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Clara Rilke-Westho ( - ), Tochter aus Bremer · brach sie mit den Konventionen ihrer Zeit und wählte eine Domäne, die bis dahin vor ... verlassen hat und ... und Mutter Westhoff

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Clara Rilke-Westhoff (1878-1954), Tochter aus BremerKaufmannsfamilie und Ehefrau Rainer Maria Rilkes, wareine der Vorreiterinnen der Frauen in der Kunst. Wie ihre

enge Freundin und Weggefährtin Paula Modersohn-Beckerbrach sie mit den Konventionen ihrer Zeit und wählte eine

Domäne, die bis dahin vor allem Männern vorbehalten war:die Bildhauerei.

Sie geht nach München, dann in die KünstlerkolonieWorpswede, arbeitet bei Max Klinger und wird Schülerin

Auguste Rodins. Zurück in Worpswede begegnet sie einemjungen Dichter, der tief beeindruckt von ihr ist: Rainer Maria

Rilke. 1901 heiraten die beiden. Zeitlebens sollte dieKünstlerin unter dem Spannungsverhältnis zwischen ihren

privaten Lebensumständen, ihrer Rolle als Ehefrau undMutter, und ihrem künstlerischen Schaffen leiden.

Einfühlsam und basierend auf fundierter Recherche erzähltMarina Bohlmann-Modersohn das Leben einer zu Unrecht

vergessenen Frau, die Porträtskulpturen von großerAusdruckskraft schuf und zu den wenigen Bildhauerinnen

von Bedeutung in der deutschen Kunst derJahrhundertwende zählt.

Marina Bohlmann-Modersohn, geboren in Bremen,arbeitete nach ihrem Literaturstudium in Paris als freie

Journalistin. Sie veröffentlichte zahlreiche biografische Essaysund ist langjährige MERIAN-Autorin. Sie lebt mit ihrer

Familie bei Bremen.

Marina Bohlmann-Modersohn bei btbPaula Modersohn-Becker. Eine Biografie mit Briefen

MARINA BOHLMANN-MODERSOHN

Clara Rilke-WesthoffEine Biografie

Verlagsgruppe Random House FSC® N001967

1. AuflageGenehmigte Taschenbuchausgabe Oktober 2017

Copyright © 2015 by btb Verlagin der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenCovergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Paula Modersohn-Becker»Porträt Clara Rilke-Westhoff«, 1905, Hamburger Kunsthalle © akg/

picture alliance/dpaDruck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck

MK · Herstellung: scPrinted in Germany

ISBN 978-3-442-71542-8

www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten,so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung,

da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich aufderen Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

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INHALT

KAPITEL I · 7

Oh, München! Diese göttliche Freiheit!oktober 1896–märz 1898

KAPITEL II · 23

Eine Künstlerin muss frei sein …sonst kann sie sich nicht entwickeln

worpswede – leipzig, frühjahr 1898–dezember 1899

KAPITEL III · 43

Heute war ich wieder bei Rodin im Atelierparis 1899–september 1900

KAPITEL IV · 65

Ich habe sehr viel vorworpswede 1900

KAPITEL V · 89

Man nennt mich jetzt Frau Rilkeworpswede, januar 1901–september 1902

KAPITEL VI · 121

Ich war meiner Kunst noch nie so nahe wie jetztworpswede 1902

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KAPITEL VII · 143

Arbeiten, wie wir noch nie gearbeitet habenworpswede – paris – rom 1902–1904

KAPITEL VIII · 181

Kann aber mit dem Mutter-Sein nicht so schnellbremen – kopenhagen – friedelhausen – worpswede 1904–1906

KAPITEL IX · 213

Und da reitet man durch die Wüste auf einem Kamelberlin – kairo 1906–1907

KAPITEL X · 233

Mein Wunsch, Hauptmann zu modellierenworpswede – paris – berlin 1908–1910

KAPITEL XI · 257

Dass ich ein bisschen fester stehe im Lebenmünchen – paris 1911–1913

KAPITEL XII · 289

Paris scheint mir ganz verödet ohne ihnmünchen – fischerhude 1913–1917

KAPITEL XIII · 317

Jetzt wird mir langsam wieder freier und froherfischerhude 1918–1925

KAPITEL XIV · 341

Einliegend zwei Fotos von einer Büstefischerhude 1926–1954

ANHANG · 367

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KAPITEL I

Oh, München! Diese göttliche Freiheit!oktober 1896–märz 1898

Von jungen Mädchen findet man’s entsetzlich,wenn sie ein Selbst sein wollen, sie dürfen über-haupt nichts sein, im besten Fall eine Wohn-stubendekoration oder ein brauchbares Haustier,von tausend lächerlichen Vorurteilen eingeengt.Franziska zu Reventlow

Siebzehn! Das Bedürfnis, aufzubrechen, um sich weit weg vondort, woher sie stammt, allein und ungestört auf ihre künst-lerische Laufbahn vorzubereiten, setzt eine gehörige PortionSelbstvertrauen voraus, viel Mut, einen exzessiven Freiheits-drang und Neugier auf das Fremde.

Weiß Clara Henriette Sophie Westhoff, wie verbreitetdie Vorurteile Frauen gegenüber sind, die Kunst studie-ren wollen mit dem Ziel, diese zu ihrem Beruf zu machenund damit Geld zu verdienen? Ist ihr bewusst, wie groß diemännliche Konkurrenz ist, wie verschworen die Bünde derMeistermaler, die malende junge Frauen als Dilettantinnenverhöhnen und ihnen das Tor zu einem Akademiestudiumimmer noch verschlossen halten? Kann sie sich ein Bildmachen, wie schwierig die Lebensbedingungen speziell für

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Künstlerinnen sind und schließlich: Wie kaum vereinbarLeben und Kunst?

Doch Fragen solcher Art übersteigen vermutlich ihre17-jährige Vorstellungskraft, und statt sie sich zu diesem frü-hen Zeitpunkt ihres jungen Lebens überhaupt zu stellen,packt sie im Oktober 1895 lieber ihre Koffer und freut sichauf das nun beginnende Neue.

Dass der Vater, gebürtiger Bremer und Kaufmann in zweiterGeneration, auf den Wunsch seiner einzigen Tochter, Malerinzu werden und für ihre künstlerische Ausbildung nach Mün-chen zu gehen, mit wohlwollender Akzeptanz reagiert undnicht mit Entsetzen – in der von patriarchalischen Strukturenund moralischen Zwängen geprägten Gesellschaft des deut-schen Kaiserreichs ist das keine Selbstverständlichkeit.

Doch Friedrich Westhoff, der seine drei Kinder von früh aufim Zeichnen und Malen unterrichten ließ und selbst in jederfreien Minute hinaus in die Natur ging, um zu malen, fühlt sichder Kunst verbunden, und in der Familie seiner zweiten Ehe-frau Johanna Westhoff, geborene Hartung, einer weltoffenenund von bürgerlichen Wertvorstellungen unabhängigen Frau,deren Mutter mit Clara Schumann musizierte, war künst-lerische Betätigung ebenso wenig etwas Ungewöhnliches.

Friedrich und Johanna Westhoff haben Vertrauen in dieTochter und glauben an ihr Talent. Das temperamentvollejunge Mädchen wirkt so zielstrebig und entschlossen, dasssie ihr Vorhaben gerne unterstützen wollen. Trotz der vie-len Kilometer zwischen Bremen und München und trotz derhohen Ausbildungskosten.

München gilt um 1900 neben Paris als führende Kunst-stadt Europas. Mit ihren bedeutenden Sammlungen, Museenund Ausbildungsstätten wie der renommierten Akademie derKünste oder der Münchner Damen-Akademie, lockt die alpen-

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nahe Residenzstadt nicht nur Maler und Bildhauer von überallher an. Auch Schriftsteller, Musiker, Meister der Lebenskunstund solche, die es werden wollen, lassen sich an der Isar nieder,vorzugsweise in Schwabing, im Norden der Stadt.

Schwabing, eben noch ein winziger Marktflecken inmittenvon Wiesen- und Ackerland und erst seit kurzem ein Stadt-teil von München, ist ein charaktervolles, idyllisches Vier-tel. Weitläufiges Grün, schmale, lange Straßen mit Häusern,in denen man preiswerte Zimmer mieten kann, zahlreicheWirtshäuser; Universität und Kunstakademie sind nicht weit.In der Türkenstraße 28 ist eine Gruppe debattierfreudigerKleinkünstler eben dabei, sich zu Deutschlands erstem poli-tischen Kabarett »Elf Scharfrichter« zusammenzuschließen,und in der Kaulbachstraße 51a gründet der Verleger AlbertLangen mit dem »Simplicissimus« eine satirische Zeitschrift,die vom 1. April 1896 an alle zwei Wochen in München er-scheint. Ihr Wappentier ist eine rote Bulldogge. Zähneflet-schend fegt das Tier durch die selbstherrlichen Amtsstubendes wilhelminischen Obrigkeitsstaats und entlarvt im Namenvon Th. Th. Heine und Olaf Gulbransson, Frank Wede-kind, Jakob Wassermann und Ludwig Thoma seine Schwä-chen: Zensur, Bürokratie, Militär, Parteien, Klerus. Dabeiwird selbst die Frauenbewegung, für die München um 1900ein Zentrum ist, in ihrem Kampf für weibliche Entfaltungs-möglichkeiten und bürgerliche Rechte nicht verschont. Soerscheint im »Simplicissimus« ein Text mit einer Karikaturvon Bruno Paul, die eine Studentin mit ihrem Lehrer zeigt:»Sehen Sie, Fräulein, es gibt zwei Arten von Malerinnen: dieeinen möchten heiraten und die anderen haben auch keinTalent.«

Und wer ist dieser junge Autor, den man häufig mit einemStapel von Manuskripten unter dem Arm in die Kaulbach-

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straße gehen sieht? Es heißt, er arbeite für Albert Langen alsLektor und schreibe gerade an einem Roman. Schon balderscheinen die »Buddenbrooks«, und der 26-jährige Tho-mas Mann jubelt: Die Kunst blüht, die Kunst ist an der Herr-schaft … München leuchtet.

Oh, München! Diese göttliche Freiheit! Clara Westhoff, seitwenigen Wochen Schülerin der privaten Malschule vonFriedrich Fehr und Ludwig Schmid-Reutte in der Theresien-straße 71, ein Riesengebäude mit lauter Maler-Ateliers, besuchtvon jungen Damen, fühlt sich zur richtigen Zeit am richtigenOrt.

Unter Münchens Privatschulen, die seit einigen Jahrenwie Pilze aus dem Boden schießen, ist Fehr/Schmid-Reuttedie bekannteste und beliebteste. Mit ihrer Aufnahme in dieZeichenklasse von Friedrich Fehr hat Clara Westhoff Glück.Diese gilt als vorzüglich.

Keine Prüfung, keine Mappe, nichts ist nötig, was dieZulassung an privaten Schulen oder so genannten »Damen-ateliers« bedingte. Begabung hin oder her, die Massemacht’s. »Weiber« zu unterrichten ist ein lukratives Ge-schäft. Sobald ein junger Künstler die Akademie verlassenhat und seinen Lebensunterhalt noch nicht mit dem Ver-kauf seiner Bilder bestreiten kann, lehrt er vorzugsweise aneinem Damenatelier oder leitet es sogar. Obgleich die Ge-bühren dort um ein Vielfaches höher sind als die an derstaatlichen Kunstakademie, spielt die Qualität des Unter-richts in der Regel eine eher untergeordnete Rolle. Wichtigsind die Umsatzzahlen. Doch Frauen, die sich künstlerischausbilden lassen möchten, bleibt nur dieser Weg. Denn so-

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wohl die Münchner Akademie der Künste als auch die an-deren großen Kunsthochschulen in Dresden, Düsseldorfund Berlin verwehren ihnen bis auf ganz wenige Einzelfälleden Zugang. Daran wird sich auch in den kommenden zweiJahrzehnten kaum etwas ändern.

Ich bin sehr froh, in dieser Schule zu sein, berichtet ClaraWesthoff nach Hause. Die Eltern sollen es gleich wissen: Siesetze alles daran, erst einmal gründlich zeichnen zu lernen,ehe sie zu malen beginne. Der Fehler der meisten ist, dass siezu früh anfangen, zu malen, schreibt sie im März 1896 nachBremen und äußert sich abschätzig über die Damen in ihrerKlasse, die so für sich und ihre Familien etwas malen lernenwollen und deren Arbeiten so für den Haushalt genug, näm-lich eher beiläufig ausgeführt würden und sich neben Hand-arbeit, Musik und Dichtung auf den häuslichen, familiärenBereich beschränkten. Doch natürlich gibt es Ausnahmen.Schnell weiß sie die Dilettantinnen von jenen Mitschülerin-nen zu unterscheiden, die ernsthaft an ihrer künstlerischenKarriere arbeiten. Marie Czajkowska gehört dazu. Die polni-sche Porträt- und Landschaftsmalerin ist ein Jahr jünger alsClara Westhoff und studiert von 1896 bis 1900 ebenfalls beiFehr/Schmid-Reutte. Die beiden Künstlerinnen werden sich,ohne dass sie es zu diesem Zeitpunkt ahnen könnten, wäh-rend ihrer weiteren Studien in Paris wiedersehen.

Zwar kommt Friedrich Fehr, sehr jung, süßlich und par-fümiert, nur zweimal in der Woche zur Korrektur, doch ClaraWesthoff empfindet seine kritische und strenge Art als ehr-lich und fühlt sich von ihm ernst genommen: Er kam zu mir,sprach mit mir einen Moment, schob meine Staffelei etwas an-ders, wischte meinen Anfang wieder weg und zeigte mir, wieman’s machen muss. Fehr hatte die Angewohnheit, mit sei-nem Daumen hier einen Schatten zu setzen, dort für ein

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effektvolles Licht zu sorgen. Das motivierte seine Schülerin:Je mehr ich studiere, je mehr ich lerne, je mehr ich sehe, destomehr angefeuert werde ich.

Bald weiß sie, was ihr besonders liegt. Clara Westhoffzeichnet Porträts und macht Studien nach dem lebenden Modell. Wir zeichnen jetzt im Atelier einen Neger. Sehr inter-essant und schwer. Ganz andere Gesichts- und Schädelbildung.Am 12. Februar 1896 kann sie Vater und Mutter Westhoff vol-ler Stolz von ihrer Teilnahme an Anatomiekursen berichten,die zu den speziellen Fächern bei Fehr/Schmid-Reutte ge-hören: Eine tote Menschenhand in Spiritus mit einem ganzenStück Arm noch dran. Leichenteile. An diesen Anblick müssesie sich erst gewöhnen, gesteht sie einschränkend ein, dochschließlich sei dieses Fach Teil ihres Studiums. Indem sie sichin dieser Disziplin übt, arbeitet die Malschülerin unbewusstan einer wesentlichen Voraussetzung für ihr späteres bild-hauerisches Werk.

Und wie sieht es mit dem Aktzeichnen aus? Dass ein jun-ges Mädchen vor dem nackten Modell arbeitet, gilt als an-stößig und unschicklich. Darum ist die Teilnahme am Akt-unterricht nicht ohne das Einverständnis der Eltern erlaubt.Zum Glück muss Clara keinen zähen Kleinkrieg mit ihremBremer Zuhause führen, um diese Erlaubnis zu erlangen.Vater und Mutter Westhoff geben ihrer Tochter umgehendgrünes Licht.

Doch die praktische Ausbildung ist das eine, Museums-besuche, die Erkundung der Stadt und Ausflüge in die Um-gebung das Andere. Sie brauche dringend ein Fahrrad unddie zum Radeln geeignete Kleidung, eine Hose und eineKappe, hatte Clara Westhoff gleich zu Beginn ihrer Mün-chener Zeit nach Hause geschrieben. Obgleich der Anblickvon Frauen in weiten Hosen, die sich allein und vergnüglich

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auf dem Fahrrad fortbewegen, noch keineswegs alltäglich ist,will sie auch diesbezüglich ihre neue Freiheit genießen, undschon bald kann man das Malweib, ein regelrecht emancipier-tes fin-de-siècle-Weib, durch München sausen sehen, ihr Mal-gepäck auf dem Rücken.

Vor den Toren der Stadt liegt die Künstlerkolonie Dachauund seit bedeutende deutsche Maler, darunter Max Lieber-mann, Lovis Corinth und Emil Nolde dorthin reisen, um sichvorübergehend von der unberührten Landschaft des Dach-auer Mooses inspirieren zu lassen, zieht der kleine Ort auchzahllose Malklassen aus Münchens Damenakademien undMalschulen an. Sepiafarbene Fotos zeigen Scharen jungerFrauen in langen Kleidern und breitkrempigen Sonnenhü-ten, die an ihren Staffeleien stehen und malen.

Auch die Klassen von Fehr/Schmid-Reutte halten sichmehrfach in Dachau auf. Während eines ihrer Ausflüge lerntClara Westhoff zwei Schriftsteller aus Bremen kennen, RudolfAlexander Schröder und Alfred Walter Heymel. Gemeinsammit dem Dresdener Schriftsteller Otto Julius Bierbaum ge-ben sie in München die Monatszeitschrift »Insel« heraus. Fürdie künstlerische Gestaltung der reich illustrierten Bändehaben sie einen jungen Grafiker gewinnen können, der Hein-rich Vogeler heißt, ebenfalls aus Bremen stammt und im Be-griff ist, sich als Jugendstilkünstler einen Namen zu machen.Außerdem ist er einer der fünf Maler, die unter dem Grup-pennamen »Künstler-Verein Worpswede« im Sommer 1895mit einer umfangreichen Ausstellung in München für Auf-merksamkeit sorgen.

Die »Jahresausstellung von Kunstwerken aller Nationen«im Glaspalast ist ein Großereignis. Allein der imposante Rie-senbau aus Gusseisen und Glas mit seinen plätscherndenBrunnen und kostbar ausgestatteten Interieurs auf dem Ge-

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lände des Alten Botanischen Gartens ist sehenswert und ziehtdie Menschenmassen an. Die Worpsweder sind mit 50 Gemäl-den, Aquarellen und Radierungen in einem eigenen Saal ver-treten: Mächtige Wolkenformationen türmen sich über derflachen, weiten Ebene; weißstämmige Birken, schlank undfrühlingshaft zart oder knorrig krumm, säumen Moorkanäleund sandige Wege oder spiegeln sich in Wassertümpeln; ärm-liche Katen liegen windschief und wie geduckt in der Land-schaft, ihre Dächer aus Stroh reichen bis auf den Boden.

Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Fritz Overbeck, Hein-rich Vogeler und Hans am Ende haben die Akademien undihre Ateliers in Düsseldorf und Karlsruhe verlassen und imnorddeutschen Teufelsmoor eine Landschaft gefunden, diesie zum künstlerischen Arbeiten unter freiem Himmel inspi-riert, »en plein-air«. Den französischen Malern von Barbizonfolgend, wollen sie der großstädtischen Modernität ein Lebenin Einfachheit entgegensetzen.

Clara Westhoff kann sich gut an den Verriss der erstenAusstellung der Künstlergruppe in der Kunsthalle Bremennur wenige Monate zuvor, im Frühjahr 1895, erinnern. Presseund Publikum hatten die fünf jungen Männer aus dem Moorals »Apostel des Hässlichen« und »Lachkabinett« verspottet.Jetzt, in München, sind die Reaktionen überraschend posi-tiv. Ihre Kunst sprenge die üblichen Sehgewohnheiten, seineu und originell und setze der klassizistischen Malerei einEnde, ist sich die Kritik überwiegend einig. Fritz Mackensen,der als Entdecker Worpswedes für die Kunst gilt, erhält fürsein monumentales Gemälde »Gottesdienst im Freien« dieGoldene Medaille I. Klasse der Künstlergenossenschaft. DasKönigreich Bayern kauft von Otto Modersohn das großfor-matige Gemälde »Sturm im Moor« für die Neue Pinakothekder bayerischen Staatsgemäldesammlungen an. Rezensionen

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und Beiträge feiern die Ausstellung als »Europäisches Ereig-nis« und machen die Worpsweder Künstler über Nacht be-kannt.

In seinem Schwabinger Atelier in der Gabelsbergerstraße sitztHeinrich Vogeler an einem Großauftrag. Tafelsilber, Tisch-leuchter und Wandkandelaber sollen das Esszimmer des»Insel«-Herausgebers Alfred Walter Heymel schmücken, derals junger Millionär in einer luxuriös ausgestatteten Woh-nung in der nahen Leopoldstraße lebt. Vogeler zeichnet Ran-ken und Pflanzen, Früchte und Blätter und arbeitet mit derLinie als Ornament: Ein reiches Rosengitter, aus Messing ge-stanzt, war für die Kaminverkleidung entstanden. Aus flam-menden Grasblumen wuchs es auf zu einem wogenden Rhyth-mus rosenbeladener Böschung.

Über Heymels Reichtum und seine Kostbarkeiten aus allerWelt sind die fantastischsten Gerüchte im Umlauf – altes vene-zianisches Glas, antike Terrakotten, Meißner- und Sèvres-Por-zellan, japanische Holzschnitte und primitive Kunst aus Afrikasollen in seinen Räumen verteilt sein. Bei Heymel kommt imSchein lodernder Kaminfeuer regelmäßig eine kleine Gesell-schaft schöner Frauen und auserwählter Musiker und Schrift-steller zusammen. Bald zählt auch ein junger Dichter aus Pragzu dem illustren Kreis. René Maria Rilke hat seine Maturitäts-prüfung am Prager Grabengymnasium mit Auszeichnung be-standen und einige Monate Kunstgeschichte, Philosophie unddeutsche Literatur an der Karl-Ferdinands-Universität studiert.Ein kleiner, eher zartgliedriger Mann. Sein Gesicht ist blassund schmal und wird von großen, tief liegenden Augen be-herrscht, die verwundert und sorgenvoll in die Welt blicken.

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Der 21-Jährige hat Heimat und Familie verlassen und willsich in München ganz seiner dichterischen Aufgabe widmen.Da ihn die Geschichte der Bildenden Künste im Zeitalter derRenaissance interessiert, geht er hin und wieder in die Uni-versität und hört Vorlesungen dazu.

Um dieselbe Zeit hält sich vorübergehend eine Frau in Mün-chen auf, die ihren Wohnsitz eigentlich in Berlin hat. Louisevon Salomé ist Gast im Hause ihrer engen Freundin Friedavon Bülow in der Schellingstraße. Sie ist 36 Jahre alt, in St.Petersburg geboren, mit dem Orientalisten Friedrich CarlAndreas verheiratet und Schriftstellerin. Eine ungewöhnlicheErscheinung. Groß und schlank mit einer Ausstrahlung, dieauf Anhieb besticht. Selbstbewusst, geistreich und herzlichoffen, dabei rebellisch und unkonventionell.

Lou Andreas-Salomé hat in Zürich Philosophie, Kulturwis-senschaften und Kunstgeschichte studiert. Sie ist viel gereistund als Autorin bereits eine bekannte Größe in Europas intel-lektuellen Kreisen. Sie kennt August Strindberg und RichardDehmel persönlich, ist mit Gerhart Hauptmann befreundet,in Wien Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal be-gegnet, in München Frank Wedekind und Jakob Wasser-mann. Die Männer lieben sie. Sie sei eine Frau, die Männersammle wie andere Leute Gemälde, wird hinter vorgehalte-ner Hand getuschelt. Es heißt, Lou Andreas-Salomé knüpfeeine leidenschaftliche Beziehung zu einem Mann, und neunMonate später bringe er ein Buch zur Welt. Zuletzt hat ihreLiaison mit dem achtzehn Jahre älteren Philosophen Fried-rich Nietzsche europaweit für einen Skandal gesorgt.

Es ist ein warmer Frühlingsabend im Mai 1897, als Lou An-

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dreas-Salomé anlässlich einer Einladung zum Abendessenbei Jakob Wassermann der deutsch-österreichische AutorRené Maria Rilke vorgestellt wird.

René Maria ist augenblicklich fasziniert von der so vielÄlteren mit der Aura einer berühmten Literatin. Zufällighabe er kürzlich ihren Essay »Jesus der Jude« gelesen, verräter ihr noch am Abend ihrer ersten Begegnung in Münchenund gesteht, dass er zwischen ihrem Text und seiner Lyrikauf eine geradezu geheimnisvolle Weise eine tiefe Verwandt-schaft spüre.

Beide sehen sich einen Tag darauf im Theater wieder. Er-staunlich, wie viele Leute sie kennt, einflussreiche Leute ausder Kunst- und Kulturwelt. Ich bin mit ein paar Rosen in derHand in der Stadt und dem Anfange des Englischen Gartensherumgewandert, um Ihnen Rosen zu schenken, schreibt derentflammte Rilke an Lou, ja, statt sie an der Tür mit dem gol-denen Schlüssel abzugeben, trug ich sie mit mir herum, zitterndvor lauter Willen, Ihnen irgendwo zu begegnen.

Als die Angebetete den Anfang 20-Jährigen auffordert,strenger mit sich zu sein und disziplinierter zu arbeiten, istdie Folge eine bisher nicht gekannte dichterische Schaffens-periode. Unter Lous Einfluss gleicht sich Rilkes bisher ehernachlässige Handschrift ihrer klaren, deutlichen Schrift an,und als sie sich eines Tages kritisch über seinen viel zu fran-zösisch und wenig männlich klingenden Taufnamen »René«äußert, ändert er ihn umgehend in »Rainer« um. Er orientiertsich an den Ideen der Lebensreformbewegung so wie sie, undjedes seiner Liebesgedichte, die später in der Sammlung »Dirzur Feier« zusammengefasst werden, richtet Rainer MariaRilke von nun an nur noch an Lou Andreas-Salomé.

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An der Malschule Fehr/Schmidt-Reutte sind die Preise für dieKurse kürzlich schon wieder erhöht worden und das ärgertClara Westhoff. Für die Zeichenklasse bei Fehr müssen dieSchüler jetzt 30 Mark monatlich bezahlen und wenn dannnoch die Kosten für den Abendakt in Höhe von 12 Mark da-zukommen, macht das insgesamt 42 Mark. Nicht zu vergessendie Anatomie. Das ist doch haarsträubend. Aber man muss nurbedenken, wie billig die Herren studieren, dann kriegt man doch’ne Wut. Fehr ist ja schlau. (…) Uns hat er sicher, denn wohinsollen wir arme Schlucker uns sonst wenden?

Die inzwischen 19-Jährige erregt sich über so viel weib-liche Diskriminierung und will diese Ungerechtigkeit nichtschweigend hinnehmen:

Da existiert eine sogenannte ›Anatomie‹, wo täglich Vorträgefür Ärzte sind und wo sie einmal in der Woche für Künstlerstattfinden. Und zwar nur für die Akademie und Kunstgewer-beschule und nur für Herren. Jetzt sag mir einer, warum nurfür Herren? Das muss anders werden und soll mich nicht wun-dern, wenn wir’s durchsetzten. Wenn der Staat sich verpflichtetfühlt, für die männlichen Künstler ganz ungeheure Unterstüt-zung zu leisten, warum tut er es nicht für die weiblichen?

Um diese Frage zu klären, macht sich Clara Westhoff aufden Weg zur Behörde. Es dauert lange, bis sie sich endlich zuden Verantwortlichen durchgearbeitet hat, dem bayerischenMinister für Cultus und Unterricht Robert Ritter von Land-mann gegenübersteht und ihm ihr Anliegen vortragen kann.Man möge auch Künstlerinnen an den kostenlosen Anato-miekursen teilnehmen lassen, fordert sie. Die Zulassung vonFrauen an den Anatomiekursen? Wie lächerlich! Abgesehendavon, dass diese Erlaubnis vermutlich nur weitere eman-

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zipatorische Forderungen zur Folge haben würde, seien dieFrauen den harten Anforderungen des Anatomieunterrichtskörperlich wie geistig nicht gewachsen. Der Herr Rat war einkleines Ekel und unseren Plänen entschieden nicht geneigt. DieMalschülerin ist entrüstet über den Schwall an fadenscheini-gen Argumenten des Ministers, doch ebenso enttäuscht siedie mangelnde Solidarität ihrer Mitschülerinnen:

Viele Damen wollen so für sich und ihre Familie etwas ma-len, dann zeichnen sie etwas, fangen dann etwas zu malen an,Aquarell und Öl vielleicht, können dann vielleicht ganz netteLandschaften malen und so für den Haushalt genug. Das kannman in zwei Jahren erreichen. Sie können dann aber nichtsordentlich.

Eine von denen, die den Zeichen- und Malunterricht vorallem als Vorbereitung auf die Ehe betreiben, will sie nichtsein, das schwört sich Clara Westhoff. Wenn sie sich zurKünstlerin ausbilden lässt, dann mit dem Ziel, die Kunst zuihrem Beruf zu machen.

Regelmäßig erkundigt sich Friedrich Westhoff bei seinerTochter, wie es ihr gehe und ob die Ausbildung sie weiter-bringe. Schließlich halte sie sich schon seit nahezu zwei Jah-ren in München auf. Seiner Bitte, Proben ihrer künstlerischenArbeit nach Bremen zu schicken, damit er sich zu Hause einBild machen könne, entgegnet sie:

Du schreibst, ich möchte Zeichnungen mitschicken, ich habeaber meine letzten alle in München gelassen. Ich hätte sie schon

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geschickt, aber sie sind nicht so vorteilhaft zum Zeigen und daskommt daher, weil sie anders gemacht sind, als meine frühe-ren. Ich hätte eigentlich vorgehabt, sie Dir zu schicken, aber siesehen wirklich nicht danach aus. Wißt Ihr, ich bin doch nochnicht fertig im Studium, sondern in einer Art Übergangssta-dium.

15. Mai 1897

Vor allem hat sie durch die Begegnung mit einem jungenBildhauer eine künstlerische Disziplin kennen gelernt, die siegedanklich nicht mehr loslässt. Ignatius Taschner hat an derMünchener Kunstakademie Grafik, Illustration und Bildhau-erei studiert und arbeitet jetzt in einem eigenen Atelier. Ersoll für die alljährliche Ausstellung im Glaspalast ein Port-rät einreichen und bittet Clara Westhoff, ihm Modell zu sit-zen. Bei meinem Bildhauer habe ich schon gesessen, berichtetsie euphorisch nach Hause, das Porträt habe bereits Ähnlich-keit, der Mensch ist riesig talentiert. Taschners Können beein-druckt die 19-jährige Malschülerin und sie freut sich darüber,dass sein Porträt von ihr im Sommer 1897 im Glaspalast aus-gestellt wird.

Wie soll es nun weitergehen? Auf die Briefe des Vaters, derseine Tochter daran erinnert, dass sich ihre Lehrzeit in Mün-chen und seine damit verbundene finanzielle Unterstützungnun langsam dem Ende nähere, kann sie nur mit der Bitteantworten: Habt weiterhin Geduld mit mir! Während desSommers lernt sie fünf Monate bei dem LandschaftsmalerBernhard Buttersack, Gründungsmitglied der »MünchnerSecession« und im Glaspalast mit der Goldenen Medailleausgezeichnet. Er hat vor den Toren Münchens in Haimhau-sen ein geräumiges Atelierhaus und unterrichtet dort Privat-schüler im Malen.

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Hoffentlich erwartet Ihr auch nicht, dass ich Euch etwasarbeite, entschuldigt sie sich angesichts des nahenden Weih-nachtsfestes vorbeugend, Handarbeiten tue ich ja nie, abermalen und zeichnen kann ich Euch auch nichts. Es kränkt michselbst tief, aber ich kann nichts dabei machen. Das, was icharbeite, ist noch nicht zum Verschenken, ich kann doch nichtsverschenken, was nicht gut ist und deshalb keine Existenz-berechtigung hat.

Seitdem Clara Westhoff die Bilder der Worpsweder Maler imGlaspalast sah, zieht es sie gedanklich immer wieder in ihrheimatliches Land um Bremen, und sie sehnt sich danach.

Schon als Kind fühlte sie sich dem Sommersitz der Fami-lie vor den Toren der Stadt viel mehr verbunden als demengen Giebelhaus in der Bremer Wachtstraße. Wie gut kannsie sich an die zahlreichen Wochenenden und langen Ferien-aufenthalte in Oberneuland erinnern, an den großen Gartenmit den hohen Bäumen, und wie sehr genoss sie die Winter-monate, wenn der kleine Fluss Wümme über die Ufer stiegund Wiesen und Felder überschwemmte. Dann breiteten sichblanke Wasserflächen aus, und war es ein sehr kalter Winter,froren sie zu und man konnte auf Schlittschuhen bis in dasnicht weit entfernte Worpswede laufen.

Im Dezember 1897 fasst Clara Westhoff sich ein Herz undradelt in die Gabelsbergerstraße zu Heinrich Vogeler, den sieüber eine gemeinsame Bremer Tanzstundenfreundin flüchtigkennt. Sie möchte mehr über die aktuelle Situation in Worps-wede wissen, und er müsste genau der Richtige sein, ihr Aus-kunft zu geben. Vogeler erzählt, dass er nach dem Tod seinesVaters Geld geerbt und sich dafür in Worpswede einen altenBauernhof gekauft habe, den er gerade zu einem Atelierhausum- und ausbauen lasse. Er berichtet auch von den zahlrei-

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chen Malerinnen, die inzwischen in Worpswede lebten undsich bei Fritz Mackensen, Fritz Overbeck und Otto Moder-sohn künstlerisch ausbilden ließen.

Nach diesem Besuch bei Heinrich Vogeler steht für ClaraWesthoff fest, dass sie München bald verlassen und für ihreweitere künstlerische Ausbildung nach Worpswede gehenwird.

Vogeler erinnerte sich später:

Ich hatte sie lange nicht gesehen, jetzt sah ich ihr schmal auf-gebautes Gesicht wie zum ersten Mal, ein paar widerspenstigeLocken drängten sich an den Schläfen vor unter dem Kranz-gewinde von wildem Hopfen. Weiß war ihr Kleid. Die groß-zügigen Bewegungen hätten die einer Diana sein können. Ichdachte, der müsste man einen Wurfspeer in die Hand geben;ihre lockeren, kraftversprechenden Bewegungen würden sichdann bis in die Fersen des elastischen Körpers straffen, der allesin die Wucht des Speeres treibt, einem fernen Ziele zu.

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KAPITEL II

Eine Künstlerin muss frei sein …sonst kann sie sich nicht entwickeln

worpswede – leipzigfrühjahr 1898–dezember 1899

Es war unter uns Studentinnen Grundsatz …uns in keiner Weise von anderen jungen Mäd-chen zu unterscheiden … jede als männlich zudeutende Note in der äußeren Erscheinung …sollte vermieden werden.Ricarda Huch

Für die Kleinbauern im Moor ist es seit Generationen diereine Plackerei. Tag für Tag die bleischwere Erde aus den tie-fen Wassergräben schaufeln und sie mit kräftigem Schwunghoch an die Oberfläche werfen. Die feuchte Masse auf ebe-nem Boden verteilen und mit den Füßen platt stampfen, bissie fest geworden und wie ein Fladen geformt ist. Beten, dasses nicht regnet, damit die Erde nicht wieder aufweicht. Hof-fen, dass die Sonne nicht zu sehr brennt, damit der Torf nichtzerbröckelt. Schließlich ziegelgroße Stücke schneiden und siezu Pyramiden schichten. Wieder und wieder umschichten,damit sie der Wind von allen Seiten erreichen kann. DieseArbeit wird vorwiegend von den Frauen verrichtet, wenn sie

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in ihrer rauchigen Kate nicht kochen, Kinder nähren, Besenbinden oder Strümpfe stricken.

Bis es Spätsommer und der Torf gut durchgetrocknet ist,vergehen Monate. Dann sammeln sich die Torfkähne mit ihrenmächtigen schwarzen Segeln auf den zahlreichen Kanälenrund um Worpswede und werden beladen. Für den Transportihrer kostbaren Fracht nach Bremen auf den Flüssen Hammeund Wümme brauchen sie oft mehrere Tage.

Als Häuser kann man die fensterlosen Katen nicht be-zeichnen, in denen die meisten Moorbauern leben, häu-fig Tagelöhner oder ehemalige Gefangene mit ihrer Fami-lie. Wände aus gestapelten Torfsoden, das Dach aus Strohoder Schilf. Es reicht bis auf den Boden, Gras wächst da-rauf, Moos und hin und wieder eine kleine Birke. Am offe-nen Feuer wird gekocht. Weil die Kate keinen Schornsteinhat, sondern nur eine kleine Tür, schwängern Rauchschwa-den die stets feuchte Luft. Ein seitlicher Verschlag schütztZiegen, Schafe oder manchmal auch eine magere Kuh vorKälte und Regen.

Westerwede, Weyerdeelen, Mevenstedt, Hüttenbusch hei-ßen die Moorkolonien rings um den 700-Seelen-Ort Worps-wede. Eine Kirche mit angeschlossenem Friedhof, eineGrundschule, eine Apotheke, ein Bahnhof. Am Ortseingangeine kleine Bäckerei mit Gastwirtschaft; dort kann man auchpreiswerte Zimmer mieten. Im Hotel »Stadt Bremen« quar-tierten sich Fritz Mackensen und Otto Modersohn ein, als sierund ein Jahrzehnt zuvor zum ersten Mal gemeinsam nachWorpswede kamen.

Weit geht der Blick von der 50 Meter hohen SanddüneWeyerberg über das Land. Pappeln und weißstämmige Bir-ken säumen die Chausseen. Flächen von bräunlich-schwar-zem Moor und hellen Sandböden wechseln mit Kartoffel-

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und Buchweizenfeldern. Auf blühenden Obstwiesen rund umdie prächtigen Bauernhöfe weidet wohlgenährtes Vieh.

Clara kann sich nicht sattsehen an der Großartigkeit desHimmels mit seinen wechselvollen Wolkenformationen undatmosphärischen Stimmungen. Manchmal, bei Sonnenunter-gang, leuchtet er in goldenem Kupferrot. Worpswede!

Der städtische Malschulenbetrieb in München ist schnellvergessen. Die Zwanzigjährige empfindet die Landschaft alsheimatlich und verwandt. Als ein schönes köstliches Geschenk!Wie den Anbruch eines unaufhörlichen Sonntags.

Im Frühjahr 1898 wird sie Schülerin von Fritz Mackensen.Der erfolgreiche Maler mit den kantigen Gesichtszügen unddem gezwirbelten Oberlippenbart gilt als die repräsentativePersönlichkeit der Künstlerkolonie und ist in Bremens gut-bürgerlichen Häusern als Porträtist gefragt. Auf seinen groß-formatigen Bildern sind vorwiegend Worpsweder Bauern zusehen, oft eingebunden in Genreszenen aus ihrem Lebens-alltag, der von harter Feldarbeit geprägt ist.

Clara Westhoff schätzt den professionellen Unterricht ihresLehrers. Er ist geregelt und streng und verlangt ein aufmerk-sames, detailgenaues Studium der menschlichen Figur. Ichfreue mich auch, dass Du mal mit Mackensen gesprochen hastund dadurch hoffentlich über mein Talent und den Ernst mei-nes Strebens etwas beruhigt bist, schreibt sie dem Vater, tiefzufrieden darüber, in Worpswede sein und unter MackensensAnleitung weiterlernen zu dürfen.

Glaubt man den Beobachtungen Heinrich Vogelers, derMackensen Hand in Hand mit Clara über den Weyerbergspazieren sah, muss den Lehrer schon bald eine besondersenge Freundschaft mit seiner Schülerin verbunden haben.

Im September 1898 stößt eine weitere junge Frau zu demMalschülerinnenkreis um Fritz Mackensen.

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Die aus Dresden gebürtige und in Bremen aufgewachsenePaula Becker hat ihre Lehrzeit an der Berliner Zeichen- undMalschule vor kurzem beendet und jetzt den dringendenWunsch, ihre Studien im Kreis der Künstler in Worpswedefortzusetzen.

Gemeinsam mit ihrer Berliner Studienkollegin Paula Ritterwar sie während ihrer Semesterferien im vergangenen Som-mer schon einmal dort gewesen und hatte die Wochen alsGöttertage empfunden.

Worpswede, Worpswede, Worpswede! klingt es schwärme-risch in ihrem Tagebuch, in dem sie Birken, Kiefern und alteWeiden besingt und das Wunderland, das Götterland undseine großen Männer preist, die Maler, in deren Ateliers sieein und aus gehen durfte. Wenn man es zu etwas bringenwill, muss man den ganzen Menschen dafür hingeben, weißdie 22-Jährige früh, dankbar für die elterliche Unterstützungihres Vorhabens.

Paula Beckers Erscheinung und Wesen wissen die Her-zen ihrer Mitschülerinnen Clara Westhoff, Marie Bock undOttilie Reylaender im Nu zu erobern. Es ist ihre gerade Hal-tung, die sie beeindruckt, der ernste und entschlossene, da-bei warmherzige Blick. Dazu ihr kupferfarbenes, volles Haar,das in der Mitte gescheitelt, locker zurückgelegt und in drei gro-ßen Rollen tief im Nacken aufgesteckt war, so dass es in sei-ner Schwere als ein Gegensatz wirkte gegen das leichte, helleGesicht mit der schön geschwungenen, fein gezeichneten Nase,das sie mit einem genießerischen Ausdruck wie über eine Ober-fläche hinaufhob und aus dem einen die sehr dunklen, blankenbraunen Augen klug und belustigt anfunkelten, wie sich ClaraWesthoff erinnerte.

In den großformatigen Aktzeichnungen bäuerlicher Men-schen, die unter Fritz Mackensens Leitung entstehen, fin-

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den sich im Ansatz bereits jene großen, zusammenfassendenKörperformen, die sich in Paula Beckers späterem Werk zumMonumentalen steigern.

Zwei- bis dreimal in der Woche besucht Mackensen dieAteliers seiner Schülerinnen, korrigiert, gibt Anregungen.Seine kritischen Äußerungen ihren Arbeiten gegenüber magClara Westhoff im ersten Augenblick als kränkend empfin-den. So wirft er ihr vor, viel zu sehr im Münchner Lehrsumpffestgefahren! zu sein, keinerlei Fortschritte im Zeichnen zumachen. Sie müsse viel freier werden, fordert er und gibt ihrden Rat, neben dem Zeichnen plastisch zu arbeiten. Dochnicht kleinformatig, wie es die Damenakademien üblicher-weise zu lehren pflegten, sondern möglichst groß, lebens-groß. Fritz Mackensen ist von der bildhauerischen Begabungseiner Schülerin überzeugt und will sie fördern. Schon imAugust 1898 wendet sie sich in einem Brief aus Worpswedean die Mutter nach Bremen:

Ich möchte Dich vielmals bitten, mir noch einmal Ton zu be-stellen. Ich möchte Georg gern modellieren und Mackensensagt, ich müsste das in Lebensgröße. So klein, davon hätte ichnicht genug, lernte nicht genug dabei und es wäre auch vielzu schwer. Da muss ich wohl noch einen ganzen Zentner Tonhaben.

Nur wenige Monate später, an ihrem 20. Geburtstag im No-vember, muss sie dem Vater noch etwas erzählen, das sie mitganz besonderer Freude erfülle: Ich bin nämlich ganz mit mirins Klare gekommen, dass ich Bildhauer werden will. Ich bindarüber sehr glücklich.

Wählt sie bewusst den Begriff Bildhauer statt Bildhaue-rin? Klingt die männliche Form weniger verfänglich als die

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weibliche? Wer kann sich schon vorstellen, dass eine Frau mitHammer und Eisen in einen massiven Block aus Natursteinoder Marmor schlägt, um daraus in tage-, wochen- oder garmonatelanger Schwerarbeit ein Relief zu formen, einen Kopfoder gar einen lebensgroßen Akt?

Von Clara Westhoffs Wohnung im Zentrum des Dorfes biszum Armen- und Arbeitshaus, wo die Alten und Gebrech-lichen aus den Moorhütten leben, junge Mütter mit ihren un-ehelichen Kindern und ehemalige Strafgefangene, ist es nurein Katzensprung.

Ich bekomme jetzt wieder jemanden vom Armenhaus, dabrauche ich natürlich nicht so viel zu zahlen, versucht sie ihrenEltern den Vorteil der preiswerten Armenhäusler als Modellegegenüber den teureren Lohnarbeitern deutlich zu machen,denn wenn ich einen Tagelöhner, einen Mann habe, der nocharbeiten kann, so muss ich ihm natürlich Tagelohn bezahlen, ersitzt dafür aber auch beinahe neun Stunden. Morgens von achtbis zwölf und mittags von zwei bis sieben.

Ohne eine Vorzeichnung zu machen, modelliert die jungeBildhauerin im Herbst 1898 eine Armenhäuslerin, die ihr ge-genüber auf einem Stuhl sitzt, direkt aus Gips: der magereOberkörper bis zum Brustansatz nackt, das Gesicht hohläu-gig mit großer Nase und leicht geöffnetem Mund, die Stirnin Falten und das dünne Haar im Nacken geknotet. Einfühl-sam, doch ohne sentimentale Verklärung gibt sie die Physio-gnomie der alten, von mühsamer Landarbeit gezeichnetenWorpswederin wider. Ihr Porträt wirkt derbe und abschre-ckend. Doch es ist auch gar nicht ihr Ziel, den bürgerlichenKunstgeschmack zu treffen. Eher liegt ihr der Hinweis auf das

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soziale Unrecht am Herzen. Vor allem geht es ihr darum, zuüben. Sehen üben. Üben, den Bau, die Form und die Flächedes menschlichen Körpers zu erfassen und Neugier auf seinePersönlichkeit zu entwickeln.

Mit dem »Porträt der Alten« schafft Clara Westhoff ihreerste Plastik und erfährt damit ihre erste Anerkennung alsBildhauerin.

Künstlerische Einflüsse des belgischen Bildhauers Cons-tantin Meunier auf ihre Arbeit sind unverkennbar. Sie hattein München und Dresden Ausstellungen von ihm gesehen,außerdem scheint Familie Westhoff wohl einige seiner Plasti-ken besessen zu haben: Ich habe aber etwas gelernt von Meu-nier, hoffentlich wird es sich bald zeigen, notiert Clara nurwenige Monate nach der Entstehung der »Alten« im Zusam-menhang mit ihrer eigenen bildhauerischen Entwicklung. Sieweiß, dass sie sich auf einem schmalen Grat zwischen Eigen-ständigkeit und Konvention bewegt. Ebenso ist ihr bewusst,dass die Nähe zu den Arbeiten ihres Lehrers, zu Mackensen,noch viel zu groß ist.

Paula Becker berichtet im Dezember 1898 nach Bremen:Da ging mir heute ein Licht auf bei Fräulein Westhoff. Die hatjetzt eine alte Frau modelliert, innig, intim. Ich bewundere dasMädel, wie sie neben ihrer Büste stand und sie antönte. Diemöchte ich zur Freundin haben. Groß und prachtvoll anzu-sehen ist sie und so ist sie als Mensch und so ist sie als Künstler.

Eine Schwarz-Weiß-Fotografie, auf der zwei sitzende jungeFrauen im Profil zu sehen sind, einander zugewandt, im Ge-spräch. Lebhafter Gesichtsausdruck, dunkles, hochgestecktesHaar, helle Kleidung. Sie sind beide um die zwanzig, haben

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früh den Aufbruch gewagt, in München und Berlin studiertund das Ziel, sich allen herrschenden Vorurteilen zum Trotzin der Kunstwelt zu behaupten und die Kunst zu ihrem Berufzu machen. Wir haben uns gern und achten uns und lernenviel voneinander, notiert Paula Becker in diesen Tagen überihre beginnende Freundschaft zu Clara Westhoff.

Ich glaube, bei Künstlerinnen ist es sehr schwer, dass sie es zuetwas bringen, viel schwerer als bei Männern, ahnt die jungeBildhauerin und fährt in ihrem Brief vom 24. Mai 1899 an dieEltern fort: Daher hat es auch noch so wenig wirklich tüchtigeFrauen gegeben. Also ich meine tüchtig in dem anderen Sinne,nicht als Frau tüchtig – sondern als Künstler oder überhauptals Mensch im Beruf. Unter welchen Bedingungen die Frauennun eigentlich was leisten können, weiß ich nicht, ich weiß nur,dass ich was leisten w i l l.

Paula Becker geht es ähnlich. Ihre schöpferische Ungeduldfasst sie in der folgenden Tagebuchnotiz zusammen: Ich will

Paula Becker und Clara Westhoffin Beckers Atelier in Worpswede, 1898

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immer weiter, weiter. Ich kann die Zeit nicht erwarten, daß ichwas kann.

Neben der wachsenden Vertrautheit zwischen den beidenKünstlerinnen entwickeln sich auch immer herzlichere Be-ziehungen zu den Malern: Es gab gestern ein kleines Fest imAtelier von Otto Modersohn, berichtet Paula Becker Worps-wede-trunken über den Abend bei Otto und Helene Moder-sohn, Schummerbeleuchtung mit Papierlaternen. Zwei gedeckteTische, einen für die Erwachsenen und einen Kindertisch. Amletzteren Fräulein Westhoff und ich, Vogeler, der junge Macken-sen und Alfred Heymel.

Als Mackensen im Oktober 1898 eine gemeinsame Reise zurAusstellung mit 123 Gemälden von Rembrandt in das Rijks Mu-seum nach Amsterdam vorschlägt, ist Clara Westhoff nebenOtto Modersohn, Heinrich Vogeler und Marie Bock auch mitdabei: Das war eine großartige Reise, eine Pilgerfahrt zu Rem-brandt (…) Diese Rembrandt-Ausstellung war ein Ereignis fürmich, ich habe riesig viel davon gehabt und dadurch gelernt.

Was lesen junge deutsche Künstler und Intellektuelle um dieJahrhundertwende? Vorzugsweise die skandinavischen Auto-ren: Ibsen, Strindberg, Björnson, Hamsun, Jens Peter Jacobsen.Sein tragischer Liebesroman »Niels Lyhne«, von Stefan Zweigals der »Werther seiner Generation« gerühmt, wird auch inWorpswede verschlungen. »Es war die große Traurigkeit, dasseine Seele immer allein ist. Jeder Glaube an Verschmelzungzwischen Seele und Seele war eine Lüge«, lautet einer der letz-ten Sätze im Buch des dänischen Schriftstellers, bezeichnendfür die schwärmerisch-gefühlvolle Gestimmtheit während desFin de Siècle.

Speziell für Künstlerinnen aus aller Welt gehörte das Tage-buch der Marie Bashkirtseff ins Reisegepäck, wenn sie sichauf den Weg nach Paris machten. Die Aufzeichnungen der

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mit 26 Jahren jung verstorbenen Tochter aus reicher ukrai-nischer Adelsfamilie, die in Westeuropa lebte, waren 1897 aufDeutsch erschienen.

Bashkirtseff formuliert darin ihr Streben nach künst-lerischem Ruhm und gesellschaftlicher Karriere in größtmög-licher Freiheit und Unabhängigkeit von häuslicher Bevor-mundung. Als Malschülerin an der privaten Pariser Acadé-mie Julian beschreibt sie detailliert die dort herrschendeAtmosphäre. Es gibt ein großformatiges Bild von ihr, das denBlick in das Atelier bei Julian zeigt: Mehr als ein Dutzendmodisch gekleideter oder in Malkittel gehüllter Frauen mitimposanten Frisuren oder Hüten sitzen vor ihren Staffeleien,ins Gespräch vertieft oder in konzentrierter Betrachtung desmännlichen Aktmodells vor ihnen auf dem Podest.

Obgleich Fritz Mackensens Arbeitsweise sich von der ClaraWesthoffs unterscheidet und ihre »Alte« seinen Vorstellun-gen streng genommen nicht entspricht, überzeugen ihn ihrebildhauerische Begabung und die künstlerische Qualität ihrerSkulpturen immer mehr. Er macht sich Gedanken, wie er ihrweiterhelfen kann. Es dürfte doch kein Problem sein, ihr eineLehrzeit bei dem Bildhauer Max Klinger in seinem Atelier inLeipzig zu ermöglichen.

So fordert Mackensen seine Schülerin auf, sich um eineEinladung zur Deutschen Kunstausstellung in Dresden imApril 1899 zu bemühen. Er selbst und die anderen Worps-weder Künstler werden auch daran teilnehmen, und vor al-lem wird Max Klinger mit zahlreichen Skulpturen vertretensein. Es wäre also naheliegend, Clara Westhoff bei dieser Ge-legenheit Max Klinger vorzustellen.

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Klinger gehörte mittlerweile zu den führenden modernenKünstlern in Deutschland. Er war Mitglied der KöniglichenAkademie der Künste in Berlin und seit 1897 Professor an derAkademie der grafischen Künste in Leipzig. In jungen Jahrenhatten ihn seine Grafikzyklen bekannt gemacht. Inzwischenlag der Hauptschwerpunkt seiner Arbeit auf der Malerei undBildhauerei.

Könnte ihr zu diesem Zeitpunkt ihrer Ausbildung etwasBesseres passieren? Zu Klinger zu kommen, das ist ja ein fabel-haftes Glück für mich, notiert die junge Bildhauerin voller Vor-freude auf die Möglichkeit einer Lehrzeit in Leipzig: Wennman bedenkt, was ein Mann wie Klinger alles anfängt – das istja unheimlich – und da ist man wirklich beneidenswert, wennman Gelegenheit haben kann, das in der Nähe zu sehen undwomöglich da mitzuarbeiten.

Noch ehe sie den Künstler persönlich kennenlernt, kannClara Westhoff sich schon ein ungefähres Bild von ihmmachen, denn Paula Becker, die Klinger über ihren Vaterkannte, hatte ihr erzählt, dass er einen rötlichen Bart undstets eine braune Joppe trage und einer von diesen Souve-ränen, und dabei gütig sei. Paula hatte ihn im Frühjahr 1898während eines Aufenthalts in Leipzig in seinem Riesenatelierbesucht und war von seiner Persönlichkeit tief beeindruckt:Wenn ich an jenen Blick denke, den er mir vor drei Jahren zumAbschied gab; ich war so sehr unreif, so sehr unfertig und sehrunergiebig. Und sein Blick war, als ob er mir leise das Haarstreichelte.

Doch mag er auch noch so »gütig« wirken: Es ist kein Ge-heimnis, dass Max Klinger Frauen nicht zutraut, in der Bild-hauerei Gutes zu leisten. Er hält sie zwar nicht für grundsätz-lich unschöpferisch, doch für ihn sind sie körperlich schwacheWesen ohne handwerkliches Können und Geschick. Und so

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setzt keine Schülerin ihren Fuß über die Schwelle seines Ate-liers, der er zuvor nicht ganz deutlich gemacht hätte, wie schwer,eigentlich gar nicht zu bewältigen die Bildhauerei für eine Frausei.

Clara Westhoff am 1. Juni 1899 an den Vater nach Bremen:Klinger hat sich eine Personalbeschreibung machen lassen, vonwegen der Marmorblöcke. Da hat Mackensen gesagt, ich wöge160 Pfund, worauf Klinger sehr beruhigt gewesen sein soll.

Unermüdlich macht Mackensen seine Umgebung und in-teressierte Käufer, die ihn in seinem Atelier besuchen, auf dieBegabung der jungen Bildhauerin aufmerksam:

Und es ist wirklich rührend, wie er für mich sorgt. Erstens, dassich bei Klinger ankomme – dann, dass er meine Büste ausstelltund den Leuten noch besonders zeigt und dann führt er dochjeden Menschen, der nach Worpswede kommt, in mein Atelier.Neulich erst wieder einen Konsul Susemiehl aus Bremen undjetzt Carl Hauptmann, den Bruder von Gerhart Hauptmann.

Ihr Brief aus Worpswede vom 4. Mai 1899 an die Eltern klingtvoller Selbstvertrauen und Zuversicht:

Ich habe das Gefühl, als ob Mackensen mich bald entlässt – ob-gleich das ja immer überlegt werden muss – denn er kann mirimmer sehr viel sagen. Jedenfalls bin ich ihm ganz ungeheuerdankbar und kann das nicht genug betonen. Denn es ist ganzallein Mackensens Verdienst, wenn ich es binnen einem Jahrdazu gebracht habe, dass ich vollständig weiß, was ich brau-che und muss und will. Und dass ich nicht im Mindesten mehrdas Gefühl habe, in meiner Kunst von irgendjemand abhängigzu sein.

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Dresden, im April 1899. Clara Westhoff ist tatsächlich zurDeutschen Kunstausstellung eingeladen worden und kannjetzt zum ersten Mal öffentlich als Künstlerin auftreten.

Sie zeigt ihr »Porträt der Alten«. Die Arbeit wirke, äußertsie, ganz merkwürdig zwischen all den anderen, vorwiegendneobarocken und neoklassizistischen Plastiken, darunterauch Skulpturen von Max Klinger.

Wie aufregend der Augenblick, als Fritz Mackensen amTag der Eröffnung Max Klinger zu Clara Westhoffs Bildnis-büste führt. Der 42-jährige Bildhauer äußert sich lobend überdie antiakademische Arbeit der jungen Worpsweder Künst-lerin und erklärt sich ohne Umschweife bereit, sie in seinemLeipziger Atelier arbeiten zu lassen. Wieder zurück in Worps-wede teilt sie den Eltern mit: Ich will hier keine neue Arbeitmehr anfangen, denn dazu will ich auch erst in der Technikganz und gar bewandert sein.

Sie glaube, es sei jetzt genau der richtige Zeitpunkt, zuKlinger zu gehen, fährt sie in ihrem Brief fort und weist da-rauf hin, dass sie vor ihrer Abreise noch eine Arbeit abschlie-ßen möchte, mit der sie bereits begonnen habe. Es drehe sichum ein Porträt von Fräulein Becker, ihrer Freundin:

Ich glaube, es wird gut. Da ist mir nämlich eine ganz andereAufgabe gestellt worden wie sonst. Deshalb bin ich auch gesternelendiglich in die Brüche gegangen. Heute habe ich nochmalsangefangen und ich glaube, jetzt krieg ich es und darüber binich riesig froh. Ich möchte nun etwas ganz Feines daraus ma-chen und möchte es auch gern in diesen Tagen fertig kriegen.

Clara Westhoff formt Paula Beckers Büste in Gips: die helleSchulterpartie leicht gebogen und auf dem dunkel getön-ten Sockel wie losgelöst, Hals und Kopf mit dem kräftigen

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Haarknoten nach vorn gestreckt, der Ausdruck des feinglied-rigen Gesichts aufmerksam und voller Energie. Ein Porträt,das schwerelos wirkt und zugleich von vibrierendem Lebenerfüllt ist.

Als Clara Westhoff im August 1899 in Klingers Atelier inLeipzig zu arbeiten beginnt, darf sie von Glück reden, dass ersie für begabt hält und trotz seiner grundsätzlichen SkepsisBildhauerinnen gegenüber ernst nimmt.

So habe er ihr schon am ersten Tag ein Stück Marmor zurVerfügung gestellt, damit sie es bearbeite, nur um mal Ham-mer und Meißel in der Hand zu haben und er wollte sehen,wie ich mich dabei benähme, berichtet sie hochgestimmt nachBremen. Selbst wenn sie auch nicht »direkt« Klingers Privat-schülerin ist und bei seinen bildhauerischen Projekten mit-arbeiten darf, so hat sie doch die Möglichkeit, sich den gan-zen Tag in seiner Nähe aufzuhalten und unter seiner Aufsichtarbeiten: Ich finde es riesig nett, dass ich direkt für mich unterAnleitung Klingers eine Studie in Marmor mache, nachherweiß ich von allem Bescheid und kann allein weiterfinden (…)Das Studium auf diese Weise – ohne direkt Schülerin zu sein,macht sehr viel Freude.

Und dieses von Mackensen vermittelte Studium ist kostenlos.In ihren Briefen nach Hause ist an keiner Stelle von einemUnterrichtsgeld die Rede, das Klinger der jungen Worps-weder Künstlerin in Rechnung gestellt haben könnte. ImGegenteil. Indem er seinen Freund und Kollegen Carl Lud-wig Seffner beauftragt, Clara Westhoff den Umgang mit demPunktiergerät beizubringen, erweist Klinger sich als ausge-

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sprochen großherzig. Seffner führt sie in die Technik desSteinhauens ein und macht sie mit den verschiedenen Guss-verfahren vertraut: Seffner und seine Arbeiter haben mir ges-tern das Abgießen meiner Hand gezeigt, notiert die 21-Jäh-rige, bevor sie beginnt, diese in Marmor zu übertragen. Am9. August schreibt sie an die Eltern nach Bremen:

Und jetzt stehe ich in einem anderen der unteren Räume vonKlingers Atelier und punktiere meine in Gips abgegossene Handaus dem Stein heraus; was gar keine leichte Arbeit ist. Klingersagt, er hätte mir den Block nur zum Abschrecken gegeben undwundert sich sehr über meine Konsequenz und Ausdauer, mitder ich mir die Hände zerschlage.

Handwerkliches Geschick, körperliche Kräfte, Durchhalte-vermögen. Max Klinger ist beeindruckt. Seine positive Reak-tion auf ihre Arbeit wirkt anregend. Jetzt reizt es sie, ihrekünstlerische Begabung mit einer Plastik unter Beweis zustellen, die ihr ganz allein, ohne Hilfe und außerhalb vonKlingers Atelier gelingen soll. Und so entsteht an ein paarAugustabenden im Sommer 1899 das Tonmodell eines Kna-benreliefs, das für Überraschung und Anerkennung sorgt.26. August 1899:

Nun habe ich unterdessen, nach einigen Modellschwierig-keiten – der Junge wollte nicht Akt stehen – ein Relief model-liert, nebenbei zu Hause (…) Seffner sagte, ich soll das Reliefmit zu Klinger bringen (…) Gestern Abend um sieben Uhr wardas Stelldichein. Beide Herren waren schon da, als ich kam undauf meine Anmeldung kamen sie sogleich herunter. Und da hatihnen dann das Relief sehr gefallen. Nun habe ich aber, glaubeich, dadurch ihr ganzes Interesse erobert, denn sie waren alle

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beide ganz Feuer und Flamme, sagten, das Relief wäre reizendkomponiert etc. (…) Klinger hat mir (…) gestern besondersnett die Hand gedrückt und mir gesagt, dass ich so viel Aus-dauer und Geschick bewiesen hätte –, »Talent haben Sie, dasist keine Frage, aber lernen müssen Sie noch viel«. Und kompo-niert wäre das Ding reizend, ganz famos und Stimmung hättees. – Natürlich war dennoch vieles, was anders sein muss – aberdas fehlt nur an der Zeichnung, an der Wiedergabe der Kno-chen und Gelenke – so einiges, was ich ja aber auf jeden Falllerne – und schon gelernt habe.

Noch am selben Tag lässt sie Vater und Mutter Westhoff inBremen wissen:

Mein Plan ist der, nach Fertigstellung des Reliefs wieder nachWorpswede zu gehen, – aber vorher Klingers Interesse soweit zuwecken, dass er mir erlaubt, ihm von dort aus, immer mal wasvon meinen Sachen zu schicken oder auf irgendeine Art zu zei-gen, um seinen Senf zu hören.

Wieder nach Worpswede gehen? Nein! Ganz entschieden rätMax Klinger der jungen Künstlerin von ihrem Plan ab. Nein,auf keinen Fall zurück nach Worpswede! Die Herren dort hät-ten ganz andere Interessen als sie, begründet er seinen Einwandund legt ihr ans Herz, nach Paris zu gehen, an die Privataka-demie Julian, wo sie auch als Frau studieren könne. Schließlichsei sie noch jung, müsse Aktzeichnen üben, anatomische Stu-dien machen, sich mit gleichaltrigen Künstlern austauschen.

Doch wie soll das alles in die Realität umzusetzen sein?Wie zu finanzieren? Natürlich weiß sie, dass ein längerer Auf-enthalt in der französischen Hauptstadt ohne die materielleUnterstützung ihrer Eltern undenkbar ist. Doch Friedrich

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Marina Bohlmann-Modersohn

Clara Rilke-WesthoffEine Biografie

Taschenbuch, Broschur, 384 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-71542-8

btb

Erscheinungstermin: September 2017

Clara Rilke-Westhoff (1878-1954), Tochter aus Bremer Kaufmannsfamilie, war eine derVorreiterinnen der Frauen in der Kunst. Wie ihre Weggefährtin Paula Modersohn-Becker brachsie mit den Konventionen ihrer Zeit und wählte eine Domäne, die bis dahin vor allem Männernvorbehalten war: die Bildhauerei. Sie geht nach München - um 1900 neben Paris die führendeKunststadt Europas - dann in die Künstlerkolonie Worpswede, arbeitet bei Max Klinger undwird Schülerin Auguste Rodins. Zurück in Worpswede begegnet sie Rainer Maria Rilke. 1901heiraten die beiden. Zeitlebens leidet die Künstlerin unter dem Spannungsverhältnis ihrer Rolleals Ehefrau und Mutter und ihrem künstlerischen Schaffen. Heute stehen ihre Skulpturen Seitean Seite mit den Werken Rodins im Pariser Musée d‘Orsay.