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Abenteuer Philosophie 4/2005 Chronos und Kairos TEXT: HANNES WEINELT Die zwei Gesichter der Zeit

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Chronosund Kairos

T E X T : H A N N E S W E I N E L T

Die zwei Gesichter der Zeit

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ls Gott die Zeit erschuf, hat ervon Eile nichts gesagt“, lautet ein afrikanisches Sprich-

wort.Uns jedoch läuft die Zeit davon. Wir leiden unter chronischem Zeitmangel. Unsere Zeit misst der Chronometer – dieUhr, während in anderen Kulturen die Zeitgewogen wurde – von Kairos, dem Gottdes rechten Augenblickes.

Chronos und Kairos – oder vom Lesen in den zwei Gesichtern der Zeit

Die verschiedenen Wissen-schaften nähern sich auf ver-schiedene Weise dem Phäno-men Zeit: Die Geschichtswissen-schaft sucht Chronologien zu erstellenund Zeitalter zu definieren, die Psycholo-gie erforscht das subjektive Zeiterleben,die Naturwissenschaft sprach seit Newtonvon einer absoluten Zeit, bis sich mit Ein-stein alles „relativierte“, und die Philoso-phen aller Zeiten verbanden auf die eineoder andere Weise die Zeit mit demmenschlichen Bewusstsein. Dennochbleibt die Zeit für uns schwer zu ver-stehen und ebenso schwierig zu be-herrschen.

Zeit ist WegAuf einer Zugreise von Innsbruck nach

Graz hatte ich im vergangenen Jahr eineBegegnung mit der Zeit: Ich begriff dieZeit plötzlich als fixe Größe, wie die Weg-strecke Innsbruck – Graz.

Die Vergangenheit ist der bereits zu-rückgelegte Weg, die Zukunft der nochvor mir liegende und die Gegenwart ist deraktuelle Aufenthalt. Je mehr ich in meinerZeit, d.h. auf meinem Weg, bin, umsomehr erlebe ich die Zeit als Ruhe, als Sein,so wie das ruhige Dahingleiten im Zug. Jeweiter ich jedoch von meiner Zeit bzw.meinem Weg abweiche, umso schneller

scheint mir die Zeit davonzulaufen, so wiewenn ich beispielsweise in Schladmingaussteige und mich dort in den Almen undauf den Schipisten, in den Restaurants undBars verliere, auf der Jagd nach Vergnü-gungen, nach dem vermeintlichen Leben.Je mehr und je schneller ich jage, umsoschneller scheint die Zeit zu vergehen.Doch es ist nicht die Zeit, die davonläuft,denn die Zeit ist; ich bin es, der davon-läuft, abseits meines eigentlichen Wegesund Zieles in Graz. Erst wenn ich michwieder besinne und auf meinen Weg kon-zentriere, gelange ich zurück zum Bahn-hof Schladming, wo ich bei nächster Ge-

legenheit wieder in einen Zug einsteigenund mich auf meinen Weg begeben kann.Dann wird die Zeit wieder zur Ewigkeitund das Leben zu einer Suche nach innen,statt eine Jagd nach Äußerlichkeiten

In diesem Moment erkannte ich, dassdie Zeit der Weg ist und der Weg das Ziel.Denn wie im Märchen von Frau Holle ge-nügt es nicht, einfach den Weg zu gehen,

um zum Ziel zu gelangen, sondern manmuss die Zeit nützen, d. h. das Brot her-ausholen, den Apfelbaum schütteln, danngibt es am Ende des Weges das Gold, an-sonsten hat man Pech.

Chronos, der Fresser

Laut griechischer Mythologie entthron-te Chronos seinen Vater Uranos im Him-mel. Um demselben Schicksal zu entge-hen, verschlang Chronos alle seine Kin-der. Nur Zeus wurde durch eine List ge-rettet und besiegte seinen Vater.

Chronos ist das Alte und auch das Mys-terium der Zeit. Die Zeit frisst alle ihreKinder, alles verliert sich im Dunkel derZeit, außer Zeus, der Repräsentant derMacht. Wer Macht über sich selbst ge-winnt, gewinnt auch Macht über die Zeit.

Es gilt die Essenz, das Göttli-che den Klauen der Zeit zuentreißen und daraus unsereErfahrungen zu schmieden.Der Schatz des Chronosliegt in den Erfahrungen.Die Zeit heilt alle Wunden

und hilft die wahren Erfah-rungen herauszudestillieren.

Wer jedoch die Zeit nicht nützt, wer nichtmit der Zeit lernt und reift, den beginntChronos zu verschlingen.

Wer nicht die Ursache einer Krankheitbehebt, wird chronisch krank, wer nichtdie Ursache von Unzufriedenheit behebt,wird chronisch unzufrieden, wer sichnicht ständig erneuert, sondern in der all-täglichen Routine versinkt, wird chro-nisch müde.

Die chronische Suche nach einem Aus-weg im Außen ist die Sucht: Mit Tabletten,Zigaretten, Alkohol, Drogen, Sex oder alsWorkaholic etc. delegieren wir die Lösungan eine äußere Macht, von der wir schließ-lich auch abhängig werden. Die wirklicheLösung heißt aber, die Macht über unsselbst zu gewinnen, d.h. über unsere Äng-

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Chronos mit Stundenglas als Personifikation der Lebenszeit

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ste, unsere Eitelkeiten, unseren Egoismus,unsere Aggressionen, unsere Unbe-herrschtheit, unsere Nervosität usw.

Der passive, unbewusste Mensch wirdsomit von der Zeit „gefressen“.

Er fühlt sich ständig als Opfer. Da er sei-ne Probleme nicht angeht, werden vielechronisch. Da er vor seinem Leben da-vonläuft, hat er das Gefühl, die Zeitläuft ihm davon. Der Druck,auch Stress genannt, wirdimmer größer bei gleich-zeitiger Panik vorfreier Zeit, die er so-fort vertreibt undtotschlägt, umsich ja nichtmit sich selbstbeschäftigenzu müssen.

Dem akti-ven, be-wusstenMenschendagegen be-gegnetChronos alsweiser Alter.Er verwandeltdie Zeit in Er-fahrung und in ei-nen Weg zu sichselbst. Da er dem Le-ben und den Problemenaktiv entgegentritt, empfin-det er keinen Druck, sondern er-lebt die Zeit als notwendigen Faktor,in dem alle Dinge wachsen und reifen; undals eine permanent sich bietende Gele-genheit.

Kairos, die Gelegenheit

Genau an dieser Stelle tritt Kairos in Er-scheinung. Kairos ist der jüngste Sohn desZeus und damit Enkel des Chronos.

Er galt als Gott des rechten Augenbli-

ckes und der günstigen Gelegenheit. Dar-gestellt als junger Mann mit Flügel an denFüßen, denn die Gelegenheit ist schnellverpasst. Kahl am Nacken, doch mit ei-nem Haarschopf an der Stirn, denn die Ge-legenheit will beim Schopf gepackt wer-den.

Eine Waage in der einen Hand, um dieZeit zu wägen, ein scharfes Messer in deranderen, um die unnützen Bindungen zuzerschneiden, die uns in der Vergangen-heit gefangen halten, und uns einer Zu-kunft zu öffnen.

Während Chronos die Quantität der Zeitund die Erfahrungen der Vergangenheitrepräsentiert, ist Kairos das Jetzt, der di-mensionslose Punkt der Gegenwart. Kai-ros enthüllt eine neue Dimension der Zeit,die wir weitgehend außer Acht lassen, dieQualität der Zeit, den richtigen Zeitpunkt.

Eine Katze kann stundenlang einerMaus hinterherjagen, um schließlich

erschöpft aufzugeben, oder siewartet in Ruhe und Auf-

merksamkeit auf die Ge-legenheit, wo sie mit

einem Tatzenhiebihr Ziel erreicht.

Um die Gele-genheit beimSchopf zu pa-cken,braucht esinnere Ruheund die nö-tige Auf-merksam-keit, die derständig Ge-

hetzte nichthat. Um die

richtige Gele-genheit beim

Schopf zu packen,muss ich klar wis-

sen, wohin ich will.Denn das Leben bietet

permanent unzählige Gele-genheiten, wie unzählige Züge,

die am Bahnhof abfahren. Kairos bedeutet nicht einfach einen Zug

zu erwischen, sondern den Zug nach Graz,der mich also meinem Ziel, meiner Hei-mat näher bringt. Kairos hilft zur rechtenZeit das Rechte zu tun. Es heißt das Brotaus dem Ofen zu nehmen und die Äpfelvom Baum zu schütteln, wenn die Zeit reifist.

In Wirklichkeit kann man demnach kei-ne Zeit verlieren, sondern nur Gelegen-

Kairo, der jüngste Sohn des Zeus, der Gott des rechten Augenblickes

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heiten. Wer den Kairos nützt, die rechteGelegenheit beim Schopf packt, verwan-delt die Zeit in Weg und den Weg in dasZiel.

In diesem Sinne lassen sich auch dieWorte von Victor Hugo verstehen:

„Die Zukunft hat viele Namen: Für denSchwachen ist sie das Unsichtbare, fürden Furchtsamen das Unbekannte,für den Mutigen die Gelegenheit.“

Die Zeit – dein Feind, die Zeit – dein Freund

Chronos und Kairos enthüllen unsdie zwei Gesichter der Zeit, die Quan-tität und die Qualität, die machtvolleVergangenheit mit ihren Erfahrungenund die flüchtige Gegenwart mit ihrenGelegenheiten.

Ob wir die Zeit als unseren Feindoder Freund erleben, liegt an uns.

Je mehr wir uns zerstreuen und voneiner Sache zur nächsten hetzen, umsoschneller verfliegt die Zeit, ohne dasswir zu jener Tiefe gelangen, wo wirdem Schatz der Erfahrungen begeg-nen; und umso mehr Gelegenheitenverpassen wir, weil uns die nötige Ge-lassenheit und Aufmerksamkeit fehlt.Je mehr wir uns aber konzentrieren,umso intensiver und ausgedehnterwird die Zeit und umso wacher pa-cken wir die richtige Gelegenheitbeim Schopf.

Je unentschlossener wir sind, umsomehr Zeit verlieren wir, weil wir die Ge-legenheit nicht ergreifen. Je entschlosse-ner und risikofreudiger wir sind, umsomehr Zeit gewinnen wir; denn wenn dieSache gut ausgeht, haben wir eine Gele-genheit genützt, im anderen Falle zumin-dest eine Erfahrung gewonnen.

Je mehr wir die Zeit nach ihrer Quantitätbewerten, umso mehr geht die Qualitätdes Augenblickes verloren. Wir verlangenimmer mehr Zeit, ohne diese wirklich gut

zu nützen. Je mehr wir die Qualität derZeit entdecken, umso mehr schätzen wirjede einzelne Minute. Eine halbe Stundeintensives Gespräch hat mehr Wert alsfünf Stunden gemeinsames Fernsehen.

Die Zeit zu unse-rem Freund

zu ma-chen, heißt, das Leben und unserenschicksalhaften Weg zu unserem Freundzu machen.

Wer eins wird mit seinem Weg, demwird die Zeit zur Ewigkeit, er empfindet sich wie der Reisende im Zug in vollkommener Ruhe. Und derFahrtwind ist der Bildhauer, der aus dem rohen Stein das innere Wesen herausmodelliert.

Auf der großen Zeituhr steht nur ein einziges Wort: JETZT!Cervantes

Der Mensch, der keine Zeit hat,und das ist eines unserer Kenn-zeichen, kann schwerlich Glückhaben.Ernst Jünger

Das einzige Mittel, Zeit zu haben, ist, sich Zeit zu nehmen. Bertha Eckstein

Man verliert die meiste Zeit damit, indem man Zeit gewinnen will.John Steinbeck

Fragen Sie uns bitte nicht nach der Uhrzeit. Wenn wir eineUhr hätten, lebten wir nicht hier! An der Holztür einer einsamenHütte in Kentucky/USA

Das Gewissen ist eine Uhr, die immer richtig geht. Nur wir gehen manchmal falsch.Erich Kästner

Wirklich reich sind nur die Leute, die mit der Zeit nicht sparen müssen.

Nur wer für den Augenblick lebt, lebt für die Zukunft.Heinrich von Kleist

Die Zeit ist ein guter Arzt, aber ein schlechter Kosmetiker.William S. Maugham

Carpe diem!Horaz

Zitate zur Zeit