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Das Blutgerinnungssystem: Komponenten, Funktionen und physiologisches Zusammenspiel Prof. Dr. Theodor Dingermann und Dr. Ilse Zündorf, Institut für Pharmazeutische Biologie, Goethe-Universität Frankfurt/Main Von vitaler Bedeutung ist ein funktionierendes Gleichgewicht zwischen einem Schutz vor Verbluten nach Verletzungen und dem Offenhalten der Blutbahnen. Dieses Gleichgewicht wird als Hämostase bezeichnet und wird von einem System prokoagulatorischer und antikoagulatorischer Komponenten aufrecht erhalten. Zu diesem System gehören im Wesentlichen neben den plasmatischen Gerinnungsfaktoren und dem Fibrinolysesystem auch die Thrombozyten und das Gefäßendothel. Viele dieser Faktoren werden mit römischen Zahlen durchnummeriert (FI, FII, usw.), wobei die Nummerierung nicht der Reihenfolge in der Gerinnungskaskade entspricht (Tab. 1). Tab. 1: Wichtige, an der Blutgerinnung und Fibrinolyse beteiligte Faktoren Faktor Bezeichnung Aktive Struktur Bildungsort Mangelkrankheit I Fibrinogen Heterohexamer aus je 2 α-, β- und γ-Ketten, Heterotrimere in Kopf-zu-Kopf-Stellung Leber Kongenitale Afibrinogenämie, renale Amyloidosis, α- Dysfibrinogenämie, Thrombophilie II Prothrombin Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten, Serinprotease Leber Dysprothrombinämie III Gewebethromboplastin, Gewebefaktor Typ-1-Membranprotein Gewebezellen Keine bekannt IV Calciumionen V Proaccelerin Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten bevorzugt Leber Owren-Syndrom (Parahämophilie); Thrombophilie (APCR) VI (aktivierter Faktor V), Accelerin VII Proconvertin Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten, Serinprotease Leber Hypoproconvertinämie VIII Antihämophiles Globulin A (AHG A) Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten Leber, Milz, RES Hämophilie A IX Antihämophiles Globulin B (AHG B); Christmas-Faktor Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten, Serinprotease Leber Hämophilie B X Stuart-Prower-Faktor Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten, Serinprotease Leber Stuart-Prower-Krankheit XI Rosenthal-Faktor Homodimer; Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten, PTA-Mangelsyndrom (Rosenthal-Krankheit)

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Das Blutgerinnungssystem: Komponenten, Funktionen und physiologisches Zusammenspiel

Prof. Dr. Theodor Dingermann und Dr. Ilse Zündorf, Institut für Pharmazeutische Biologie, Goethe-Universität Frankfurt/Main

Von vitaler Bedeutung ist ein funktionierendes Gleichgewicht zwischen einem Schutz vor Verbluten nach Verletzungen und dem Offenhalten der Blutbahnen. Dieses Gleichgewicht wird als Hämostase bezeichnet und wird von einem System prokoagulatorischer und antikoagulatorischer Komponenten aufrecht erhalten. Zu diesem System gehören im Wesentlichen neben den plasmatischen Gerinnungsfaktoren und dem Fibrinolysesystem auch die Thrombozyten und das Gefäßendothel. Viele dieser Faktoren werden mit römischen Zahlen durchnummeriert (FI, FII, usw.), wobei die Nummerierung nicht der Reihenfolge in der Gerinnungskaskade entspricht (Tab. 1). Tab. 1: Wichtige, an der Blutgerinnung und Fibrinolyse beteiligte Faktoren

Faktor Bezeichnung Aktive Struktur Bildungsort Mangelkrankheit I Fibrinogen Heterohexamer aus je 2 α-, β-

und γ-Ketten, Heterotrimere in Kopf-zu-Kopf-Stellung

Leber Kongenitale Afibrinogenämie, renale Amyloidosis, α-Dysfibrinogenämie, Thrombophilie

II Prothrombin Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten, Serinprotease

Leber Dysprothrombinämie

III Gewebethromboplastin, Gewebefaktor

Typ-1-Membranprotein Gewebezellen Keine bekannt

IV Calciumionen V Proaccelerin Vorläuferprotein wird in

leichte und schwere Kette geschnitten

bevorzugt Leber Owren-Syndrom (Parahämophilie); Thrombophilie (APCR)

VI (aktivierter Faktor V), Accelerin

VII Proconvertin Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten, Serinprotease

Leber Hypoproconvertinämie

VIII Antihämophiles Globulin A (AHG A)

Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten

Leber, Milz, RES

Hämophilie A

IX Antihämophiles Globulin B (AHG B); Christmas-Faktor

Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten, Serinprotease

Leber Hämophilie B

X Stuart-Prower-Faktor Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten, Serinprotease

Leber Stuart-Prower-Krankheit

XI Rosenthal-Faktor Homodimer; Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten,

PTA-Mangelsyndrom (Rosenthal-Krankheit)

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Serinprotease XII Hagemann-Faktor Vorläuferprotein wird in

leichte und schwere Kette geschnitten, Serinprotease

Leber FXII-Mangel, meist ohne Blutungsneigung

XIII Fibrinstabilisierender Faktor; Laki-Lorand-Faktor

Tetramer aus je 2 A- und B-Ketten, Transglutaminase

in den meisten Geweben

Blutungsneigung bei F13A- oder F13B-Defizienz

PKK Präkallikrein; Fletcher-Faktor

Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten, Serinprotease

Fletcher-Faktor-Defizienz, Blutungsneigung

HMWK High molecular weight Kininogen; Fitzgerald-Faktor

Vorläuferprotein wird in leichte und schwere Kette geschnitten, dabei wird Bradykinin frei

Hereditärer HMWK-Mangel mit schwerem Leberschaden

vWF von-Willebrand-Faktor Multimer Gefäßendothel, Megakaryozyten

Von-Willebrand-Syndrom

PL Phospholipide Thrombozyten Protein C Serinprotease Leber Protein-C-Mangel mit

Thromboseneigung Protein S, Cofaktor von

aktiviertem Protein C Leber Protein-S-Mangel mit

Thromboseneigung TFPI Tissue factor pathway

Inhibitor Serinproteaseinhibitor Leber,

Gefäßendothel Keine bekannt

ATIII Antithrombin III Serinproteaseinhibitor Leber, Gefäßendothel

ATIII-Dysproteinämie

C1-Inh C1-Inhibitor Serinproteaseinhibitor Leber Hereditäres Angioödem PLG Plasminogen Vorläuferprotein wird in

schwere A- und leichte B-Kette geschnitten, dabei entsteht Aktivierungspeptid

Niere Thrombophilie

 

Hämostase Bei der Hämostase kann man zwischen der primären und der sekundären Hämostase

unterscheiden. Die primäre Hämostase, die direkt nach einer Verletzung initiiert wird, lässt sich wiederum in drei Schritte unterteilen:

• Adhäsion der Thrombozyten an das subendotheliale Kollagen • Reversible Thrombozytenaggregation über Fibrinogenbrücken • Bildung eines irreversiblen Thrombus

Das führt dazu, dass Thrombozyten innerhalb von zwei bis drei Minuten, der so genannten Blutungszeit, vermittelt über den von-Willebrand-Faktor (vWF) die Wunde verschließen. Auf der Thrombozytenoberfläche sind zahlreiche Glycoproteine (GP) lokalisiert, die als Rezeptoren mit verschiedenen Molekülen spezifische Interaktionen eingehen können.

Die sekundäre Hämostase führt über die Aktivierung verschiedener Gerinnungsfaktoren schließlich zur Bildung von Thrombin (FIIa), das zum einen Fibrinogen zu Fibrin spaltet, zum anderen aber auch diverse plasmatische Faktoren aktiviert und so zu einer Verstärkung der Aktivierungskaskade führt. Während man lange Zeit ein zweiarmiges Modell aus intrinsischem und extrinsischem Weg für die Gerinnungskaskade verwendet hat, unterteilt man mittlerweile die sekundäre Hämostase ebenfalls in drei Phasen:

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• Initialphase, in der nach Verletzung FVIIa zusammen mit Gewebefaktor (TF) FX und darüber etwas FII aktiviert.

• Amplifikationsphase, in der über FIIa andere Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten aktiviert werden.

• Propagationsphase, in der in großen Mengen FIIa entsteht und Fibrinogen zu Fibrin spaltet, so dass Fibrinfibrillen entstehen.

Erst wenn die Fibrinfibrillen durch Einwirkung von FXIIIa, der ebenfalls von Thrombin aktiviert wird, in ein stabiles Fibrinnetz umgewandelt wurde, ist die Wunde gut verschlossen.

Fibrinolyse Fibrinolyse, also das Auflösen von Fibringerinnseln nach einem Gefäßverschluss, wird

physiologisch durch eine Gruppe von Proteinen induziert, die als Plasminogenaktivatoren bezeichnet werden. Diese Substanzen wandeln Plasminogen in das aktive Enzym Plasmin um. Neben den körpereigenen Plasminogenaktivatoren Urokinase (urinärer Plasminogenaktivator, U-Plasminogenaktivator) und dem Gewebe-Plasminogenaktivator (t-PA) dient auch die vom grampositiven Bakterium Streptococcus pyogenes gebildete Streptokinase im Komplex mit Plasminogen als Plasminogenaktivator. Aktives Plasmin ist eine Serinprotease, die ihrerseits Fibrin zu Fibrinspaltprodukten degradiert. Fibrin ist die Hauptkomponente von Gerinnseln, die die Gefäße bei Thrombosen und Embolien verstopfen.