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J ENSEITS DER W ESTWELT Wolf-Ulrich Cropp Wasser · Wüste · Eis LESEPROBE

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Jenseits der WestWelt

Wolf-Ulrich Cropp

Wasser · Wüste · Eis

www.kadera-verlag.deISBN 978-3-944459-98-1

In Hamburg ist er geboren, in jener Stadt, die sich »Tor zur Welt« nennt.Wolf-Ulrich Cropphat dieses Tor immer weit offen ge-sehen. Von hier aus startete er in die Welt, zuerst auf dem Motorrad durch Europa, 1970 mit dem VW Bulli von Tanger nach Kapstadt durch Afrika. Als Wirtschaftsingenieur war er in-ternational tätig, leitete 1978/79 in Nigeria eine Großbaustelle. Immer wieder lockten ihn ferne Länder, versteckte Völker mit mystischen Kulturen, extreme Landschaften und abenteuerliche Herausforde-rungen in allen sechs Erdteilen. Er machte es zur Profession. In diesem Buch erzählt der leiden-schaftliche Globetrotter von seinen Begegnungen und Abenteuern auf Meeren und Flüssen, in Wüsten und im Eis – abseits unserer gewohnten westlichen Zivilsation. Es sind Ex-peditionen, wie aus der Zeit gefal-len. Vergangenheit und Gegenwart werden eins und fragen nach der Zukunft … Je

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Wolf-Ulrich Cropp

Jenseits der WestWeltWasser · Wüste · Eis

@ 2018

Kadera-Verlag, Norderstedtwww.kadera-verlag.de

1. Auflage 2018 Umschlagsfotos und Fotos des Innenteils: Wolf-Ulrich Cropp, Hamburg

Titel-Gestaltung: Roland Luff, DittelbrunnSkizze: »Schnitt durch die Sahelzone«: Wolf-Ulrich Cropp, Hamburg

Informationen, Kontakt zum Autor: www.wolf-ulrich-cropp.com,https://de.wikipedia.org/wiki/Wolf-Ulrich_Cropp

Lektorat: Günther Döscher, Kadera-Verlag

ISBN 978-3-944459-98-1

Liebe Leser,

wir bieten Ihnen hier eine kurze Leseprobe an,die auch ein Beitrag zu unserer aktuellen

gesellschaftlichen Situation ist.

Gemeinsam mit den anderen Erzählungen hat sie,dass sie auch zum Nachdenken anregt.

Die Welt ändert sich,auch wenn in manchen Gebieten

unserer Erde die Zeit stillzustehen scheint – und das wiederumauf eine ganz andere Weise.

Jede Geschichte ist eine Sache für sich.

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Inhalt 6  Prolog 9  Kap Hoorn rund a 20  Kampf in der Brandung b 52  Worte in der Wüste c 57  Die Dogon und ihr kosmisches Geheimnis d 68  Über den Wassertaschen der Sahara: e Desertifikation 80  Blick auf den Grund der Zeit f 92  Afrikanische Migration: g Drama oder Herausforderung? 101  Ein Schicksalsort h117  Ein Leben auf dem Wasser i152  Jungfernfahrt ins ewige Eis j165  Mit Jackson Walluk   in der weißen Wüste Alaskas k183  Auf den Planken der Bounty l219  In den Weiten des Pazifiks m268  Rio Curaray: Expedition »Speergesellschaft« n307  Ein wilder Fluss, der gezähmt wurde o344  Der Autor:  Wolf-Ulrich Cropp

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Afrikanische Migration: Drama oder Herausforderung?

»Bon jour, Monsieur. Comment ça va?«, erkundigte sich lächelnd ein ungefähr 40-jähriger Afrikaner mit der Hautfarbe wie Ebenholz.

»Ça va bien, merci. – Es ist okay, danke«, antwortete ich, aber das ist es nicht, was er wissen wollte. Der Mann war mit allerlei Krimskrams behängt wie ein überladener Weihnachtsbaum. »Des souvenirs, des masques, des tableaux?«, bot er mir an. Ich schüttelte den Kopf. »Non, merci!« Kein Bedarf.

Die Saharahitze waberte schier unerträglich. Erbsengroße Schweiß-perlen standen dem Afrikaner auf der Stirn. Er wirkte irgendwie abge-kämpft, streifte das Souvenirgehänge ab und ließ sich neben mir in den Sand fallen. Einfach so.

»Merde, überall Wirtschaftskrise, keiner kauft. – Allemand, gerade angekommen?«, fragte er weiter.

Mir war tatsächlich nicht nach Kaufen und Handeln zumute. Wollte einfach mal in Ruhe und allein sein. Keine aufdringlichen Fragen beantworten. Stur schaute ich geradeaus, in der Hoffnung, dass sich der Händler rasch trollte.

Natürlich tat er mir den Gefallen nicht. Er griff in sein Gewand und fingerte ein Paket Postkarten heraus, das er mir wie ein geübter Kar-tenspieler aufgefächert vorlegte, dann ganz beiläufig einwarf: »Sankoré-Moschee in Timbuktu, Bambara beim Goldsuchen, Hannibals Elefanten von Douentza …«

Spätestens jetzt riskierte ich einen Blick, den er sofort auffing und ent-waffnend sagte: »Sie sind zur richtigen Zeit gekommen. In der nächsten Woche wird unsere berühmte Moschee wieder verputzt. Ein erlebens-wertes Spektakel!«

»Die Moschee von Djenné?« »Ganz klar, die Renovierung findet in der Trockenzeit statt, immer

im April.« Ich hatte vernommen, dass man von dem Gotteshaus, einen herrli-

chen Blick ins Land hätte und fragte: »Kann man aufs Dach steigen?«

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»Sie, als Kafir (Ungläubiger), nicht mehr!«, meinte der Händler. »Seit vor ein paar Jahren Fotografen für ein amerikanisches Magazin dort Aufnahmen mit schwarzen Models machten. Dem Iman waren die Mädchen zu unzüchtig gekleidet.«

Wieder lachte der Afrikaner schelmisch. Und allmählich gefiel er mir sogar. Sympathie wecken fliegende Händler in Afrika selten. Als gerade eine grazile Bedienung vorbei schlappte, fragte ich ihn, ob er etwas mit mir trinken möchte: »De la bière ou de l’eau?«

Erfreut wählte er Wasser: »Oh – de l’eau, s’il vous plaît, Monsieur.«Die Getränke kamen, er reichte mir seine feuchte Hand: »Ich heiße

Abdullah Mokambé, bin Tuareg und lebe in Bamako – noch.« Ich sagte ihm meinen Vornamen und ergänzte: »Bin Toubabon,

komme aus Deutschland.« Bei dem Wort »Toubabon« gluckste er laut. »Das sehe ich!« Dass ich

mich als »Weißer« bezeichnete, amüsierte ihn kolossal. »So, so, Tuareg trinken nur Wasser?«, bemerkte ich. »Nicht alle, ich bin Muslim und halte mich an Wasser, Tee, Cola.«Wir vergnügten uns noch eine Weile mit afrikanischen und europäi-

schen Eigenarten, bis ich merkte, dass es sich bei meinem Gegenüber um keinen dämlichen Aufschnacker handelte, vielmehr um einen erstaun-lich aufgeschlossenen, ja gebildeten Zeitgenossen. Ich erfuhr, dass er in Paris Geschichte und Politik studiert hatte, sogar an der Sorbonne, und mütterlicherseits Senufo sei.

Nach den Tuareg-Angriffen von 1990 kam er voller Tatendrang nach Hause und wollte sich politisch engagieren. Rasch fiel er in Ungnade und wäre uns Haar liquidiert worden. Bis 1993 kam es zu einer regel-rechten Hinrichtungswelle der Regierung an der Tuaregbevölkerung. Aufstände des nordöstlich lebenden Nomadenvolks flammten immer wieder auf und erreichten jüngste Höhepunkte Ende 2007 und Mitte 2008.

Für Mokambé gabs weder als Politiker noch als Lehrer eine Chance. Grollendes, akademiches Proletariat: eine gefährliche Mischung! Gebil-det, doch ohne Perspektiven.

Abdullah schlug sich als Händler bei einer straff organisierten Drü-ckerkolonne durch. Und die Kolonne schuftete für einen libanesischen Unternehmer-Clan, der in Westafrika mit allem Möglichen Geschäfte machte: Tourismus, Baumaterialien, Gebrauchtwagen …

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»Es ist zum Kotzen, Schwarzafrika tritt auf der Stelle. Schuld sind Uneinigkeit, Vetternwirtschaft, mangelnde Bildung und Bestechung! Die Machthaber hocken wie goldene Schmeißfliegen auf den Fäul-nisstellen der Gesellschaft!«, klagte er.

»Ist nicht der Kolonialismus an allem Schuld?« Der Tuareg antwortete: »Ich weiß, Ihre Linke führt das gern ins Feld.

Aber ich sage Ihnen: Der Kolonialismus hat uns wenigstens ansatzweise Strukturen, Organisation und etwas Infrastruktur gebracht. Und die einheitliche Sprache nicht zu vergessen. Wir sind ein Vielvölkerstaat, in dem Tribalismus an Stelle von Staatsbewusstsein herrscht.«

»Die willkürlichen Grenzen haben Volksgruppen getrennt. Wie kann das Herz eines Fulbe, der im Niger lebt, für Mali schlagen und umgekehrt?«

»Das ist richtig und ein großes Problem. Dennoch: Ohne Kolonialis-mus wären wir in der Bronzezeit, so sind wir wenigstens bis zum Mit-telalter gekommen.«

»Und die Migranten?«, fragte ich, wollte auch mal die andere Seite dazu hören.

»Mon Dieu, ein panafrikanisches Phänomen! Afrikaner verlassen Afrika, weil sie in ihren Ländern verhungern, eingesperrt oder umge-bracht werden!«

»Auf unserem Globus leben 300 Millionen Migranten. Bald sind es 500 Millionen oder eine Milliarde. Sie sind selten willkommen.«

»Aber sie sind durch Grenzen und Mauern nicht aufzuhalten!«, fiel mir Mokambé ins Wort.

»Und woran liegt das?« »An Ihrer total verfehlten Entwicklungspolitik. Die EU und Amerika

strangulieren uns wirtschaftlich, indem wir unsere Produkte nicht ver-kaufen können, andererseits werden Entwicklungsgelder überwiesen, die oben, in den korrupten Regierungscliquen hängen bleiben.«

»Verstehe, die Industrienationen sollen keine Fische verteilen, son-dern Angeln liefern.«

Der Afrikaner dachte eine Weile nach und sagte: »Genau, aber man muss uns moderne Fangmethoden und Qualitätsbewusstsein lehren und die gefangenen Fische zu einem fairen Preis auf dem Weltmarkt verkaufen lassen. – Und so lange ihr das nicht zulasst, kommen wir, um uns unseren Anteil zu holen!«

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Ich hatte die vielen schwarzen Flüchtlinge in Tanger, Ceuta, Agadez und die brutalen Szenen aus dem Film »Der Marsch« vor Augen.

Mokambé lächelte in sich hinein und meinte: »Könnte man da nicht von ausgleichender Gerechtigkeit sprechen? Ihr kamt vor 300 Jahren und habt euch geholt was ihr begehrtet, – nun kommen wir zu euch und holen uns was wir brauchen. Holen uns gewissermaßen zurück, was uns gestohlen wurde.«

Ich ging nicht darauf ein, merkte, dass er provozieren wollte.»Schon mal was von Mohammed Ibrahim gehört?«, fragte ich

stattdessen. »Der Milliardär aus dem Sudan? – Ja, habe ich. Seine Stiftung würdigt

afrikanische Exregierungschefs bei anerkannt verdienter Staatsführung in ihren Ländern mit fünf Millionen Dollar Preisgeld.« Der Souvenir-verkäufer weiter: »Im Jahre 2009 hat er keinen gefunden! Das ist doch bezeichnend. In Afrika klammern sich die Präsidenten an die Macht, bis sie weggeputscht werden oder einem Attentat zum Opfer fallen.«

»Warum ist das so?« »Ist doch klar! Bei euch erhalten ausscheidende Staatschefs gut

bezahlte Pensionen und Aufsichtsratsposten. In Afrika gibts das nicht. Ausscheidende Präsidenten haben nichts, allenfalls viele Feinde. Also kleben sie an der Macht und schaffen Geld im Amt beiseite.«

»Geld aus der Entwicklungshilfe zum Beispiel«, ergänze ich. »Oder schlimmer, das Volk wird ausgebeutet. – Entwicklungshilfe

als Geldgeschenk schadet nur. Dringend gebraucht werden Firmen, die in Afrika investieren. Der Markt hat enormes Potenzial. Ibrahim, der Elektronik-Ingenieur und Unternehmer, hat sein Vermögen in der Mobiltelefonie in Afrika verdient. Ohne Investitionen, ohne Jobange-bote laufen mehr und mehr Afrikaner davon.« Der Tuareg drehte sich um und winkte einen Kollegen heran, der sich aufs Verkaufen von geba-tikten Stoffen verlegt hatte. »Pièrre Obtan ist erst 22, doch als Flüchtling erfahren«, informierte er mich, und zum Verkäufer sagte er: »Bruder, komm her. Erzähle l‘allemand von deinen Erlebnissen.«

Pièrre ließ sich nieder. Er trank Bier, wollte sich aber als Migrant nicht outen. Schilderte vielmehr das unauskömmliche Leben hier, und den Willen sehr vieler junger Menschen, das Land zu verlassen. »Der Nor-den wird von Afrikanern überrollt, wenn die Hilfe vor Ort an der Bevöl-kerung ausbleibt!«, bekräftigte Abdullah.

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Es verging eine ganze Weile bis ich dann doch etwas aus dem jungen Leben eines Migranten erfuhr: Vor Jahren schon hatte sich Pièrre Obtan aus seinem Dorf Kita, in Westmali am Senegal gelegen, nach Westen aufgemacht. Und zwar nach Nouakchott, der Haupt- und Hafenstadt von Mauretanien. Die Fahrt an die Atlantikküste glich einem Viehtrans-port. Nein, es war schlimmer, Tiere werden besser transportiert. Men-schen hingen wie Trauben auf und an der Ladefläche des LKWs. Alle hatten nur eines im Sinn: Weg nach Norden!

Nun hatte er das Paradies zum Greifen nah vor sich. Das glaubte er wenigstens. Doch er bekam Angst vor den Ländern der Verheißung, weil er keine Vorstellung davon hatte, weil ihn noch viel Wasser von der anderen Welt trennte. Außerdem war er nicht allein mit dem Wunsch. Wenn sich Pièrre an der staubigen Hafenmole umsah, hockten da viele Schwarze und stündlich trafen weitere ein. Bald würden es 2000 oder 3000 Afrikaner sein, die auf ein Boot warteten, das sie nach Norden bringen sollte.

Pièrre befühlte ein kleines Päckchen, das in seinen Rocksaum einge-näht war. Geld, mit dem er hoffentlich die Überfahrt bezahlen konnte. Das Dorf hatte zusammengelegt, um ihm, dem einzigen jungen Mann ohne Beruf, mit leidlicher Schulbildung, alle Ersparnisse zu übertragen. Er war Treuhänder eines Dorfvermögens und schwor bei seinen Ahnen, alles doppelt und dreifach zurückzuzahlen, wäre er erst in Europa.

Das »Vermögen« war schon arg geschrumpft, obgleich er wie ein Hund gelebt hatte. Bestechungsgelder an der Grenze, der LKW-Trans-port, all das hatte ihn bluten lassen. Nun hieß es warten.

Warten auf eine Piroge, auf die sich 70 bis 80 Leute quetschen muss-ten. Bis zu den Kanaren waren es von der Hafenstadt über 1000 See-meilen. Es kursierte das Gerücht, dass in Nouadhibou, etwa 250 Meilen nördlich, umzuladen sei. Außerdem sprach sich herum: im letzten Jahr seien 3500 Migranten auf dieser Route umgekommen. Die meisten seien verdurstet oder ertrunken. Doch ihn trieb der Glaube und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft durch den Schwarzen Erdteil. Ihn und 50 Mil-lionen weitere Afrikaner. Die meisten wollen aus Afrika heraus.

Im Nebel schoben sich Pirogen an die Mole. Am Ufer geriet die träge, dämmernde Masse Mensch in Aufruhr. Schlepper, auch nur Helfeshel-fer, kassierten sofort. Die wahren Bosse saßen in den Metropolen, wie Spinnen in einem internationalen Netzwerk. Sie kassierten ohne sich

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die Hände schmutzig zu machen. Bis Nouadhibou war der Preis 60 Euro pro Person. Nicht besonders viel. Für schwarze Flüchtlinge jedoch eine große Summe. Pièrre Obotan stemmte sich über die Bordwand eines dieser seeuntüchtigen, morschen Schweinetröge und ergatterte ein Plätzchen im Bug. Bald pressten sich über 80 Leiber ins Boot, aus Kamerun, Nigeria, Ghana, Benin, Gambia, Mali … Alles junge Män-ner zwischen 18 und 30 Jahren. Frauen mit Kindern und Babys hatten andere Seelenverkäufer geladen.

»Ich hatte Glück. Der Zufall wollte es, dass Michèl, ein Landsmann, neben mir kauerte«, berichtete Obotan weiter. »Michèl schlug sich im letzten Jahr auf einem Fluchtweg über Tamanrasset in Algerien, nach Norden. Am Stacheldrahtzaun von Ceuta blieb er zweimal hängen und wurde eingesperrt. Nun versuchte er sein Glück über Nouakchott. Unser Boot sackte immer tiefer ins Wasser. Die Bordwand schaute nur noch 30 Zentimeter heraus. Ich konnte vom Sitz ins Wasser greifen. Noch bei Nebel stahlen sich die Skipper mit den überladenen Pirogen davon. Von Michèl erfuhr ich, dass seine Schwestern zur Ware gewor-den waren. Seine Familie war bitterarm und musste Sumla und Jamira Schleppern übereignen, in der Hoffnung, dass irgendwann Geld aus dem Paradies zurückkäme. Werden die Schulden, rund 100 000 Euro, den Menschenhändlern nicht zurückgezahlt, verlören Michèls Eltern doppelt: die Töchter und ihr bisschen Land mit der Hütte. Alles hatten sie und Verwandte den Schleppern verpfändet. Keiner konnte sich vor-stellen, wie schwer es sein würde 100 000 Euro zu verdienen – in den Bordellen Europas. Dort führte der Weg der Mädchen doch hin!«

Michèl hatte von seinen Schwestern nie mehr etwas gehört. Wusste nicht, ob sie noch lebten. Konnte er auch nicht wissen, weil dies sein letzter Fluchtversuch sein würde. Der Törn bis Nouadhibout verlief glimpflich. Wenn nur der Gestank nicht so arg gewesen wäre. Die Männer mussten sich entleeren wo sie saßen, standen oder lagen. Nie-mand konnte weichen. Pestilenzialisch war der Gestank, wie auf einem Sklavenschiff!

Die Weiterfahrt mit einem anderen Boot, mit einem anderen Skip-per und Schlepper, war die Hölle. Wann würde die Seefahrt am Strand irgendeiner spanischen Insel enden? Im Magen bohrte der Hunger. Mund und Kehle lechzten nach Wasser. Am dritten Tag überfiel ein heftiges Gewitter ihr Boot. Wasser schüttete in den Kahn und in gierig

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offene Münder. Angst und Panik griffen um sich. Panik vor dem Unter-gang, der volllaufenden Nussschale. Dem Skipper wurde mulmig. Der sechste Tag auf See und immer noch kein Land am Horizont? War er auf falschem Kurs? Wieder schickte die Sonne ihre mörderischen Lan-zen ins offene Boot. Michèl versuchte seinen Durst mit Salzwasser zu lindern. Welch gefährliches Unterfangen! Unter den Flüchtlingen brach eine Revolte aus, als der Skipper eine Flasche Wasser an den Mund setzte. Der Kahn drohte zu kentern. Ein Peitschenhieb zuckte übers Boot. Jetzt ließ der Skipper seine Machete aus dem Überwurf sichtbar werden und brüllte: »Verdammte Bande, Ruhe oder es gibt Tote!«

Tags darauf gab es die ersten Toten! Eine unverhoffte Riesenwelle legte das Boot zur Seite, dabei wurden vier Mann über Bord gefegt. Michèl war unter den Unglücklichen. Ungerührt tuckerte der Bootsfüh-rer weiter, die Ertrinkenden hinter sich lassend. Der Tumult wurde mit Peitschenhieben und Stockschlägen niedergeknüppelt. Bevor das Chaos unkontrollierbar wurde, kam Land in Sicht. Die Seefahrt endete bei Nacht in einer versteckten Bucht von Teneriffa. Die Menschen wurden ausgesetzt. Der Skipper drehte bei, entschwand bei Nacht und Nebel. Orientierungslos schlugen sich die Ankömmlinge in die Büsche, ver-suchten bei den Weißen unterzutauchen. Sich als Asylanten zu stellen, hielten sie für zwecklos. Niemand der »Boatpeoples« war ein politisch Verfolgter.

Noch im Morgengrauen wurde Pièrre Obotan mit fünf weiteren Flüchtlingen von einer spanischen Zollpatrouille gestellt. »Drei Tage später war ich wieder in Bamako«, schloss Pièrre den Bericht seiner ers-ten Flucht.

Auf seinem zweiten Fluchtweg schlug er sich nach Osten, in die Sahara, durch den Niger, den Tschad bis nach Tripolis an Libyens Mit-telmeerküste. Diese Odyssee dauerte zehn Monate. Sie war gekenn-zeichnet durch ewiges Warten in Karawansereien auf Mitfahrgele-genheiten, durch Gefängnisaufenthalten, Polizeischikanen, Diebstahl, Verrat, ewige Peinigungen, Erschöpfung und Krankheit.

Immer wieder erschienen als Fluchthelfer getarnte Schlepper, die Versprechungen machten, kassierten, doch nicht weiterhalfen.

Der heiße Tipp, sich durch Libyen ans Mittelmeer durchzuschla-gen, war eine sichere Falle. Gaddhafis Polizei griff jeden auf und jagte ihn zurück. So passierte es auch Pièrre. In Tripolis Straßen wurde er

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aufgegriffen, verhört, eingesperrt, verprügelt und durch die Wüste zurückgeschickt.

»Wie solls jetzt weitergehen?«, fragte ich. Der junge Mann griff in den Sand und ließ ihn durch seine Finger

rieseln. »Hier hab ich keine Chance. Ich versuchs wieder. Schon bald. Gaddhafi ist weg. Das Nadelöhr wurde Agadez. Wer‘s da durch schafft, erreicht die Küste und ein Schlauchboot nach Italien.«

»Schon von Flüchtlingsdeals mit Libyen, Tunesien, Marokko und Antimigrationseinheiten gehört?«, fragte ich.

»Solls geben. Na und? Ich schaffs oder sterbe. Es liegt in Allahs Hand!«»Die Richtung ändert sich, aber die Migration bleibt«, ergänzte Abdul-

lah. »Ist es nicht das Recht der Menschen zu wandern, wenn sie in Not sind? Ich habe gehört, dass Iren und Deutsche einst nach Amerika aus-gewandert sind.«

Ein Sahara-Express auf dem Weg ans Mittelmeer

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Natürlich gibt es Argumente die Auswanderungswellen zu relativie-ren. Doch ich zog es vor zu schweigen.

Muslim Pièrre leerte sein Bierglas, stand auf, belud sich mit seinen Stoffballen und verschwand. Betretene Nachdenklichkeit blieb zurück.

Nach einer Weile meinte Abdullah: »Migration ist die Geschichte einer ewigen Suche. Der Suche nach einem Ort, an dem der Mensch hofft, besser leben zu können. Europas Furcht vor der Völkerwande-rung kann ich verstehen.«

»In Afrika leben eine Milliarde Menschen, davon sind rund die Hälfte arm und hungrig. Allein heute schon sind unter ihnen 50 Millionen auf der Flucht. Wo soll das hinführen?«, gab ich zu verstehen.

»Ach«, sagte Abdullah, »machen Sie sich keine Sorgen. Das ist die Aufgabe der Politiker. Unsere Nöte müssen Sie ja erdrücken!«

Wir redeten noch über dies und das. Dann gab sich der Tuareg einen Ruck. »Ich muss weiter und verkaufen, mein Patron schmeißt mich sonst raus… nicht mehr lange verfügt er über mich, dass sage ich Ihnen, das Hundeleben wird sich ändern!«

Ich kaufte ihm noch rasch einige Postkarten ab. Mit einem freundli-chen »á bientôt«, verabschiedete sich der Verkäufer. Setzte seine Runde fort. Ich schaute ihm nach. Noch erstaunt über einen Souvenirhändler, der mir am Rande der Sahara so viele Informationen zukommen ließ.

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