X weigert sich in der Folge aber,

sich nackt vorne über zu beugen. Die Polizisten bringen X in der Folge auf die Wache, d.h. nehmen

ihn vorläufig fest.

Die Staatsanwaltschaft eröffnet ein Verfahren wegen Verdachts auf Betäubungsmittelhandel und

ordnet daraufhin eine ärztliche Untersuchung von X inkl. bildgebendes Verfahren. Als Verdacht wird

„Bodypacking“ angegeben. Im Spital gibt X an, dass er keine Drogen in sich trage und gegen die

Massnahme sei, kooperiert bei der Ausführung derselben aber. Die ärztliche Untersuchung entkräftet

den Verdacht.

Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren mangels Beweisen ein, verweigert X aber eine Genugtu-

ung und auferlegt ihm die Kosten von Fr. 1'000.00.

Soll X gegen die Einstellungsverfügung vorgehen? Wenn ja, wie?

2. Kosten

a. Gegen Anwalt A wird ein Strafverfahren eröffnet, er wird der Geldwäscherei beschuldigt. Gemäss

der Anklageschrift soll er gewusst haben, dass das Geld, welches er als Vorschuss für sein Honorar

entgegengenommen hat, aus einem Verbrechen stammte. A wird freigesprochen, die Kosten des

Verfahrens werden ihm auferlegt. Wie kann sich A dagegen wehren?

b. Der arbeitslose X fährt auf der Autobahn A1 Richtung Zürich. Er nervt sich wegen des vielen Ver-

kehrs und entscheidet sich, auf den Pannenstreifen auszuweichen. Er überholt so mehrere Autos,

ehe er wieder einspurt.

Beim Einspuren kommt es zu einer Kollision mit einem korrekt fahrenden anderen Fahrzeug. Dieses

erleidet nur einen geringfügigen Schaden, das eigene Fahrzeug von X wird dagegen total beschädigt.

Es entsteht kein Personenschaden. X anerkennt von Anfang an sein Verschulden und gesteht sein

Fehlverhalten im Strassenverkehr ein. Er anerkennt die Verletzung des Strassenverkehrgesetzes.

Der Staatsanwalt beauftragt trotzdem das forensische Institut ein verkehrstechnisches Gutachten zu

verfassen. Zudem befragt er 25 Personen als Zeugen zum Unfallhergang. Die Beweismassnahmen

führen nicht zu einem anderen Schluss.

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X wird wegen einer groben Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG verurteilt.

Ihm werden die Kosten der Untersuchung und des Gerichtsverfahrens (Gutachten Fr. 20'000; Vorver-

fahren Fr. 8'000, Gerichtsverhandlung Fr. 2'000; Kosten der unentgeltlichen Verbeiständigung der

Privatklägerschaft Fr. 8’000) auferlegt. Kann er etwas dagegen machen?

c. B erstattet Strafanzeige und Strafantrag gegen seine Ehefrau C, woraufhin die Staatsanwaltschaft

gegen diese eine Strafuntersuchung wegen Drohung und Tätlichkeiten einleitet. C bestreitet jegliche

tatbestandsmässige Handlung. B erklärt später im Rahmen einer Eheschutzkonvention sein Desinte-

resse an der Weiterführung des Strafverfahrens gegen seine Ehefrau. Die Staatsanwaltschaft stellt

das Verfahren gegen C daher in Anwendung von Art. 55a StGB provisorisch, später definitiv ein. Die

Verfahrenskosten auferlegt sie C. Die Einzelrichterin in Strafsachen des Bezirks Bülach weist das

Gesuch von C um gerichtliche Beurteilung der Kostenfolge am 11. August 2009 ab und auferlegt ihr

auch die Gerichtskosten. Wie kann C gegen diesen Entscheid vorgehen?

3. Verteidigung

a. Der Polizist P führt im Rahmen einer Strafverfolgung wegen versuchten Diebstahls, Diebstahls

und Widerhandlungen gegen das Ausländergesetz eine Befragung von X als beschuldigte Person

durch. X ist arbeitslos und hat Schulden in der Höhe von Fr. 30'000.00. P informiert X, dass er zwar

das Recht auf einen Anwalt habe, relativiert dies aber im gleichen Satz mit der Aussage: „Sie sollen

aber schon wissen, ein Anwalt ist teuer und wird das ganze Verfahren nur verlangsamen“. X sagt bei

der Polizei ohne Beizug eines Anwaltes aus und belastet sich mit seinen Aussagen. Anlässlich der

ersten Einvernahme bei der Staatsanwaltschaft verweigert X dann die Aussage und sagt, er wolle

nun einen Anwalt. Die Einvernahme wird abgebrochen und es wird zugewartet bis der Verteidiger

anwesend ist. Was kann der Anwalt noch unternehmen?

b. Spielt es eine Rolle, ob die Aussagen von X bei der Polizei ‚belastender Natur’ sind?

c. Der beigezogene Anwalt stellt im Namen der Beschuldigten während der Befragung ein Gesuch

um Bestellung als amtlicher Verteidiger. X wird am nächsten Tag mit Strafbefehl wegen Diebstahls

schuldig gesprochen und mit einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen bestraft. Das Verfahren wegen

versuchten Diebstahls wird eingestellt. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich weist das

Gesuch um amtliche Verteidigung ab. Was kann X gegen diesen Entscheid machen? Wie wird er

sein Vorgehen begründen?

4. Verteidigung II

a. B wird als Auskunftsperson von der Polizei befragt. Während der Befragung wird klar, dass B mit

einem versuchten Mord in Zusammenhang steht. Der Polizist will sicherstellen, dass später alle Aus-

sagen verwendet werden können. Er bricht die Einvernahme ab und informiert die Staatsanwaltschaft,

dass sich ein schwerwiegender Tatverdacht gegen B ergeben habe. Der Staatsanwalt weist den Poli-

zisten an, B nochmals auf sein Recht auf einen Anwalt aufmerksam zu machen. B schlägt dies in den

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Wind und sagt, er brauche keinen Anwalt, er wolle reinen Tisch machen. Der wiederum beigezogene

Staatsanwalt findet, dies sei eine gute Idee. B gibt schliesslich zu, den Mord begangen zu haben. Die

Staatsanwaltschaft bestellt nun den Anwalt X. Wie wird dieser argumentieren?

b. F wird wegen versuchten Raubes angeklagt. Die Staatsanwaltschaft fordert in der Anklageschrift

eine Freiheitsstrafe von zwölf Monaten. F erscheint an der Hauptverhandlung ohne einen Anwalt. Der

Richter fragt F, warum sie nicht verbeiständet sei? F antwortet, dass sie nicht genügend Geld habe

und fragt, ob ein Anwalt ihr etwas gebracht hätte. Der Richter antwortet: „Geschadet hätte es sicher

nicht, aber es ist jetzt eben so, ich werde auch die Sachen die für Sie sprechen würdigen. F wird we-

gen versuchten Raubes zu einer milden Strafe verurteilt. Hat der Richter richtig gehandelt?

5. Teilnahmerechte bei Befragungen

a. P wird als Auskunftsperson von der Polizei befragt. Es geht dabei um ein Ermittlungsverfahren

gegen A wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. Der Anwalt von A erfährt auf

Umwegen von der polizeilichen Befragung und will an der Befragung teilnehmen. Die Polizei lässt ihn

nicht zu.

In der Folge eröffnet die Staatsanwaltschaft mehrere Strafverfahren, in welchen die in unterschiedli-

chen Chargen begangenen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz von P und A unter-

sucht werden. Der Anwalt von A beantragt wiederum die Teilnahme an den Befragungen von P. Die

Staatsanwaltschaft weist dies mit Verweis auf die getrennt geführten Verfahren ab.

Was kann Anwalt A unternehmen?

6. Übersetzung

a. D ist beschuldigte Person in einem Strafverfahren, welches wegen Insiderhandels geführt wird. Da

sie nur englisch spricht, beantragt sie im Rahmen der Untersuchung die Übersetzung des Protokolls

einer Zeugeneinvernahme, an welcher sie selbst anwesend war. Der Antrag wird von der Staatsan-

waltschaft mit der Begründung abgewiesen, dass die Einvernahme ja bereits mündlich übersetzt wur-

de. Was kann D dagegen machen? Wie wird sie argumentieren müssen?

b. An der Hauptverhandlung erscheint wiederum eine wichtige Zeugin. Die anwesende Übersetzerin

fasst aufgrund einer Weisung des Vorsitzenden die Aussagen der Zeugin lediglich am Ende der Be-

fragung sinngemäss zusammen. D ist mit diesem Vorgehen nicht einverstanden. Was kann sie ma-

chen? Wie wird sie argumentieren?

c. D wird verurteilt und im Entscheid des Bezirksgerichts werden die Kosten der Übersetzerin D aufer-

legt. Zu Recht?

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Fall 2

PD Dr. iur. Gwladys Gilliéron

Sachverhalt

Ende 2014 ist Jus-Student John (J) pleite. Zur Behebung dieses Zustandes beschliesst er, den vor

kurzem von seinen Geschwistern zum Geburtstag geschenkten Staubsauger der Firma Miele (Wert:

450 CHF) zu verkaufen. J zieht einen grünen Kittel an, nimmt den noch in der Originalverpackung

steckenden Staubsauger unter den Arm und begibt sich in ein Altersheim der Stadt Zürich. Dort klin-

gelt er an der Wohnungstür der Oma Ursula (U). Als U öffnet, erklärt J, er käme von der Firma Miele

und könne ihr im Rahmen einer einmaligen Werbeaktion diesen Qualitätssauger zum Sonderpreis

von 450 CHF anbieten. Der Listenpreis läge bei 600 CHF. U lässt sich wegen der Einmaligkeit dieser

vermeintlichen Chance nicht lange bitten, zumal sie seit einiger Zeit tatsächlich einen neuen Staub-

sauger benötigt. U erwirbt gegen Zahlung von 450 CHF von J, der den Wert des Staubsaugers irr-

tümlich auf maximal 350 CHF schätzt, das Gerät. Ohne die Erklärung des J in Bezug auf das Son-

derangebot hätte U den Staubsauger nicht gekauft.

Neben der Tatsache, dass J pleite ist, ist er im Studium auch nur mässig erfolgreich. J beabsichtigt,

im Frühling 2015 die Prüfung im Modul Strafrecht I abzulegen. Angesichts seines spärlichen

Fachwissens rechnet er sich jedoch kaum Chancen aus, die Strafrechtsprüfung auf ehrliche Weise

mit einer genügenden Note zu bestehen. Deshalb beschliesst er, seinem Glück ein wenig

nachzuhelfen. Er verabredet mit seinem Jus Kollegen Matthias (M), der zwar ebenfalls bescheidene

Grundkenntnisse im Strafrecht hat, folgenden Plan: 20 Minuten nach Ausgabe der Aufgabenzettel

bringt J dem auf der Toilette wartenden M das Blatt mit dem Aufgabentext. M fertigt sodann die

Lösung an, die sich J etwa 10 Minuten vor Abgabe wieder abholt und, nachdem er seine Unterschrift

unter den von M gefertigten Text gesetzt hat, abgibt. Es geschieht alles wie geplant. Für die

Erstellung der Lösung wird eine Entschädigung von CHF 200 vereinbart, wobei das Geld aus dem

Verkaufserlös des Staubsaugers stammt und dem M sofort ausbezahlt wird. M weiss zwar, dass J

seit einiger Zeit mit Geldproblemen zu kämpfen hat und wundert sich, wie er ihm eine solche Summe

geben kann. Er geht davon aus, dass J als Jus-Student dieses Geld aber nicht auf illegale Weise

erworben hat. Für den Fall einer genügenden Bewertung der Prüfung wurde ein Erfolgshonorar von

CHF 200 verabredet. In der Folge wird die Prüfung erstaunlicherweise mit „genügend“ bewertet. J

erklärt dem M wahrheitswidrig, die Prüfung sei schlecht und mit einer 2 benotet worden und M habe

sich sein Erfolgshonorar somit nicht verdient. M zweifelt zwar im ersten Augenblick an diesem

Ergebnis, da er eigentlich ein gutes Gefühl bei der Prüfung hatte, dann glaubt er angesichts seiner

spärlichen Kenntnisse im Strafrecht aber dem J ohne sich die Bewertung zeigen zu lassen.

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Dank der genügenden Bewertung der Strafrechtsprüfung schliesst J im Juli 2015 sein

Bachelorstudium erfolgreich ab und beabsichtigt sich in einer renommierten Anwaltskanzlei für ein

Sommerpraktikum zu bewerben. Bedauerlicherweise sind seine Bachelornoten nicht so überragend

ausgefallen, so dass er auf die Idee kommt, die Zeugnisnoten im Privat- und im Strafrecht zu ändern,

indem er diese von einer 4 auf eine 5 anhebt. Dazu fertigt er mit seinem Computer zweimal eine 5 in

der Schriftart des Bachelorzeugnisses an und druckt diese jeweils auf einem Klebeetikett aus. Die

beiden 4 überklebt er anschliessend mit diesen Etiketten, welche allerdings aufgrund des

ausgetrockneten Klebstoffs nicht lange haften werden. Anschliessend kopiert er das Zeugnis. Die

Kopie lässt sich vom Original nicht mehr unterscheiden. Selbst der Stempel der Universität Zürich

und die Unterschriften der Dekanin und des Rektors wirken täuschend echt. J ist begeistert über

seine kreative Arbeit. Doch die Freude währt nicht lange. Schnell fällt J auf, dass die Arbeit in einer

Anwaltskanzlei lange Arbeitszeiten bedeutet. Er entschliesst sich, auf eine Bewerbung in einer

renommierten Anwaltskanzlei zu verzichten und vernichtet die Fälschung.

Während den Semesterferien geht J keiner Arbeit nach und kann sich demzufolge die Studienbücher

für den Masterstudiengang kaum leisten. Am Anfang des Herbstsemesters 2015 begibt er sich in die

Buchhandlung Schulthess. Er interessiert sich für zwei Bücher. Ein Buch steckt er in seinen

Rucksack. An der Kasse legt er lediglich ein Buch vor und bezahlt das andere Buch, wie von Anfang

an beabsichtigt, nicht. Sodann wird J vom Ladendetektiv (L), der den ganzen Vorgang beobachtet

hat, an der Kasse angehalten und zur Rede gestellt. Um keine Schwierigkeiten mit der Polizei zu

bekommen und das Buch behalten zu können, verpasst J dem L einen schmerzhaften Tritt gegen das

Knie und flieht aus der Buchhandlung.

Materiellrechtliche Frage:

Strafbarkeit J und M nach dem StGB? Die Körperverletzung ist nicht zu prüfen. Eventuell

erforderliche Strafanträge sind gestellt.

Prozessrechtliche Fragen:

1) Bei der Flucht aus der Buchhandlung trifft J auf zwei Polizisten, die sich in unmittelbarer Nähe des

Geschehenen aufhielten. Diese nehmen J fest.

a) Durften die Polizisten J festnehmen?

b) Was haben die Polizisten nach der Festnahme vorzukehren?

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2) Die Staatsanwaltschaft eröffnet ein Strafverfahren gegen J in Bezug auf das Geschehen in der

Buchhandlung Schulthess. Zwecks Einvernahme wird J von der Staatsanwaltschaft vorgeladen.

a) Welche Formalitäten hat die Staatsanwaltschaft zu beachten?

b) Ändern sich die Formalitäten, wenn die Vorladung von der Polizei

b1) im polizeilichen Ermittlungsverfahren ausgeht?

b2) nach formell eröffneter Untersuchung ausgeht?

c) Kann gegen eine Vorladung ein Rechtsmittel ergriffen werden?

d) Was geschieht, wenn J der Vorladung nicht Folge leistet?

In Ergänzung des obigen Sachverhalts wird folgendes angenommen: Um seinen Lebensunterhalt zu

bestreiten, beschliesst J mit zwei weiteren Jus-Kollegen im Internet einen „Fake-Shop“ zu betreiben.

J baut den Fake-Shop auf und betreibt ihn, seine beiden Kollegen kümmern sich um die Konten und

das Abheben der Gelder. J geht dabei so vor, dass er mit einer Software die Warenangebote echter

Shops kopiert und nur noch die Preise heruntersetzt. Gegen Vorauskasse wird die Ware den Kunden

zu einem unschlagbar günstigen Preis angeboten. Die Kunden erhalten die Ware aber natürlich nie.

Nach ein paar Monaten fliegt der Schwindel von J und seinen Kollegen auf.

3) Die Staatsanwaltschaft Zürich eröffnet ein Verfahren gegen J und seine beiden Kollegen. Sie

werden nach einer ersten polizeilichen Befragung zur Einvernahme dem zuständigen Staatsanwalt

vorgeführt.

a) J verlangt bereits vor der Befragung durch die Polizei, mit einem Anwalt sprechen zu

können. Ist diesem Wunsch nachzukommen? Ist dem J zwingend ein Verteidiger zu

bestellen?

b) Haben die Beschuldigten Anspruch bei den Einvernahmen des jeweiligen anderen

teilzunehmen:

b1) bei der ersten polizeilichen Einvernahme?

B2) bei der staatsanwaltlichen Einvernahme?

4) Im Strafverfahren gegen J beantragt der zuständige Staatsanwalt dem

Zwangsmassnahmengericht die Anordnung der Untersuchungshaft.

a) Innerhalb welcher Frist ist dieser Antrag zu stellen? Darf diese Frist überschritten werden?

b) Welches sind die Voraussetzungen für die Untersuchungshaft?

c) Steht dem Staatsanwalt gegen den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts, keine

Untersuchungshaft anzuordnen, ein Rechtsmittel zur Verfügung? Falls ja, wo und innerhalb

welcher Frist ist das Rechtsmittel einzulegen?

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5) Der Staatsanwalt lässt bei J eine Hausdurchsuchung durchführen und den Computer

beschlagnahmen.

a) Was kann J dagegen vorkehren?

b) Die von der Staatsanwaltschaft mit der Auswertung betrauten Polizeibeamten finden auf

dem Computer auch kinderpornographische Darstellungen, wovon sie den J in Kenntnis

setzen. Was hat der Staatsanwalt vorzukehren?

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Fall 3

PD Dr. iur. Marc Jean-Richard-dit-Bressel

Sachverhalt

Viktor ist ein guter Gipser ohne kaufmännische Ausbildung. Vor ein paar Jahren hat er sich selbstän-

dig gemacht und dazu auf Anraten und mit Hilfe von Treuhänderin Tanja die Gipser Viktor GmbH mit

Sitz in Bassersdorf ZH gegründet. Die Ersparnisse von Viktor reichten gerade knapp für das Stamm-

kapital von CHF 20‘000 und die Gründungskosten. Im Handelsregister des Kantons Zürich ist Viktor

seit der Gründung als einzelzeichnungsberechtigter Geschäftsführer und einziger Gesellschafter der

Gipser Viktor GmbH eingetragen. Mit den CHF 20‘000 kaufte die GmbH einen Lieferwagen und Gip-

ser-Werkzeug.

Die Gipser Viktor GmbH ist gut ausgelastet, da sie die Preise vieler Konkurrenten unterbietet. Viktor

zahlt über die GmbH sich selbst und den zwei Mitarbeitern pünktlich einen guten Lohn. Auch bleibt

die GmbH ihren Lieferanten für Werkzeug und Verbrauchsmaterial sowie dem Vermieter ihres kleinen

Lagerraums nichts schuldig. Aber für viel mehr reichen die Einnahmen nicht. Die GmbH kann zuneh-

mend Steuern, Sozialversicherungsabgaben, Versicherungsprämien und dergleichen nicht mehr be-

zahlen. Auch kann sie sich keine Buchhalterin leisten. Viktor schätzt grob, dass die GmbH nun

Schulden von über CHF 100‘000 hat, denen weiterhin als Aktiven (Vermögenswerte) nur der Liefer-

wagen und das Werkzeug im Wert von CHF 20‘000 gegenüberstehen.

Viktor will die Schulden loswerden und sein Geschäft weiterführen. Deshalb wendet er sich an Treu-

händerin Tanja. Tanja ist auf solche Probleme spezialisiert. Was sie Viktor vorschlägt, hat sie in hun-

derten von Fällen erprobt. Dies erklärt sie Viktor wahrheitsgemäss und verlangt von ihm vorab eine

Gebühr von CHF 5‘000. Dafür dürfe Viktor alles andere, was noch in der GmbH sei, für sich heraus-

nehmen. Viktor meldet deshalb dem Strassenverkehrsamt, er sei nun selber Halter des Lieferwagens.

Mit dem Vermieter des Lagers einigt er sich, dass der Mietvertrag auf ihn persönlich übertragen wird.

Zudem unterschreibt Viktor einen von Tanja vorbereiteten Vertrag zwei Mal, und zwar einmal als Ge-

schäftsführer der GmbH als Verkäuferin und einmal für sich selber als Käufer. Gemäss diesem Ver-

trag kauft Viktor der GmbH das ganze Inventar ab und tilgt den Kaufpreis von CHF 20‘000 durch Ver-

rechnung mit angeblichen Beraterhonoraren. Viktor weiss sehr wohl, dass er keine Honoraransprü-

che gegen die GmbH hat und dass diese nur ein Vorwand sind, um bei Bedarf die Veräusserung des

Lieferwagens und Werkzeugs zu rechtfertigen.

In der Folge überträgt Viktor als Vorinhaber und Vororgan mit Hilfe von Treuhänderin Tanja die Gip-

ser Viktor GmbH an Emil als Endinhaber und Endorgan. Dabei bekommt die GmbH durch eine for-

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mell einwandfreie Statutenänderung ein neues „Gesicht“. Sie ist nun im Handelsregister des Kantons

Aargau eingetragen als Gamma Beratungs GmbH mit Sitz in Brugg AG und mit Emil als einzigem

Geschäftsführer und Gesellschafter.

Emil ist eine Milieu-Figur und hat sich auch schon als Drogenhändler versucht. Er gehört zum Fir-

menbestatter-Netz von Tanja und hat schon dutzende von konkursreifen AG und GmbH als Endorgan

übernommen und dafür jeweils von Tanja CHF 1‘500 bekommen. Emil weiss, dass es jeweils darum

geht, die Vororgane von dem ganzen „Stress mit Steueramt, Sozialversicherung, Betreibungsamt,

Konkursamt und vielleicht sogar Polizei“ zu entlasten. Er hat von Tanja gelernt, dass er sich bei allen

Befragungen dumm stellen soll: „Ich wollte eine gute Firma kaufen und habe dafür CHF 5‘000 ge-

zahlt. Aber man hat mich hineingelegt. Ich weiss nicht mehr, wie er hiess. Nun ist alles aus. Ich habe

viele Schulden und kein Geld mehr.“ Tatsächlich verlief nach solchen Aussagen jeweils alles im

Sand, und die Vororgane, die sich alle ähnlich verhielten wie Viktor, wurden praktisch nie behelligt.

Emil kennt ungefähr die Hälfte der zwölf Personen, die mehr oder weniger regelmässig von Tanja als

Endorgane vermittelt werden. Tanja schaut so gut es geht darauf, dass das von ihr aufgebaute Fir-

menbestatter-Netz weder von innen noch von aussen als solches erkennbar wird, kann aber nicht

verhindern, dass sich die Endorgane mit der Zeit gegenseitig kennenlernen und dass auch gewisse

regelmässige „Kunden“, d.h. Vororgane, mehrere Leute kennen, die für sie arbeiten.

Nun ist Emil wie so oft knapp bei Kasse. Er verlangt deshalb von Tanja CHF 2‘000 für die Übernahme

der ehemaligen Gipser Viktor GmbH. Tanja sagt, es bleibe bei CHF 1‘500. Aber die GmbH sehe nach

der Sitzverlegung und Umbenennung doch recht sauber aus, da könne man bestellen, was man wol-

le. Emil begreift und schliesst im Namen der Gamma Beratungs GmbH 50 mehrjährige Mobiltelefon-

verträge ab, mit denen praktisch kostenlos Smartphone-Geräte abgegeben werden. Emil weiss bei

der Bestellung, dass die Gamma Beratungs GmbH nie eine Telefonrechnung begleichen wird, und

dass seine Ansprechperson vom Telekommunikationsunternehmen selbstverständlich davon aus-

geht, es handle sich um eine normale Firma, die für Telekommunikationsdienstleistungen vertrags-

gemäss bezahlt. Zudem zeigt ihr Emil einen wahrheitsgemässen, leeren Auszug aus dem Betrei-

bungsregister der Gemeinde Brugg über die Gamma Beratungs GmbH. Emil verkauft die Smart-

Phone-Geräte entsprechend seinem Plan im Milieu für CHF 150 pro Stück und verbraucht das Geld

für seinen Lebensunterhalt.

Materiellrechtliche Frage:

Prüfen Sie in Bezug auf Viktor, Tanja und Emil, welche Straftatbestände, die Gegenstand der Vorle-

sung „Strafrecht II“ sind, ernsthaft in Frage kommen, welche davon erfüllt sind und welche davon zur

Bestrafung führen.

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Prozessrechtliche Fragen:

2.1 Staatsanwalt Stefan führt eine Untersuchung gegen Emil wegen Betäubungsmitteldelikten und

hat deshalb die Überwachung von dessen Mobiltelefon angeordnet und durch das Zwangsmassnah-

mengericht genehmigen lassen. Polizistin Paula hört im Auftrag von Stefan die Gespräche von Emil

ab. Dabei stellt sie fest, dass Emil von Tanja dafür bezahlt wird, dass er überschuldete Gesellschaf-

ten übernimmt. Paula hört einmal, wie Tanja in einem gereizten Ton zu Emil sagt: „Ich zahle dich,

damit die Kunden ihre Ruhe haben. Die wollen keine Polizei im Haus.“ Durch Recherchen in den

allgemein zugänglichen Online-Handelsregister-Datenbanken stellt Paula fest, dass Emil dutzende

von Gesellschaften der Bau- und Gastronomie-Branche übernommen und dabei stets die Firma (d.h.

den Namen des Unternehmens) und den Sitz geändert hat. Ein grosser Teil dieser Gesellschaften ist

einige Zeit nach der Übernahme in Konkurs gegangen, wobei jeweils das Konkursverfahren schon

bald mangels Aktiven eingestellt wurde. Tanja erscheint dagegen nur im Zusammenhang mit ihrer

seit langer Zeit bestehenden Treuhandfirma im Handelsregister. Polizistin Paula schreibt über all

diese Feststellungen einen Bericht an Staatsanwalt Stefan. Stefan weiss nur, was im Bericht steht.

Den Sachverhalt gemäss Ziffer 1 kennt er noch nicht in seiner Gesamtheit. Zu welchen Rechten und

Pflichten von Stefan führt die Kenntnisnahme des Berichts von Paula? (Es geht hier noch nicht um

Frage 2.2).

2.2 Unter welchen prozessualen und sachverhaltsbezogenen Voraussetzungen darf Stefan die Er-

kenntnisse über die Firmenübernahmen aus der Überwachung des Telefons von Emil a) gegen Emil

und b) gegen Tanja verwerten? Prüfen Sie, ob die sachverhaltsbezogenen Voraussetzungen erfüllt

sind.

2.3 Aufgrund einer Strafanzeige des geschädigten Telekommunikationsunternehmens erhalten Ste-

fan und Paula Hinweise auf die Angelegenheit mit den 50 Smartphones. Paula vermutet, dass Tanja

im grossen Stil solche Taten fördert. Paula schlägt deshalb Stefan vor, sie könne sich unter falscher

Identität Tanja für ähnliche Dienste wie Emil zur Verfügung stellen, wofür sie wegen der notariellen

Vorgänge auch einen Personalausweis mit falschen Personalien benötige. Unter welchen prozessua-

len und sachverhaltsbezogenen Voraussetzungen darf Paula das tun? Prüfen Sie, ob die sachver-

haltsbezogenen Voraussetzungen gemäss den Informationen in den Abschnitten 2.1-3 erfüllt sind.

2.4 Tatsächlich gelingt es Paula wie geplant, unter falschen Namen an Tanja heranzukommen. (Für

Frage 2.4 ist unabhängig von der Antwort auf Frage 2.3 davon auszugehen, die prozessualen und

sachverhaltsbezogenen Voraussetzungen dafür seien erfüllt.) Als Paula in den Büros von Tanja ist,

gelingt es ihr, unbemerkt einen Ersatzschlüssel zu entwenden und das Computer-Passwort von den

Fingern von Tanja abzulesen. Ohne Absprache mit Stefan und ohne sonstige Grundlage dringt Paula

in der folgenden Nacht mit diesem Schlüssel in das Büro von Tanja ein und kopiert deren Computer-

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Festplatte. Aufgrund der Aufzeichnungen auf der Festplatte erkennt Paula den Sachverhalt in der

Dimension, wie er in Ziffer 1 hiervor dargestellt ist. Stolz berichtet sie ihre Erkenntnisse Stefan, der

sich nicht über das eigenmächtige Vorgehen von Paula freut. Hat das Vorgehen von Paula Konse-

quenzen für die Verwertbarkeit der Kopie von Tanjas Festplatte? Wenn ja, diskutieren Sie Möglichkei-

ten, wie sich der Mangel heilen lassen könnte.

2.5 In einer späteren Phase der Untersuchung führen teils Stefan selber und teils Paula im Auftrag

von Stefan mehrere Einvernahmen mit Tanja, Viktor, Emil sowie weiteren Vor- und Endorganen

durch. Nach einer gewissen Zeit meldet sich Anton, der Anwalt des Telekommunikationsunterneh-

mens, und fragt nach dem Stand der Untersuchung. Er habe seit der Anzeigeerstattung nichts mehr

gehört. In der Strafanzeige habe er geschrieben, das Telekommunikationsunternehmen wolle im

Strafverfahren Parteistellung haben. Stefan berichtet detailliert, wie intensiv die Untersuchung voran-

getrieben worden sei. Doch Anton ärgert sich massiv, dass ihm die Teilnahme an den Einvernahmen

nicht ermöglicht worden ist. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass diese Einvernahmen nichtig seien,

soweit sie zur Entlastung der Beschuldigten beitragen könnten. (a) Durfte Stefan Anton detailliert aus

den Untersuchungsakten berichten? (b) Trifft die Meinung von Anton über die Verwertbarkeit der

Einvernahmen zu? Kommt es für die Beantwortung dieser Frage darauf an, ob Stefan oder Paula die

Einvernahme durchgeführt hat?

2.6 Schliesslich erhebt Stefan Anklage am Bezirksgericht. Die Anklageschrift enthält die Fakten ge-

mäss Ziffer 1 abgesehen davon, dass Stefan keinerlei Ausführungen dazu gemacht hat, was das

Personal des Telekommunikationsunternehmens im Zusammenhang mit dem Abschluss von 50 lang-

jährigen Mobiltelefonverträgen mit der Gamma Beratungs GmbH gedacht und geprüft hat. Das be-

troffene Personal ist jedoch befragt worden und hat dabei zum Ausdruck gebracht, von einem norma-

len, seriösen und zahlungsfähigen Unternehmen ausgegangen zu sein, zumal der Betreibungsregis-

terauszug keinerlei Anlass zur Besorgnis gegeben habe. Richterin Rita möchte als Referentin darauf

hinwirken, dass in diesem Punkt ein Schuldspruch erfolgt. Ist die Lücke in der Anklageschrift ein

Problem? Wenn ja, gibt es Möglichkeiten, das Problem zu beheben oder zu umgehen?

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Fall 4

Dr. iur. Omar Abo Youssef

Sachverhalt

Achermann ist Angestellter einer kantonalen Behörde, wo er für die Prüfung von Anträgen auf Kran-

kenkassenprämienverbilligung zuständig ist. Nebenberuflich ist er als Versicherungsagent zweier

Krankenkassen, nämlich Krankenkasse Lund AG und Kobler AG, tätig. Seine Aufgabe besteht darin,

Kunden zu vermitteln. Für jede erfolgreiche Vermittlung hat er sich vertraglich sowohl mit der Lund

AG als auch mit der Kobler AG eine Provision ausbedungen.

Binder arbeitet seit einigen Jahren selbständig als Finanzberater. Bei Fragen rund um das Thema

Gesundheit, namentlich Fragen bezüglich obligatorischer Krankenversicherung, weist er seine Kun-

den jeweils darauf hin, dass ihnen allenfalls eine Prämienverbilligung zustehe, die sie mittels Ge-

suchs bei der kantonalen Behörde geltend machen müssten. Weil viele der Kunden von Binder nur

schlecht Deutsch sprechen, bitten sie ihn jeweils, diese Gesuche für sie einzureichen.

So kommt es, dass Binder mit Achermann in Kontakt kommt. Bald wird für Achermann klar, dass

Binder offenbar über sehr gute Kontakte verfügt. Er schlägt ihm deshalb vor, bei künftigen Anträgen

um Prämienverbilligung wie folgt vorzugehen: Binder soll Achermann die Gesuche um Prämienverbil-

ligung jeweils vorbeibringen. Er, Achermann, werde dann dafür sorgen, dass diese rasch gutgeheis-

sen werden. Und zwar werde er, wo dies nötig sei, um die Auszahlung einer Prämienverbilligung

auszulösen, die Daten in das betreffende EDV-System falsch eingeben, also z.B. ein zu tiefes Brutto-

einkommen. Im Gegenzug solle Binder den Betroffenen aber eröffnen, dass eine Prämienverbilligung

nur in Frage komme, wenn sie eine Versicherung bei der Lund AG oder der Kobler AG abschlössen.

Die aus diesem Vorgehen resultierenden Gewinne wollen sich Achermann und Binder im Verhältnis

60% zu 40% teilen.

Binder nimmt im Verlaufe des folgenden Jahres mit zahlreichen Personen Kontakt auf und macht sie

auf die Möglichkeit der Prämienverbilligung aufmerksam, wenn sie zur Krankenkasse Lund AG bzw.

Kobler AG wechselten bzw. sich dort versichern liessen. So gelingt es ihm, 80 Gesuche bei Acher-

mann zu deponieren. Dieser gibt in der Folge bei allen 80 Gesuchen nicht der Wahrheit entsprechen-

de Daten in das EDV-System ein und löst so Auszahlungen von Prämienverbilligungen in der Ge-

samthöhe von CHF 250‘000 aus. Die wegen der zwischen den Gesuchstellern und der Lund AG bzw.

Kobler AG abgeschlossenen Verträge erzielten Provisionen belaufen sich auf CHF 50‘000. Die Provi-

sionen hebt Achermann jeweils am Ende eines Monats von seinem Bankkonto ab und übergibt die

Hälfte davon Binder in bar. Insgesamt nimmt Achermann so CHF 30‘000 und Binder CHF 20‘000 ein.

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Achermann, der sich in seiner Freizeit gerne seinem Hobby, dem Programmieren, hingibt, hat noch

eine Rechnung mit seinem ehemaligen Arbeitgeber, der Krankenkasse Merki AG, offen. Während der

gleichen Zeit, in der er mit Binder ungerechtfertigte Prämienverbilligungen durch Falscheingabe in

das EDV-System seines aktuellen Arbeitgebers auslöst, sucht er nach Arbeitsschluss und an den

Wochenenden nach einer Spyware, um damit in die Computersysteme der Merki AG einzudringen.

Nach etwa einem Monat wird er im Internet fündig. Es handelt sich um einen „Trojaner“, der als An-

hang einer E-Mail verschickt werden kann und sich, sobald der Anhang vom Adressaten angeklickt

wird, selbständig und von diesem unbemerkt auf dessen Computer installiert. Ist der „Trojaner“ instal-

liert, sind sämtliche Tastaturbewegungen auf dem betreffenden Computer mittels sog. Keylogdateien,

die auf den Rechner des Absenders übermittelt werden, nachvollziehbar.

Achermann ist begeistert, errichtet eine fiktive E-Mail-Adresse, lautend auf den Namen eines bedeu-

tenden Kunden der Merki AG und sendet eine E-Mail samt einem als Offerte-Anfrage getarnten Tro-

janer im Anhang an alle Mitarbeiter von der Merki AG. Neben einigen anderen Angestellten öffnen

insbesondere auch die oberen Kader der Merki AG den Anhang. Der Trojaner installiert sich wie vor-

gesehen. Achermann gelingt es so, die Benutzernamen und Passwörter dieser Kader erhältlich zu

machen, die sie für den Zugang zu ihren E-Mail-Accounts verwenden. Mittels Gebrauchs dieser so in

Erfahrung gebrachten Benutzernamen und Passwörter erhält er Einblick in den gesamten E-Mail-

Verkehr der betroffenen Kader-Angestellten und damit auch in sensible Geschäftsdaten, die er bei

Konkurrenten zu verkaufen beabsichtigt.

Erst viel später, als Achermann keinen Nutzen mehr in der Einsichtnahme in die E-Mail-Accounts

sieht, verändert er die Passwörter, um den Betroffenen den Zugriff auf ihre E-Mail-Accounts zu ver-

unmöglichen.

Materiellrechtliche Frage:

Strafbarkeit der Beteiligten?

Prozessrechtliche Fragen:

1. Der zuständige Staatsanwalt Schuster eröffnet eine Untersuchung gegen Achermann und Bin-

der. In dessen Verlaufe will er mehrere Zeugen einvernehmen, von denen er sich sachdienliche

Hinweise erhofft, unter ihnen auch Ziegler. Als Ziegler die Vorladung zur Einvernahme als Zeuge

erhält, reagiert er ungehalten. Er meldet sich umgehend bei Schuster und teilt ihm mit, dass er

als CEO viel unterwegs sowie beschäftigt sei und ohnehin nichts Sachdienliches beitragen kön-

ne. Er werde deshalb weder am in der Vorladung genannten Termin noch überhaupt für eine

Einvernahme als Zeuge bei Schuster erscheinen. Darf er das?

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2. Schuster seinerseits ist überzeugt, dass Ziegler mit seinen Zeugenaussagen zur Aufklärung des

Falles beitragen wird. Er lässt diesen deshalb polizeilich vorführen. Ziegler ist über die Tatsache,

dass die Polizei ihn mitten in einer wichtigen Sitzung mit einem bedeutenden Kunden unterbricht

und bittet, mitzukommen, überhaupt nicht erfreut. Er nimmt sich deshalb vor, bei Schuster kein

Wort zu sagen. Schuster begrüsst den vorgeführten Ziegler und macht ihn auf die Zeugnis- und

Wahrheitspflichten sowie auf die Strafbarkeit eines falschen Zeugnisses nach Art. 307 StGB

aufmerksam. Er beginnt mit der Befragung, merkt aber ziemlich rasch, dass Ziegler nicht aussa-

gen will. Wie kann Schuster darauf reagieren?

3. Achermann entschliesst sich, zu gestehen. Schuster ist ob des Geständnisses erleichtert. Denn

die bisherigen Untersuchungshandlungen haben wenig Gehaltvolles hervorgebracht. Er ver-

nimmt Achermann nochmals und befragt ihn zu den Einzelheiten seines Geständnisses, unter-

nimmt aber sonst nichts weiter. Ist das Vorgehen von Schuster korrekt?

4. Nach nur einer Woche widerruft Achermann sein Geständnis. Er beruft sich auf seine damalige

schlechte psychische und physische Verfassung infolge der Untersuchungshaft. Schuster – über

diese neue Entwicklung des Falles nicht gerade glücklich – versucht Achermann davon zu über-

zeugen, beim Geständnis zu bleiben. Er werde im Gegenzug dafür sorgen, dass das abgekürzte

Verfahren durchgeführt werde. Darf Schuster das?

5. Achermann zeigt sich gegenüber der Durchführung eines abgekürzten Verfahrens nicht abge-

neigt und überlegt sich ein neuerliches Geständnis. Er teilt Schuster mit, dass er sich ein Ge-

ständnis zwar grundsätzlich vorstellen, sich aber über die rechtlichen Details des Falles kein ge-

naues Bild machen könne, weshalb für ihn ein Geständnis nur in Frage komme, wenn ihm ein

Verteidiger zur Seite gestellt werde. Schuster beschwichtigt ihn und meint, die rechtliche Seite

des Falles sei überhaupt nicht komplex. Er sehe deshalb keinen Grund für den Beizug eines Ver-

teidigers. Nach langem Zögern gesteht Achermann erneut. Wie ist die Rechtslage?

6. In der Folge klärt Schuster Achermann über die anwendbaren Tatbestände sowie das Strafmass

auf und erklärt ihm, wie das abgekürzte Verfahren ablaufen wird. Schuster erstellt kurz darauf

die Anklageschrift und eröffnet diese Achermann unter Einräumung einer zehntägigen Frist, in-

nert derer erklärt werden soll, ob der Anklageschrift zugestimmt oder diese abgelehnt werde.

Weil die Parteien zustimmen, übermittelt Schuster die Anklageschrift dem zuständigen erstin-

stanzlichen Gericht. Dieses befragt Achermann an der Hauptverhandlung, um herauszufinden,

ob er den Sachverhalt anerkennt. Achermann – vom abgekürzten Verfahren mittlerweile nicht

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mehr angetan– widerruft sein Geständnis erneut. Das erstinstanzliche Gericht weist aufgrund

dieses Widerrufs die Akten an Schuster zurück. Wie ist die Rechtslage?

7. Schuster – nun zur Durchführung des ordentlichen Vorverfahrens gezwungen – führt in der Folge

verschiedene Untersuchungshandlungen durch. Als er mit seinem Latein am Ende ist, nimmt er

mit einem befreundeten Staatsanwalt, der auf derselben Staatsanwaltschaft tätig ist wie er sel-

ber, telefonisch Kontakt auf und fragt ihn, nach der Schilderung der Einzelheiten des Falles, ob

er noch Möglichkeiten sehe, welche zur Klärung beitragen könnten. Dieser aber verneint. Schus-

ter ist hin und her gerissen, entscheidet sich aber schliesslich dafür, das Verfahren einzustellen.

Zu Recht?

8. Die Merki AG, die sich als Privatklägerin konstituiert hat, konsultiert Sie vor der Einstellung durch

Schuster, weil das Ausmass des Schadens noch nicht absehbar ist. Was raten Sie ihr?

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Fall 5

Dr. iur. Anna Coninx, MJur

Sachverhalt

Adrian (19-jährig) und Ben (21-jährig) brauchen dringend Geld, um ihre Schulden zu begleichen. Ben

bittet Adrian, sich um die Sache zu kümmern, weil er temporär an Krücken geht und Adrian ausser-

dem noch eine Rechnung bei ihm offen habe. Adrian willigt grundsätzlich ein, klagt aber, dass er nicht

recht wisse, wie er das anstellen soll. Ben meint grinsend, „kleiner Tipp, Omis schleppen meist ihr

halbes Vermögen in ihrer Handtasche mit“ und fügt ermunternd hinzu, „es ist ein Leichtes, die Hand-

tasche im Vorbeigehen zu schnappen!“ Adrian ist von der Idee von Ben angestachelt und meint, er

treibe das Geld bis am Abend auf. Die beiden verabreden sich um 21 Uhr beim Treffpunkt im Haupt-

bahnhof. Bei Einbruch der Dunkelheit begibt sich Adrian in einen nahegelegenen Park, wo er sich auf

eine Parkbank setzt und die Passanten beobachtet. Schon bald fällt ihm die 81-jährige Frau Fritz auf,

die durch den Park spaziert und in der linken Hand eine Handtasche an langen Riemen hält. Nach-

dem Adrian ein paar Meter hinter Frau Fritz hergegangen ist, beschliesst er, ihr die Handtasche zu

entreissen; er denkt an die Worte von Ben und dass es ein Leichtes sei, die Handtasche zu schnap-

pen. In einem ihm günstig erscheinenden Moment schliesst er rennend zu Frau Fritz auf, packt die

Riemen der Handtasche und zieht daran, um sie zu behändigen. Dies gelingt ihm jedoch nicht, weil

Frau Fritz ihre Handtasche festhält. Adrian zerrt an den Riemen, so dass Frau Fritz zu Fall kommt

und von Adrian ca. zwei Meter weit mitgeschleift wird, bis Frau Fritz die Tasche nicht mehr halten

kann und sie schliesslich loslässt. Dabei zieht sich Frau Fritz Schürfungen am Rücken und an den

Knien sowie ein Hämatom (Bluterguss) an der linken Hand zu. Adrian rennt mit der Handtasche da-

von und geht über die Treppe zurück in die Railcity, wo er in einer Restaurant-Toilette seine Beute

inspiziert. Zu seiner grossen Enttäuschung findet er in der Tasche kein Geld; jedoch entnimmt er der

Handtasche neben ein paar Taschentüchern und Hustenbonbons eine ungeladene Pistole. Die Pisto-

le steckt er ein, den Rest lässt er auf der Toilette liegen. Dann geht er wie verabredet zum Treffpunkt,

wo Ben schon auf ihn wartet. Adrian entschuldigt sich bei Ben für die schlechte Arbeit und erzählt die

Geschichte mit der Handtasche. Als Adrian auf die Pistole zu besprechen kommt, wird es Ben mul-

mig. Ben sagt, er habe dringend noch etwas zu erledigen und geht.

Adrian befürchtet, dass die Polizei wegen der Handtaschengeschichte nach ihm sucht. Also verlässt

er die Railcity und geht zu Fuss stadtauswärts. Als er an einem Pizza Take Away vorbei kommt, erin-

nert er sich wieder daran, dass er ja kein Geld mehr hat, dafür aber eine Pistole. Er sieht durch die

grossen Glasfenster, dass nur der Pizzaiolo Pietro im Laden ist. Darauf marschiert Adrian zielstrebig

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ins Geschäft, zieht vor der Theke stehend seine Pistole und ruft: „Geld her, und zwar sofort!“ Pietro

händigt dem Adrian ohne zu zögern die Fr. 246.- aus, die sich in der nicht abgeschlossenen, offen

stehenden Kasse befinden. Aber Adrian hat noch nicht genug. Mit noch immer vorgehaltener Pistole

fragt er Pietro, ob das teure Mountain Bike, das unmittelbar vor dem Take Away steht, ihm (dem Piet-

ro) gehöre, was Pietro zitternd bejaht. Darauf verlangt Adrian von Pietro die Kombination für das Zah-

lenschloss, worauf Pietro sagt: „Es ist 007.“ Adrian öffnet das Schloss und fährt auf dem Bike mit dem

erbeuteten Bargeld davon.

Adrian übergibt das Bike seinem Mitbewohner Christian mit der Bitte, dieses möglichst bald zu ver-

kaufen. Christian ahnt, dass Adrian das teure Stück nicht auf legalem Weg erworben hat und ver-

steckt es im Kellerabteil. Christian dealt gelegentlich mit Marihuana, mit dem Verkauf von Bikes kennt

er sich jedoch nicht aus und findet über eine Woche keinen Käufer. Allmählich wird Adrian die Sache

zu heiss und er beauftragt Christian das Bike „loszuwerden“. Dieser fährt in den Wald und lässt es

weit abseits des Weges liegen.

Kurze Zeit nach diesen Geschehnissen wird Adrian verhaftet und vorläufig festgenommen. Die Polizei

führt eine erste kurze Befragung durch, nachdem sie Adrian über seine Rechte nach Art. 158 StPO

aufgeklärt hat. Adrian bestreitet die Tatvorwürfe. Noch am selben Tag wird er der Staatsanwaltschaft

vorgeführt, welche ihn erneut auf sein Schweigerecht und seine Verteidigungsrechte aufmerksam

macht, und ihm klar macht, dass er Beschuldigter in einem Strafverfahren sei. Adrian gibt an, er ken-

ne keinen Rechtsanwalt und habe nicht genügend Geld für einen. Die Staatsanwaltschaft schlägt ihm

vor, sich amtlich verteidigen zu lassen; im Übrigen wird ihm eröffnet, dass man einen Antrag auf Un-

tersuchungshaft stellen werde. Am nächsten Tag wird Adrian ohne einen Verteidiger durch die Polizei

erneut befragt und sagt, dass er sich ohne seinen Anwalt nicht mehr zum Fall äussern werde. Da-

raufhin konfrontiert ihn die Polizei mit Videoaufnahmen, welche den Überfall im Pizza Take Away

zeigen. Mit dem belastenden Bildmaterial konfrontiert, gibt Adrian zu, den Pizza Take Away überfal-

len zu haben; die Sache mit Frau Fritz kommt dagegen nicht ans Licht und auch das Bike konnte die

Polizei nicht mehr finden. Adrian wird hauptsächlich gestützt auf sein Geständnis wegen dem Überfall

auf den Pizza Take Away zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

Gestützt auf einen Durchsuchungsbefehl durchsucht die Polizei die Wohnung von Adrian. Hierbei

stellt sie einerseits Bargeld sicher und bemerkt andererseits, dass noch eine weitere Person in der

Wohnung lebt. Am folgenden Tag betritt die Polizei ohne Durchsuchungsbefehl erneut die Wohnung,

wo sie Christian schlafend vorfinden. In der Jacke und im Rucksack von Christian findet die Polizei

eine grössere Menge Marihuana und Bargeld in der für den Drogenhandel üblichen Stückelung, wo-

rauf dieser noch vor Ort verhaftet wird. Daraufhin wird gegen Christian ein Strafverfahren eröffnet. Im

Laufe des Verfahrens gesteht Christian mit Marihuana gehandelt zu haben und wird zu einer Geld-

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strafe verurteilt. Obwohl die Rechtswidrigkeit der Hausdurchsuchung unbestritten war, stützt das erst-

instanzliche Gericht das Urteilhauptsächlich auf das Geständnis von Christian.

Materiellrechtliche Frage:

Prüfen Sie die Strafbarkeit von Adrian, Ben und Christian nach StGB. Allfällige Strafanträge sind ge-

stellt.

Prozessrechtliche Frage:

Durften sich die Gerichte bei der Verurteilung von a) Adrian und b) Christian auf deren Geständnisse

stützen?

Begründen Sie Ihre Argumentation gestützt auf StGB, StPO, BV, und EMRK. Nehmen Sie auf die

einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichtes und des Europäischen Gerichtshofes für Men-

schenrechte Bezug.

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Fall 6

Dr. iur. Ulrich Weder, Leitender Staatsanwalt

Sachverhalt

Am 12. Dezember 2014, um ca. 14.10 Uhr, begaben sich Kurt und Max zum Einfamilienhaus des

betagten Ehepaars Müller in Rüschlikon/ZH, betätigten dort die Klingel und verschafften sich unter

Verwendung zuvor gemeinsam erstellter Visitenkarten, die sie beide als Angestellte der Swisscom

auswiesen, Zugang zum Einfamilienhaus. Dabei gaben sie vor, als Mitarbeiter der Swisscom Fern-

meldeleitungen überprüfen zu müssen. Kaum waren sie in der Wohnung, bedrohte Kurt das Ehepaar

Müller mit einer auf sie gerichteten, mit 5 Patronen im Magazin geladenen Selbstladepistole der Mar-

ke „Star“, Kaliber 9 mm Para (diese Waffe samt Munition hatte Kurt am 10. September 2014 in der

Stadt Zürich mittels einem rechtmässig abgeschlossenen Waffenkaufvertrag von Max zum Preis von

Fr. 1‘500gekauft). Der Aufforderung von Max, Bargeld und Kreditkarten herauszugeben, kam das

Ehepaar Müller zunächst nicht nach, mit dem Hinweis, sie hätten bloss Bargeld im Wert von Fr.

200auf sich und sie würden ihren täglichen Lebensunterhalt mit einer Kreditkarte „MasterCard“ finan-

zieren, wobei sie aufgrund ihrer Aufregung nicht in der Lage seien, den PIN-Code ihrer Kreditkarte

bekanntzugeben. Nunmehr führte Kurt an der weiterhin auf das Ehepaar Müller gerichteten Waffe

eine gut hörbare Ladebewegung aus, was an dieser Waffe technisch nur möglich ist, wenn der Siche-

rungshebel zuvor in die Position „entsichert“ gestellt wird. Dabei hielt Kurt, worauf Max bei der vorhe-

rigen Verabredung ihres Vorgehens Wert gelegt hatte, den Zeigfinger absichtlich nicht an den Ab-

zugshahn, sondern gestreckt der schussbereiten Waffe entlang, um derart eine Schussabgabe unter

allen Umständen zu vermeiden. In dieser Situation gab das Ehepaar Müller nicht nur sein Bargeld im

Wert von Fr. 200und seine Kreditkarte heraus, sondern es gab auch den PIN-Code ihrer Kreditkarte

bekannt. Mit dieser Kreditkarte und dem Bargeld flüchteten Kurt und Max. Als sie ca. zwei Stunden

später an einem Bankomaten in Zürich 4 mittels der Kreditkarte und dem dazugehörigen PIN-Code

Fr. 400 abheben wollten, wurde die auf Veranlassung des Ehepaars Müller zwischenzeitlich gesperr-

te Kreditkarte eingezogen.

Noch am gleichen Tag vernichteten Kurt und Max vereinbarungsgemäss ihre Waffenkaufvertrags-

exemplare, um damit allfällige Unannehmlichkeiten zu vermeiden.

Obwohl allein von Kurt aufgrund einer vor dem Einfamilienhaus in Rüschlikon/ZH installierten Über-

wachungskamera ein sehr gutes Personenbild erstellt werden konnte, gelang es der Polizei zunächst

nicht, Kurt zu identifizieren. Erst als Kurt im Rahmen einer Polizei-Razzia im Rotlicht-Milieu in Zürich

Ende Dezember 2014 kontrolliert werden konnte, gelang es, ihn aufgrund des erwähnten Personen-

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bilds als mutmasslichen Täter des zum Nachteil des Ehepaars Müller in Rüschlikon/ZH am 12. De-

zember 2014 begangenen Delikts zu identifizieren.

Sowohl gegenüber der Polizei, wie auch in der ersten staatsanwaltschaftlichen Hafteinvernahme be-

stritt Kurt seine Täterschaft. Gleichwohl wurde er am 2. Januar 2015 durch das zuständige Zwangs-

massnahmengericht in Untersuchungshaft versetzt. Im Rahmen einer von der zuständigen Staatsan-

waltschaft an die Polizei delegierten Wahlkonfrontation vom 5. Januar 2015 identifizierte dann Frau

Müller den Kurt mit Sicherheit als Täter, während sich Herr Müller diesbezüglich unsicher war. Auf-

grund der Identifikation von Frau Müller gestand Kurt in der ebenfalls delegierten polizeilichen Einver-

nahme seine Straftat, machte allerdings geltend, bei seiner am 12. Dezember 2014 verwendeten

Waffe habe es sich um eine Soft-Air-Pistole gehandelt. Auf seinen Komplizen angesprochen, machte

Kurt von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch, mit der Begründung, er sei kein „Verräter-

schwein“.

Aufgrund der Überprüfung des Bekanntenkreises von Kurt und der Signalementsangaben des Ehe-

paars Müller betreffend den unbekannten Komplizen gelang es jedoch, den einschlägig vorbestraften

Max zu verhaften. Dieser legte in der staatsanwaltschaftlichen Hafteinvernahme vom 15. Januar 2015

in Anwesenheit der ihm bestellten amtlichen Verteidigung sofort ein umfassendes Geständnis ab und

belastete Kurt vor allem auch hinsichtlich der von diesem verwendeten echten und durchgeladenen

Waffe. In der Folge wurde Max am 17. Januar 2015 durch das zuständige Zwangsmassnahmenge-

richt in Untersuchungshaft versetzt.

Nachdem Max in der staatsanwaltschaftlichen Konfrontationseinvernahme mit Kurt am 31. Januar

2015 festgestellt hatte, dass dieser ihn – Max – nicht belastet und geltend gemacht hatte, eine Soft-

Air-Pistole verwendet zu haben, widerrief Max sein am 15. Januar 2015 bezüglich der verwendeten

echten Waffe abgelegtes Geständnis und schloss sich den diesbezüglichen Aussagen von Kurt be-

treffend die Soft-Air Pistole an.

Das Ehepaar Müller konstituierte sich am 10. Februar 2015 als Privatklägerschaft (Zivilkläger) und

beantragte gleichzeitig die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands.

Das zuständige Zwangsmassnahmengericht hiess ein am 17. Februar 2015 von Max gestelltes Haft-

entlassungsgesuch gut.

Nach durchgeführter Untersuchung erhob die zuständige Staatsanwaltschaft Mitte 2015 gegen Kurt

und Max Anklage.

Zu Beginn der erstinstanzlichen Hauptverhandlung liess Kurt vorfrageweise den Antrag stellen, das

Protokoll der ihn belastenden ersten staatsanwaltschaftlichen Einvernahme von Max vom 15. Januar

2015 sei aus den Akten zu entfernen.

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Gegen das erstinstanzliche Urteil vom 10. Oktober 2015 erhob die Staatsanwaltschaft fristgerecht

Berufung.

Nach eingegangener Berufungserklärung gelangte die Berufungsinstanz zum Schluss, dass der ein-

geklagte Sachverhalt bezüglich eines Qualifikationstatbestands unpräzise umschrieben ist und recht-

lich möglicherweise anders zu würdigen gewesen wäre, als dies die Vorinstanz tat.

Materiellrechtliche Frage:

Strafbarkeit von Kurt und Max ?

(Der Tatbestand des Hausfriedensbruchs und allfällige Straften des Nebenstrafrechts, namentlich

waffenrechtliche Straftaten, sind nicht zu beurteilen)

Prozessrechtliche Fragen:

1. a) Welche Strafverfolgungsbehörde leitet das Strafverfahren gegen Kurt und Max?

1. b) Welche Strafverfolgungsbehörde würde das Vorverfahren gegen Kurt und Max leiten, wenn

gegen Kurt seit dem November 2014 am Regionalgericht Bern – Mittelland bereits ein Strafverfahren

wegen falscher Anschuldigung im Sinne von Art. 303 Ziff. 1 StGB hängig wäre?

2. Hätte das mittels der Überwachungskamera erstellte Personenbild von Kurt, allenfalls unter vorhe-

riger Ankündigung oder verpixelt, im Internet als Fahndungsmassnahme veröffentlicht werden dür-

fen? Wenn ja: Ohne weiteres, mit vorheriger Ankündigung und/oder verpixelt? Wenn nein: Wieso

nicht?

3. a) Sind die Aussagen von Max in seiner staatsanwaltschaftlichen Hafteinvernahme vom 15. Janu-

ar 2015 im Strafverfahren gegen Kurt verwertbar, wenn Kurt und dessen Verteidigung die Teilnahme

an dieser Einvernahme entgegen ihrem Antrag verweigert wurde?

3. b) Wäre das Geständnis von Max in seiner staatsanwaltschaftlichen Hafteinvernahme vom 15.

Januar 2015 bezüglich dem Ladezustand der echten Waffe im Strafverfahren gegen ihn selbst ver-

wertbar, wenn er in dieser ersten Einvernahme nach den Rechtsbelehrungen („miranda warnings“)

ausdrücklich auf die Teilnahme der Verteidigung an der Einvernahme verzichtet hätte?

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4. Welche Behörde des Kantons Zürich entscheidet über den Antrag des Ehepaars Müller auf Bestel-

lung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands? Würde dem Ehepaar Müller gegen einen allfällig ableh-

nenden Entscheid ein Rechtsmittel zur Verfügung stehen? Wenn ja, welches und bei welcher

Rechtsmittelinstanz? Wenn nein, wieso nicht?

5. Steht der Staatsanwaltschaft und dem Ehepaar Müller gegen die Gutheissung des Haftentlas-

sungsgesuchs von Max vom 17. Februar 2015 ein Rechtsmittel zur Verfügung? Wenn ja, welches

und bei welcher Rechtsmittelinstanz? Wenn nein, wieso nicht?

6. Steht der Verteidigung von Kurt gegen die zu Beginn seiner erstinstanzlichen Hauptverhandlung

vorfrageweise entschiedenen Ablehnung des Antrags, die erste staatsanwaltschaftliche Einvernahme

von Max als unverwertbar aus den Strafakten zu entfernen, ein Rechtsmittel zur Verfügung? Wenn ja,

welches und bei welcher Rechtsmittelinstanz? Wenn nein, wieso nicht?

7. Nach Beginn der erstinstanzlichen Hauptverhandlung gegen Kurt, d.h. unmittelbar nach der Be-

handlung der Vorfragen, ersucht die Präsidentin des Gerichts die Staatsanwältin darum, ihre Strafan-

träge bekannt zu geben. Ist die Staatsanwältin hierzu verpflichtet? Wenn ja, wieso? Wenn nein, wieso

nicht?

8. Wie geht die Berufungsinstanz aufgrund ihrer nach Eingang der staatsanwaltschaftlichen Beru-

fungserklärung gewonnenen Erkenntnisse betreffend die unklare Formulierung des Sachverhalts in

der Anklage vor?

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Fall 7

Dr. iur. Andreas Eckert

Alain (A) und Benjamin (B) beschliessen, am Samstagabend einem Passanten Geld zu stehlen, be-

vor sie B’s Bruder Daniel (D) im Niederdorf in Zürich treffen und zu dritt an eine Party in Winterthur

gehen würden. Diesen Entschluss fassten A und B am gemeinsamen Wohnort an der Rolandstrasse

23 in Zürich. A hatte B jedoch erklärt, er mache nur unter der Bedingung mit, dass er nicht wirklich

Gewalt anwenden müsse. Sie fuhren mit dem Auto von B in Richtung Central, parkieren es beim

Hirschengraben, liefen Richtung Niederdorf los und hielten Ausschau nach einem Opfer. Dies bis sie

auf Christian (C) aufmerksam wurden, welcher mit seinem Hund zu Fuss in Richtung Central unter-

wegs war und liefen sodann diesem hinterher. In einer dunklen Seitengasse packte A C an der Schul-

ter und drückte ihn gegen die Wand, sodass dieser A und B gegenüberstand. A forderte C auf, ihm

sein Geld zu geben. Als C dieser Aufforderung nicht nachkam, drohte ihm A, er werde seinem Hund

etwas antun. Im Wissen darum, dass A seine Drohung nicht verwirklichen und keine Gewalt anwen-

den würde, entriss B, welcher C die ganze Zeit am Arm festgehalten hatte, diesem die Hundeleine

und trat gegen den Hund, um den Worten von A Nachdruck zu verleihen. C zeigte daraufhin A und B

sein leeres Portemonnaie. B verlangte deshalb, dass C mit seiner Bankkarte am Automaten Geld

abheben solle. Beim Geldautomaten angekommen und weil es B nicht schnell genug ging, schupfte

er C gegen den Geldautomaten und zog so heftig an der Leine des Hundes, dass dieser zu wimmern

begann. Unter dem Eindruck dieser Gewaltbereitschaft bekam C es mit der Angst zu tun, hob CHF

1‘000.00 von seinem Konto ab und übergab B das Geld. B überreichte noch an Ort und Stelle A 1/3

der Beute an A und steckte den Rest ein. Bevor A und B davonliefen, verlangte B von C noch die

Herausgabe seines persönlichen ZVV-NetzPasses (Jahresabonnements) und seine Omega Speed-

master Armbanduhr. In der Folge fuhr B verschiedene Male mit dem Tram in der Stadt Zürich herum,

und wies sich denn auch dreimal mit dem auf C lautenden Abonnement anlässlich der Billettkontrolle

aus, in der Absicht kein Geld für die entsprechenden Fahrten ausgeben zu müssen, worauf dann bei

der vierten Kontrolle alles aufflog.

Noch am selben Samstagabend liefen A und B weiter durch das Niederdorf, wo sie den Bruder von B,

Daniel (D), in einer Bar trafen. B schenkte D die Omega Speedmaster, entschuldigte sich, dass er

keine Zeit mehr gefunden habe, sie als Geschenk einzupacken und gratulierte seinem Bruder zum

Geburtstag. D wusste, dass sein Bruder arbeitslos war und sich unmöglich eine solch teure Uhr leis-

ten konnte. Die Bedenken, die ihn beschlichen, schob er in dem Moment bei Seite und bedankte sich

für das Geschenk. Zu dritt begaben sie sich in Richtung Auto beim Hirschengraben, um gemeinsam

nach Winterthur an eine Party zu fahren, welche Freunde für D’s 18. Geburtstag organisiert hatten.

Beim Auto angekommen und weil ihn der Gedanke nicht losliess, dass sein Bruder etwas Verbotenes

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gemacht haben könnte, fragte D seinen Bruder kurz vor dem Einsteigen, woher er denn das Geld für

so ein tolles Geschenk her habe. B lachte nur und meinte, er solle sich nicht zu viele Gedanken ma-

chen – schon gar nicht an seinem 18. Geburtstag. Dankend umarmte D seinen Bruder und stieg ein,

während A und B noch einen Moment vor dem Auto stehen blieben und ihre Zigaretten zu Ende

rauchten.

Die Zeugin Zerafina (Z) hatte kurz vorher neben dem Fahrzeug von B parkiert und sass noch mit

offenen Fenstern in ihrem Auto, als sie die Szene beobachte, wie sich ein junger Mann bei einem

anderen für eine Uhr bedankte und ihn umarmte. Nachdem, ohne dass die Männer Z bemerkt hätten,

sich D ins Auto gesetzt hatte, hörte Z noch mit aller Deutlichkeit, wie einer der Männer den anderen

fragte, ob er nicht Angst habe, dass sein Bruder herausfinden würde, was sie vorhin gemacht hatten

und wissen würde, dass er gar keine Uhr für seinen Bruder gekauft habe, sondern dass er sie jeman-

dem gestohlen habe.

Materiellrechtliche Frage:

Strafbarkeit von A, B und D nach StGB? Allenfalls benötigte Strafanträge sind gestellt. (Übertretun-

gen sind nicht zu prüfen).

Prozessrechtliche Fragen:

C erstattete Anzeige und dank der Zeugin Z, die den Vorfall ebenfalls bei der Polizei gemeldet hatte,

konnte das Autokennzeichen erfasst und B als Fahrzeughalter und mutmasslichen Täter und sein

Bruder D ermittelt werden. Im Verlaufe der polizeilichen Ermittlungen kommt ans Licht, dass auch A

an dem Abend beteiligt war. Der Fall wird in der Folge dem Staatsanwalt zugeteilt, welcher bereits ein

Verfahren wegen eines Vergehens gegen das Strassenverkehrsgesetz gegen B eröffnet hatte (da

dieser am besagten Samstagabend auf dem Weg nach Winterthur zu schnell unterwegs gewesen

war und sein Fahrzeug geblitzt wurde). Sowohl die ZVV wie auch C konstituieren sich als Privatklä-

ger.

1. Aufgrund der Sachlage, insbesondere weil die Täter nicht auf frischer Tat ertappt wurden, ent-

scheidet sich der Staatsanwalt, B zu einer Einvernahme vorzuladen und nicht vorführen zu lassen.

Der von A bestellte Verteidiger erfährt davon und teilt mit, dass er und A an der Einvernahme des B

teilnehmen möchten, wobei A vom Staatsanwalt noch nicht einvernommen wurde. Muss der Staats-

anwalt diesem Antrag nachkommen?

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Zeigen Sie Problemkreise auf, die sich zu dieser Frage im Hinblick auf die Teilnahmerechte an Be-

weiserhebungen und dem Akteneinsichtsrecht ergeben können

a) wenn der Staatsanwalt sich entscheidet, die Verfahren gegen A und B zu vereinigen;

b) wenn der Staatsanwalt sich entscheidet, die Verfahren gegen A und B getrennt zu führen.

2. C ist seit dem Vorfall dermassen traumatisiert, dass er bei der Befragung A und B nicht begeg-

nen möchte. Kann er eine Begegnung mit diesen vermeiden?

3. Angenommen der Staatsanwalt führt die Verfahren getrennt. Was ist zu beachten, wenn die

durchgeführten staatsanwaltschaftlichen Einvernahmen als Beweismittel gegen die jeweiligen Be-

schuldigten verwertbar sein sollen?

4. In welcher prozessualen Stellung müssen die Beschuldigten A, B und D jeweils einvernommen

werden?

5. Mittels staatsanwaltschaftlicher Delegationsverfügung wird die Polizei zur Klärung des Sachver-

halts des Vorfalls angewiesen, Zeugeneinvernahmen durchzuführen. Z und D sind zu befragen. In

welcher prozessualen Stellung können sie befragt werden und haben die Beschuldigten und der Ver-

teidiger das Recht an den jeweiligen Einvernahmen teilzunehmen?

6. Nachdem D in seiner prozessualen Stellung korrekt vorgeladen wurde, weigert er sich auf einmal

bei der Polizei auszusagen. Ist er zur Aussage verpflichtet?

7. Im laufenden Verfahren gegen A und B verlangen die VBZ und C umfassende Akteneinsicht. In-

wieweit ist ihren Anträgen zu entsprechen bzw. ab wann ist die umfassende Akteneinsicht zu gewäh-

ren?

8. Als A die Vorladung zur Einvernahme erhält, mandatiert er einen Verteidiger, welcher noch glei-

chentags die Vollmacht beim Staatsanwalt einreicht und gleichzeitig ein Gesuch um umfassende

Akteneinsicht vor der Einvernahme stellt. Muss der Staatsanwalt diesem Antrag nachkommen?

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9. Der Staatsanwalt bringt zuerst den Fall von A zur Anklage. Der Fall wird der 2. Abteilung des Be-

zirksgerichtes zugeteilt. Zirka 2 Monate später sind auch die Untersuchungen gegen B abgeschlos-

sen und der Staatsanwalt bringt auch diesen Fall zur Anklage. Das Gericht teilt diesen Fall in der

Folge ebenfalls der 2. Abteilung zu. Mit welchen Argumenten wehrt sich der Verteidiger von B gegen

die Urteilsfindung beider Fälle von demselben Spruchkörper und welche Mittel stehen ihm hiergegen

zur Verfügung?

10. Zur Frage 3: Wie kann der Staatsanwalt vorgehen, damit beide Anklagen (A und B) von dersel-

ben Abteilung beurteilt werden?