Upload
dangmien
View
215
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
Chemie: Wissenschaft und Wirtschaftsfaktor
Wolfgang A. Herrmann
Vortrag (mit 32 Lichtbildern)
gehalten vor der Mitgliederversammlung 1987
der Bayerischen Chemieverbände in München
2
Ein Hochschullehrer und dazu auch noch ein Chemiker nimmt sich viel vor und mutet
Ihnen vielleicht eine Menge zu, wenn er sich an ein komplexes Thema wagt, dessen
gesellschaftspolitische Brisanz offenkundig ist. Die Chemie nämlich ist es, so hört
und liest man allenthalben, die uns krank macht, die Luft, die wir atmen, verpestet,
die Flüsse verseucht, die Wälder übersäuert, den Artenreichtum der Tierwelt
reduziert und - daraus resultierend - das Leben der künftigen Generationen bedroht.
Wie muß es eigentlich zugehen in dieser Chemie? Übertreffen Profitinteressen das
Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis, kollidieren sie gar mit dem
Schöpfungsauftrag? Es kann nicht Ziel meines heutigen Vortrags sein, alle für die
Beantwortung solcher Fragen relevanten Bereiche auszuleuchten. Chemie und mit
ihr die chemische Grundlagenforschung sind eben keine monokausalen Ableitungen
unserer geistigen und physischen Lebensräume. Folglich ist der ausgrenzende
Rückzug des Naturwissenschaftlers auf bloße Formelbilder unerlaubt.
Chemie als Wirtschaftsfaktor
So dürfen Anmerkungen zur Volkswirtschaft nicht fehlen.1) Die chemische Industrie
hat im vergangenen Jahr die Handelsbilanz der Bundesrepublik Deutschland um
einen Exportüberschuß von 30 Milliarden DM bereichert und damit das Exportdefizit
für Erdöl und Gas mehr als wettgemacht. Mit chemischen Produkten verdienen wir
im Ausland mehr als mit Eisen, Stahl, feinmechanischen und optischen sowie mit
elektrotechnischen Produkten zusammen. Um die volkswirtschaftliche Bedeutung der
Chemie noch heller anzuscheinen, berufe ich mich auf den renommierten
Volkswirtschaftler Holger Bonus. Er kommt zum Schluß, daß in der Bundesrepublik
in den Jahren nach 1979 der erste Staatsbankrott fällig gewesen wäre, hätte nicht
die chemische Industrie als verläßlich stabilisierender Wirtschaftsfaktor
gegengehalten. Die Zahlungsbilanz - als Summe aus Leistungs-, Kapital- und
Devisenbilanz gewissermaßen ein "Schicksalsbuch der Nation" - war im Jahre 1978
noch positiv mit etwa 20 Milliarden DM und fiel zwei Jahre später dramatisch auf ein
Minus von knapp 28 Milliarden DM. Dieser kritischen Situation hat maßgeblich die
chemische Industrie gegengesteuert, indem ihr Exportüberschuß beinahe ebenso
groß war wie jener der gesamten übrigen Industrie, nicht gerechnet der "indirekte
Export", d. h. der Beitrag der Chemie beispielsweise zu den Exporten der
Fahrzeugindustrie oder des Maschinenbaus in Form von Zulieferungen.
3
Über die aktuelle Zahlungsbilanz hinaus sind es die Investitionen, die in unserer
Wirtschaft eine Schlüsselrolle einnehmen. Sie bestimmen die Produktivität von
morgen, beeinflussen aber auch die Konjunktur. Dies bedeutet natürlich, dass
gerade das Investitionsverhalten eines großen Industriezweiges das Verhalten des
Gesamtsystems empfindlich betrifft. Die Chemie hat sich aufgrund der Natur ihrer
Produktionsstrukturen und des ständigen Innovationsdruckes immer für
ausgesprochen hohe Investitionen entschieden. Mit einem langjährigen Durchschnitt
von 5 - 6 Milliarden DM Investitionen pro Jahr leistet die Chemie den größten
Einzelbeitrag aller Industriezweige überhaupt, wenngleich prozentual andere
Technologiebereiche wie etwa der Luftfahrzeugbau höher liegen.
Rund 98 % der Industrieforschung (über 8 Milliarden DM im vergangenen Jahr)
müssen aus eigenen Erträgen finanziert werden, in der übrigen Industrie sind es nur
82 % - dies, obwohl die "Erfolgstrefferquote" etwa in den Schlüsselbereichen Pharma
und Pflanzenschutz nur 1 : 10000 beträgt. Weltweit einzigartig, hat die chemische
Industrie in der Bundesrepublik den Universitäten für zweckfreie
Grundlagenforschung und Nachwuchsförderung im vergangenen Jahr einen Betrag
von 19 Millionen DM zur Verfügung gestellt, seit 1950 eine Viertelmilliarde.
Umweltschutz mit und nicht gegen die Chemie
Auch Umweltschutz ist nur mit der Expertise der Chemiker in Hochschule und
Industrie möglich. Der frühere hessische Umweltminister Joschka Fischer hat dies
erkannt, wenn er unter dem 21. März 1986 in sein Tagebuch schreibt: 2) "Schon die
Umweltabteilung der Hoechst AG ... dürfte die Schlagkraft der Umweltverwa ltung der
Landesregierung um ein Vielfaches übertreffen. Die Hoechster sind hochmodern
ausgerüstet mit EDV, Labors und intimer Kenntnis ihrer Umweltprobleme.
Regierungspräsident und Ministerium befinden sich dagegen noch in der guten alten
Zeit der Handakte!"
Einige Zahlen hierzu: In den letzten 20 Jahren hat die chemische Industrie ihre
Produktion um 150 % gesteigert und gleichzeitig ihren Schadstoffausstoß um 60 %
gesenkt; seit 1974 wurden in den Chemiewerken 7 Milliarden DM in neue
4
Umweltschutzanlagen investiert, die mehr als das Dreifache an Unterhaltskosten
erfordert haben. Diese Ausgaben steigen laufend: 4 Milliarden DM
Umweltschutzinvestitionen alleine im Jahre 1984, derzeit 10 Millionen DM täglich.
Solche Zahlen und die dahinter stehenden wissenschaftlichen Errungenschaften
geraten indessen allzu schnell in Vergessenheit, wenn der Hunger gestillt und der
Lebenskomfort hoch ist. Und doch ist es auch die Pflicht des Naturwissenschaftlers,
die Zeiten vor uns zu beleuchten und aufzuzeigen, wie eng Wissenschaft in den
kulturellen und ökonomischen Generationenvertrag eingebettet ist. Gerade die
Chemie bietet sich hier als Fallstudie an 3)
Vom Handwerk zu Wissenschaft
Bereits im lateinischen Mittelalter, als Chemie längst noch nicht Wissenschaft,
sondern eher Handwerk war, stand sie unter Beschuß: Sebastian Brant (1457 -
1521) zählt in seiner 1494 erschienenen Zeitsatire "Das Narrenschiff" auch die
Alchemie zu den menschlichen Torheiten und beschreibt eines der Betrugsmanöver,
nämlich das Einfüllen von Gold in den zum Umrühren einer Schmelze vorgesehenen
hohlen Stab:
"Domit ich nit vergeß hie by
den grossen bschisß der alchemy
die macht das sylber, golt, vff gan
das vor ist jnn das stäcklin gtan."
Bildliche Darstellungen des betrügerischen Alchemisten finden sich im Blockbuch
"Der Antichrist", erschienen um 1470. Hier sieht man drei im Dienste des
Antichristen, d. h. des Teufels, stehende Alchemisten mit Waage und Blasebalg, den
charakteristischen Attributen des Alchemisten. Der erste Satz der Überschrift lautet:
"Der Entchrist hat bey im Meister. Die ihn lernen Golt machen. Und an der Zauberei
und pös Lisst." Der Alchemist wird hier als mit dem Teufel im Bunde stehender
Betrüger charakterisiert.
5
In der sich anschließenden Renaissance gab es wohl unter den bedeutenderen
Fürsten keinen, der sich nicht für die "chymische Kunst" interessierte. Durch die
Sucht nach Gold, Macht und Wissen, auch nach ewiger Gesundheit, war sie hoffähig
geworden. Das Versprechen, den Stein der Weisen zu finden, leistete eben auch
Betrügern Vorschub und brachte die Alchemie arg in Verruf. Wie es solchen
Goldmachern ergehen konnte, zeigt das Beispiel des böhmischen
Goldschmiedesohn Georg Honauer. Er nannte sich "von und zu Grobeschutz" und
war am prunkvollen Hofe von Herzog Friedrich I. von Württemberg als "vermeinter
Alchymist und Goldmacher" (wie die Chronik sagt) tätig; nach einer etwas
umstrittenen Überlieferung soll er seine Gehilfen am Galgen verloren haben. Als im
Käfig gefangener Zuschauer hatte er dem Schauspiel beizuwohnen. Am Hofe des
bayerischen Herzogs Wilhelm V. zu Landshut trieb Bragadino als "Goldmacher" sein
Unwesen. Auf dem Münchner Roßmarkt wurde er enthäuptet.
Die neuere Geschichtsforschung zeigt hingegen, daß das Image der Alchemie
besser war als das, was uns noch Goethe in der Begrifflichkeit der "Schwarzen
Magie" überliefert. Vorbereitet in Ägypten und in der Antike, war die Alchemie vor
allem auf dem Mutterboden arabischer Gelehrsamkeit aufgewachsen. Im Mittelalter
bestand dann das eigentliche Ziel der Alchemie in der Vervollkommnung der unedlen
Metalle und hiermit verbunden die Vervollkommnung der Seele des Alchemisten.
Wilhelm Ganzenmüller weist in seinem Werk "Die Alchemie im Mittelalter" aus dem
Jahre 1938 darauf hin, daß der eigentliche Alchemist ein Gelehr ter wie etwa der
Theologe oder der Jurist war und eine gründliche wissenschaftliche Ausbildung
besaß 3b). Hier ging es nicht primär um das Goldmachen, sondern um
Naturerkenntnis. Und so ist es nicht verwunderlich, daß sich die Alchemie zu Anfang
des lateinischen Mittelalters unter der Geistlichkeit weit verbreitet findet, zumal die
Kirche wichtigster Kulturträger war. Die gewaltige theologische Wucht der Alchemie
spürt man in den Schriften des Thomas von Aquin (1225 - 1274) und seines Schülers
Albertus Magnus (1193 - 1280). Letzterer spricht von einer "Sciencia, quae vocatur
alchymia" und Geber schreibt im ausgehenden 13. Jahrhundert:
"Cum igitur haec sciencia de imperfectis tractet corporis
mineralium, in quantum ea perficedeat." ("Unsere Wissenschaft
handelt von den unvollkommenen Mineralkörpern und ihrer
6
Veredelung.") 3a)
Dennoch muß man die Alchemie bis zur Wende in das 19. Jahrhundert eher als
intellektuelle Handwerkskunst verstehen, und davon ist ihr bis heute viel geblieben.
Andreas Libavius (1540 - 1616), der 1597 das erste Lehrbuch verfaßt, definiert die
"Alchemie als Kunst, Magisterien zu vervollkommnen und
reine Essenzen aus Gemischtem durch Abtrennen des Corpus
zu extrahieren" (Abb. 3).
Wieder erkennen wir die naturphilosophisch-theologische Komponente. Über hundert
Jahre später schreibt Georg Ernst Stahl (1660 - 1734), der wortgewaltige Verfechter
der "Phlogistontheorie", der Chemie einen künstlerischen Charakter zu und spricht
die Prinzipien Zerlegung und Zusammensetzung an, Analyse und Synthese, wie wir
heute sagen. Das Handwerk, "nemlich pars practiva, bestehet in einer fleißigen
Vorlegung und Einschärfung derer Handgriffe und Handarbeiten". Noch ist die
Chemie als Naturwissenschaft nicht in Sicht, die mystische Frömmigkeit des
Mittela lters strömt noch über auf die Chemieatriker, Scheidekünstler und Chymisten.
Libavius erkennt die Situation richtig, wenn er beklagt, daß
"von allgemeinen Gesichtspunkten (catholica) ... nichts zu
hören (ist); und es gibt keine Richtschnur, nach der sich die
Einzeltatsachen einordnen und beurteilen liessen".
Noch 1712 listet Johannes Hübner in seinem "Natur-Kunst-Gewerk- und
Handlungslexikon" für die Alkymia eine große Zahl synonymer Begriffe auf, die er als
"Scheidekunst" zusammenfaßt und fortfährt:
"Sie ist aber eine solche Kunst, vermöge welcher das Reine
von dem Unreinen geschieden wird ..."
Der immanente theologische Auftrag zur Läuterung der Seele schlägt sich in vielen
alchemistischen Symbolen nieder. Die Formen alter Circulatorien, Pelikane,
7
Schlangenkühler, in denen die Dämpfe "wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen",
sind noch nicht thermodynamisch, sondern symbolhaft zu verstehen.
In Henricus Khunarts "Amphitheatrum sapientiae" aus dem Jahre 1602 finden wir
den gelehrten Alchemisten als Theologen, dessen Laboratorium gleichzeitig
Oratorium ist). Und der Mystiker Johann Scheffler (Angelus Silesius, 1624 - 1677)
urteilt:
"Den halt ich im Tingiern für Meister und bewährt
der Gott zulieb sein Herz
ins reinste Gold verkehrt."
Etwas konkreter formuliert es Paracelsus von Hohenheim (1493 - 1541):
"Gleich die Kunst ists, die das Unnütz vom Nutzen tut
und bringts in seine letzte materiam und Wesen ...
Die Natur gibt nichts an Tag
das auf sein statt vollendet sei
sondern der Mensch muß es vollenden.
Diese Vollendung heisset Alchymia."
In Kirchwegers "Aurea Catena Homeri" finden wir die kondensierte Symbolik des
geistigen Mittelalters. Sublimation und Destillation sind nicht nur handwerkliche
Tätigkeiten, sondern besitzen transzendentalen Gehalt.
Von besonderer Bedeutung ist seit der Zeit der großen griechischen Philosophen,
seit Platon, Aristoteles und Empedokles, die Suche nach den Urstoffen, den
Elementen. Die griechische Vier-Elementen-Lehre wurde im Mittelalter dann oft auf
die Prinzipien des Brennbaren (nämlich Schwefel) und des Metallischen (verkörpert
im Quecksilber) ersetzt, und die Vereinigung dieser beiden Elemente, bei der
Zinnober (Quecksilbersulfid) entsteht, wurde von den Alchemisten als mystische
Hochzeit verstanden. Das Brautpaar (Schwefel und Quecksilber) wird zu Sonne und
Mond (Gold und Silber) dadurch erhöht, daß Mercurius als Spiritus zu den vier
Elementen die quinta essentia bringt. Der Stein der Weisen wurde gelegentlich in der
8
Gestalt des "Hermes Trismegistos", des dreimalgroßen Hermes personifiziert, einer
griechischen Gottheit, die von den Alchemisten als Schutzgeist beansprucht wurde.
Da dem griechischen Hermes der römische Merkur entspricht und dessen Planet
wieder mit dem Quecksilber gleichgesetzt wurde, konnte man dieses gleichzeitig als
den Geopferten und den Opferer eines mystischen Auferstehungsvorgangs ansehen.
Die offensichtliche Parallele zur christlichen Trinitätslehre ließ Papst Johannes XXII.
im Jahre 1317 die Alchemie für längere Zeit verbieten.
Das Tor zur Wissenschaft durchschreitet die Chemie vor ziemlich genau 200 Jahren.
Im Jahre 1777 legt der französische Chemiker Antoine Laurent Lavoisier die
vollständige, auch heute noch gültige Theorie der Oxidationsprozesse vor und bringt
damit die Irrlehre der fast 100 Jahre alten Phlogistontheorie zum Einsturz.
Prominenteste Wegbereiter dieser Entwicklung sind Robert Boyle in England, der mit
seinem Buch "The Sceptical Chymist" (1661) publizistisch große Breitenwirkung
erlangt, aber auch Henry Cavendish mit der Entdeckung des Wasserstoffs sowie
Joseph Priestley und Carl Wilhelm Scheele, die unter anderem das Element
Sauerstoff entdecken und die Zusammensetzung der allgegenwärtigen chemischen
Verbindung Wasser korrekt formulieren. Den wertvollsten Einzelbeitrag zur
Systematisierung und Mathematisierung stofflicher Umwandlungen verdanken wir
indessen dem deutschen Chemiker Benjamin Richter (1762 - 1807), von der
Geschichtsschreibung zu Unrecht wenig beachtet. Hören wir seine Definition:
"Die Chymie oder Scheidekunst ist die Wissenschaft derer
Verhältnisse in welchen gewisse Teile der Körper miteinander
stehen ..."
Nun ist die Bahn frei für John Dalton, der das naturphilosophische Atomkonzept des
Griechen Demokrit wiederbelebt und 1802 in Manchester die erste
Amtomgewichtstabelle aufstellt. Die Chemie ist zur Wissenschaft geworden. Große
Gestalten erlebt das 19. Jahrhundert: Berzelius führt die Formelsymbolik ein, Meyer
und Mendelejeff erkennen die systematisierende Kraft des Periodensystems der
Elemente, chemische Analyse und Synthese werden zu den handwerklichen und
intellektuellen Prinzipien der neuen Zeit. Fortan werden stoffliche Umwandlungen
atomistisch gesehen. Die Erkenntnis, daß Atome aus noch kleineren Teilchen
9
bestehen, läutet unser Jahrhundert ein; und keiner kann ahnen, wie diese Erkenntnis
den Enkeln Segen und Fluch zugleich bereiten wird.
Die bedeutendste Voraussetzung für eine breitenwirksame chemische
Grundlagenforschung schafft Justus von Liebig, der um 1840 in Gießen das erste
Ausbildungslaboratorium für Studenten eröffnet und das "Reiselaboratorium" des
Johann Joachim Becher endgültig ins Museum verweist. Hermann Kolbe, der ebenso
kreative wie streitbare organische Chemiker in Leipzig, folgt wenig später diesem
Vorbild. Robert Bunsen versammelt zuerst in Marburg und später in Heidelberg auch
junge Chemiker aus dem Ausland um sich und verleiht der deutschen Chemie
internationalen Charakter.
Chemische Grundlagenforschung fand aus einfachen Sachzwängen heraus bald
auch öffentliche Förderung. So bemühten sich Fürsten und Ministerien, der besten
Chemiker habhaft zu werden. Das Königreich Bayern ist hierfür ein gutes Beispiel:
Max II. holte Justus von Liebig als wahrscheinlich bedeutendsten Chemiker seiner
Epoche im Jahre 1852 von Gießen nach München, und schon zu Weihnachten kann
Liebig seinem Freund Friedrich Wöhler in Göttingen freudig berichten: "Der Minister
von Zwehl ist ein vortrefflicher Mann und mein besonderer Freund. Das Laboratorium
kostet bereits 9000 Gulden mehr als veranschlagt war, und es wurde diese Summe
ohne Schwierigkeit bewilligt ..." (Brief vom 23.12.1852). Wie gut, daß wir auch heute
wieder einen Minister von Zwehl haben! Unter Liebigs Patenschaft entstand in
Heufeld die erste chemische Fabrik im Agrarland Bayern; ab 1860 produzierte man
dort Schwefelsäure, Natriumsulfat und Soda (Abb. 12). In Augsburg folgte kurz
später eine Düngemittelfabrik.
Nobelpreise für Münchener Chemiker
Das Vorbild Liebigs hat sich auch in Bayern gelohnt: Fünf Münchner Chemiker haben
bisher den Nobelpreis erhalten. Adolf von Baeyer, Schüler von Bunsen und Kekulé
und Nachfolger Liebigs in München, "Meister des Reagenzglases" nannten sie ihn,
synthetisierte den König der Farbstoffe: Indigo - eine Substanz von hervorragender
wirtschaftlicher Bedeutung, dessen Weltverbrauch im Jahre 1880 bei immerhin 5000
Tonnen lag. Richard Willstätter sagt hierzu:
10
"Als Baeyer über Indigo zu arbeiten begann, gab es in
Deutschland noch keine Fabriken für organische Farbstoffe.
Die Chemie gehörte den Professoren. In jener Epoche konnte
der Hochschullehrer Baeyer zum Begründer und Förderer
der deutschen Farbstoffindustrie werden. Ohne je der technischen
Ausgestaltung und Durchführung seiner Synthesen Zeit und Kraft
zu widmen, hat er Industrien geschaffen und sich um die Wohlfahrt
Deutschlands verdient gemacht."
Selbst Nachfolger Baeyers, erhält Willstätter 10 Jahre später (1915) den
Nobelpreis für seine Arbeiten über Pflanzenfarbstoffe, insbesondere den
Blattfarbstoff Chlorophyll, den für die Assimilation der Pflanzen entscheidend
wichtigen Stoff. Heinrich Wieland setzte dann mit mehr biochemisch
orientierten Untersuchungen der Naturstoffchemie einen weithin sichtbaren
Meilenstein: Gallensäuren, Morphium-Alkaloide, Schmetterlingsfarben,
Krötengift, Curare, Pfeilgifte und die Giftstoffe des Knollenblätterpilzes hat er
strukturell aufgeklärt und mit den Gallensäurenarbeiten auch Adolf Windaus
den Weg zur chemischen Synthese des antirachitischen Vitamins D geebnet,
das heute großtechnisch hergestellt wird. 1930 reist Hans Fischer, der
Nachfolger Wielands an der Technischen Hochschule München, nach
Stockholm und wird für seine analytischen und synthetischen Arbeiten über
die Blutfarbstoffe und die strukturellen Beziehungen der Hämine zum
Chlorophyll ausgezeichnet. Seine Grundlagenforschung zu diesem Thema
vermittelte später auch das Verständnis des Sauerstoff-Transports durch den
Blutfarbstoff Hämoglobin - Grundlage der Atmungsvorgänge im Körper. Die
Grundlagen wichtiger biochemischer Substanzen und Reaktionen haben dann
- hier nicht aufgeführt - Adolf Butenandt und Feodor Lynen untersucht.
Butenandt kam schon als Laureat nach München, der Wieland-Schüler Lynen
erhielt 1964 den Medizin-Nobelpreis für die Aufklärung der chemischen
Vorgänge und ihrer Mechanismen beim Stoffwechsel der lebenden Zelle.
Nach dem Kriege wuchsen die Wissensgebiete der Chemie zusammen. Ernst
Otto Fischer, Nobelpreis 1973, verdeutlichte dies, als er entlang der Naht
zwischen anorganischer und organischer Chemie die sogenannten
11
Organometall-Sandwichverbindungen synthetisierte, welche so wie sie sind
oder modifiziert zu den wichtigen Katalysatoren der großtechnischen Synthese
organischer Basischemikalien zählen.
Chemie heute: Interdisziplinäre Wissenschaft
Längst ist die Chemie nicht mehr das, was sie zu Liebigs Zeiten war. Sie stellt sich
vielmehr als interdisziplinäre Wissenschaft dar und ist eingebettet in das vielfarbige
Spektrum der Naturwissenschaften. Die vier klassischen Disziplinen - anorganische,
organische, technische und physikalisch-theoretische Chemie - können keineswegs
voneinander isoliert gesehen werden, sondern sind durch mannigfache
Querverbindungen präparativer, reaktionsmechanistischer, struktureller, bindungs-
theoretischer und verfahrenstechnischer Art miteinander verknüpft. Die aktuellen
Aufgaben in der Grundlagenforschung stellen sich diese Gebiete aber nicht nur für
sich selbst, sondern empfangen sie aus Bereichen, die dem Laien auf den ersten
Blick arg weit entfernt erscheinen, in Wirklichkeit aber das Bild der heutigen Chemie
im Laufe von Jahrzehnten geprägt haben. An Ingenieurleistung und
Verfahrenstechnik müssen wir denken, wenn wir in Ingolstadt die Spalt- und
Destillierkollonnen der Erdölraffinerien, in Kelheim den Biohochreaktor der Hoechst
AG oder in Gendorf Autoklaven zur Polymerisation von Vinylchlorid sehen. Mit der
anorganischen Chemie verknüpfen wir die Vorstellung von der unbelebten Natur, des
Siliciums, der Silikate und Tonmineralien, deshalb ihre enge Anknüpfung an die
Mineralogie, die Geologie und Geochemie sowie an die Kristallographie. Auch die
analytische Chemie siedelt man traditionsgemäß hier an, doch überspannt sie heute
den gesamten Bereich der Chemie; sie ist gewissermaßen der Kriminalist, der auch
die Spuren nachweist und mit seinen Detektionsmethoden immer kleinere
Stoffmengen zu erfassen gelernt hat, etwa in der Analyse von Arzneimitteln sowie in
der Luft-, Boden- und Wasserkontrolle. Umweltschutz im weitesten Sinne, und dazu
gehört auch die seit Jahrzehnten praktizierte Produktionskontrolle chemischer Stoffe,
kann qualitativ nur im Gleichschritt mit der Erforschung noch empfindlicherer und -
was heute zumeist übersehen wird - reproduzierbarer Methoden sinnvoll sein. Diese
Aufgaben gehören in die Hand des analytischen Chemikers, der heute mehr denn je
auch von Elektronik und Mikroprozessoren eine Menge verstehen muß. Einen
erheblichen Beitrag zur Etablierung ganz neuartiger, noch vor dreißig Jahren völlig
12
unbekannter Analysen- und Strukturaufklärungsmethoden verdanken wir dem
Physiker, der für uns Chemiker heute ebensowenig verzichtbar ist wie die Kollegen
aus Mathematik und Informatik. Bis hinab in die unbegreiflich kleinen Dimensionen
der Moleküle reichen die modernen spektroskopischen Methoden und bringen uns
gewissermaßen Bilder der Molekülarchitektur mit zurück. Diese Methoden sind
ebensowenig auf eine bestimmte Teildisziplin beschränkt, sondern erstrecken sich
über die Gesteinskunde, die Analytik, die Prozeßkontrolle, die Nuklearmedizin bis hin
zur Astronomie. Man hat mit den heutigen Analysemethoden die Möglichkeit,
Stoffverunreinigungen im ppm- und ppb-Bereich nachzuweisen. Dies ist unvorstellbar
wenig, und vor Zahlenbeispielen muß gewarnt werden.
Nicht der Fachmann, leider aber die breite Öffentlichkeit läßt sich mit Ausführungen
wie der folgenden leicht verunsichern:
"Nach der deutschen Futtermittelverordnung dürfen im Kilogramm Tierfutter 50
Mikrogramm DDT enthalten sein, das sind 106 Billiarden DDT-Moleküle (15 Nullen
an die 106 gehängt!). Wechselwirkungen sind also durchaus möglich."
So zu lesen in der Süddeutschen Zeitung im März dieses Jahres. Hier werden
Maßstäbe und Realitäten verzerrt, und das zeige ich Ihnen an meinem
Zahlenbeispiel: Wenn Sie 25 ml, also einen extradoppelten Whisky mit 43 %
Alkoholgehalt zu sich nehmen, dann fühlen Sie sich wohl. Würden Sie diesen Whisky
stattdessen in die Isar schütten und so lange warten können, bis sich das Isarwasser
mit dem Gesamtvolumen der Weltmeere von 1.37 Milliarden Kubikkilometer (!)
vollständig gemischt hat, ob die Alkohol-Moleküle dann noch zu finden wären? Sie
werden es kaum glauben: Wenn sich ein Bewohner einer Insel im Stillen Ozean
einen Liter Weltmeerwasser schöpft, dann sind dort noch 80 authentische
Alkoholmoleküle aus Ihrem doppelten Münchner Whisky enthalten. In der Südsee
wie im Mittelmeer ist das nicht anders. Diese anschaulichen, aber doch unsinnigen
Zahlenspielchen haben damit zu tun, daß ein einzelnes Molekül eben unglaublich
klein ist und in unseren Kopf nicht hineingeht. - Kochsalz besteht aus Natrium und
Chlorid-Ionen. Wenn Sie 1 Gramm Kochsalz zu sich nehmen, reichern Sie Ihren
Körper um so viele Kochsalzkomponenten an, wie dieser irren Zahl hier entspricht:
13
10 000 000 000 000 000 000 000.
Zurück zu unserem Bild: Ich denke, daß ich die übrigen Bereiche der Chemie nicht
separat besprechen muß, denn hier verhalten sich die Dinge ähnlich. Die Medizin
beispielsweise verwendet radiochemische Methoden zum Nachweis von Tumoren
oder setzt gar die Kernspintomographie ein, eine hochempfindliche spektroskopische
Methode, deren Prinzip wir Chemiker seit geraumer Zeit zur Konstitutions- und
Strukturaufklärung chemischer Verbindungen einsetzen. Die physiologische
Wirksamkeit von Stoffen, also Nahrungsmitteln, Medikamenten und auch Giften,
versteht man nur, wenn auch die chemischen Abbauprozesse solcher Stoffe im
Körper verstanden sind. Und diese erforscht der Chemiker.
Moderne Aspekte der chemischen Grundlagenforschung
Ich möchte jetzt einige Fragestellungen der modernen chemischen
Grundlagenforschung herausgreifen und, sofern dies angezeigt ist, auch aus
aktueller Sicht kommentieren. Beginnen wir mit der "sanften Chemie". Unter diesem
wenig definierten Schlagwort fordert man heute stoffliche Umwandlungen unter
möglichst milden Reaktionsbedingungen, die sich am Vorbild der Natur insbesondere
deshalb orientieren sollen, weil man die Natur grundsätzlich für ungefährlich hält.
Hören wir die Süddeutsche Zeitung, was sie am 2. April 1987 im Zusammenhang mit
der sog. "harten Chlorchemie" schreibt:
"... Gemessen an der Fähigkeit der Natur, Prozesse bei 'Zimmertemperatur' und
'Normaldruck', oft mit Hilfe sogenannter Katalysatoren, 'sanft' ablaufen zu lassen,
mutet in der Tat die gängige 'harte' Chemie der hohen Drücke und Temperaturen
noch ungemein primitiv an."
In der Chemievorlesung hört man, daß die Begriffsprägung des Katalysators 180
Jahre alt ist und von Berzelius stammt, der auch erkannte, daß Katalysatoren eine
Art Heiratsvermittler sind. Sie setzen eine chemische Reaktion unter milden
Bedingungen in Gang; nach getaner Arbeit ziehen sie sich unauffällig vom Platz des
Geschehens zurück und vermitteln eine andere Hochzeit.
14
Kommen wir zu Meilensteinen der großtechnischen Katalyse. Aus den uns zur
Verfügung stehenden Grundstoffen Wasser, Luft, Kohle, Erdgas und Erdöl sowie den
Ressourcen der Ingenieurleistung - hier steht Karl von Linde symbolisch, der uns die
Luft zu verflüssigen lehrte - kann man seit 1913 Ammoniak herstellen, z. Zt. etwa 120
Millionen Tonnen im Jahr, hauptsächlich für Düngemittel. Ich zähle die
Ammoniaksynthese nach Mittasch, Haber und Bosch deshalb zu den großen
Errungenschaften, weil sie ein wichtiges Werkzeug zur Ernährungssicherung der
Weltbevölkerung ist. Karl Bosch hat 1931 den Nobelpreis erhalten. Diese Reaktion
ist auf Eisenkatalysatoren angewiesen, sonst bleibt sie aus.
Ebenfalls als Entwicklung der Badischen Anilin- und Sodafabrik ist die katalytische
Methanol-Synthese aus einfachsten Grundstoffen zu nennen, die an Zink-Chrom-
Oxid-Kontakten abläuft. Methanol ist der wertvollste und vielseitigste C1-
Synthesebaustein der Chemie und wird deshalb zu etwa 13 Millionen Tonnen im
Jahr weltweit benötigt. Ähnlich ist es mit der Synthese von Polyethylen, die wir
Ziegler und Natta verdanken: Hier wird der Grundstoff Ethylen mit metallorganischen
Katalysatoren unter sehr milden Bedingungen zu Polyethylen verarbeitet, welches
einen wichtigen Kunststoff darstellt. Die Reaktion unterbleibt bei Abwesenheit dieses
speziellen Katalysators, der ein Ergebnis jahrzehntelanger Grundlagenforschung
über metallorganische Verbindungen im Laboratorium von Karl Ziegler und anderen
ist, eine weitgehend deutsche Entwicklung.
In der Öffentlichkeit sind Katalysatoren erst im Zusammenhang mit der Schadstoff-
entfernung aus Autoabgasen und Rauchgasen von Großfeuerungsanlagen besser
bekannt geworden. Wieder ist es hier die jahrzehntelange Grundlagenforschung der
Hochschul- und Industrielaboratorien gewesen, welche nicht nur wirksame, sondern
vor allem mechanisch haltbare und temperaturresistente Metallkatalysatoren
entwickelt hat, mit welchen heute weltweit rund 100 Millionen Autos ausgestattet
sind. Jeweils 1 bis 3 g der Edelmetalle Platin, Palladium oder Rhodium werden pro
Fahrzeug benötigt, müssen aber wegen der beschränkten Ressourcen, welche die
Erde an Edelmetallen birgt, bei der Automobilverschrottung zurückgewonnen
werden.
15
An wenigen Zahlen läßt sich die immense volkswirtschaftliche Bedeutung von
Katalysatoren ermessen: So werden schon heute mehr als 90 % aller Chemikalien
durch katalytische Reaktionen hergestellt, die Katalysator-Gestehungskosten
betragen in USA, Westeuropa und Japan rund 2 Milliarden DM, wovon etwa 60 %
vom Umsatzwert auf die chemische Industrie, 37 % auf die Erdölverarbeitung fallen.
Der Kostenanteil der Katalysatoren beträgt im Mittel weniger als 1 %, weil das
Wertverhältnis 135 : 1 beträgt. Dennoch ist hier die Grundlagenforschung noch
längst nicht am Ende, ja man beginnt erst jetzt, die Elementarschritte katalystischer
Reaktionen besser zu verstehen. Einer noch gründlicheren Erforschung auf diesem
Sektor bedürfen jene Effekte, welche ein Katalysatorzentrum - sei es eine
Metalloberfläche oder ein Metallatom - auf seine Wechselwirkung mit den
umzusetzenden Stoffen ausübt, wie man Katalysatorvergiftungsphänomene sowie
Katalysatorstabilität besser in der Griff bekommt und, vor allem, wie man ein
gegebenes Stoffgemisch noch selektiver in Richtung auf nur ein einziges von
mehreren möglichen Produkten lenkt.
Hier gehen volkswirtschaftliche und ökologische Interessen im
naturwissenschaftlichen Sachverstand ideal zusammen: Einerseits führen selektivere
Katalysatoren zu noch größerer Wertschöpfung auf der Produktseite, andererseits
leisten sie den überragenden Beitrag zur Energie- und Rohstoffeinsparung sowie zur
Reinhaltung der Umwelt. An Katalysatoren müssen Sie auch denken, wenn Sie in
der Zeitung von "Biotechnologie" lesen. Die verstärkte Nutzung biochemischer
Reaktionen für industrielle Zwecke ist absehbar und auch daher ein für junge
Forscher besonders breites und attraktives Betätigungsfeld.
Moderne Katalyseforschung ist nur als Verbundforschung möglich: Der Sachverstand
des präparativen, anorganischen, metallorganischen und organischen Chemikers
muß ergänzt werden durch das Wissen des Kristallographen um die
Strukturverhältnisse in den Träger- und aktiven Katalysatorkomponenten und durch
die Expertise des Physikers, der Absorptionsphänomene der reagierenden Stoffe an
oberflächenaktiven Atomen und Atomensembles studiert. Schließlich benötigen wir
den Verfahrensingenieur, wenn ein Prozeß die Hürde zur technischen Realität
überschreiten soll. Deswegen sind vor allem die Technischen Hochschulen für
diesen wichtigen Teil chemischer Grundlagenforschung prädestiniert. Substantielle
16
Grundlage aber bleibt die systematische präparative Laboratoriumsarbeit, welche
daher auch in der künftigen Ausbildung unserer Chemiestudenten das traditionell
große Gewicht behalten muß. Hierauf werde ich später nochmals zu sprechen
kommen.
Arzneimittel und Pflanzenschutzforschung
Anhaltend intensiv wie umfassend wird auch die Grundlagenforschung im Bereich
der Pharmaka und der Herbizide bleiben müssen. Chemiker (insbesondere
Biochemiker), Toxikologen, Mediziner und Landwirte werden hier noch mehr als
bisher interdisziplinär zusammenfinden müssen. Dabei geht es zwar auch um die
Erforschung von neuen Wirkstoffen unter dem Gesichtspunkt besserer
Verträglichkeit bei geringeren Nebenwirkungen. Dies ist jedoch nicht das
Hauptproblem, bedenkt man, daß die Schulmedizin rund 30.000 Krankheitsbilder
beschreibt und neue kennenlernt. Die Krankheitsbekämpfung kommt auch künftig in
keiner ihrer beiden Hauptprinzipien Prophylaxe und Therapie ohne Chemie aus.
Gerade jetzt wird an den Chemiker wieder eine aktuelle Erwartungshaltung
herangetragen: Welcher vernünftige Mensch würde eine wirksame Arznei gegen
AIDS ablehnen, hätten wir sie nur, trotz der damit vielleicht verbundenen
Nebenwirkungen oder Umweltbelastungen.
Die Forderung nach einer folgsameren Beachtung des Vorbilds der Natur ist gerade
in der Arzneimittelforschung obsolet, denn der Chemiker hat seine Fähigkeiten stets
an der Synthesekunst der Natur gemessen. Die Isolierung und Charakterisierung von
Wirkstoffen aus Pflanzen und niederen Lebewesen und die nachträgliche, meist sehr
mühsame chemische Synthese exakt dieser Stoffe war schon immer die typische
Verfahrensweise des Naturstoffchemikers. Morphin, Chinin, die Opium-, Mutterkorn-
und Tropaalkaloide, die Purine, Glykoside und die Vitamine seien stellvertretend
genannt; Enzyme, Hormone, Sera und Vakzine kamen später hinzu. Einige Stationen
seien auch für diesen Teilbereich aufgezeigt.
Paul Ehrlich, ein Schüler von Robert Koch, gilt als Vater der Chemotherapie. Er
entdeckte die Organoarsen-Verbindung Salvarsan und führte sie 1910 bei den
17
Farbwerken Hoechst in Frankfurt als damals einziges wirksames Mittel gegen
Syphilis ein. Hören wir, wozu er uns programmatisch aufruft:
"Wir wollen also den Parasiten an erster Stelle möglichst isoliert treffen, d. h. zielen
lernen, chemisch zielen!"
Müßig zu sagen, daß bereits damals der verantwortungsbewußte Wissenschaftler
auf seine Pflicht zur Aufdeckung schädlicher Nebenerscheinungen hinwies, und so
hat die Forschung der zurückliegenden Jahrzehnte die vergleichsweise giftigen
Arsenverbindungen dem Arzt wieder aus der Hand genommen und durch besser
metabolisierbare ersetzt.
Nehmen wir die Antibiotika, die jeder von uns schon einnehmen mußte. Das sind
Substanzen, die Mikroorganismen wie Bakterien, Hefen und Pilze in ihrem
Wachstum hemmen oder abtöten - Bakteriostatika oder Bakterizide. Die meisten
dieser Wirkstoffe sind natürliche Stoffwechselprodukte von Organismen wie z. B. das
von Alexander Fleming vor 60 Jahren zuerst aufgefundene "Penicillin" aus dem
Köpfchenschimmel Penicillium Notatum. Man hat gefunden, daß die hier gezeigte 6-
Aminopenicillansäure chemisch so etwas wie ein Leitmotiv ist, von dem sich andere
Penicillin-Antbiotika durch Molekülvariationen an strategisch geeigneten Stellen
ableiten. Diese Vorgehensweise war und bleibt die Domäne des präparativen
Chemikers, den wir für diese Art von Chemie an den Universitäten ausbilden.
Arzneimitte lforschung ist zwar auf ein konkretes Ziel gerichtet, also
anwendungsorientierte Forschung. Man darf aber nicht vergessen, daß hierfür auch
das synthetische Rüstzeug, der Schraubenschlüssen gewissermaßen, notwendig ist,
welches an noch einfacheren, noch leichter zugänglichen und billigeren chemischen
Substanzen zunächst entwickelt, erprobt und auf seinen Variantenreichtum
ausgelotet werden muß. Dort ist die Grundlagenforschung der Hochschulen
gefordert. Wenn sich nämlich die angegriffenen Bakterien wehren und das Enzym
Penicillinase bilden, welches unsere Penicilline unwirksam macht, dann muß der
Chemiker die Wirkstoffeigenschaften durch Molekülvariationen herbeiführen. Mit
Flucloxacillin ist dies gelungen.
18
Auch Sulfonamide sind der Erwähnung wert. Gerhard Domagk und seine Mitarbeiter
führten vor 50 Jahren bei der Firma Bayer den für Baktieren toxischen, für Menschen
aber verträglichen Farbstoff Sulfamidochrysoidin unter dem Namen "Prontosil" ein,
womit erstmals eine eindrucksvolle Bekämpfung der Infektionskrankheiten gelang.
Bald stellte sich heraus, daß gar nicht dieser rote Farbstoff bakteriostatisch wirkt,
sondern das daraus im Körper entstehende Stoffwechselprodukt, sein "Metabolit"
Sulfanilamid. Auch hier haben wir wieder eine Leitsubstanz für eine ganze Reihe
weiterer Sulfanilamide, die höhere Spezifität, bessere Verträglichkeit, längere
Wirkungsdauer erreichen. Der Wirkungsmechanismus dieser Substanzen beruht
darauf, daß der Wuchsstoff para-Aminobenzoesäure, den die Bakterien für ihren
Stoffwechsel benötigen, durch die molekülarchitektonisch sehr ähnlich Sulfanilamid-
Systeme verdrängt wird.
Unsere chemiefeindliche Zeit vergißt zu leicht die Bedeutung der Sulfonamide und
Antibiotika. Auf vier Krankheitsbilder sei exemplarisch hingewiesen: Die
Mortalitätsraten betrugen bei Hirnhaut- und Herzklappenentzündung mehr als 95 %,
nach Einführung von Sulfonamiden und Antibiotika sanken sie auf 10 bzw. 30 %.
Auch Infektionskrankheiten wie die Lungenentzündung und Epidemien wie die
Cholera waren für die Menschheit auf einen Schlag kein Problem mehr. Dadurch,
aber auch durch künstliche Pflanzendüngung und chemischen Pflanzenschutz
erhöhte sich die mittlere Lebenserwartung der Menschen, die in den Vorteil der
Chemie kamen, nicht nur marginal. Bei erwachsenen Mann - da sind die Zahlen um
5 Jahre ungünstiger als für die Frau - betrug die mittlere Lebenserwartung im Jahre
1920 55 Jahre, heute sind es 15 Jahre mehr, für das Jahr 2000 rechnet man mit
einer Lebenserwartung von durchschnittlich 75 bis 78 Jahren.
Auch die notorisch schwierigen Krankheitsbilder im Bereich der Neurologie hat man
neuerdings besser in der Griff bekommen. Hatte zwar schon die Schocktherapie eine
erhebliche Besserung gebracht, so setzten sich in den 50er Jahren wirksame
Psychopharmaka durch, aus deren Reihe hier stellvertretend die Neuroleptika Haldol
und Imap genannt seien - kompliziert anmutende organische Verbindungen, deren
Synthese nicht ganz einfach ist, von einem geübten Chemiestudenten methodisch
aber konzipierbar sein muß. Mußten vorher von der Universitätsklinik München noch
21 von 100 schizophrenen Patienten ohne Besserung in eine Heilanstalt eingeliefert
19
werden, von denen dort wiederum 4 dauerhaft verblieben, so waren es kurz nach
Einführung der Psychopharmaka nur noch 9, davon mußte nur 1 von 200 verbleiben.
Als neuere Entwicklung kommen Langzeitprophylaxen mit anorganischen
Mineralverbindungen hinzu, und so werden Lithiumsalze (z. B. Lithiumaspartat und -
carbonat) gegen den manisch depressiven Formenkreis eingesetzt, aber nicht als
Heilmittel. In diesem Zusammenhang erkennt man derzeit mehr und mehr die große
Bedeutung metallhaltiger Pharmaka, das sind Verbindungen, welche die nicht oder
kaum toxischen Metall- oder Spurenelemente wie Lithium, Magnesium, Gold und
andere enthalten. Wenig beachtet von der Öffentlichkeit, befindet sich die
Grundlagenforschung hier vermutlich in einem folgenreichen Umbruch. Die
bioanorganische Chemie muß man daher als wichtiges und lohnendes Arbeitsgebiet
für junge Chemiker verstehen. Hier wird der Anorganiker im Zusammenwirken mit
dem Mediziner und dem Pharmakologen in eine Pflicht genommen, die man sich
noch vor 10 Jahren nicht hat vorstellen können.
Der Mineralstoffwechsel des Körpers verbirgt sich auch hinter der Wirkungsweise
neuer organischer Arzneistoffe, für die beispielhaft die Calcium-Antagonisten
Verapamil und Nifedipin genannt seien. Calcium-Ionen sind die Bindeglieder
zwischen der elektrischen Erregung, die von den Nerven auf die Muskelzellen
übergeleitet werden und der daraus resultierenden Muskelkontraktion. Wenn
Calcium in die Zelle wandert, wird die Muskelkontraktion ausgelöst. Calcium-
Antagonisten blockieren die Kanäle der Zellwand gegen den Durchtritt der Calcium-
Ionen, und sie entlasten beispielsweise die Herzmuskeln und die glatte Muskulatur
der Herzkranzgefäße. Es kommt zu weniger Kontraktionen, zu geringerem Energie-,
d. h. Sauerstoffverbrauch. Andererseits wird das Sauerstoffangebot an den
Herzmuskel sogar noch verstärkt, weil das Blut ungehindert durch die erweiterten
Herzmuskel- und Herzkranzgefäße fließen kann. Angina-Pectoris-Anfälle wurde seit
Einführung dieser neuen Substanzklasse um 70 - 80 % der Fälle seltener, manchmal
verschwanden sie ganz.
Der Kreis im Reigen der Chemotherapeutika schließt sich, wenn ich abschließend
auf die Bilharziose verweise, eine parasitäre Massenerkrankung im tropischen
Lebensraum, von welcher im Moment etwa 200 Millionen Menschen befallen sind.
Gelingt es, mit dem neuen Medikament Praziquantel - einer deutschen
20
Chemikerleistung - ein Gebiet längere Zeit bilharziosefrei zu halten, so wird der
Kreislauf des Parasiten unterbrochen, so daß er wegen seiner begrenzten
Lebensfähigkeit außerhalb des Wirts dann zur Ausrottung kommt.
Kein Nutzen ohne Risiko: das DDT-Problem
Nutzen ohne Risiko gibt es auch in der Krankheitsbekämpfung nicht. Sie alle haben
von DDT gehört, welches vor einem halben Jahrhundert vom Schweizer Chemiker
Paul Müller gegen Malaria und das von einer einzigen Laus übertragbare tödliche
Fleckfieber eingesetzt wurde. Zurecht erhielt Müller 1948 den Medizin-Nobelpreis.
Auch wenn DDT ein sehr gefährlicher Stoff ist 4), so sei am Beispiel von Sri Lanka
doch daran erinnert, daß dort Malaria im Jahre 1946 etwa 2,8 Millionen Tote forderte,
nach dem Einsatz von DDT waren es 1961 nur mehr 110.
Nach dem DDT-Verbot stieg die Todesrate sprunghaft auf das Viertausendfache,
zwei Jahre später waren es wieder 1,5 Millionen, hauptsächlich Kinder. Auch in
Italien waren 1947 noch 4000 Malaria-Tote zu beklagen, DDT machte das Land bis
1952 absolut malariafrei. Mittlerweile hat man aber DDT-resistente Arthropoden-
Stämme gefunden. Auch die DDT-Anreicherung in der Nahrungskette ist
problematisch, obwohl für den Menschen Gefährdungen epidemiologischer Art nicht
nachweisbar sind. Dennoch wurde dieses Mittel unter Berücksichtigung einer großen
Sicherheitsspanne aus den ökotoxikologischen Untersuchungen abgesetzt.
Vitamine aus einfachsten Grundstoffen
Wenn ich Ihnen nun den Weg von einfachsten Grundstoffen zum Vitamin zeige, so
steckt in diesem wie ein Fahrplan aussehenden Formelschema chemische
Grundlagenforschung von Jahrzehnten. Ausgehend von Grundstoffen wie Erdöl,
Carbid oder Methan bereitet man heute unter Anwendung zahlreicher
Reaktionsprinzipien, die hauptsächlich die deutsche Hochschulchemie
hervorgebracht hat, Stoffe wie das Vitamin A. Klassische organische
Aufbaureaktionen, stufenweise Synthese also, führt über Zwischenverbindungen, die
auch in der Natur vorkommen, zu dem einen Baustein, während vorwiegend die
katalytischen Reaktionen des Metallorganikers schrittweise zum zweiten Baustein
21
führen, die dann zum fertigen Vitamin vereinigt werden. So komplett das Bild
aussieht: Auch heute sind beim Entwurf neuer Molekülarchitekturen und der
Konzeption neuer Synthesewege der Phantasie des Chemikers keine Grenzen
gesetzt. Intelligenz, Zeit, Muße und Geld muß er haben, um den Weg weiter
erfolgreich fortsetzen zu können, und eine gute Ausbildung.
Wünsche und Hoffnungen der Grundlagenforschung
Hierzu erlauben Sie dem Hochschullehrer die Formulierung einiger Wünsche und
Hoffnungen 5). Was wir weiterhin brauchen, sind junge Menschen, die sich an
Chemie begeistern können und noch mehr als bisher kritische Naturbeobachter und
Naturforscher werden. Das Ohr an die Natur legen müssen sie, wie der Münchner
Chemiker Adolf von Baeyer einmal gesagt hat, und wahrnehmen, was von dort
kommt - heute mit Instrumenten , die um Größenordnungen empfindlicher, genauer,
zuverlässiger sind als damals. Den verantwortungsbewußten Chemiker als
Wissenschaftler, der sich auch noch auf das intellektuelle Handwerk versteht, wird es
aber künftig nur geben, wenn Staat und Gesellschaft Vorsorge leisten. Das
gesellschaftliche Umfeld muß die Naturwissenschaft und insbesondere die
angefeindete Chemie als symbiotisch unerläßliche Komponente anerkennen und
fördern.
Unser Hauptinteresse darf nicht nur dem engagierten Umweltschützer gelten; unsere
Zuwendung und Förderung verdient vielmehr der junge Naturforscher, der bei
fachkundiger und verantwortungsbewußter Erziehung und Ausbildung immer auch
Umweltschützer gewesen ist und bleiben wird. Was erwartet also die Universität, die
diesem Bildungsauftrag gerecht zu werden hat, von der Öffentlichkeit und den
Politikern? Mit dem Mut zur Unvollständigkeit zähle ich für die Chemie wichtige
Anliegen auf, die größtenteils auch für die anderen Naturwissenschaften gelten:
1. Der Chemiker von morgen muß eine umfassende Bildung besitzen.
Er muß geistige Interessen haben, geschichtsbewußt erzogen sein; musisch-
künstlerische Neigungen sind nicht schädlich. Nur die Einbindung in ein
lebendiges geistiges Spannungsfeld bewahrt ihn vor dem gesellschaftspolitisch
verheerenden Verfall in die fachliche Enge. Weg also mit der fachlichen
22
Spezialisierung der 17- und 18jährigen! Nötig ist die Hinwendung und
Rückbesinnung auf ein Gymnasialsystem, welches die Jugendlichen durch
Einbindung in Literatur und Philosophie vor geistiger Beziehungslosigkeit bewahrt
und ihnen ethische Normen aufzeigt.
2. Förderung der Spitzenleistung, Förderung der Leistungselite auf dem Boden einer
maßvollen Breitenausbildung!
Ebenso wie die Öffentlichkeit von uns Hochschullehrern den Mut zur
Leistungsselektion fordern kann, so erwarten wir umgekehrt die unbürokratische
Förderung der Spitzenleistung. Hierfür kann nichts zu teuer sein. Chemie als
intellektuelle Handwerkskunst wird in Zukunft nur dann erfolgreich bestehen, wenn
der überdurchschnittlich begabte Student intellektuell und handwerklich
umfassend ausgebildet wird. Dies ist teuer. Dennoch ist keine Forschung in ihrer
Langzeitwirkung billiger als die Grundlagenforschung an den Universitäten. Es war
die deutsche chemische Industrie, später jene in der Bundesrepublik, die als erste
die Bedeutung der Leistungselite erkannt und den Mut hat, sie zu fördern. So ist
der Fonds der chemischen Industrie zu einer unbürokratischen
Förderungsinstitution geworden, weltweit vorbildlich. Sie vertraut auf die Leistung
von tüchtigen Studenten und Professoren, ohne sie an den Zweck zu binden oder
sie zu reglementieren. Man hat erkannt, daß Eliten nicht eingekauft, nicht
organisiert oder nach Plan rekrutiert werden können. Sie entstehen nur dann,
wenn Freiräume geschaffen worden sind, nicht mehr, aber auch nichts
Schwereres als dieses. Das Negativbeispiel teils nichtexistenter chemischer
Grundlagenforschung in den Staatshandelsländern des Ostblocks möge uns eine
Warnung sein, insbesondere aber jenen, die an der Chemie hierzulande kein
gutes Haar mehr lassen.
3. Mehr Flexibilität in der Ausbildung.
Ich verstehe darunter beispielsweise den staatlich unterstützten Wechsel des
Studienortes sowie eine Öffnung unseres monolithischen, ausschließlich auf die
Heranbildung von Forschungschemikern ausgerichtetes Chemiestudium. Viele
Politiker mögen der Meinung sein, daß Leistung im Durchschnitt am besten
sprießt, wenn man die Pflänzchen möglichst gleichmäßig gießt. Falsch ist diese
Haltung trotzdem. Der in anderen technologisch hoch entwickelten Ländern
23
übliche Studienplatzwechsel etwa nach dem Vordiplom oder nach der
Diplomarbeit zum Zwecke der Promotion kostet zwar zunächst mehr Geld, würde
sich aber auch aus reinen Wirtschaftlichkeitsüberlegungen heraus schon
mittelfristig lohnen. In kurzer Zeit nämlich würden sich aus der Vielzahl der
deutschen Hochschulen die Spitzeninstitutionen herauskristallisieren, an denen
sich die fähigsten Wissenschaftler und Studenten wieder versammeln und
zueinander finden könnten. Dort könnten die Spitzengruppen dann effektiver und
schneller studieren. Unsere Gesellschaft muß sich noch mehr als Elitebewußtsein
gewöhnen, worunter die Summe aus Begabung und Engagement in stetiger
Bewährung zu verstehen ist. Der natürliche Wettbewerb innerhalb einer
"Bundesliga Hochschule" würde sich lohnen. Qualität statt Quantität wäre ein
wirksames Leistungskorrektiv, wenn es länderübergreifend seine Wirksamkeit
entfalten kann. Dies beinhaltet in der Konsequenz eine Absage an den
"Landeskinderbonus". Ohne großen Wind zu machen, war es hier
bezeichnenderweise wieder einmal die chemische Industrie, welche unlängst
sogenannte Mobilitätsstipendien für überdurchschnittlich qualifizierte Studenten
eingeführt hat, die sogenannten "Kekulé-Stipendien", benannt nach einem unserer
großen Chemiker des 19. Jahrhunderts. Damit kann ein Chemieabsolvent seine
Doktorarbeit an einer anderen Hochschule anfertigen, was ihm neben der
Erweiterung seiner wissenschaftlich-handwerklichen Fertigkeiten auch die Chance
der Öffnung seines geistigen Horizonts bietet. Es wäre gut, wenn unsere Politiker
diesem Vorbild alsbald folgen würden. Damit verbindet sich auch die Forderung,
daß der heute partiell fehlgesteuerte Hochschulzugang in eine Richtung zu
korrigieren ist als beispielsweise die Professoren über die Auswahl ihrer
Studienanfänger mitentscheiden.
Meinen Worten entnehmen Sie, daß ich gegen eine nochmalige, gewaltsame
Verkürzung des Chemiestudiums bin. Ein Zeitraum von 15 Semestern sollte den
Abiturienten zum Doktorgrad führen. Dieses Wort ist auch an die chemische
Industrie gerichtet.
4. Die Chemie muss sich über neue Techniksektoren neu definieren.
Die chemische Grundlagenforschung steht heute vor einer Vielzahl neuer
Aufgaben. Denken Sie etwa an die Forderung nach neuen temperatur- und
24
mechanisch haltbaren Keramikwerkstoffen, Verbundwerkstoffen und
Spezialpolymeren, an die rapide Entwicklung von Biotechnologie und
Gentechnologie oder an Materialien für die Informationstechnik, um nur das
momentan Herausragende zu nennen. Diese neuen Forderungen müssen rasch in
die klassische Chemikerausbildung integriert werden, was nur nach dem Prinzip
der schwerpunktmäßigen, dann aber um so massiveren Forschungsförderung an
den Universitäten sinnvoll ist. Die Wettbewerbsfähigkeit zu anderen
Industrienationen werden wir nur bestehen, wenn hier solche
Industriekooperationen zustande kommen und staatlicherseits gefördert werden,
die den Hochschullaboratorien dennoch jenen Freiraum garantieren, den
innovative Grundlagenforschung benötigt.
Und ein Letztes: Chemische Forschung sollte künftig mehr als bisher die
intellektuellen Ressourcen Europas nutzen, indem junge, unverbrauchte, großteils
aber unerkannte Talente als Gastforscher in unser Land geholt werden. Hierfür
geeignete Förderprogramme zur besseren wissenschaftlichen Verklammerung der
europäischen Staaten bestehen mit England, Frankreich, Italien und neuerdings
Spanien, und die Alexander von Humboldt-Stiftung ist hierfür die ideale Drehscheibe.
Die derzeit noch mangelhafte Nutzung dieser Möglichkeiten ist sehr der
monolithischen Orientierung der deutschen Chemie nach den USA zuzuschreiben,
was die Wissenschaftsbeziehungen innerhalb Europas weniger attraktiv hat
erscheinen lassen.
Schlußwort
Wer die Bedeutung der chemischen Grundlagenforschung verkennt und Chemie an
den nachweislich seltenen Unfällen der letzten Jahre mißt, ist einseitig emotional.
Das heißt nicht, daß der Chemiker bei den gestiegenen Anforderungen an Vielfalt,
Qualität und Quantität seiner Produkte nicht noch stärker als bisher auf die
Entwicklung möglichst ballastfreier Stoffe achten muß. Diese Forderung markiert
aber keineswegs einen kognitiven Neubeginn, sondern setzt vielmehr die Arbeit
vieler Chemikergenerationen konsequent in die Zukunft fort. Wir Chemiker sollten
mehr Mut haben zur Warnung vor den falschen Propheten. Aber wir müssen auch
unsere eigenen traditionellen Positionen kritisch überprüfen – nicht um des
25
Zeitgeistes willen, sondern den Menschen zu liebe, die Chemie machen und Chemie
brauchen. Dazu gehören wir irgendwie alle.
26
Zur Person des Autors:
Geb. 1948 in Kelheim/Donau; Schüler von E. O. Fischer (TU München), H. Brunner
(Univ. Regensburg) und P. S. Skell (Pennsylvania State University). Promotion 1973,
Habilitation 1978 in Regensburg. 1979 Professor in Regensburg, ab 1982 o.
Professor in Frankfurt am Main. Seit 1985 o. Professor und Mitvorstand des
Anorganisch-chemischen Instituts der Technischen Universität München (Nachfolge
E. O. Fischer). - 200 Originalpublikationen auf dem Gebiet der metallorganischen
Chemie, 8 Übersichtsartikel. Fachgutachter Anorg. Chemie bei der Alexander von
Humboldt-Stiftung, Mitherausgeben von "Polyhedron" und "Journal of Organometallic
Chemistry". Mitglied des Senats der TU München. - Chemiepreis der Göttinger
Akademie der Wissenschaften (1978), Otto -Klung-Preis Berlin (1982), Karl-
Winnacker-Stipendium (1979), Leibniz-Preis der DFG (1986), Arthur D. Little Lecturer
(MIT Boston 1985), Southeast Coast Lecturer USA (1987), Gastprofessor der
Universitäten Bordeaux und Toulouse (1987).
Die in der Internet-Fassung (September 2000) nicht abgedruckten Farbbilder können
beim Autor angefordert werden.
Literatur- und Quellenverzeichnis
1. Daten zur Chemiewirtschaft:
a) "Chemie im Dialog", Schriftenreihe des Fonds der Chemischen Industrie, Heft
19;
b) Jahresbericht, Verband der Chemischen Industrie e. V. 1985/86 zum Stand
vom 31. März 1986;
c) Chemie in Bayern, VCI Bayern, München 1984.
2. Zitiert nach "Der Spiegel" (Nr. 9) v. 23. Februar 1987.
3. Geschichte der Chemie im Mittelalter und in der Neuzeit:
a) E. Schmauderer (Hrsgb.): Der Chemiker im Wandel der Zeiten, Verlag
Chemie, Weinheim 1973;
b) W. Ganzenmüller: Die Alchemie im Mittelalter, Paderborn 1938, Nachdruck
Hildesheim 1967;
27
c) H. Wußing (Hrsgb.): Geschichte der Naturwissenschaften, Aulis Verlag
Deubner & Co. KG, Köln 1983;
d) E. Ströker: Theoriewandel in der Wissenschaftsgeschichte - Chemie im 18.
Jahrhundert, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Mai 1982;
e) R. Sachleben und A. Hermann: Große Chemiker, Ernst Battenberg Verlag,
Stuttgart 1961;
f) G. Bugge: Das Buch der Großen Chemiker, Bd. I und II, Verlag Chemie,
Weinheim 1965;
g) S. Engels und A. Nowak: Auf der Spur der Elemente; VEB Deutscher Verlag
für Grundstoffindustrie, Leipzig 1983;
h) W. Prandtl: Die Geschichte des chemischen Laboratoriums der Bayerischen
Akademie der Wissenschaften in München, Verlag Chemie, Weinheim 1952;
i) Justus v. Liebig/Friedrich Wöhler: Briefe 1829 - 1873; Jürgen Cromm Verlag,
Göttingen 1982.
4. G. Boche (Hrsgb.): Chemie und Gesellschaft - Herausforderung an eine Welt im
Wandel (Marburger Forum Philippinum, 16/1983), Wissenschaftliche
Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1984.
5. Vgl. zu diesem Thema auch.
a) H. Musso, Nachr. Chem. Techn. 32 (1984) 699;
b) G. Quinkert, ibid. 30 (1982) 253;
c) K. Weissermel, ibid. 30 (1982) 1003;
d) G. Quinkert, ibid 29 (1981) 599;
d) M. Seefelder: Ausbildung in Deutschland, in: 35 Jahre Fonds der Chemischen
Industrie 1950 - 1985, Frankfurt am Main 1985.
Abbildungslegenden Abbildung 1. Die drei betrügerischen Alchemisten, eine Illustration zum Blockbuch "Der Antichrist", Bayerische Staatsbibliothek. Sign. 2?, Fol. Xyl. 1, Blatt 7. - Zu Sebastian Brant vgl.: Das Narrenschiff (1494), hrsg. v. M. Lemmer, S. 176, Tübingen 1962.
28
Abbildung 2. Georg Honauer (oben) mit dem Hofmeister (Mitte) und drei Dienern (unten) am Galgen. - Aus: Markus zum Lamb: Thesaurus Pictuarum, Bd. 24, S. 176-196, Landesbibliothek Darmstadt. Bildwiedergabe nach Lit. 3a), S. 88. Abbildung 3. H. Khunart: "Amphitheatrum sapientiae" (Deutsches Museum München). Abbildung 4. Alchemie als intellektuelle Handwerkskunst: Andreas Libavius und Ernst Georg Stahl. Zitate aus: a) A. Libavius; Alchemia, Johannes Saurius, Francofort: 1597. b) G. E. Stahl: Chymia rationalis et experimentatlis (mit deutschem Untertitel), 2. Auflage, Leipzig 1752. Abbildung 5. Chemische Reinigungsoperationen: Sublimation und Destillation von Schwefel zur Zeit von Georg Agricola (1494-1555). Abbildung 6. Von der mittelalterlichen Mystik zur modernen Naturwissenschaft. Links: Allegorische Darstellung der Prinzipien des Brennbaren und des Metallischen (Rosarium Philosophorum, Basel 1593, nach Lit. 3g), S. 47). - Rechts: John Dalton (1766-1844). Abbildung 7. Der französische Naturforscher und Chemiker Antoine Laurent Lavoisier mit seiner Gemahlin Marie-Anne im Laboratorium. Gemälde von Jacques David (Metropolitan Museum of Art New York. Der "fermier génerál" Lavoisier starb 1794 auf der Guillotine). (Robespierre: "Wir brauchen Revolutionäre,keine Naturwissenschaftler!") Abbildung 8. Jeremias Benjamin Richter (1762-1807) promovierte 1789 in Königsberg bei I. Kant "De usu Mathesos in Chemia" und wurde durch die Anwendung der Mathematik auf die Chemie zum Entdecker der chemischen Proportionen. Er prägte den Begriff "Stöchiometrie" - Zitat aus: J. B. Richter: Anfangsgründe der Stöchiometrie oder Meßkunst chymischer Elemente, 1. Theil, Breßlau, Hirschberg 1792. Nachdruck Hildesheim 1968. Abbildung 9. Chemische Ausbildung; Das "Reiselaboratium" des Joh. Joach. Becheri Scyphus Becheranius (1719) nach Lit. 3a), S. 153. - Laboratorien von Justus von Liebig (Mitte) und Hermann Kolbe (unten). Abbildung 10. König Max II. (rechts) mit Wilhelm von Humboldt und Justus von Liebig in München; vgl. hierzu B. Hubensteiner: Bayerische Geschichte, Süddeutscher Verlag, München 1981. Abbildung 11. Justus Freiherr von Liebig (1803-1873) nach einem Gemälde von Hanfstaengl (Deutsches Museum München). Abbildung 12. Die erste "Bayerische Actiengesellschaft" (heute Südchemie AG) in Heufeld/Oberbayern (aus: "Chemie in Bayern", Verein der Bayerischen Chemischen Industrie e. V., München 1984). Abbildung 13. Adolf von Baeyer, Münchner Nobelpreisträger des Jahres 1905. Abbildung 14. Richard Willstätter, Münchner Nobelpreisträger des Jahres 1915.
29
Abbildung 15. Heinrich Otto Wieland, Münchner Nobelpreisträger des Jahres 1927. Abbildung 16. Hans Fischer, Münchner Nobelpreisträger des Jahres 1930. Abbildung 17. Chemie als interdisziplinäre Wissenschaft. Abbildung 18. Autoklaven zur Vinylchlorid-Polymerisation im Werk Gendorf/Obb. der HOECHST AG. Abbildung 19. Mit einer Genauigkeit bis 0,01 pm (= 10-12 Meter) kann die Röntgendiffraktometrie an Kristallen die Abstände von Atomen ermitteln. Hier ein SCHAKAL-Bild der metallorganischen Verbindung (C5Me5)2Re2Cl4 in Projektionsdarstellung (W. A. Herrmann, R. A. Fischer, E. Herdtweck, TU München 1987). Abbildung 20. Meilensteine der großtechnischen Katalyse: "Sanfte Chemie". Abbildung 21. Volkswirtschaftliche Bedeutung von Katalysatoren. Abbildung 22. Paul Ehrlich - Begründer der Chemotherapie. Abbildung 23. Antibiotika: Arzneimittel seit Alexander Fleming (1881-1955). Abbildung 24. Sulfonamide: Arzneimittel seit Gerhard Domagk (1893-1964). Abbildung 25. Bedeutung der Sulfonamide und Antibiotika. Abbildung 26. Schlüsselsubstanzen der Antipsychotika (Neuroleptika): Haldol und Imap. Abbildung 27. Neuere Entwicklungen der Pharmaforschung: Praziquantel, Nifedipin/Verapamil, Human-Insulin. Abbildung 28. Malaria und DDT: Bilanz. Abbildung 29. Vitamin A aus einfachsten Grundstoffen: Wertschöpfung der chemischen Synthese. Abbildung 30. Mut zur Förderung der Spitzenleistung (Postkarte vom Nockherberg, 1986). Abbildung 31. Mobilitätsstipendien des Fonds der Chemischen Industrie sind benannt nach August Kekulé von Stradonitz (1829-1896), einem Schüler von Liebig, Gerhardt und Dumas. Seine Lebensstationen: Gießen - Paris - Gießen - Chur - London - Heidelberg - Gent - Bonn. Abbildung 32. Der Kreis schließt sich. Mittelalterliche Elementsymbole nach Anton Josef Kirchweger: "Aurea Catena Homeri" (ca. 1705).