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Das kleine Reiseandenken

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Berte Bratt

Das kleine Reiseandenken

Nebel kann nicht nur Verkehrsstörungen, Ärger und Zeitverlust verursachen, sondern letzten Endes auch ein ganz großes Glück. Jedenfalls für Ingrid

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Die große und die kleine Ingrid Der Bahnsteig in Flensburg lag schmal und lang, fast weiß in der grellen Frühlingssonne. Lang und weiß und beinahe menschenleer. Wie blanke Fäden zogen sich die funkelnden Schienen gen Norden und verloren sich in der Ferne.

Ein paar Eisenbahnbeamte gingen über den Bahnsteig, ein Zollbeamter in grüner Uniform kam aus dem niedrigen Backsteingebäude, auf dem „Zoll – Douane“ stand.

Unter dem gewölbten Dach des Bahnsteigs saß auf einer Bank ein schmächtiges fünfzehnjähriges Mädchen. Ihre langen, goldbraunen Haare waren im Nacken zusammengebunden und hingen ihr über den abgetragenen, etwas zu klein gewordenen Mantel. An einem Lederriemen über der Schulter trug sie eine Tasche, neben ihr stand ein kleiner brauner Koffer und im Arm hatte sie eine Tüte mit vier Apfelsinen.

Sie folgte mit den Augen dem funkelnd blanken Schienenstrang, so weit sie konnte. Ein stilles, fast andächtiges Staunen erfüllte sie. In einer Stunde sollte der Zug abfahren. In einer Stunde sollte sie zum erstenmal in ihrem Leben über eine Grenze fahren, ihr eigenes Land verlassen und in eine neue, unbekannte Welt reisen, zu Menschen, deren Sprache sie nicht verstand und denen ihre – Ingrids – eigene Sprache fremd war. Bis hierher war Frau Kistenmacher mitgereist. Aber dann hatte sie sich verabschiedet und Ingrid sich selber überlassen. Frau Kistenmacher wollte weiter, hatte keine Zeit, mit Ingrid zusammen zu warten. Sie war ja auch wirklich nicht dazu verpflichtet. Es war ohnehin furchtbar nett von ihr, daß sie ihre Reise so lange aufgeschoben hatte, damit sie Ingrid wenigstens heil bis Flensburg bringen konnte. Frau Kistenmacher wohnte zu Hause neben ihnen. Als sie erfuhr, daß Ingrid nach Dänemark reiste, hatte sie gleich gesagt, sie könne es vielleicht so einrichten, daß sie bis Flensburg mit ihr zusammen fahren würde.

Beim Abschied hatte Frau Kistenmacher ihr genau Bescheid gesagt, daß sie bis dreißig Minuten vor Abfahrt des Zuges warten müßte. Dann kämen die Zollbeamten und Paßkontrolleure, und Ingrid sollte durch die linke Tür hineingehen. Da drinnen würde man ihren Koffer nachsehen und den Paß kontrollieren. Und wenn sie dann auf der anderen Seite hinauskäme, dann wäre da ein Schlagbaum auf dem Bahnsteig, der den Rückweg absperrte. Dann

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könne sie nicht wieder zurück. Ingrid hatte aufmerksam zugehört, sie hatte genickt und alles

verstanden. Ihre Augen folgten dem Zeiger auf der Bahnhofsuhr. Noch dreiviertel Stunden, bis der Nordexpreß einlaufen sollte.

Sie öffnete die Schultertasche und holte ihren Paß heraus. Es war ein beinahe feierlicher Paß, mit einem Lichtbild, denn Ingrid war ja schon fünfzehn, und sie würde vielleicht sechzehn sein, wenn sie zurückkehrte.

In der Paßmappe lag auch der Brief von Tante Agate. Tante Agate… Das war das merkwürdigste von allem. In ein fremdes Land zu

fahren, das war schon etwas Besonderes; aber zu einem Menschen zu fahren, den man niemals gesehen hatte, zu einem Menschen, von dem man nur eine schwache, nebelhafte Vorstellung hatte…

Als der Brief mit der Einladung von Tante Agate gekommen war, hatte Tante Margrete von ihr erzählt, was sie wußte, und das war nicht viel.

Sie wußte, daß Ingrids Mutter in ihrer frühesten Jugend eine Stellung in einem Haushalt in Kopenhagen gehabt hatte. Es war damals nichts Ungewöhnliches, daß deutsche junge Mädchen im Ausland Stellungen annahmen. Denn die deutschen Mädchen waren tüchtig, sparsam, fleißig und bescheiden. Ingrids Mutter hatte eine Stelle bei einem Ehepaar Jespersen gehabt. Als sie nach Deutschland zurückgekehrt war und geheiratet hatte, kamen hin und wieder Briefe von diesem Ehepaar Jespersen, Grüße zu Weihnachten und zu Geburtstagen und so. Bei Ingrids Geburt ging an Jespersens auch eine Geburtsanzeige; für die kleine Ingrid traf dann ein Taufgeschenk ein. Eine kleine Halskette aus Silber, die Ingrid noch heute besaß.

Kurze Zeit darauf ging wieder eine Anzeige hinaus, aber den umgekehrten Weg und mit einem anderen Inhalt. Frau Agate Jespersen teilte den Tod ihres Mannes mit.

Jetzt wurden die Geschenke und Briefe seltener. Aber ein paar der Briefe existierten noch. Briefe mit dänischen Marken und „Fru Jutta Schramm“ als Adresse. Diese Frau Jespersen dachte wohl nie daran, daß es auf deutsch „Frau“ und nicht „Fru“ heißt! Aus diesen Briefen ging es hervor, daß Frau Jespersen – oder Tante Agate, wie sie sich selbst der kleinen Ingrid gegenüber nannte – sehr besorgt um ihr Geld sei. Denn so selten sie auch schrieb, immer war in ihren Briefen von geldlichen Schwierigkeiten die Rede, und wie teuer alles

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geworden sei, und daß die Hausangestellte, die sie hatte, so verschwenderisch sei.

Als Ingrid zwei Jahre alt war, verlor sie ihre Mutter. Wieder ging eine Todesanzeige in die Welt hinaus. Wieder nach

Norden. Tante Margrete hatte Frau Jespersens Adresse unter Juttas hinterlassenen Habseligkeiten gefunden und die Anzeige abgeschickt.

Ja, was hatte Tante Margrete nicht alles getan. Was wäre aus Ingrid geworden, wenn sie nicht Onkel Peter und Tante Margrete gehabt hätte.

Ingrid war so unbeschreiblich allein in der Welt, als sie ihre Mutter verloren hatte. Nahe Anverwandte besaß sie nicht. Die weitere Verwandtschaft war in alle Winde verstreut und kümmerte sich nicht um sie. So war das Mädchen ganz allein, ein einsames, hilfloses kleines Wesen in Gottes weiter Welt.

Ihren Vater hatte Ingrid nie gekannt. Er war durch einen Unfall ums Leben gekommen, ehe sie geboren wurde.

Aber ein Zuhause hatte sie doch bekommen. Onkel Peter und Tante Margrete hatten sich als gute Nachbarn ihrer angenommen. Ingrid wuchs in einer großen Geschwisterschar auf. Als sie zu Onkel Peter und Tante Margrete kam, war nur die Elke dagewesen. Bald aber wurde Monika geboren, und zuletzt kamen noch die Zwillinge Hans und Grete dazu. Ingrid war noch klein, da lernte sie schon, die kleinsten Kinder zu warten, sie zu füttern, sie trockenzulegen und in den Schlaf zu lullen. Aber sie lernte noch mehr. Geschirr spülen, Kartoffeln schälen und Gemüse putzen. Sie lernte Brei kochen und Kaffee machen. Wenn Tante Margrete draußen auf dem Feld zu tun hatte, was besonders in der Erntezeit der Fall war, mußten Ingrid und Elke das Haus besorgen.

Onkel Peter und Tante Margrete hatten einen kleinen Hof, sie bauten Kartoffeln und Gemüse an und züchteten Hühner, Enten und Kaninchen. Sie hielten zwei Kühe und ein Pferd. Auf dem Pferderücken sitzen zu dürfen war Ingrids größte Freude. Das allerschönste war, wenn sie ab und zu das schöne Reitpferd auf dem großen Nachbarhof reiten durfte! Dann saß sie in einem richtigen Sattel, sie trainierte Trab und Galopp – oh, war das herrlich! Nichts war schöner, als wenn der Sohn des Nachbarn, dem das Pferd gehörte, verreist war. Dann mußte ja das Tier bewegt werden, und für Ingrid bedeutete das jeden Tag eine Stunde auf dem Pferderücken.

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Noch ehe Ingrid in die Schule kam, konnte sie schon melken. Später gehörte es zu ihren Pflichten, die Kaninchen zu besorgen, und diese Arbeit liebte sie. Alles, was mit lebendigem Getier zu tun hatte, übernahm sie gern. Ingrid kam früh in die Schule. Als Elke eingeschult wurde, war Ingrid erst fünfeinhalb. Trotzdem meldete man sie mit an. Denn sie war ein aufgewecktes Kind, und Tante Margrete und Onkel Peter fanden es so praktischer. Die beiden kleinen Mädchen saßen nun auf derselben Schulbank, machten ihre Aufgaben zusammen, lernten um die Wette und hatten auf diese Weise viel Freude an der Schule. So kam es dann auch, daß Ingrid schon mit fünfzehn Jahren entlassen wurde.

In der Familie mußte alles arbeiten, die Erwachsenen wie auch die Kinder. Sie standen früh auf und schafften in einem steten, stillen, fleißigen Rhythmus den lieben langen Tag hindurch. Jeder versah sein Tagewerk in einer einfachen und selbstverständlichen Art.

Abends saßen sie alle um den Tisch, Friede und Ruhe erfüllten sie. Tante Margrete und die kleinen Mädchen holten Stopfkorb und Strickzeug hervor, Onkel Peter sah in die Zeitung. Hin und wieder las er auch einmal laut vor. Ein stilles Behagen lag über dem kleinen Hauswesen.

Noch jetzt durchströmte Ingrid dies Behagen, während sie hier auf der Bank saß mit dem neuen, feierlichen Paß in der Hand.

Sie holte den Brief aus der Paßmappe und las ihn zum hundertsten Male. Den Brief mit der Einladung nach Kopenhagen.

Tante Agate schrieb sehr nett von Mutter. Wie sie Mutter geschätzt habe, wie oft sie an das kleine, einsame Mädchen habe denken müssen; und ob Ingrid noch die silberne Kette besitze; ob sie sie jemals trage und dabei an die alte Tante Agate denke, die sie nie gesehen hatte? Jetzt sei Ingrid gewiß ein großes Mädchen, das allein reisen könne. Ob sie nicht Lust habe, nach Kopenhagen zu kommen, in die schöne Stadt, die ihre Mutter so gern gemocht hatte? Ob sie nicht Lust habe, ein Jahr in Dänemark zu verleben?

Ingrid war überwältigt gewesen. Und Onkel Peter hatte den Brief, der in einem etwas unbeholfenen, aber verständlichen Deutsch geschrieben war, wieder und wieder laut vorgelesen. Er hatte ihn von vorn bis hinten und von hinten nach vorn gelesen und die Brauen gerunzelt, während er grübelte. Er und Tante Margrete hatten von der Verantwortung gesprochen, die sie für Ingrid hätten und ob sie sie in das fremde Land schicken könnten, so weit von zu Hause weg?

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Es waren zwischen Tante Agate und Onkel Peter mehrere Briefe hin und her gegangen. Zum Schluß schrieb Ingrid selber, mit ihrer saubersten Schrift, dankte tausendmal für die Einladung, und sie würde gern kommen.

Tante Margrete hatte alle die kleinen Dinge hervorgeholt, die Tante Agate im Laufe der Jahre geschickt hatte. Es war wohl das beste, Ingrid nahm sie mit, dann konnte Tante Agate doch sehen, daß sie benutzt wurden.

Aber Tante Margrete hatte ein wenig den Kopf geschüttelt. Es waren wirklich sonderbare Geschenke für so ein kleines Mädchen. Ein braunes Portemonnaie, das wie ein Tabaksbeutel aussah, mit Wachstuch gefüttert – eine Hülle für Streichholzschachteln, mit einer dänischen Flagge drauf und dem Wort Kopenhagen – ein Heft mit farbigen Zeichenserien und einem Text, von dem Ingrid natürlich kein Wort verstand. Das Heft war außen vergilbt, so als habe es in einem Schaufenster in der Sonne gelegen. Und dann waren da noch ein Haufen Filmfotos, wie sie früher ab und zu in Zigarettenpackungen lagen.

Nicht zu verwundern, daß Onkel Peter und Tante Margrete den Kopf geschüttelt hatten.

Aber die Erklärung erhielten sie in dem letzten Brief, den Tante Agate schickte, in dem Brief mit der Fahrkarte und der Angabe des Reisetages. In diesem Brief erwähnte sie, daß sie einen kleinen Tabakladen habe…

„Dachte ich’s mir nicht?“ sagte Onkel Peter. Ingrid legte den Brief in die Tasche zurück. Sie wollte den

nächsten hervorholen. Da fiel ihr Blick auf die Uhr, und sie sah, daß sie nur noch eine halbe Stunde bis zur Abfahrt des Zuges hatte.

Sorgfältig machte sie die Schultertasche wieder zu, hob den Koffer auf, drückte die Tüte mit den Apfelsinen an sich und ging durch die Tür, über der „Zoll – Douane“ stand.

Die uniformierten Beamten standen jetzt auf ihren Plätzen hinter den langen, niedrigen, mit Metallplatten belegten Tischen. In einem Raum davor saßen die Beamten für die Paßkontrolle in ihren Käfigen aus Maschendraht – wie grün uniformierte Kaninchen, dachte Ingrid.

Sie mußte bei dem Vergleich lachen, und so kam es, daß der erste Reisende, dessen Paß für die Ausreise gestempelt wurde, ein lachendes Mädchen mit langen goldenen Haaren und einer Tüte Apfelsinen im Arme war…

Alles ging viel schneller vonstatten, als sie geglaubt hatte. Schon

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fünf Minuten später stand sie auf dem Bahnsteig, diesmal jenseits der Schranke.

Nun gab es keinen Weg zurück. Ingrid ließ den Blick gen Norden schweifen, und mit einem Male

spürte sie einen Kloß im Halse. Sie sah auf die Uhr. Zu Hause hatten sie jetzt zu Mittag gegessen. Heute mußte Elke allein aufwaschen.

Geschirr aufwaschen machte gar nicht so furchtbaren Spaß. Und dennoch… Mit einem Male wurde Ingrid von der Sehnsucht nach der Küche zu Hause überwältigt, nach all den gebrauchten Tellern, nach der großen Spülwanne – nach dem Geplauder und den Mühen mit den Zwillingen, die immer störten und immer im Wege waren…

Ob Monika wohl im Kaninchenstall ordentlich saubergemacht hatte? Eigentlich war sie noch zu klein, um lebende Tiere zu versorgen. Ob sie daran gedacht hatte, ihnen frisches Futter hinzustellen?

Ingrid hatte eine sorgenvolle Falte zwischen den Brauen und merkte nicht, daß es rings um sie her lebendiger geworden war. Es kamen immer mehr Reisende hinzu. Hinter ihr fuhr eine große Gepäckkarre mit Kisten und Säcken und Koffern heran.

Ihre Gedanken waren immer noch bei den Kaninchen – wenn sie bloß nicht Durst hatten… und ob Monika an das Nistkästchen für das trächtige Weibchen dachte?

Ein sonderbares Quieken und Wimmern brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Ihr hellhöriges Ohr wußte sofort, was das war. Es mußten Tiere sein – Tiere, die um etwas bettelten.

Und wirklich. Das Gezeter kam aus einer großen Kiste, die auf der Gepäckkarre stand. Ingrid ging um die Karre herum und guckte. Da stand eine Kiste mit Drahtgitter auf der einen Seite, und drinnen…

„Oh, wie sind die süß!“ Sie vergaß ganz, daß sie nicht mehr allein war. Die Worte entschlüpften ihr unwillkürlich; die Bahnbeamten lächelten.

In der Kiste tummelten sich sechs kleine Äffchen und streckten winzigkleine bettelnde Händchen durch die Maschen des Drahtnetzes.

„Ja, sie sind niedlich“, sagte einer der Bahnbeamten, „sie haben eine lange Reise hinter sich, die armen Dinger. Sie kommen aus Holland.“

„Fahren sie noch weiter?“ fragte Ingrid. „Ja, nach Dänemark. Sie sind für den Kopenhagener Zoo

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bestimmt. Sie hätten per Flugzeug fahren sollen, aber da war Nebel und Startverbot in Amsterdam, deswegen…“

„Die Armen. Dann müssen sie ja durstig sein. Kann man ihnen nicht ein bißchen Wasser geben?“

„Nein. Wir wollten es schon versuchen, aber der Käfig ist abgeschlossen.“

„Die armen Dinger…“ Ingrids Herz, das bei dem Gedanken an die Kaninchen schon ganz weich geworden war, blutete jetzt fast beim Anblick der kleinen durstigen Äffchen.

Aber da kam ihr ein Gedanke. „Ach – ich weiß was – ich hab was für euch!“ Sie riß die Tüte auf, die sie im Arme trug, schälte schnell eine Apfelsine ab, zerteilte sie in kleine Stückchen und steckte sie durch die Drahtmaschen. Kleine gierige Hände griffen danach, entrissen sich gegenseitig die Beute, die Scheibchen wurden mit lautem Schmatzen ausgelutscht, die Händchen bettelten um mehr.

„Helfen Sie mir doch bitte mal schälen“, sagte Ingrid und reichte, ohne hinzuschauen, dem Bahnbeamten eine Apfelsine hinüber.

Aber eine kleine Damenhand nahm ihr die Frucht ab, und eine helle, weiche Stimme sagte neben Ingrid: „Du scheinst Tiere gern zu haben, was?“

„Ja“, sagte Ingrid und schaute sich rasch um, „und die hier sind so durstig!“

„Ja, die Ärmsten, das sieht man.“ Die fremde Dame sprach deutsch, aber mit ausländischem

Tonfall. Ingrid warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Sie war blond, rundlich und freundlich, nicht mehr ganz jung, vielleicht gegen dreißig. Kurzsichtige blaue Augen lächelten hinter einer dicken Brille. Die beiden standen dicht beieinander und schälten im Eiltempo Apfelsinen, zerlegten sie und reichten sie den Äffchen, die gierig lutschten und schlürften.

„So“, sagte Ingrid, „das war meine letzte. Nun habe ich keine mehr.“

Die Dame wandte sich lächelnd zu Ingrid um: „Hast du ihnen deinen ganzen Reiseproviant gegeben?“

„O nein, ich hab ja noch Butterbrote.“ „Fährst du allein?“ „Ja. Nach Kopenhagen.“ „Ich auch. Du bist Deutsche, nicht wahr?“ „Ja. Ich bin noch nie in Dänemark gewesen.“ „Dann kannst du ja mit mir zusammenbleiben. Vielleicht kann

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ich dir ein bißchen behilflich sein. Ich bin Dänin. Komm, wir wollen ganz nach vorn gehen zu den vordersten Wagen. Die fahren nämlich bis Kopenhagen durch, da brauchen wir unterwegs nicht umzusteigen.“

„Ach?“ Ingrid sah die Dame fragend an. „Ja, nicht alle Wagen fahren auf die Fähre, weißt du. Wir suchen

uns vorn einen Platz. Komm!“ Ingrid folgte der freundlichen, lebhaften, hellhaarigen Dame. Ihr

fiel sofort ein, was Frau Kistenmacher zu ihr gesagt hatte: „Laß dich niemals mit fremden Leuten ein.“ Aber dann dachte sie weiter: Hier im Zug mit den vielen Leuten kann mir ja nichts passieren! Diese Dame sah so furchtbar nett aus, und es tat so gut, nicht mehr so allein zu sein…

Sie stand neben der Fremden, und sie lächelten sich an. Der Zug müßte jetzt eigentlich kommen… Da sagte die Stimme im Lautsprecher ihn auch schon an.

Und siehe da, schon lief der Nordexpreß ein, eine lange, lange Wagenreihe. Ingrids Herz klopfte. Jetzt wurde es wirklich wahr. Jetzt reiste sie aus ihrer Heimat fort – in ein unbekanntes neues Land hinein.

Sie blieb der hellhaarigen dänischen Dame dicht auf den Fersen. Die Fremde machte den Eindruck, als sei sie das Reisen gewohnt. Sie wußte sofort, in welchen Wagen sie gehörte. Während sie durch den schmalen Gang gingen, schweiften ihre Augen prüfend über die Abteile. „Hier, mein Kind. Hier ist Platz für uns beide.“ Die Koffer wurden auf die Gepäckablage gelegt, und Ingrid setzte sich – beinahe andächtig. Alles war neu und merkwürdig – und es war gut, daß sie nicht allein war.

„So, nun verrate mir doch einmal, wie du heißt“, sagte die weiche Stimme. „Ingrid.“

„Nicht möglich. So heiße ich ja auch. Hat man so was schon erlebt!“

Sie streckten unwillkürlich beide die Hände aus. „Und wie weiter?“

„Schramm.“ „Ich heiße so…“ Sie zeigte auf ihr Kofferschild. „Skovsgaard“, las Ingrid laut. Fräulein Skovsgaard lachte. „Siehst du, jetzt kannst du gleich mal ein bißchen die dänische

Aussprache lernen. Das ov wird wie au ausgesprochen, und das aa wie ein o. Also…“

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„Skausgord“, lächelte Ingrid. „Richtig. Das hast du schnell rausgekriegt. Kannst du gar kein

Dänisch sprechen?“ „Nein. Kein Wort.“ „Bis wir in Kopenhagen ankommen, sollst du mindestens dreißig

Wörter können“, lachte Fräulein Skovsgaard. „Dafür stehe ich ein. Ja schau mal, jetzt fahren wir schon.“

Ingrid wurde schweigsam. Sie stand auf und stellte sich ans Fenster im Gang. Die Häuser wurden allmählich spärlicher, der Zug fuhr immer schneller, flache Felder, hier und da ein Bauernhof – eine leere, öde Gegend.

„So“, sagte die helle Stimme neben ihr plötzlich. „Willkommen auf dänischer Erde, kleine Namensschwester.“

„Sind wir in Dänemark?“ „Ja. Jetzt sind wir in Dänemark.“ Ingrid schluckte. Sie drehte sich

zu Fräulein Skovsgaard um und begegnete einem freundlichen Blick aus den blauen, kurzsichtigen Augen.

Mit einemmal war es gar nicht mehr so schwer. Ingrid hatte das Gefühl, als habe sie einen sicheren und festen Halt in dem fremden Land.

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Fröhliche Reise übers Meer Sie hatten mächtiges Glück, die große und die kleine Ingrid. In Padborg, der ersten Station auf dänischer Seite, stiegen alle Mitreisenden ihres Abteils aus, und sie blieben allein. Ingrid Skovsgaard plauderte und erzählte von den Orten, durch die der Zug fuhr. Sie zog eine Karte heraus und zeigte Ingrid, daß sie bald an die berühmte Kleine-Belt-Brücke kämen; dann nach Fünen und nach Odense, H. C. Andersens Stadt. – Ob Ingrid seine Märchen kenne?

Aber ja doch! Sie habe über „Das häßliche junge Entlein“ und über die „Geschichte einer Mutter“ bitterlich weinen müssen.

Fräulein Skovsgaard erzählte, sie sei Malerin. Sie habe ein großes Atelier in einem uralten Haus in Kopenhagen, sie besitze einen Pudel, der Dixi heiße und den sie über alles auf der Welt liebe. Und jetzt habe sie eine Studienreise durch Deutschland und Österreich gemacht und komme mit vollen Skizzenbüchern und Haufen von Ideen und unverbrauchten Kräften wieder nach Hause.

„Aber ich rede ja dauernd von mir selber“, lachte sie, „erzähl jetzt mal etwas von dir. Wie kommt es, daß du so ganz allein ins Ausland fährst?“

Und Ingrid erzählte. Von der Tante in Kopenhagen, die so plötzlich aufgetaucht war und sie für ein Jahr nach Dänemark eingeladen hatte. Ingrid holte die Briefe heraus und zeigte sie.

Fräulein Skovsgaard las sie schweigend. Dann sah sie Ingrid aufmerksam an.

„Das ist ja ein ganzer Roman! Und was wirst du jetzt in Kopenhagen machen, Ingrid?“

„Tante Agate im Haushalt helfen, denke ich…“ „Ja, das hat sie geschrieben, wie ich sehe…“ Fräulein Skovsgaard

machte eine Kopfbewegung zu den Briefen hin, die auf dem kleinen Abteiltischchen lagen.

„Ich hoffe auch, daß ich noch in eine Schule gehen kann – und dann gibt es doch sicher in Kopenhagen viel zu sehen. Tante Agate schreibt ja, die Stadt wäre so schön…“

Fräulein Skovsgaard lächelte und nickte: „Ja. Kopenhagen ist wirklich eine schöne Stadt. Da hat deine Tante ganz recht.“

Ihre Augen ruhten nachdenklich auf der schmächtigen Mädchengestalt.

„Deine Tante holt dich also heute abend am Zug ab.“ Sie nahm

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den letzten Brief wieder zur Hand. „Erkennungszeichen: ein Taschentuch in der Hand! Nun ja, besonders deutlich ist dies Zeichen eigentlich nicht; auch ziemlich unpraktisch, wenn man die Hände voller Gepäck hat. Aber ich habe eine Idee – paß mal auf…“

Die zierlichen geschickten Finger Fräulein Skovsgaards arbeiteten plötzlich rasch. Sie nahm den Deckel von der kleinen Pappschachtel ab, in der sie ihre Reisebrote hatte, holte einen Farbstift heraus und malte große, leicht lesbare Buchstaben auf die Pappe. Dann kramte sie in ihrer Reisetasche nach einer langen Stricknadel, die sie durch das Pappschild steckte, so daß das Ganze aussah wie eine Fahne an einer Stange.

„Schau her, ist das so nicht besser? Die Stricknadel kannst du mir wiedergeben, wenn du deine Tante gefunden hast.“

Ingrid lächelte und stoppelte sich durch die Aufschrift hindurch: „TANTE AGATE! JEG ER INGRID! Was bedeutet das?“

„Ich bin Ingrid. Jetzt hast du ganz unversehens zwei dänische Wörter gelernt.“

„Tausend Dank. Das ist aber wirklich viel besser als das Taschentuch.“

„Nicht wahr? – Jetzt mußt du aber rausgucken, Ingrid, Gleich kommen wir an die berühmte Brücke.“

Ingrids Reiseunruhe hatte sich gelegt. Jetzt genoß sie es aus ganzem Herzen, Neues zu sehen und zu erleben. Sie sperrte die Ohren auf, um die Laute der fremden Sprache aufzufangen, die von dem Gang zu ihr hereinschollen, und achtete auf die Namen der Stationen, an denen der Zug hielt.

Endlich kam der merkwürdige Augenblick, daß der Zug auf die große breite Fähre hinaufrollte.

„Jetzt“, sagte Fräulein Skovsgaard, „gehen wir ins Restaurant und essen zu Mittag – und trinken auch etwas. Du Ärmste, du mußt ja halb verdurstet sein, hast doch alle deine Apfelsinen den Affen geopfert!“

Ingrid wurde rot. „Aber ich kann nicht – ich habe ja…“ Fräulein Skovsgaard

schnitt ihr das Wort ab. „Ich lade dich natürlich ein. Komm!“ „Aber das geht doch nicht…“ „Natürlich geht es. Erstens bin ich doppelt so alt wie du.

Zweitens habe ich sehr viel Gastfreundschaft bei deinen Landsleuten erfahren. Da wird es höchste Zeit, daß ich sie irgendwie wieder

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vergelte. Laß den Koffer stehen, den rührt kein Mensch an. Und nun laß uns hinaufgehen!“

Sie gingen an Deck, das voller Eisenbahnwagen, Autos und Motorräder stand. Ingrid fielen beinahe die Augen aus dem Kopf vor Staunen. Fräulein Skovsgaard führte sie erst über eine schmale, dann über eine breitere Treppe, und schließlich waren sie auf dem Promenadendeck. Die Luft war seltsam frisch und salzig – Ingrid hob schnuppernd die Nase, sie witterte gegen den Wind wie ein Tier.

„Du bist Seeluft nicht gewöhnt“, sagte Fräulein Skovsgaard lächelnd.

„Nein…“ Ingrids Augen schweiften über die große, endlose See. „Nein – ich habe das Meer noch nie gesehen…“

„Dann wird es höchste Zeit! Aber wir wollen das Essen nicht vergessen, mein Kind.“

Ingrid war auch noch nie in einer großen Stadt gewesen. Sie war in dem kleinen Dorf aufgewachsen. Das einzige Lokal, das sie gesehen hatte, war das Dorfwirtshaus gewesen. Die einzigen Wasserfahrzeuge, die sie kannte, waren die kleinen, flachen Boote auf dem Binnensee zu Haus.

Hier stürmten lauter neue Eindrücke auf sie ein. Die Fähre schien ihr das größte Schiff der Welt und die See um sie herum das Weltmeer zu sein. Als sie in den Speisesaal trat, blieb sie stehen und sperrte die Augen weit auf.

Was für ein Wirtshaus! Viel, viel größer als daheim und obendrein noch an Bord eines Schiffes!

Sie aßen ein wunderbar duftendes Fleischgericht und als Nachtisch eingemachte Früchte mit Schlagsahne. „Essen hier alle Leute am Alltag Sonntagsessen?“ fragte Ingrid.

Fräulein Skovsgaard lachte. „Aber nein! Wir leben im allgemeinen auch einfach – obwohl ich zugeben muß, daß wir Dänen gern gut und reichlich essen. Jetzt iß aber, Ingrid, es dauert lange, bis du wieder etwas bekommst.“

Da merkte Ingrid erst, wie hungrig sie war. Sie ließ sich das gute Essen wohlschmecken und trank gern die Flasche mit Apfelsinensprudel, die vor sie hingestellt wurde.

Als sie fertig waren, hatten sie erst die halbe Überfahrt mit der Fähre hinter sich.

„Jetzt gehen wir an Deck“, sagte Fräulein Skovsgaard, „ich muß dir etwas zeigen, das dir Spaß machen wird. Du magst doch Tiere gern.“

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Sie nahm ganz unbefangen ein paar Scheiben Weißbrot vom Tisch und steckte sie in ihre Tasche.

Große weiße Möwen folgten der Fähre mit lautem Gekreisch. Fräulein Skovsgaard holte ein Stück Brot aus der Tasche, beugte sich weit über die Reling und streckte den Arm aus. Da näherte sich eine Möwe, aber sie hatte noch keinen rechten Mut. Sie besann sich wieder und beschrieb noch einmal einen Bogen über das Schiff; dann schoß sie plötzlich mit einem blitzschnellen Stoß nach unten und schnappte das Brot aus Fräulein Skovsgaards Hand.

„Ach“, rief Ingrid mit glänzenden Augen, „darf ich mal versuchen?“

Gleich darauf schnappte eine andere Möwe nach dem Brot aus ihrer Hand – jetzt wieder eine – und noch eine. Ingrid merkte nicht, daß Fräulein Skovsgaard Bleistift und Skizzenblock hervorgeholt hatte und drauflos zeichnete, während ihre Augen unaufhörlich zwischen dem Mädchen und den Möwen hin und her gingen.

Sie merkte auch nicht, daß die anderen Leute, die auf dem Deck spazierengingen, stehenblieben und wohlwollend lächelten.

Die kleine Ingrid ahnte nicht, was für ein schönes Bild sie abgab, wie sie dastand, das reine, klare Gesicht der Nachmittagssonne zugekehrt.

Sie empfand nur die frische, köstliche Luft. Ihre Augen blitzten vor Freude, wenn einer der weißen Vögel herabschoß, um sich das Brot zu schnappen – und sie fand es herrlich, ins Ausland zu reisen.

„Ja“, sagte Fräulein Skovsgaard, „jetzt sind wir auf Seeland. Und in anderthalb Stunden kommen wir in Kopenhagen an.“

„Schade, daß ich dann von Ihnen weg muß“, sagte Ingrid leise, „Sie sind so gut zu mir gewesen…“

„Liebes Kind, es war für mich urgemütlich, daß ich so nette Gesellschaft hatte. Du bekommst übrigens meine Adresse. Manchmal ist es gut zu wissen, daß man in einer so fremden Stadt Freunde hat, nicht wahr?“

Sie holte aus ihrer Handtasche eine Visitenkarte. „Da. Bewahre sie gut auf. Da steht mein Name mit Adresse und Telefonnummer drauf.“

„Vielen Dank…“ Ingrid fühlte sich plötzlich ganz geborgen, als sie die Karte in das

hintere Fach ihrer Schultertasche zu dem Paß und den drei Briefen von Tante Agate legte.

Es begann dämmerig zu werden. Ingrid saß still, die Stirn gegen

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die Scheibe gepreßt, und schaute auf die Dörfer mit den sonderbaren, fremdartigen Namen. Die Besiedlung wurde dichter, die Ortschaften größer. Mehrmals glaubte sie schon, nach Kopenhagen hineinzufahren, aber es waren immer nur kleine Städte an der Bahnstrecke.

„So“, sagte Fräulein Skovsgaard endlich, „jetzt tauchen die Lichter von Kopenhagen auf.“

Ingrid erhob sich. Wieder kam Unruhe über sie. Sie holte ihren Koffer runter, zog den Mantel an, nahm die kleine „Flagge“ in die Hand, die Fräulein Skovsgaard ihr gemacht hatte, und bereitete sich auf das Unbekannte vor.

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Ein ungeahnter Zwischenfall Langsam war der Zug in die große Bahnhofshalle eingefahren.

Der Lärm von redenden und rufenden Menschen, von harten, klappernden Metallrädern auf dem langen Bahnsteig schlug ihr entgegen. Sie sah erschrocken und hilflos um sich. Ihr Blick suchte die Augen von Fräulein Skovsgaard.

„Sei unbesorgt, Ingrid. Ich bleibe bei dir, bis wir Frau Jespersen gefunden haben.“

„Sie sind so freundlich…“ „Ach was! So, halte das Schild ganz hoch. Nimm den Koffer in

die andere Hand, und jetzt geh langsam, ganz langsam zum Ausgang. Zu dumm, daß du nicht weißt, wie deine Tante aussieht! Aber sie hält ja nach dir Ausschau. Halt, halt, nicht so fix!“

Überall um sie herum begrüßten sich die Leute. Es summte in allen möglichen fremden Sprachen. Helle Freudenrufe. Frohe Umarmungen. Koffer gingen von Hand zu Hand. Paare fanden einander und zogen fröhlich von dannen.

Allmählich leerte sich der Bahnsteig. Ingrids Augen suchten angstvoll. Niemand achtete auf ihr Schild.

Nirgendwo eine ältere Dame, die sich fragend und suchend umschaute.

Alle anderen fanden, wen sie erwartet hatten, alle eilten davon. Schließlich war der Bahnsteig menschenleer. Diese Leere schlug

den beiden gähnend entgegen – der großen und der kleinen Ingrid – als sie immer noch unter dem gewölbten Dach der Bahnhofshalle standen und auf die Treppe starrten. Niemand kam, das Mädchen zu holen.

Ingrid schluckte und schluckte. Der Kloß in ihrem Halse wurde immer größer. Sie kam sich unendlich klein und unendlich verlassen vor. Ein Gefühl der Scham beschlich sie, weil Fräulein Skovsgaard nun solchen sonderbaren Eindruck von der Tante bekam.

Ingrid war nicht mehr das große, tüchtige Menschenkind, das kochen und aufwaschen, kleine Kinder warten und Kaninchen besorgen konnte. Sie war ein furchtsames und einsames kleines Mädchen aus einem fremden Land, müde, mit scheuen, enttäuschten Augen. Es war nicht die feste, arbeitsgewohnte Hand eines großen, tüchtigen Mädchens, die jetzt Fräulein Skovsgaard anfaßte. Eine schmale kleine Kinderhand schlich sich in Fräulein Skovsgaards

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Hand hinein, eine furchtsame kleine Hand, die Hilfe und Schutz suchte.

Die warme feste Hand der jungen Malerin schloß sich gut und sicher um die kleine Faust. Im Nu wurde Ingrid ruhiger. Diese Hand versprach viel – und sie würde das, was sie versprach, auch halten.

„So, Kopf hoch, Ingrid! Jetzt warten wir noch zehn Minuten. Wenn Frau Jespersen bis dahin nicht gekommen ist, dann muß irgendein Mißverständnis vorliegen. Dann müssen wir uns überlegen, was wir machen wollen. Du kannst jedenfalls sicher sein, daß ich dich nicht aus den Augen lasse. Nun mach mal ein vergnügtes Gesicht, Ingridchen. Ist das etwa kein spannendes Abenteuer?“

Ingrid verzog den Mund zu einem kläglichen kleinen Lächeln. „Sie sind so lieb…“

Fräulein Skovsgaard lachte. „Natürlich bin ich das! Kannst du mir einen einzigen Grund angeben, warum ich das nicht sein sollte?“

Ingrid sah sie mit großen Augen an. Später mußte sie noch oft an diese Antwort denken. Die sagte eigentlich alles über Ingrid Skovsgaard aus. Sie war immer fröhlich und guter Laune. „Warum sollte ich es denn nicht sein?“ war ihr ständiger Kehrreim. Sie half, wo sie konnte. „Warum sollte ich denn nicht helfen?“ So einfach ließ sich das machen.

Ingrids Herz schlug warm für die neue, große Freundin. Die zehn Minuten waren vorbei; sogar schon eine Viertelstunde.

Die Tante ließ sich nicht blicken. „So“, sagte Ingrid Skovsgaard, „jetzt müssen wir etwas

unternehmen. Zuerst läuten wir Frau Jespersen an.“ Ingrid trippelte hinter Fräulein Skovsgaard her zu einer

Telefonzelle. Während ihre Beschützerin telefonierte, sah Ingrid sich in der riesigen Bahnhofshalle um. Nein, daß ein Bahnhof so gewaltig sein konnte! Es gab hier Läden – kleine Läden mit Glaswänden drum herum – in denen Blumen, Obst, Tabak, Bücher und alle möglichen Reiseandenken feilgeboten wurden. Da gab es Läden mit Süßigkeiten, da gab es ein Postamt und einen Friseursalon. Ingrid las die Schilder und stellte fest, daß sie fast alles verstand. Daß Tobak dasselbe war wie Tabak, Chokolade wie Schokolade, Frisör wie Friseur, das war sonnenklar. Und Frugt – das mußte Frucht bedeuten – natürlich! Sieh mal einer an, Dänisch war doch gar nicht so schwierig.

Ingrid sah wieder zu Fräulein Skovsgaard, die hinter der Glastür

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der Telefonzelle stand und wartete. Das gute, nette Fräulein Skovsgaard! Sie würde eine kleine hilflose Ausländerin nicht im Stich lassen.

Aber immer wieder kamen Ingrid die Worte ins Gedächtnis, die Frau Kistenmacher und auch Onkel Peter zu ihr gesagt hatten: „Laß dich niemals mit Fremden ein, Ingrid, vergiß das nicht! Und vergiß nicht, daß gerade die größten Schurken das angenehmste Wesen haben und immer am freundlichsten und hilfsbereitesten sind!“

Aber Ingrid Skovsgaard konnte doch kein böser Mensch sein! Es war undenkbar!

Und dennoch: warum – warum in aller Welt nahm sie sich eines fremden Mädchens in dieser Weise an?

Wieder fühlte Ingrid ihre Hilflosigkeit. Wie sollte sie nur herausbekommen, ob Fräulein Skovsgaard wirklich…

Die Tür der Telefonzelle ging auf. „Nein, Ingrid, es hat keinen Zweck. Ich bekomme keine Antwort, es ist niemand zu Haus. Du mußt erst mal mit zu mir kommen, dann werden wir…“ Sie unterbrach sich, ihre Augen ruhten forschend auf dem Mädchen. Dann lächelte sie. Sie hatte verstanden.

„Selbstverständlich müssen wir die Sache hier erst melden, nicht wahr? Wir werden doch nichts Ungesetzliches tun!“ Sie streichelte Ingrids Wange. „Du hast sicher zu Haus gehört, daß du nie mit fremden Leuten gehen darfst, nicht wahr?“

Ingrid nickte. Sie brachte nicht ein Wort hervor. „Das ist auch ganz richtig, Ingrid. Du weißt nichts von mir. Aber jetzt paß mal auf! Siehst du die Tür da drüben, auf der Inspektor steht? Das heißt ganz einfach Inspektor auf deutsch, nicht wahr? Zu dem gehen wir jetzt. Er versteht bestimmt Deutsch, und du hörst, was wir reden. Ich zeige ihm meinen Paß und gebe unsere Namen und meine Adresse auf. Wenn er den Fall gleich der Polizei melden will, um so besser! Wenn nicht, tue ich es selbst. Und wenn wir das alles getan haben, dann brauchst du doch keine Sorge mehr zu haben, nicht wahr?“

Ingrid nickte wieder. Eine heiße Röte stieg ihr in die Wangen. Daß sie der guten und umsichtigen Freundin hatte mißtrauen können!

Sie gingen zusammen zur Inspektion, von dort wurde die Polizei verständigt; der Inspektor bestätigte alles, was in den Pässen der beiden Ingrids stand, und Ingrid Skovsgaards wie auch Agate Jespersens Adressen wurden aufgeschrieben. Dann verließen sie Hand in Hand das Büro.

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„Das wäre erledigt“, sagte Fräulein Skovsgaard. „Jetzt können wir nach Hause fahren.“

„Nach Hause?“ „Na ja! Zu mir nach Hause selbstverständlich. Was sonst?“ „Ja, aber… Sie dürfen doch nicht… Sie sollen nicht…“ „Aber ja doch! Ich darf und soll und muß. Hallo – Taxi!“ Dann

saß Ingrid in einem großen, bequemen Auto und fuhr durch lange, breite Straßen mit wimmelndem Verkehr, mit Massen von funkelnden Lichtreklamen, mit erleuchteten Ladenfenstern. Sie fuhren über eine Brücke, und zu beiden Seiten blinkte es im dunklen Wasser auf.

„Wie schön ist es hier“, flüsterte Ingrid. „Ja, nicht wahr? Warte nur, bis du Kopenhagen bei Tage siehst.

Darauf kannst du dich erst freuen!“ Und siehe da: eine große, erwartungsvolle Freude stieg in Ingrid

auf. Fräulein Skovsgaard hatte es ein spannendes Abenteuer genannt. Ja, sie hatte recht. Das war es wirklich, oder vielmehr ein richtiges Märchen. Sie hatte nur nicht gesagt, daß sie selbst in diesem Märchen die gute Fee war. Ingrid fühlte plötzlich den brennenden Wunsch, für Fräulein Skovsgaard etwas zu tun, etwas Richtiges für sie zu tun, ihr zu zeigen, wie dankbar sie war.

Das Auto hielt vor einem hohen, altmodischen Haus. Fräulein Skovsgaard suchte einen Schlüssel hervor und schloß die Haustür auf. Als sie im Treppenflur standen, öffnete sich eine Tür. Eine behäbige rundliche Frau kam heraus, hinter ihr drängelte sich etwas Kleines, Schwarzes, Lockiges vor. Und dieses kleine lockige Etwas stürzte mit lautem Klaffen auf Fräulein Skovsgaard los.

Ingrid verstand nicht ein Sterbenswörtchen von dem, was gesprochen wurde. Aber sie vermutete, daß dies die Portierfrau sei, die den Pudel Dixi zu sich genommen hatte, so lange sein Frauchen verreist war.

Fräulein Skovsgaard sagte ein paar Worte zu Dixi. Der beschnupperte Ingrid sogleich eifrig. Sie streichelte ihn, kraulte ihn hinterm Ohr, redete in ihrer eigenen Sprache mit ihm. Und mit dem unerschütterlichen Instinkt des Tiers wußte Dixi, daß er eine Freundesseele vor sich hatte. Er leckte Ingrid unbekümmert das Gesicht und bohrte seine Schnauze in ihre Hand. Dann lief er vor ihnen her.

„Jetzt mach dich auf eine Kletterpartie gefaßt“, lachte Fräulein Skovsgaard. „Ich wohne halbwegs im Himmel.“

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Ganz oben kamen sie an eine Tür mit dem Schild „Ingrid Skovsgaard“.

Gleich darauf standen sie in einem großen, weiten Raum mit einem riesigen Dachfenster.

„Du wirst dich jetzt wundern“, lachte Ingrid Skovsgaard. „Ich habe tatsächlich nur diesen einen Raum. In der Ecke da ist die Garderobe. Hier hast du einen Kleiderbügel. Hinter dem Schirm dort steht mein Bett. In der Ecke ganz drüben wird gekocht. Diese Tür führt ins Badezimmer. Und das ist alles!“

Sie machte sich im Zimmer zu schaffen, zog die Vorhänge vors Fenster, trug die Koffer hinter den Wandschirm und ging in die Kochecke hinüber.

„Die gute Frau Petersen, sie hat mir alles mögliche eingeholt – jetzt machen wir uns erst mal einen ordentlichen Tee, Ingrid! Was meinst du?“

Sie holte Wasser, während sie plauderte und erklärte. „Du willst dich doch sicher gern waschen, nicht wahr? Hier ist

ein Handtuch. Seife findest du da drin. Und wenn du deinen Koffer auspacken willst, kannst du das hier machen. So, tu, als wärst du hier zu Hause.“

Zum erstenmal in ihrem Leben durfte sich Ingrid in einem schneeweiß gekachelten Badezimmer waschen und zurechtmachen. Als sie sich kämmen wollte, hielt sie einen Augenblick inne und betrachtete ihr eigenes Spiegelbild. Es ging ihr erst jetzt richtig auf, daß sie es war, Ingrid Erika Schramm, die in ein fremdes Land gekommen war und in einem fremden Badezimmer in einer fremden Wohnung stand, bei einer fremden – nein, halt: Fräulein Skovsgaard war nicht fremd. Ihr war, als hätte sie Fräulein Skovsgaard schon von jeher gekannt.

Sauber gewaschen und mit frisch gekämmtem Haar kam sie aus der Badestube. Fräulein Skovsgaard war gerade dabei, einen niedrigen runden kleinen Tisch zu decken, der vor der Couch stand.

„Kann ich Ihnen nichts helfen, Fräulein Skovsgaard?“ „O gewiß doch! Gleich. Aber erst mal mußt du es dir

abgewöhnen, mich Fräulein Skovsgaard zu nennen. Du darfst gern du und Inge zu mir sagen – ja, meine Freunde nennen mich Inge, und es ist in diesem Falle ganz praktisch, weil wir beide Ingrid heißen.“

„Aber – ich kann doch nicht…“ „Doch, genau das kannst du. Ich weiß wohl, ihr Deutschen seid

da ein bißchen steifer – oder meinetwegen höflicher – , aber ich liebe

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es nicht, Menschen, die ich gern mag, mit Sie anzureden. Geht es dir nicht auch so? Und du magst mich doch vielleicht ganz gern?“ Ingrid sah sie mit leuchtenden Augen an: „Und ob! Und ob!“

„Siehst du, das dachte ich mir nämlich. Schau her, nimm diese Schüssel und tu etwas Wasser hinein – dann hole mir aus der obersten Schublade drüben zwei Löffel und zwei Messer.“

Schließlich saßen sie am Teetisch. Dixi pflanzte sich zwischen ihnen auf und bekam so viele Kosthäppchen, wie er nur verdrücken konnte.

„Schrecklich verwöhnt, dieser Hund, nicht wahr?“ lachte Inge. „Aber warum soll er es nicht gut haben, wenn wir es gut haben?

Dixi und ich besitzen den Weltrekord in Unvernunft, siehst du!“ Der Tee duftete in blauen, chinesischen Tassen. Es gab Weißbrot,

frische Butter, Marmelade und knusprige Wecken. Ingrid glaubte, ihr hätte noch nie eine Mahlzeit so gut geschmeckt wie diese.

„So“, rief Inge plötzlich, „jetzt will ich noch einmal die Polizei anläuten, vielleicht haben sie inzwischen irgend etwas über deine Tante erfahren.“

Sie ging ans Telefon. Wieder hörte Ingrid ein Gespräch, von dem sie nichts anderes verstand als ihren eigenen und Inges und Tante Agates Namen.

„Man hat noch nichts gehört, aber es wird nachgeforscht, und wir bekommen bestimmt Bescheid“, sagte Inge nach einer langen Unterhaltung am Telefon.

Ingrid war jetzt ganz beruhigt. Sie hatte fertig gegessen, saß still und streichelte den Hund, der sie voller Verehrung anstarrte. Mit einemmal hatte sie ein Gefühl, als seien ihre Augenlider aus Blei.

„Du kommst jetzt ins Bett, Mädel“, sagte Inge. „Du kannst ja vor lauter Müdigkeit nicht mehr aus den Augen gucken.“

Ingrid versuchte zu lächeln. „Ich will aber doch noch für Sie – für dich abwaschen“, sie verbesserte sich ganz rasch.

„Das kannst du morgen früh tun. Geh ins Badezimmer und zieh dich aus – inzwischen mache ich dein Bett auf der Couch zurecht.“

Ingrid widersprach nicht mehr. Die Glieder waren ihr zentnerschwer.

Zehn Minuten später lag sie zwischen schimmernd weißen Laken unter einer weichen Decke. Inge strich ihr noch einmal leicht über die Wange. Das Mädchen haschte mit beiden Händen nach Inges Hand und drückte sie fest. „Ich danke – danke dir für alles…“

Dann wurde es still in dem großen Atelier.

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Plötzlich raschelte irgend etwas neben der Couch. Etwas Schwarzes, Lockiges krabbelte zu Ingrid hinauf. Sie lächelte schon fast im Schlaf. Dixi hatte beschlossen, die Nacht im Bett seiner neuen Freundin zu verbringen. Er machte es sich am Fußende der Couch behaglich.

Das Fenster stand einen Spalt weit offen. Und das schwach summende Geräusch von Autos, von Schritten, von Fahrradklingeln – das Summen der Großstadt, das nur gedämpft von der Straße heraufklang – es lullte Ingrid schnell in den Schlaf.

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Erste Versuche in fremder Sprache

Sie erwachte von einem anhaltenden Läuten.

Verwirrt fuhr sie aus dem Bett hoch. Als sie die Augen öffnete, konnte sie zuerst gar nicht begreifen, wo Elkes und Monikas Betten eigentlich geblieben waren. Wo war sie denn? Der Raum war so groß. Durch ein riesenhaftes Fenster schien die Sonne herein. Ein schwarzer Pudel hüpfte von ihrem Bett herunter.

Jetzt ging jemand durch den Raum, winkte ihr im Vorübergehen zu, ging ans Telefon und nahm den Hörer ab. Da war sie plötzlich hellwach. Jetzt wußte sie alles wieder. Sie hatte tief und fest geschlafen.

Das Telefongespräch war zu Ende. Inge kam zu ihr und setzte sich auf den Couchrand. Sie hatte einen grünen Morgenrock an. Ingrid betrachtete ihn mit großen Augen. Sie hatte noch nie einen weiten, eleganten Morgenrock gesehen, der fast bis zur Erde ging – ja, der Begriff Morgenrock überhaupt war ihr unbekannt.

„Jetzt höre zu, Ingrid. Ich habe eben Bescheid wegen Frau Jespersen bekommen. Sie ist gestern von einem Auto angefahren worden, als sie zum Bahnhof unterwegs war, um dich abzuholen. Nun liegt sie im Krankenhaus. Nein, nein, es ist nicht lebensgefährlich, anscheinend ein Bein gebrochen oder etwas Ähnliches. Ich gehe heute zu ihr und rede mit ihr, und du bleibst vorläufig bei mir. Einverstanden?“

„Ach ja – ich wünschte wirklich, daß – daß…“ „Pfui, schäm dich, willst du etwa sagen, du wünschtest, daß deine

arme Tante recht lange im Krankenhaus bliebe?“ Inge lachte hellauf, und Ingrid lachte mit.

Dieses Gelächter leitete vierzehn Tage voller Lachen und Scherz ein.

„Natürlich kannst du mir helfen“, sagte Inge auf Ingrids Frage. „Es wäre ja grausig für dich, wenn du nichts zu tun hättest! Du darfst aufwaschen, und du darfst Staub wischen. Es wäre auch schön, wenn du für mich einholen könntest, aber das wird nicht gehen! Sonst passiert es bei deinen dänischen Sprachkenntnissen am Ende, daß du mit einem Pfund Butter nach Haus kommst, wenn du Kartoffeln bringen sollst.“ Lautes Gelächter.

Aber auch da schaffte Inge Rat. Sie machte lauter kleine Zettel für Ingrid zurecht und übersetzte, was sie geschrieben hatte: „Ich

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kann kein Dänisch. Ich möchte gern zehn Eier und eine Dose Sahne haben.“

„Ich kann kein Dänisch. Bitte zwei Pfund Kartoffeln und einen Kopfsalat.“

Mit fünf solchen kleinen Zetteln bewaffnet, ging Ingrid einkaufen. Auf der Rückseite jedes Zettels hatte Inge auf deutsch geschrieben: Bäcker, Schlachter, Gemüseladen.

„So läufst du nicht Gefahr, daß du beim Schlachter Brot und beim Bäcker Salat verlangst“, lachte sie. „Du brauchst nur einfach aus der Haustür hinauszugehen, alle Läden sind gleich hier in der Nähe, du kannst sie gar nicht verfehlen! Und hier ist Geld und – halt stop! Sicher bist du vorsichtig; aber wenn dir etwas zustoßen sollte…“, wieder kritzelte sie etwas auf ein Stück Papier – „diesen Zettel leg in deinen Paß und trag ihn immer bei dir.“ Ingrid sah sich das Papier genau an. Zwar konnte sie die Worte nicht verstehen, aber sie wußte doch, was Inge geschrieben hatte: „Sollte mir etwas zustoßen, so unterrichten Sie Ingrid Skovsgaard, Telefon…“

„Du denkst wirklich an alles“, sagte Ingrid dankbar. „Nicht wahr? Das ist meine starke Seite. Willst du Dixi nicht

mitnehmen? Er muß morgens immer einen kleinen Spaziergang machen. Vor den Läden ist überall ein kleiner Haken an der Hauswand. Da bindest du ihn einfach an, wenn du hineingehst.“

Es war Ingrid beinahe feierlich zumute, als sie die vielen Treppen hinunter und auf die Straße hinausging. Der Vormittagsverkehr war in vollem Gange. Sie brauchte tatsächlich nicht lange nach den Geschäften zu suchen. Dixi kannte den Weg und zerrte sie zielsicher zum Schlachterladen.

Sie reichte ihren Zettel über den Ladentisch. Ein freundlich aussehender, dicker Schlachtermeister sprach sie an und lächelte. Ingrid lächelte zurück, nickte und sah zu, wie der Schlachter Würstchen abwog. Dann warf er einen Blick nach draußen und sah Dixi, der dort angebunden stand. Er fragte: „Fräulein Skovsgaard?“ und Ingrid nickte wieder. Da packte der Schlachter noch ein paar Kalbsknochen zu den Würstchen, tippte mit dem Finger drauf und sagte „Dixi“. Und zum erstenmal wandte Ingrid eines von den dänischen Wörtern an, die Inge sie gelehrt hatte: „Tak!“

Tak – danke – das war ein wichtiges Wort in Dänemark, das begriff sie schnell. Denn alle waren so freundlich gegen sie, und immer hatte sie irgendeinen Anlaß zum Danken. Mit prallgefülltem Netz kam Ingrid zurück – und mit neuerworbenen

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Sprachkenntnissen. Sie hatte aufgepaßt, und sie hatte Schilder gelesen. Morgen würde sie sich ohne Zettel sowohl beim Bäcker als auch beim Milchhändler zurechtfinden.

Mit größtem Eifer machte sie sich dann über den Aufwasch und das Staubwischen her und fand alles herrlich; sie fand es wunderbar, in Kopenhagen zu sein.

Inge war in der Stadt gewesen. Als sie nach Hause kam, war ihr Lächeln nicht mehr ganz so strahlend wie vorher. Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. Aber dann nahm sie sich zusammen, und ihre Miene wurde wieder hell und froh.

„Nun bin ich also bei Frau Jespersen gewesen, Ingrid. Sie hat zwei Rippen gebrochen und ein paar tüchtige Schrammen bekommen, aber man meint im Krankenhaus, daß sie in zwei Wochen völlig wiederhergestellt sein wird. Ob du es so lange bei mir aushalten wirst – was meinst du?“

Ingrid sah Inge an, und plötzlich zitterten ihre Lippen. „Aber Kind – du weinst doch nicht etwa?“ Doch, genau das tat

Ingrid. „Was ist denn los, Kindchen? Hast du es nicht gut hier?“ „Ja, ja…“ Ingrid schnaufte und putzte sich die Nase, gab es

wieder auf und verbarg ihr Gesicht an Inges Schulter. „Du bist so gut, so schrecklich gut. Ich habe gar nicht gewußt, daß es in der Welt überhaupt solche Menschen gibt. Es ist beinahe, als hätte ich eine Mutter gefunden. Und ich kenne dich dabei doch nicht länger als einen Tag. Vor einem Tage…“

„Ja, weißt du noch? Vor einem Tage? Da standen wir beide zusammen auf dem Bahnhof in Flensburg und fütterten Affen. Weißt du, was wir tun wollen, Ingrid? Ich muß jetzt ein bißchen arbeiten, ich habe schändlich lange gefaulenzt. Aber heute nachmittag gehen wir in den Zoo. Vielleicht finden wir deine Äffchen wieder. Oder wollen wir lieber ins Tivoli gehen und mit den Affchen noch ein paar Tage warten, bis sie im Zoo heimisch geworden sind?“

„Du – du darfst doch nicht Zeit und Geld für mich verschwenden…“

„Warum denn nicht? Du mußt doch ein bißchen von Kopenhagen sehen. Wer weiß, ob…“ Inge brach ab. Sie wollte den Satz nicht zu Ende sprechen. Ihre Sorgen behielt sie lieber für sich. Aber sie konnte ein unbehagliches Gefühl nicht loswerden, seit sie im Krankenhaus mit Frau Agate Jespersen gesprochen hatte. Wenn Ingrid etwas von Kopenhagen haben sollte, dann mußte es in diesen

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beiden Wochen sein. Später würde nicht viel draus werden. Inge setzte sich an ihr großes Zeichenbrett.

„Ich arbeite als Reklamezeichnerin, weißt du“, erklärte sie Ingrid. „Damit verdiene ich mein Geld. Die Bilder bringen nicht viel ein, aber dafür machen sie mir Freude. Diese Arbeit liebe ich nämlich. Sei übrigens nicht zu sicher, daß ich nicht eines Tages ein Riesenporträt von dir mache!“

Darauf begann sie, für eine große Firma schmissige Damen in eleganten Badekostümen zu zeichnen. Ingrid ging derweil im Atelier herum und sah sich die vielen farbenfreudigen Gemälde an. Sie waren heiter und leuchtend wie Inge selbst. Fast auf allen Bildern waren Kinder und Tiere dargestellt. Dixi war mehrfach und in verschiedener Darstellung vertreten. Ein Bild zeigte spielende Kinder unter einem blühenden Apfelbaum. Da war auch ein Porträt von einem strickenden Mädchen, ein Junge mit einem grauen Kätzchen, da war ein bildschönes kleines Zwillingspärchen – und dann hing da noch ein entzückendes Bild von einem Pferd mit einem Fohlen. Dazwischen hingen kleine Skizzen mit allen möglichen Motiven. Auf dem Tisch lag der Skizzenblock, den Inge auf der Reise mitgehabt hatte. „Darf ich ihn mir mal ansehen, Inge?“

„So viel du willst!“ Ingrid vertiefte sich in die Skizzen. Spielende Kinder und alte Schlösser, ein See mit Schwänen, ein Waldmotiv, ein Sprung Rehe, ein kleiner müder, geduldiger Esel. Zuletzt ein paar schwungvolle Skizzen von ihr selbst, wie sie von der Fähre aus die Möwen fütterte.

„Na? Magst du sie?“ „Ja – besonders…“ „Besonders die Möwen, nicht?“ „Nein. Besonders den Esel.“ Inge legte den Bleistift aus der Hand und schaute zu Ingrid

hinüber: „Sag mir doch, warum du den am liebsten magst?“ „Es… es ist nicht nur einfach eine Zeichnung von einem Esel.

Der… der ist so… so geduldig… man sieht so deutlich, daß er nichts anderes gewöhnt ist, als ausgenützt zu werden…“

Ingrid stammelte und stotterte und suchte nach Worten, aber sie gab nicht nach. Sie wollte unter allen Umständen sagen, was sie bei dieser Zeichnung empfand. „Man muß geradezu an die Mutter von diesem Esel denken. Und an alle Esel überhaupt. Die schuften und rackern sich ab und ziehen und tragen viel zu schwere Lasten – und können sich überhaupt nicht anders zur Wehr setzen, als daß sie sich

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sträuben. Wenn wir sie dann störrisch nennen, so ist das eine Ungerechtigkeit. Wie sollten die Esel sonst zeigen, daß sie müde sind und nicht mehr können?“

Inge stand auf. Sie trat an Ingrid heran, strich ihr übers Haar, und als sie zu sprechen anfing, war ihre Stimme sonderbar bewegt.

„Willst du damit sagen, daß du wirklich das alles in der kleinen Zeichnung siehst?“

„Ja – und noch mehr!“ „Weißt du, Kind – ich habe es nie auch nur ein einziges Mal

erlebt, daß jemand eine Skizze so gut verstanden hat. Das sagt mir, daß die Skizze gut sein muß – und – daß du ein ungeheuer lebendiges Gefühl haben mußt.“

„Aber wieso – ich hab doch bloß Tiere so gern.“ „Das auch, natürlich.“ Inge blieb stehen und betrachtete das

schmale Mädchengesicht, versuchte zu lesen, was sich hinter der jungen Stirn regte.

„Weißt du was, Ingrid? Ich werde das Bild mehr ausführen, in Kohle. Dann schenke ich dir den kleinen Esel.“

„Aber…“ „Nein. Kein Aber. Ich weiß nichts Schöneres, als wenn meine

Bilder den Menschen in die Hände kommen, die etwas damit anfangen können. Und ich weiß nichts Schrecklicheres, als wenn ich sie – ab und zu sogar für viel Geld – an Leute verkaufen muß, die nicht einen Deut davon begreifen! Aber jetzt muß ich arbeiten! Wenn du lieb bist, kochst du die Kalbsknochen für Dixi. Wenn du Lust hast, einen Brief nach Hause zu schreiben, dann findest du Papier und Kugelschreiber auf dem Schreibtisch.“

Ingrid tat, worum Inge sie gebeten hatte. Sie kochte die Knochen ab, und hinterher setzte sie sich an den Schreibtisch. Es wurde ein langer, langer Brief. Sie hatte so furchtbar viel zu erzählen.

„Zu Tante Agate brauch ich erst in vierzehn Tagen“, fügte sie am Schluß noch hinzu.

Dann saß sie lange und starrte verloren vor sich hin. Der Gedanke, von Inge und Dixi weg zu müssen, behagte ihr überhaupt nicht.

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Dänische Gastlichkeit „Nein, hast du Worte!“ rief Inge aus.

Sie warf einen Blick aus dem Fenster und packte ihre Zeichenmappe zusammen.

„Es regnet ja!“ Ingrid lachte. „Ja. Schon eine ganze Stunde. Hast du das gar nicht

gemerkt?“ „Nein, überhaupt nicht. Wenn ich arbeite, würde ich wohl nicht

mal ein Erdbeben merken, ehe mir das Dach auf den Kopf fällt. Ja, was machen wir denn nun, mein Kind? Dann wird ja heute abend nichts aus dem Tivoli?“

„Das macht doch nichts!“ „Gut, dann essen wir erst mal zu Mittag. Hinterher können wir

immer noch sehen.“ „Zu Mittag? Du meinst zu Abend.“ „Aber nein. Weißt du denn nicht – nein, woher solltest du das

wohl wissen? Wir essen hierzulande abends zu Mittag.“ „Aber wir haben doch heute mittag Spiegeleier und

Bratkartoffeln gegessen!“ Ingrid mußte das genau wissen. Sie hatte selbst die Eier besorgt

und gebraten, hatte den Tisch gedeckt und aufgewaschen. „Das war das Frühstück.“ Ingrid schüttelte den Kopf. „Zum Frühstück haben wir doch Kaffee getrunken und

Rundstücke gegessen.“ „Nein. Das war kein Frühstück. Das war der Morgenkaffee.“ Jetzt mußte Ingrid laut lachen. „Also in diesem Lande ißt man Frühstück zu Mittag, und der

Nachmittag kommt vor dem Mittag, ist es nicht so?“ „Ganz recht. Und jetzt machen wir die Würstchen heiß, die du

heute morgen besorgt hast. Der Kartoffelsalat ist fertig. Dann zuckere ich schnell noch ein paar Apfelsinen ein, das gibt ein feines Mittagessen, nicht wahr.?“

Inge hatte schnelle, flinke Hände. Im Nu hatte sie das Essen fertig. Es schmeckte Ingrid wirklich gut, obwohl sie gar nicht daran gewöhnt war, zweimal am Tage warm zu essen.

„Und nun?“ fragte Inge. „Ich will heute nicht mehr arbeiten. Ich habe mindestens zehn blöde lächelnde Damen in Badeanzügen gezeichnet. Das einzig Gute ist, daß ich anständig dafür bezahlt

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werde und außerdem einen schönen, neuen Badeanzug zum Einkaufspreis bekomme.“

„Da kannst du lachen“, meinte Ingrid. „Heute habe ich mindestens zehn lächelnde Damen in

Badeanzügen gezeichnet!“ „Du auch, denn du kriegst meinen alten, wenn du einen

brauchst.“ „Ja, ich – ich hab keinen…“ „Siehst du. Wir nähen ihn bloß ein bißchen um, dann wird er dir

passen. Jetzt hat es übrigens aufgehört zu regnen, und Dixi muß noch an die Luft. Kommst du mit? – Eine dumme Frage, wie? Natürlich kommst du mit!“

Die Frühlingsluft war frisch, kühl und rein nach dem Regen. Die große und die kleine Ingrid trabten in den Frühlingsabend hinaus, und die Augen der kleinen Ingrid wanderten eifrig hierhin und dorthin.

Es gab so viel zu sehen. „Bredgade.“ Inge zeigte auf ein Schild. „Das bedeutet Breite

Straße. Jetzt biegen wir hier ein.“ Sie gingen weiter, bis Inge auf einem großen achteckigen Platz mit einem Reiterstandbild in der Mitte stehenblieb.

„Weißt du, wer hier wohnt – in diesem Haus dort?“ Sie zeigte hinüber.

„Sicher schwerreiche Leute“, meinte Ingrid, „es sieht ja aus wie ein Schloß.“

„Richtig geraten. Da wohnt nämlich die Königin.“ Ingrid schaute sie ungläubig an.

„Hier? Mitten in der Stadt? So daß man hingehen und die Hauswand anfassen kann? Ich dachte immer, Könige und Königinnen wohnen hinter irgendwelchen hohen Mauern, und keiner kann an ihr Schloß rankommen.“ Inge lachte.

„Ja. Aber so ist es hier nicht. Früher oder später bekommst du vielleicht unseren kleinen Prinzen zu sehen. Sie gehen oft auf der Langelinie spazieren.“

„Was ist das, die Langelinie?“ „Das werde ich dir gleich zeigen.“ Sie gingen weiter und kamen zu einem prachtvollen großen

Springbrunnen. Eine riesige Frauengestalt aus grüner Bronze schritt hinter einem mit drei Stieren bespannten Pflug einher. Inge erzählte die Sage von der schwedischen Gefion, die ihre Söhne in Stiere

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verwandelte und vor einen Pflug spannte. Damit pflügte sie ein großes Stück Land aus Schweden heraus, so daß ein Binnensee entstand. Das herausgepflügte Land legte sie in den See hinaus, und das war die Insel Seeland, auf der Kopenhagen lag.

Beim Gefionbrunnen, fing die Langelinie an, die lange, schöne Strandpromenade mit den frischen grünen Bäumen auf der einen und dem Sund mit den weißen, schaukelnden Booten auf der anderen Seite.

„Hast du mal die kleine Seejungfrau gelesen, Ingrid?“ „Aus Andersens Märchen? Ja, das Buch hab ich mir aus der

Schulbibliothek geliehen.“ „Da sitzt sie.“ Inge zeigte auf eine Bronzefigur, die unten auf einem großen

Stein am Uferrand angebracht war. Ja, da saß wirklich die kleine Seejungfrau und starrte über das

Wasser. Sie gingen weiter, langsamer. „Nun, Ingrid? Du bist so schweigsam?“ „Ja, weißt du – es gibt hier so furchtbar viel zu sehen, daß ich

immer nur gucken muß. Da kann ich nicht auch noch reden. Kopenhagen ist so schrecklich groß. Winzig klein komme ich mir vor.“

„Aber das ist doch begreiflich. Und für heute abend hast du genug gesehen. Wir wollen umkehren, du sollst ja auch noch dein Tagespensum Dänisch lernen, nicht wahr? Was kannst du bis jetzt? Tak – ja, das ist sehr notwendig, Verzeihung, bitte – was noch?“

Ingrid sagte die dänischen Vokabeln für Milch, Kartoffeln, Fleisch, Wurst, Brot, Eier, Hund, Haus, Auto und Straßenbahn auf.

„Sieh mal einer an, so viel hast du an einem einzigen Tag gelernt! Du sollst sehen: bis du zu Tante Agate kommst, kannst du fließend dänisch reden.“

Ingrid schwieg einen Augenblick. Dann fragte sie zögernd: „Inge – wie war Tante Agate?“

„Wie sie war…?“ „Ja, war sie so wie du? So freundlich und lustig, meine ich,

oder…“ Inge biß sich auf die Lippe, sie schwieg ein Weilchen. Dann

antwortete sie langsam: „Im Grunde kann ich es gar nicht beurteilen nach dem kurzen Besuch im Krankenhaus. Sie hatte wohl auch noch Schmerzen. Das mit dem Auto muß ein ziemlicher Schock für sie

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gewesen sein. Nun, sie ist zwischen sechzig und siebzig, hat graue Haare, ist ein bißchen füllig – nein, ich kann sie nicht beschreiben, Ingrid. Die Unterhaltung war – ja, eigentlich redeten wir nichts weiter, als daß ich einen Gruß von dir bestellte und ihr sagte, du seiest in guter Hut.“

„Solltest du mich nicht wiedergrüßen? Hat es ihr nicht leid getan, daß ich umsonst warten mußte?“

Diese Frage hatte Inge befürchtet. Bei all ihrer Leichtigkeit und fröhlichen Gemütsart hatte sie einen Grundsatz, von dem sie niemals abwich: Sie log nicht.

„Sie sagte es nicht geradezu. Aber ich möchte dich mal sehen, ein paar Stunden nachdem du von einem Auto angefahren worden bist. Glaubst du, daß du dann daran denken würdest, Grüße zu bestellen, wie?“

Ingrid fragte nicht mehr. Sie gingen nach Haus. Ingrid bekam Bleistift und Papier und fing

an, dänische Vokabeln nach Inges Diktat aufzuschreiben. Inge erklärte ihr einiges über den Bau der Sprache und zeigte, worin sie sich vom Deutschen unterschied, auch wenn die Wörter einander oft sehr ähnlich waren.

Sie wurden durch ein Klingeln an der Tür unterbrochen. Als Inge öffnete, hörte man ihrer Stimme eine frohe Überraschung an. Da mußte ein lieber Besuch gekommen sein! Es wurden ein paar muntere Sätze auf dänisch gewechselt.

Dann wandten sich die Gäste – ein jüngeres Ehepaar – in einem unbeholfenen, aber sehr drolligen Deutsch an Ingrid: „Willkommen in Dänemark, kleines Reiseandenken! Das ist wirklich nett für unsere Freundin Inge! Wir haben immer gesagt, sie müßte in ihrer Einsamkeit etwas Geselligkeit haben.“

„Ingrid, das sind meine guten Freunde. Architekt Hall und seine Frau. Sie sind angeblich gekommen, um mich nach so langer Zeit wiederzusehen, aber in Wirklichkeit wollen sie Kaffee trinken – ich kenne sie!“

Ingrid machte große Augen. Diese Art scherzhafter Unverfrorenheit kannte sie nicht von daheim. Aber die fröhlichen Gesichter, das freundliche Lächeln, der Tonfall allein schon bewiesen, daß von Unverfrorenheit gar keine Rede sein konnte. Es war ein Freimut, wie gute Freunde ihn sich untereinander wohl herausnehmen durften.

„Soll ich den Kaffee machen?“

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„Und ob du das sollst! Wenn du so lieb sein willst?“ Die Unterhaltung in der Wohnecke ging lebhaft hin und her, während Ingrid mit dem Kaffeekochen beschäftigt war. Sie kannte jetzt schon Inges Geschmack und machte so starken Kaffee, daß Tante Margrete zu Haus sich wegen einer solchen Verschwendung des teuren Bohnenkaffees bekreuzigt hätte.

„Ich kenne nur einen einzigen Menschen, dem so etwas passieren kann“, lachte Herr Hall. Er redete wieder deutsch und wandte sich an Ingrid. „Ein niedliches junges Mädchen im Zuge aufzulesen, sie mit nach Haus zu nehmen und sie praktisch zu adoptieren – so etwas bringt niemand anderes fertig als Inge Skovsgaard. Junges Fräulein, kleines Reiseandenken – weißt du, was du für ein Glück gehabt hast? Du hast von den mehr als einer Million Einwohnern Kopenhagens genau diejenige getroffen, die du einzig und allein brauchen konntest – und die dich braucht!“

„Ja – denn du glaubst doch nicht etwa, daß alle Dänen so sind wie Inge?“ fügte Frau Hall hinzu.

Da blickte Ingrid lachend von dem einen zum andern. Sie wußte selbst nicht, daß es die leichte, selbstverständliche Herzlichkeit, die Heiterkeit dieser Menschen war, die sie sagen ließen: „Doch, bis jetzt glaube ich es.“ Auch ihre Stimme verriet, wie sehr sie von der Fröhlichkeit der andern angesteckt war.

Gut, daß Ingrid nicht verstand, was Frau Hall beim Abschied sagte: „Was für ein entzückendes Mädchen, Inge! So reizend und fein und wohlerzogen. Und im Grunde macht sie einen heiteren Eindruck, obgleich sie nicht viel sagt. Möcht gern wissen, wie die ist, die Frau, bei der sie leben soll?“

Inge antwortete mit gedämpfter Stimme. Und daß Ingrid das

nicht verstand – ja, das war noch besser. Aber so viel schnappte sie doch auf, daß sie am Sonntag

zusammen mit Inge zu den Halls und ihren zwei Töchtern eingeladen war. Sie mußten mit der S-Bahn hinfahren, denn die Familie Hall wohnte außerhalb der Stadt.

Du liebe Güte, was war sie doch für ein Glückspilz!

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„Herrliches, herrliches Kopenhagen…“

Die beiden Wochen, die jetzt folgten, wurden für Ingrid eine einzige Kette froher Erlebnisse. Allerdings erhielt Inge von einer Firma einen großen Auftrag auf Reklamebilder, so daß sie sehr viel zu tun hatte. Ingrid bekam dadurch ebenfalls viel Arbeit. Aber das machte ihr nur Freude. Sie besorgte die Einkäufe und führte Dixi aus, sie wischte den Fußboden auf, sie bereitete das Essen und spülte das Geschirr. Alles machte Spaß, und immer dankte ihr Inge von Herzen und sagte, sie könnte sich gar nicht vorstellen, wie sie jemals wieder allein fertig werden sollte. Ingrid sei ihre gute kleine Fee, das vernünftigste Reiseandenken, das sie jemals mit nach Haus gebracht hätte.

Ingrid mußte es sich gefallen lassen, daß sie von nun an Reiseandenken genannt wurde, und sie nahm es mit Humor. Das Ehepaar Hall nannte sie nie anders. Ja, sogar Halls jüngste Tochter Merete, ein kleiner Krümel von fünf Jahren mit weißblonden Locken, rief: „Andenken, komm her, ich will dir meine jungen Kätzchen zeigen.“

Der Tag draußen bei Halls war ganz herrlich. Die fünfzehnjährige Tochter Lise hatte Deutsch in der Schule und gab sich redliche Mühe, mit Ingrid deutsch zu sprechen. Und Ingrid pickte eifrig dänische Brocken auf wie ein Sperling die Körner.

Beim Mittagessen fragte Lise plötzlich, ob Ingrid schon im Tivoli gewesen sei.

„Noch nicht“, mußte Ingrid gestehen, „aber Inge hat mir versprochen…“

„Können wir nicht heute abend hingehen? Alle miteinander?“- bat Lise.

„Doch, das ist ein guter Gedanke!“ rief Frau Hall. „Natürlich tun wir das. Wir müssen nur vorher Merete ins Bett bringen und darauf achten, daß sie nicht die ganze Katzenfamilie mit unter die Bettdeckte nimmt.“

Tivoli – Ingrid ahnte nicht, was das war. Sie war ein paarmal in der Stadt gewesen und hatte die großen Eingangstore mit dem Wort Tivoli darüber gesehen. Wenn sie fragte, lächelte Inge immer und sagte: „Wart nur, du wirst schon sehen!“

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Nun war wirklich der Augenblick gekommen, daß sie durch den Zählapparat am Eingang des Tivoli gehen durfte.

Sie blieb mit offenem Munde stehen. „Was ist denn das? Ist das – ist das eine ganze Stadt für sich

oder…“ Alleen mit elektrischen Lampen in allen Farben des Regenbogens

zogen sich durch den Garten. Ein Märchenschloß mit Rundbögen und Spitzen, über und über mit bunten Lampen besteckt. Springbrunnen, die rot und blau und grün funkelten. Hier ein großes Haus aus lauter Glas, in dem ein Orchester gerade ein Konzert gab. Dort eine Bühne im Freien mit einem wunderbaren Vorhang, der einen Pfau mit auseinandergeschlagenem, buntschillerndem Rad darstellte. Ingrid stand wie gebannt.

„Wenn schon, denn schon!“ sagte Herr Hall. „Lise, hier hast du Geld. Jetzt nimmst du Ingrid zu allem mit, wozu sie Lust hat, und dann treffen wir uns um zehn Uhr in der Pagode. Seid pünktlich, und nun viel Vergnügen!“

Die Mädchen blieben vor dem Pantomimentheater stehen. Gerade jetzt klappte der Pfauenschweif langsam zusammen. Der Vogel versank, und auf die Bühne hinaus tanzte ein schlanker Jüngling in buntem, enganliegendem Anzug. Eine zierliche Mädchengestalt im Tüllrock schwebte vor ihm her und lockte ihn. Sobald er versuchte, sie zu haschen, entglitt sie ihm. Da polterte aus der Seitenkulisse eine klobige Gestalt heraus in weißem Anzug mit mehlweißem Gesicht und ohne Haare, mit einem Mund, der von einem Ohr zum andern reichte. „Was ist das?“ fragte Ingrid atemlos.

Lise lachte: „Na, Harlekin und Columbine und unser Pierrot. Komm, wir schauen uns das an.“

Ingrid hatte noch nie ein Ballett tanzen gesehen. Sie war wie verzaubert.

Als das kleine Stück zu Ende war, gingen die Mädchen weiter. Die Erwachsenen hatten sich inzwischen im Restaurant der

Pagode, die wie ein chinesischer Turm gebaut war, einen Platz gesucht.

Vom anderen Ende der Märchenstadt hörte man Karussellmusik und das Summen und Surren der Maschinerie, die alle Karussells, die Berg- und Talbahn und die vielen Lichter in Gang hielt.

Die Mädchen fuhren Karussell, jedes auf seinem riesengroßen dicken Schaukelpferd. Sie fuhren mit der Achterbahn, so daß es ihnen im Bauch kitzelte und sie vor Wonne schrien. Sie fuhren mit

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dem Boot auf einem schmalen Kanal durch ein erleuchtetes Märchenland. Sie schossen mit Pfeil und Bogen nach Gegenständen, Ingrid traf sogar einmal und gewann einen kleinen Teddy. Lise war voll Bewunderung, und Ingrid erzählte, daß die Nachbarsöhne daheim ihr das Schießen mit Pfeil und Bogen beigebracht hätten.

Sie gingen ins Spiegelkabinett und lachten Tränen. Denn in den verrückten Spiegeln waren sie bald lang und dünn wie Bohnenstangen, bald winzigklein und dick wie kleine Kugeln. In einer Bude aßen sie Apfelplatzen, und Ingrid wunderte sich, daß Schmalzplatzen hier Apfelplatzen hießen, obwohl keine Spur von Apfel drin war. Lise erzählte ihr, daß ursprünglich sicher Äpfel in dem Teig gewesen wären, aber mit der Zeit habe man immer mehr Teig genommen und immer weniger Äpfel, bis davon nichts weiter übrig blieb als der Name. Das fand Ingrid so komisch, daß sie wieder lachen mußte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel gelacht wie an diesem Abend!

Dann kamen sie zu dem großen freien Platz und sahen sich die Akrobaten an, die viele Meter oben in der Luft an Trapezen schwebten und dort halsbrecherische Kunststücke vollführten. Ingrid wagte nicht zu atmen und biß sich in die Finger vor lauter Gruseln und Spannung.

Es war das Märchenhafteste, was sie je erlebt hatte! Überall um sie herum summte es von fröhlichen Stimmen, von

fremden Sprachen. „Wir haben immer viele Touristen in Kopenhagen“, erklärte Lise.

„Hier kannst du Menschen aus allen Ländern der Welt treffen, von den Eskimos bis zu den Chinesen!“

Eskimos sahen sie nun freilich nicht. Aber als sie zum zweitenmal mit der Achterbahn fuhren und Ingrid gerade Lise etwas zurief, fühlte sie plötzlich einen leichten Schlag auf der Schulter: „Hallo, Landsmännin! So jung und auch schon auf Vergnügungsreise im fröhlichen Kopenhagen!“

Ingrid drehte sich um und sah in ein junges, lachendes Männergesicht.

Sie lachte zurück, und es erging ihr wie vielen, die im Ausland reisen: man begegnet einem Landsmann und meint, man habe ihn schon immer gekannt.

Sie wechselte ein paar Worte mit dem jungen Mann und fand es herrlich, ihre eigene Sprache wieder zu hören und richtig gesprochen zu hören. Das Deutsch, das man in den letzten Tagen mit ihr

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gesprochen hatte, war mehr oder weniger ein Radebrechen gewesen. Sogar Inge, die eigentlich viel Deutsch konnte, leistete sich manchmal die merkwürdigsten Wendungen. Noch an diesem Morgen hatte sie gesagt: „Hol mich ein Gabel aus die Schublade“, und Ingrid hatte sie lachend verbessert.

„Es ist zehn Uhr!“ sagte Lise plötzlich. „Jetzt müssen wir in die Pagode gehen.“

Ingrid hatte keine Ahnung mehr, wo die Pagode war – sie konnte es nicht fassen, daß Lise sich so schnell und sicher zwischen Schießbuden und Zuckerbuden, Karussells und kleinen Kaffees zurechtfand. Aber Lise war offenbar auf sehr vertrautem Boden.

In der Pagode fanden sie Inge und Lises Eltern, und hier bekamen sie Kuchen und Limonade, so viel sie wollten.

Ingrid mußte sich in den Arm kneifen. Nie war es ihr im Traum eingefallen, daß sie ein so wirkliches Märchen erleben könnte, viel strahlender als in irgendeinem Buch.

„Wir müssen bis um zwölf Uhr aushalten“, sagte Frau Hall. „Ingrid muß das Feuerwerk sehen.“

Sie gingen alle zusammen auf den großen Platz hinaus, weiter an den Springbrunnen und glänzend erleuchteten Fassaden entlang. Auf den Wegen rings um die Wasserkünste, auf den offenen Plätzen wimmelte es von Menschen. Auf einer Tribüne spielte ein Orchester.

Mit einemmal war es, als glätteten sich die Wogen des Menschenmeeres. Alle standen still. Alle lauschten. Und in schwingenden, wogenden Rhythmen flutete der große Schlager über das Menschenmeer hinweg: „Wonderful, wonderful Copenhagen…“

Die Menschen wurden von dem Rhythmus erfaßt und wiegten sich mit. Sie standen in Reihen, in Gruppen, mit lächelnden Gesichtern, die Köpfe gingen hin und her. Lise hielt Ingrid im Arm, und mit heller Stimme sang die den dänischen Kehrreim mit: „Dejlige, dejlige Kabenhavn…“

Immer mehr Leute stimmten ein. Es wiegte sich und tönte, die Luft war erfüllt von jubelndem Singsang.

Wonderful, wonderful Copenhagen… „Sing mit, Ingrid!“ rief Lise.

Da war wieder der Kehrreim. Und mit einemmal hatte Ingrid keine Hemmungen mehr, sie war nicht mehr Ausländerin, nicht mehr ein kleiner, scheuer, fremder Vogel. Sie gehörte zu den vielen fröhlichen jungen Menschen, die das Tivoli so gastlich aufgenommen hatte, um ihnen einen unvergeßlichen Abend zu

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bereiten. Ingrid sang in ihrer eigenen Sprache mit: „Herrliches, herrliches,

Kopenhagen…“ Eine Männerstimme dicht neben ihr griff den deutschen Text auf.

Sie wandte sofort den Kopf. Es war der Deutsche von der Achterbahn.

Ein Arm wurde in den ihren geschoben, eine Stimme sang mit: „Oh la belle, oh la belle Copenhague…“

Dicht hinter ihr stand ein junges Paar mit kleinen schwedischen Flaggen auf den Rockaufschlägen: „Härliga, härliga Köpen-havn…“

Es war Frühling. Sie waren jung, sie waren glücklich. Sie gehörten den verschiedensten Nationen an, aber sie fanden einander in der einfachsten, der natürlichsten, menschlichsten Weise, in ihrer jungen Lebensfreude.

Jetzt standen alle Arm in Arm. Skandinavier, Deutsche, Engländer, Franzosen. Ihre Köpfe wiegten sich im selben Rhythmus, die Worte, die sie sangen, waren die gleichen.

Herrliches, herrliches Kopenhagen… In den verschiedenen Sprachen stieg das Lied zum blauen

Frühlingshimmel auf. Eine Huldigung an diese Stadt, die sie zusammengeführt, die alle Schranken und Vorurteile genommen und die Lebensfreude über sie ausgeschüttet hatte für einige goldene Stunden. Dann schwieg die Musik. Plötzlich zischte eine Rakete zum Himmel auf, platzte auseinander und fiel als ein goldener Sternenregen auf die kleine Ingrid, auf Lise, auf Hunderte und Tausende von jungen Menschen herab, die einander zugetan waren, die Freunde waren und sich zusammengehörig fühlten, weil sie einen sorglosen Abend miteinander verlebt hatten, eine leuchtende Unterbrechung ihres Alltags – das lebendig gewordene Märchen mitten im Herzen einer großen Stadt.

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Staub und Finsternis „So, Ingrid. Jetzt kannst du kommen und es dir anschauen.“ Ingrid schob vorsichtig Dixi von ihrem Schoß und erhob sich von ihrem Sessel, auf dem sie die ganze letzte Stunde mucksmäuschenstill gesessen hatte. Sie stellte sich neben Inge vor die Staffelei.

„Na? Du sagst ja gar nichts?“ Inge sah sie fragend an. „Es… es ist so gut, Inge. Es ist so… so…“ „Sag ruhig, daß es hübsch ist. Denn das ist es!“ „Ich kann doch nicht von mir selber sagen, daß ich hübsch bin.“ „Weshalb denn nicht? Du bist gesund, und du mußt deinem

Schöpfer dankbar sein, daß er dir Gesundheit mit in die Wiege gelegt hat. Du hast gute Augen, die hat der liebe Gott dir gegeben. Du siehst hübsch aus, das ist auch ein Geschenk von Gott. Das fehlte noch, daß du nicht zugeben willst, wie gut der liebe Gott gegen dich gewesen ist.“

Ingrid hörte aufmerksam zu. Was Inge sagte, war richtig. Aber trotzdem – man konnte doch nicht hingehen und von sich selbst sagen, man sei hübsch…

„Das Bild ist jedenfalls wunderhübsch, Inge. Wunderwunderhübsch.“

„Wart nur, bis es fertig ist. Dein Frätzchen ist ja erst ganz leicht skizziert, aber ich werde es schon schaffen. Du bist ein gesegnetes Modell, Ingrid. Möcht wirklich wissen, ob ich so weit komme, daß ich die Kohlezeichnung fertig kriege, bis Tante Agate sich meldet!“

Inge hatte eine Kohlezeichnung von Ingrid begonnen, wie sie über eine Näharbeit gebeugt saß, genauer gesagt, einen von ihren eigenen Schlafanzügen. Seit Ingrid ins Haus gekommen war, wußte Inge nicht mehr, was es hieß, einen Knopf anzunähen oder eine geplatzte Naht auszubessern.

„Wie soll das große Bild heißen, Inge?“ „Das Mädchen und der Pudel, dachte ich. Und wenn es nach

meiner Nase geht, dann kommt es zum Herbst auf die Ausstellung. Und dann…“ Mit einemmal stand Inge auf, packte Ingrid um die Schultern und wirbelte sie herum. „Dann verkaufen wir es und kriegen einen großen Haufen Geld dafür, und dann…“

„Ja, was dann?“ „Dann denken wir uns etwas besonders Schönes aus. Das Geld

verbrauchen wir zusammen, wir zwei; darauf kannst du dich

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verlassen!“ „Ach Inge, schon jetzt freu ich mich schrecklich drauf!“ Rrrrrrrr!

Es war die Türglocke. Ein Bumms auf den Fußboden. Post. Inge räusperte sich und gab sich einen Ruck, damit ihre Stimme gleichmäßig und ruhig klänge: „Brief an dich, Ingrid, aus der Stadt.“

Das konnte nur eins bedeuten. Ingrid öffnete den Brief mit zitternden Händen:

Liebe Ingrid, ich bin aus dem Krankenhaus entlassen und

wieder zu Haus und erwarte dich Dienstag

nachmittag. Mit Gruß

Tante Agathe

Sie reichte Inge den Brief hinüber, blieb ganz still stehen und sah sie hilflos an. Sie fragte nicht, sagte gar nichts. Aber sie kannten einander jetzt schon so gut, die große und die kleine Ingrid, daß die Große genau wußte, was die Kleine dachte:

Warum sagt sie nicht mit einer Silbe, daß ich willkommen bin? Warum sagt sie nichts darüber, daß ich Inge grüßen soll, die so fabelhaft zu mir gewesen ist? Warum spricht sie nicht ein Wort des Bedauerns aus, daß sie mich an jenem Abend nicht auf dem Bahnhof hat abholen können? Inge brach als erste das Schweigen.

„Ja, ja, mein Kind. Dann müssen wir deine Sachen zusammenpacken. Ich werde dich furchtbar vermissen. Es ist nur gut, daß wir in derselben Stadt wohnen. Du weißt, du kannst kommen, so oft du willst. Ich werde dich auch bestimmt mal besuchen – liebes, kleines Reiseandenken!“

„Ich warte so lange, bis aufgemacht ist“, sagte Inge. Sie hatte Ingrid bis ins Haus der Tante gebracht. Jetzt stand das

Mädchen vor einer dunkelbraun gestrichenen Wohnungstür in einem halbdunklen engen Gang. Die Wohnung lag im Erdgeschoß. Das Haus wirkte düster und beengend.

„Kopf hoch, mein Mädelchen! Schau nicht so ängstlich aus. Ich komme bald und besuche dich.“

Inge trat zur Haustür zurück. Dort blieb sie stehen und lauschte. Ingrid klingelte. Sie wartete – endlich hörte sie Schritte von

drinnen, und die Tür wurde geöffnet. Ein kleines Geräusch von der Haustür her zeigte ihr an, daß Inge

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gegangen war. Ingrid streckte die Hand aus. Ihre Stimme war klein und zaghaft,

als sie die Gestalt anredete, die sie nur undeutlich in dem Halbdunkel des Flurs sah. „Guten Tag. Ich bin Ingrid.“

„Ja, gewiß. Das ist mir klar. Willkommen. Du hättest auch durch den Laden gehen können, dann hätte ich nicht hier hinten aufzumachen brauchen. Na ja, ist nun einerlei. Hast du noch mehr Gepäck? Nur den Koffer? Na schön, stell ihn hier rein. Du hast wohl schon Frühstück gegessen? Ach je, da kommt Kundschaft – ich muß in den Laden.“

Tante Agate schlurrte zurück und verschwand durch eine Tür, die sie hinter sich zumachte. Ingrid blieb in dem kleinen, engen, dunklen Wohnungsflur stehen, ratlos und unschlüssig. Sie hängte ihren Mantel an einen Haken, nahm den Koffer – wo sollte sie ihn doch gleich hinstellen? Sie blickte sich um. Es gab hier zwei – nein, drei Türen außer der zum Laden. Sie machte die eine einen Spalt weit auf und sah eine Stube, vor deren Fenstern die Vorhänge herabgelassen waren. Das Zimmer war klein und mit viel zu großen Möbeln vollgestellt. Ein Sofa, zwei riesengroße Sessel, ein runder Tisch mit geschnitzten Füßen. Außerdem ein Regal und ein riesiger Schrank – aber kaum Platz, um sich dazwischen bewegen zu können. Das Zimmer war ungelüftet und roch nach Staub.

Auf der anderen Seite des Flurs lagen eine kleine Küche und ein Schlafzimmer, das von einem einzigen großen Bett fast ausgefüllt war. Hier stellte Ingrid den Koffer ab. Dann blieb sie stehen und horchte. Aus dem Laden drangen Stimmen zu ihr, es wurde mit Geld geklimpert. Die Ladenglocke schellte, und alles wurde still. Der Kunde war gegangen.

Sie öffnete die Tür zum Laden. An einer Wand standen hohe Regale mit Zigarrenkisten, Zigaretten und Tabak, außerdem Wein- und Likörflaschen. Unter der Glasplatte des Tisches lagen Feuerzeuge, Zigarettenetuis und andere Kleinigkeiten. Es roch stark nach Tabak.

„Na, was willst du? Ich muß auf den Laden aufpassen, du mußt also vorläufig alleine fertig werden. Du kannst in der Schlafstube auspacken, dann werd ich dir sagen, wo du deine Sachen hinhängen und wegräumen kannst.“

Es kam schon wieder Kundschaft, und Ingrid zog sich zurück. Sie packte aus – das war schnell getan. Sie besaß ja nicht allzuviel irdische Güter. Und dann blieb sie wieder unschlüssig stehen. Was

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sollte sie bloß den ganzen Nachmittag machen? Sie ging in die Küche. Dort stand eine Menge schmutziges

Geschirr. Da konnte sie sich ja nützlich machen. Sie setzte flink einen Teekessel mit Wasser aufs Gas und hielt

Ausschau nach Lappen und Bürsten. Da hörte sie die Tante im Flur. „Was machst du denn da? Wozu brauchst du das warme Wasser?“

„Ich wollte dein Geschirr abwaschen, Tante.“ „Es eilt nicht. Wir machen für das bißchen Geschirr kein Wasser

heiß. Hast du denn nicht sparen gelernt, Ingrid? Deine Mutter konnte es, das kannst du mir glauben. Nun ja, du bist vielleicht nicht an das Gas gewöhnt, aber du mußt immer daran denken, Gas ist teuer – furchtbar teuer!“

Tante Agate schlurfte wieder zurück. Ingrid blieb stehen und biß sich auf die Lippen.

Sie schlich in die kleine, vollgestopfte Stube. Es war erstickend heiß darin. Sie rollte den Vorhang hoch, stieß das Fenster auf und sog tief die Luft ein. Alles roch in dieser Wohnung nach Tabak, nach Tabak und Staub. Du liebe Zeit, wie staubig es hier war! Die unzähligen kleinen Dinge, die auf Borden und Tischen herumstanden, waren grau von dem alten Staub.

Ingrid suchte nach einem Lappen und begann alles abzuwischen, gründlich und systematisch.

Da rief die Tante vom Laden. Ingrid machte die Tür einen Spalt weit auf. „Ja, Tante?“

„Was machst du in der Stube?“ „Ich lüfte und wische Staub, Tante.“ „Du lüftest? Hast du etwa den Vorhang hochgerollt? Wo hast du

denn deine Gedanken? Zieh sofort den Vorhang runter! Die Sonne brennt ja sonst auf die Möbel, und der teure Bezug bleicht ganz aus. Das fehlte noch!“

Ingrid schluckte die aufsteigenden Tränen herunter. Sie schloß das Fenster und zog den Vorhang herunter. Was sollte sie bloß tun? Sie ging still in die Küche und setzte sich auf den Küchenhocker.

Dann warf sie einen Blick durch das Fenster. Es ging auf einen Hinterhof hinaus mit schmutziggrauen Mauern.

Hier blieb Ingrid sitzen. Auf einem Stuhl lag eine Wochenzeitschrift. Sie sah sich die Bilder an, lesen konnte sie ja nicht.

Der Kopf war ihr schwer. Und das Herz lag ihr wie Blei in der Brust. Sie sah im Geiste Inge vor sich, die jetzt in ihrem großen,

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hellen Atelier saß und zeichnete. Dixi lag am Fußende der Couch und schaute ihr mit blanken, braunen, treuen Hundeaugen zu. Bald würde Inge in ihre Küchenecke gehen und Wasser zum Nachmittagstee aufsetzen. Ja, heute mußte sie das selber machen. Sie mußte auch die Kalbsknochen für Dixi selber abkochen. Dixi würde heute abend die Couch für sich allein haben, ganz allein…

Ein kleiner Schluchzer stieg ihr in die Kehle, noch einer. Und mit einemmal legte Ingrid die Arme auf den unsauberen Küchentisch und weinte aus ihrem kleinen, verlassenen und bangen Herzen heraus.

Page 43: Das kleine Reiseandenken

Ingrid lernt lügen Ingrid wälzte sich im Schlaf hin und her. Sie schlief so unruhig, daß die Decke auf den Fußboden rutschte. Sie ächzte, drehte sich auf die andere Seite und wachte auf.

Es war schrecklich heiß. Der Kopf tat ihr weh. Im Zimmer stank es fürchterlich nach Tabak.

Nein! Mochte die Tante schimpfen, so viel sie wollte. So konnte Ingrid nicht schlafen. Sie stand auf und gab sich alle Mühe, das Fenster geräuschlos zu öffnen. Sicher stimmte es, daß Staub hereinwehte, wie Tante Agate sagte, denn das Zimmer ging auf die Straße und lag noch dazu im Erdgeschoß. Aber Staub konnte man wieder wegwischen. Doch eine Nacht wie die letzte konnte sie nicht noch einmal aushalten. Sie war mit bleischwerem Körper und dröhnendem Kopfweh aufgewacht.

Heilfroh war sie gewesen, als die Tante sie zum Einkaufen schickte. Damit hatte sie sich so viel Zeit wie möglich gelassen. Als sie zurückkam, hatte es Schelte gesetzt, denn sie hatte außerdem noch zu viel Geld ausgegeben. Ob es keinen billigeren Salat gäbe? Und warum sie von den großen Eiern genommen hätte, wenn es im Laden an der Ecke Knickeier gab?

„Das wußte ich nicht, Tante. Ich kann doch kein Dänisch, und da kann ich nicht fragen.“

„Ich dachte, du hättest bei diesem Fräulein Skovsgaard auch eingeholt?“

„Ja, sie hat mir immer für die verschiedenen Geschäfte Zettel geschrieben.“

„Die muß ja viel Zeit gehabt haben! Ich habe mehr zu tun, als mich hinzusetzen und Zettel zu schreiben. Aber künftig denk dran, daß du deinen Verstand zusammennimmst und dich umguckst und nicht immer gerade das Teuerste kaufst. Ich dachte, ihr Deutschen wärt so sparsam. Deine Mutter war es jedenfalls.“

„Hast du Mutter gern gehabt, Tante Agate?“ „Natürlich. Sonst hätte ich doch ihre Tochter nicht eingeladen. O

ja, Jutta war ein prächtiges Mädel. Fleißig und bescheiden. Und wie gesagt, das war mal eine, die konnte mit Geld umgehen! Mein seliger Mann sagte es auch immer. Die Jutta, die Jutta, sagte er, von der kann manch einer was lernen!“

Die paar freundlichen Worte über die Mutter hatten ausgereicht,

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um Ingrid wieder heiter und dankbar zu stimmen. Natürlich sah sie ein, daß man mit Geld vorsichtig umgehen mußte. Das hatte sie nun wirklich bei Onkel Peter und Tante Margrete gelernt. Das war so klar und so einfach einzusehen. Und wenn ihre Mutter so tüchtig und sparsam gewesen war, dann wollte Ingrid es auch sein.

Dies alles ging ihr jetzt mitten in der Nacht durch den Kopf, während sie wach lag, verschwitzt und mit dumpfem Hirn. Sie schlief in der übervollen Stube auf dem Sofa. Sonst schien diese Stube nie benutzt zu werden. Die Tante hielt sich den ganzen Tag im Laden auf. Ihre Mahlzeiten verzehrte sie hastig in der Küche.

Hier saß sie auch und las die Abendzeitung, ehe sie zu Bett ging. Ingrid war immer wieder ermahnt worden, mit den feinen

Stubenmöbeln vorsichtig umzugehen. Sie durfte auch nichts auf das polierte Regal stellen und nicht mit Straßenschuhen über den Teppich laufen.

Das Mädchen seufzte tief auf. Die Nachtluft strömte in den heißen, nach Tabak riechenden Raum und trug den Lärm der Stadt und ihren Staub herein. Aber Ingrid schlief trotzdem ein, mit dem festen Vorsatz, eher aufzuwachen als die Tante, damit sie noch rechtzeitig das Fenster schließen könnte – sonst wurde sie wieder ausgezankt.

Die kleine Ingrid hatte ihr ganzes Leben lang gearbeitet. Sie war daran gewöhnt, und es war ihr ganz selbstverständlich. Daß sie alle Hausarbeit bei Tante Agate machen mußte, fand sie also in Ordnung. Das war es nicht, wovon ihre Wangen blaß und die Augen groß und sehnsüchtig wurden. Das war es nicht, weshalb sie viele Male am Tag mit einem furchtsamen Blick zusammenzuckte. Die Unsicherheit war es, die sie quälte.

Nie wußte sie, ob die Tante nicht wieder einen Grund zum Schelten finden würde.

Ingrid! Nimm nicht so viel Seife! – Ingrid, du brauchst doch noch kein Licht zu machen, der Strom ist so teuer. – Schäl die Kartoffeln nicht so dick! – Kratz die Butter ordentlich vom Papier, ehe du’s wegschmeißt! Ingrid, tu den Kaffeesatz nicht weg, du kannst ihn noch mal gebrauchen! So ging es den ganzen Tag.

Bei Tante Margrete hatte sie sparsam wirtschaften gelernt, aber die hatte es ihr auf freundliche, nette Art beigebracht. Die Arbeit bei Tante Margrete war immer wieder durch ein Lächeln und freundliche Worte gewürzt worden. In der kleinen Häuslichkeit hatte immer Sonnenschein geherrscht.

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Sonnenschein – ja, und der Duft von den großen, weiten Feldern draußen. Die Sonne fiel in einem breiten goldenen Strahl durch das Küchenfenster mit den kleinen Scheiben. Die Zwillinge spielten auf dem Fußboden, störten oft und liefen einem fortwährend zwischen den Füßen herum. Jetzt sehnte sich Ingrid so heftig nach ihnen und all ihrem Gewühl, daß sie glaubte, sie müßte vor Heimweh schreien.

Die Tage bei Tante Agate vergingen in grauem Einerlei. Ingrid dachte oft daran, daß zehn Minuten von Tante Agates Laden und ihrer dunklen Wohnung die großen breiten Straßen mit Licht und Farben und fröhlichen Menschen lagen. Zwanzig Minuten mit der Straßenbahn, und sie wäre bei Inge.

Aber jedesmal, wenn sie Tante Agate fragen wollte, ob sie einmal zu Inge fahren dürfte, stellte die Tante sie gerade zu irgendeiner Arbeit an.

Abends war Tante Agate müde. Erst aßen sie – das Essen hatte Ingrid gekocht – und dann wusch Ingrid auf. Währenddessen saß die Tante und zählte die Tageskasse. Sie neigte sich dabei über den Küchentisch, die Scheine und Münzen vor sich. Sie zählte und zählte, rechnete und rechnete und war gegen alles andere blind und taub.

Ingrid bekam eines Tages einen Brief von Tante Margrete. Elke hatte einen Gruß druntergeschrieben, und Monika mit ihren großen Kinderbuchstaben auch:

Den Kanienchen get es gut, und das grose weise hatt acht Junge

gekriecht und ich geb ihm jehden Tag Kollrabi. Vile Grüse deine

Monika.

An diesem Abend holte Ingrid den Briefblock und den

Kugelschreiber, den sie von Inge bekommen hatte, und während Tante Agate die Zeitung las, setzte sie sich hin und schrieb einen Brief.

„An wen schreibst du?“ fragte Tante Agate. „An Onkel Peter und Tante Margrete.“ „Also nicht an Fräulein Skovsgaard?“ Es klang beinahe lauernd,

mißtrauisch. „Nein, Tante“, sagte sie und fuhr mit fester Stimme fort: „Wenn

ich an Fräulein Skovsgaard schreiben würde, dann würde ich doch nicht sagen, daß ich an Tante Margrete schreibe.“

Sie fing den Blick der Tante auf, und plötzlich hatte sie eine

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Eingebung. Sie nahm einen neuen Bogen, schrieb langsam und deutlich, erzählte jedes kleinste bißchen über ihr Leben bei der Tante, ohne sich indessen zu beklagen; sie erzählte nur, wie es war. Sie schrieb auch von Inge Skovsgaard, von dem schönen Abend im Tivoli und wie furchtbar gern sie Inge hätte. Sie schrieb lang und ausführlich - und sie schrieb mit den alten, deutschen Buchstaben, „gotisch“, wie Onkel Peter gesagt hatte. Er hatte Ingrid auch diese Schrift beigebracht, nur so zum Spaß.

„So lernten wir alle schreiben zu meiner Zeit“, hatte Onkel Peter gesagt, und Tante Margrete nickte und gab zu, daß diese seltsamen Buchstaben ihr noch heute vertrauter waren als die gewöhnlich lateinischen.

Als sie endlich den Kugelschreiber aus der Hand legte, geschah, was sie hatte kommen sehen.

„Zeig mal her, was du so geschrieben hast“, sagte Tante Agate und griff nach dem Briefbogen. Sie warf einen Blick darauf und legte ihn dann mit ärgerlicher Miene wieder hin.

„Habt ihr noch immer diese lächerlichen Buchstaben? Die kann doch kein Mensch lesen.“

„Ältere Leute gebrauchen sie immer noch“, sagte Ingrid ruhig. „Und Tante Margrete kann die gotischen Buchstaben am besten lesen.“

Im selben Augenblick wurde Ingrid sich bewußt, daß sie gelogen hatte. Tante Margrete konnte lateinische Buchstaben genausogut lesen. Aber Tante Agate selbst hatte sie dazu getrieben, daß sie jetzt log.

Und es sollte nicht das letzte Mal sein. „Tante Agate“, sagte Ingrid eines Tages, „ich habe eine

Strumpfhose bei Inge – bei Fräulein Skovsgaard vergessen. Ich brauche sie aber. Würde es passen, wenn ich heute hinginge?“

„Ich möchte wirklich mal wissen, wo du immer deine Gedanken hast“, entgegnete die Tante mürrisch. „Na schön, dann geh und hol sie, aber du mußt zu Mittag wieder zu Hause sein.“

„Ja, aber wenn Fräulein Skovsgaard mich zum Mittagessen einlädt? Dann brauche ich heute nichts einzuholen, für einen langt nämlich der Labskaus von gestern noch.“ Es war das Gescheiteste, was Ingrid hätte sagen können.

„Na ja, meinetwegen, dann bleib.“ „Laß den Aufwasch ruhig stehen, Tante. Ich mach ihn, wenn ich

nach Haus komme.“

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„Ja, ja, ich hab auch wirklich anderes zu tun.“ Ingrid steckte eine Strumpfhose in ihre Schultertasche. Sie mußte

doch damit nach Hause kommen, wenn sie deshalb losgegangen war. So hinterlistig war sie geworden, die ehrliche kleine Ingrid.

Das Herz klopfte ihr bis zum Halse, als sie in der Straßenbahn saß. Die gute umsichtige Inge hatte ihr noch ein Fahrscheinheft für die Straßenbahn zugesteckt und ihr genau erklärt, mit welcher Linie sie fahren sollte und wie weit. Wie Ingrid sich freute! Inge würde sie ganz sicher zum Mittagessen einladen. Und sie würde mit Dixi spielen und Inges neueste Arbeiten anschauen und würde plaudern und erzählen.

Sie konnte wieder sie selbst sein und brauchte gar keine Furcht mehr zu haben…

Dann stand sie vor der lieben, wohlbekannten Wohnungstür und klingelte. Sie horchte. Kein Dixi bellte drinnen. Keine raschen, fröhlichen Schritte kamen auf die Tür zu. Sie klingelte noch einmal. Alles blieb still.

Da fühlte sie wieder den Kloß im Hals. Die Enttäuschung war zu groß. Aber vielleicht kam Inge bald. Vielleicht war sie nur mit Dixi ein bißchen ausgegangen.

Ingrid setzte sich auf die Treppe und wartete. Im Hause war es ganz still. Unten beim Pförtner ging eine Tür.

Ingrid lauschte. Nein. Kein Tappen von eiligen Hundepfoten. Nichts von Inges vertrauten, leichten Schritten.

Die Minuten verrannen. Sie wurden zu einer halben Stunde. Zu einer ganzen Stunde…

Ingrid lehnte den Kopf gegen das Treppengeländer. Zwei große Tränen kullerten ihr über die Backen. Und gleich darauf noch zwei – und wieder zwei.

Dann kam ein Ton von weither zu ihr. Es war die Melodie der Rathausuhr, auf die acht schwere

Glockenschläge folgten. Da öffnete Ingrid ihre Schultertasche und suchte nach einem Stück Papier. Ganz auf dem Grunde fand sie einen kleinen, zerknüllten Zettel. Einen von Inges Merkzetteln aus den ersten Tagen in Kopenhagen. Einen Bleistiftstummel hatte sie auch. So schrieb sie denn „Gruß Ingrid!“ darauf und steckte den Zettel durch den Briefschlitz.

Ihre Füße waren schwer wie Blei, als sie langsam die Treppe hinunterschritt. Nie in ihrem Leben hatte sie sich so allein gefühlt.

„Na, du bist ja lange ausgeblieben“, sagte Tante Agate. „Sie hat

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dich wohl zu Mittag eingeladen?“ „Ja“, sagte Ingrid leise. Kaum hatte sie es ausgesprochen, da

wunderte sie sich über sich selbst. Warum log sie? Es war doch keine Schande, daß Inge nicht zu Hause gewesen war.

Ja, weshalb eigentlich? Es kam ihr nicht zum Bewußtsein, daß sie ihre Niederlage mit niemand teilen wollte. Am allerwenigsten mit Tante Agate.

Die unendlich lange Wartezeit und die schreckliche Enttäuschung, die bösen Stunden auf der Treppe vor Inges verschlossener Tür – sie gingen niemand anderes etwas an als sie selbst. „Was habt ihr gegessen?“

„Würstchen und Kartoffelsalat“, sagte Ingrid. Sie nannte das Gericht, das sie am ersten Tage bei Inge bekommen hatte.

„Teuer und unergiebig“, sagte Tante Agate, „Würstchen sind mit das Kostspieligste, was man essen kann.“

Teuer – teuer – kostspielig – unergiebig – Ingrid konnte alle diese Wörter kaum noch hören.

Sie hatte den Mantel aufgehängt, jetzt setzte sie Wasser auf für den Aufwasch und räumte das gebrauchte Geschirr beiseite.

Der Hunger quälte sie fürchterlich. Aber erst als sie ganz sicher war, daß Tante Agate schlief, erhob sie sich von ihrem Sofa und schlich in die Küche. Sie konnte den Brotkasten geräuschlos aufmachen und angelte sich im Finstern ein Stück trockenes Brot heraus.

Dann tappte sie leise in die Stube zurück, kaute das Brot im Bett und schluckte es zusammen mit ihren Tränen hinunter.

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Die kleine Seejungfrau Ein paarmal war Ingrid drauf und dran, Onkel Peter zu schreiben: „Bitte, holt mich zurück! Ich halte es nicht aus! Ich werde hier nur ausgenutzt, alles ist ganz anders als ich es mir dachte!“

Wenn sie es doch nicht tat, hatte es zwei Gründe: Sie erinnerte sich nur gut an das Gespräch, das sie mit Onkel Peter und Tante Margrete gehabt hatte, als der Brief aus Kopenhagen kam.

Die Pflegeeltern hatten Bedenken gehabt, ein so junges Mädchen allein in ein anderes Land zu schicken, zu einem Menschen, von dem sie sehr wenig wußten. Und Ingrid war es selbst gewesen, die ihnen die Bedenken ausgeredet hatte, die ihnen klargemacht hatte, wie wertvoll es sei, etwas von der Welt zu sehen, während man noch jung war. Und wenn Mutti dort gearbeitet hatte, wäre das doch eine Garantie für die Leute! Frau Jespersen würde bestimmt nett zu ihr sein!

Sollte sie jetzt, nach so kurzer Zeit, zugeben müssen, daß sie sich schrecklich geirrt hatte? Sollte sie, nach all den großen Worten damals, ganz kleinlaut bitten, wieder nach Hause geholt zu werden? Sollte sie Onkel Peter um all das Geld bitten, das man für die Fahrkarte bezahlen müßte?

Der zweite Grund, warum sie alles aushielt, war Inge. Es hatte sich eine so schöne Freundschaft zwischen der großen und der kleinen Ingrid entwickelt. Wer weiß, dachte Ingrid. Vielleicht kann es anders werden. Vielleicht passiert irgend etwas, so daß Tante Agate mich nicht mehr braucht. Vielleicht möchte Inge mich dann zurückhaben…

Also biß Ingrid die Zähne zusammen und schuftete weiter. Ingrid hob den Kopf und lauschte. Sie hatte Hundegebell auf der

Straße gehört. Es erinnerte sie an irgend etwas unendlich Liebes und Wohlbekanntes. Und dann hörte sie eine helle fröhliche Stimme: „Pfui, Dixi! Geh ordentlich!“

Wie der Wind war sie durch den Korridor und auf den Treppenflur hinausgelaufen und riß die Haustür auf. „Inge! Bist du es wirklich?“

Sie zog sie mit sich in den dunklen Hausflur und flüsterte, rasch und atemlos: „Hast du meinen Zettel gefunden? Inge, sag der Tante nicht, daß du nicht zu Hause warst. Ich hab gesagt, ich hätte bei dir zu Mittag gegessen, und ich hätte eine Strumpfhose bei dir geholt,

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die ich vergessen hatte. Sie weiß nicht, daß ich auf der Treppe gewartet habe…“

Inge faßte sie unters Kinn, hob ihr Gesicht hoch und schaute sie forschend an. Sie war bleich, die kleine Ingrid, und die Augen hatten einen neuen Ausdruck bekommen…

„Kleine Ingrid – fängst du an zu lügen?“ „Ich muß. Inge – ich erklär dir’s später – aber sei so lieb…“ „Schon gut, ich sag nichts. Ist deine Tante im Laden?“ „Ja. Sie ist ja immer im Laden.“ „Ich will sie fragen, ob ich dich mit in den Zoo nehmen darf!“ „Inge – wenn du – ich meine – wenn du doch heute Zigaretten

kaufst – kannst du sie nicht bei ihr kaufen? Dann ist sie friedlich…“ „Doch. Das kann ich gern tun.“ Inge drückte Ingrid ganz rasch an sich, Dixi leckte ihr die Hand,

und dann ging Inge hinaus und zur Ladentür wieder hinein. Tante Agate erkannte sie im ersten Augenblick nicht wieder.

Aber als Inge sie fragte, wie ihr der Aufenthalt im Krankenhaus bekommen sei, ging ihr ein Licht auf.

„Ach, Sie sind Fräulein Skovsgaard. Ich habe Sie nicht gleich erkannt. Wo ich Sie doch nur das eine Mal gesehen hab.“

„Ja, natürlich. Und da waren Sie noch ziemlich mitgenommen von dem Unfall, nicht wahr?“

„Na, das will ich wohl meinen. Herrgott, es war ja auch so ein Pech, wie man sich’s gar nicht vorstellen kann! Ich hatte nur ein junges Mädchen für den Laden. Na ja, die bin ich dann Gott sei Dank losgeworden. Man muß schon selber mächtig hinterher sein, wenn man nicht übers Ohr gehauen werden will. Diese vierzehn Tage haben mich allerhand gekostet, das kann ich Ihnen versichern.“

Tante Agate fuhr fort zu jammern und sich über das teure Krankenhaus und die teure Autofahrt und die teure Hilfe im Laden zu beklagen. Sonderbarerweise sagte sie kein Wort davon, wie teuer Ingrid ihr zu stehen kam.

Als sie einen Augenblick innehielt, um Atem zu schöpfen, konnte Inge ein paar Worte einwerfen und verlangte fünfzig Zigaretten. Sie nannte eine teure und sehr feine Marke.

Es ging genauso, wie Ingrid vorausgesagt hatte. Tante Agates Miene hellte sich sofort auf, wenn ein Kunde viel kaufte. Inge beschloß unverzüglich, so viel zu kaufen, daß sie einen kleinen Vorrat hatte; vielleicht nahmen ihre Bekannten ihr etwas ab. Als Tante Agate die Zigaretten und eine Flasche Likör eingepackt hatte,

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dazu noch eine Schachtel Zündhölzer und ein paar Kleinigkeiten, hielt Inge die Zeit für gekommen, ihr beizubringen, daß sie Ingrid gern mit in den Zoo nehmen würde.

„Heute?“ sagte Tante Agate, „das ist unmöglich. Heute habe ich meine Monatsabrechnung. Dann muß Ingrid den Haushalt machen.“

„Nun gut“, sagte Inge mit ihrem süßesten Lächeln, „das verstehe ich nur zu gut. Aber wann hat Ingrid ihren freien Tag, damit ich sie dann abholen kann?“

„Freien Tag?“ „Nun ja, jede Hausangestellte hat doch ihren freien Tag, nicht

wahr? Das ist doch sicher der Mittwoch nachmittag? Das ist ja so üblich. Dann können wir gleich fest vereinbaren, daß ich sie am Mittwoch um zwei Uhr abhole. Sie kann bei mir zu Mittag essen, und ich schick sie dann zur rechten Zeit wieder nach Haus!“

Tante Agate öffnete den Mund, um zu antworten. Aber da fielen ihre Augen auf das große Paket auf dem Ladentisch, und ehe sie noch etwas sagen konnte, hatte Inge ihr zum Abschied freundlich zugenickt: „Das ist also abgemacht, Frau Jespersen. Mittwoch um zwei Uhr. Sie müssen das Ingridchen grüßen, ich will sie nicht bei ihrer Arbeit stören.“

Inges freundliches Lächeln verschwand, sowie sie die Tür hinter sich zugemacht hatte.

Und da sie niemand anderes hatte, mit dem sie reden konnte, sprach sie mit Dixi: „Hast du je in deinem Leben schon eine so alte Geizliese gesehen, Dixi? Und unsere liebe Ingrid ist so blaß geworden und hat große, bange Augen bekommen. Was können wir bloß für sie tun, Dixi?“

Dixi horchte auf und wedelte mit dem Schwanz und starrte sein Frauchen anbetend an.

„Wir müssen uns bis Mittwoch gedulden, Dixi. Aber dann werden wir schon die ganze Wahrheit aus unserem kleinen Reiseandenken herauskriegen! War doch gelacht, wenn wir das nicht schafften!“

Es folgten ein paar regnerische Tage. Aber am Mittwoch morgen strahlte die Sonne schöner als je zuvor. Bald würde der Frühling vorbei sein – der Sommer war im Anmarsch. Der Flieder blühte in dem warmen Sonnenschein auf. Die vielen Parks von Kopenhagen standen in schimmerndem, schwellendem Grün.

In Tante Agates Wohnung war die Hitze unerträglich. Ingrid lief mit schmerzendem Kopf und einem schweren Schnupfen herum.

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Pünktlich um zwei Uhr stellte sich Inge ein. Ingrid schnaubte sich wohl zum dreißigstenmal an diesem Tag die Nase, strich das Haar glatt, nahm die Schürze ab und ging von dannen.

„Kind, du bist ja schrecklich erkältet!“ „Ja, ja – aber es wird schon vorübergehen!“ „Wo hast du dir das denn geholt? Hast du nasse Füße

bekommen?“ „Ja, ich bin gestern naß geworden. Ich hatte so viel einzuholen.“ „Laß mal deine Schuhe sehen! Aber mein gutes Kind, hast du es

deiner Tante nicht gesagt, daß du quer über der Sohle ein Loch hast?“

„Sie – sie findet immer alles zu teuer. Sie würde bloß schimpfen, wenn…“

„Jetzt hör mal zu, Ingrid. Es gibt wichtigere Dinge zu erledigen, als in den Zoo zu gehen. Wir müssen zunächst über alles reden. Jetzt fahren wir zu mir nach Haus. Dixi wird froh sein, daß er nicht den ganzen Nachmittag allein daheim hocken muß. Und dann müssen wir mal sehen, was da zu machen ist.“

Ingrid fühlte sich mit einemmal sehr erleichtert. Es war so schön, wenn Inge für sie dachte und handelte. Und es war ganz unwahrscheinlich schön, wieder im Atelier zu sein, das Summen des Teekessels zu hören und den Duft von Wecken und Marmelade zu schnuppern.

Inge suchte Chinintabletten heraus, von denen sie behauptete, daß sie gegen Erkältung Wunder wirkten. Sie gab Ingrid ein großes weißes Taschentuch, das sich ebensogut zum Weinen wie zum Naseschnauben eignete.

Für beides sollte es denn auch Verwendung finden. Inge ruhte nicht eher, als bis sie alles erfahren hatte, jedes kleinste bißchen über Ingrids Dasein. Von der düsteren, dumpfen Wohnung, von der Tante, die nur einen einzigen Gedanken kannte: sparen, sparen, sparen – von dem schrecklich trostlosen und ereignislosen Leben. Dabei hatte Tante Agate so nett geschrieben, wie angenehm es für Ingrid sein könnte, ein Jahr in Kopenhagen zu verleben. Aber war sie denn in Kopenhagen? Ebenso hätte ein Gefangener, der in einem Schloßverließ eingesperrt war, behaupten können, er wohne in einem Schloß…

„Inge – ich habe eine große Bitte. Darf ich mal bei dir baden?“ „Aber Kind, natürlich! Bade, soviel du willst. Soll ich dir nicht

helfen und dein Haar waschen?“

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„O Inge – wenn du das tun wolltest?“ „So, so, deine liebe Tante findet also, Waschen wäre ein Luxus?“

fragte Inge, während sie Ingrids dicke, goldene Mähne mit ihrem allerbesten Shampoo einrieb.

„Nein, aber sie sagt immer, ich müßte mit dem heißen Wasser sparen. Und wir haben ja kein Badezimmer. Da muß ich mich dann in der Küche waschen. Ich habe immer Angst, daß die Tante reinkommt und sieht, wieviel heißes Wasser ich verbrauche…“

In Inges Bademantel gewickelt saß Ingrid auf der Couch, hielt Dixi auf dem Schoß, und erzählte. Sie fühlte sich sauber und frisch und warm; die Tablette hatte geholfen, das Kopfweh war weg. Sie kam sich vor wie ein neuer Mensch, während sie dasaß und wartete, daß ihre Haarmähne trocknen sollte.

Inge betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. Ingrid lachte. „Ich weiß, was du willst! Zeichne nur los!“ „Aha, so gut kennst du mich also schon?“ „Ich weiß genau, was los ist, wenn du so ein Gesicht machst!

Dann juckt’s dir in den Fingern nach dem Bleistift!“ „Aber du weißt nicht, was ich jetzt zeichnen will.“ „Mich.“ „Ja, dich. Du kennst doch die kleine Seejungfrau? Paß mal gut

auf. – Du verstehst mich immer, wenn ich zeichnen will. Sieh mal – stell dir doch die kleine Seejungfrau vor – gerade in diesem Augenblick…“

Inge holte ein Buch aus dem Bord, schlug es auf, suchte ein bißchen und las vor: „Da sah sie, daß ihr Fischschwanz fort war, und daß sie die niedlichsten kleinen weißen Beine hatte, die nur ein Mädchen haben kann; aber sie war ganz nackt, deshalb hüllte sie sich in ihr dichtes langes Haar ein.“

Ingrid nickte. Sie ließ den Bademantel von den Schultern gleiten, sie legte die blanken, goldenen Haarwellen wie einen Mantel um sich. Dann saß sie, das Profil halb Inge zugewandt, und starrte mit einem stillen, verwunderten Blick auf ihre eigenen Füße, die sie ein wenig vorgestreckt hatte.

Inge flüsterte nur: „Bleib einen Augenblick so, Ingrid. Rühr dich nicht. Genau so…“

Inge zeichnete. Sie zeichnete wie eine Rasende, holte kaum Luft, redete keinen Ton. Ingrid saß still. Ihre Müdigkeit und auch die Erkältung waren wie weggeblasen. Sie fühlte, daß sie helfen konnte, ein Kunstwerk zu schaffen, und war glücklich, daß sie mit dabei sein

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durfte. Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als Inge den

Kohlestift weglegte. „So, kleine Seejungfrau. Für heute will ich dich nun nicht mehr

quälen. Jetzt darfst du dich anziehen – und dann müssen wir mal sehen, was wir als Honorar für dich haben – für’s Modellsitzen.“

Inge war in ihre Kleiderecke gegangen und kramte. „Hier, mein Kind. Sie sind allerdings eine Nummer zu groß für dich, aber daran ist nun nichts zu ändern.“

Es war ein Paar hübsche, feste Schuhe. Ingrid nahm sie zögernd entgegen. Sie stand blutübergossen da.

Eine unerträgliche Scham befiel sie, daß sie gezwungen war, Wohltaten anzunehmen. Daheim war es für Tante Margrete und Onkel Peter immer Ehrensache gewesen, ohne fremde Hilfe durchzukommen. Und jetzt sollte sie, Ingrid, die bei ihnen aufgewachsen und von ihnen erzogen war – jetzt sollte sie genötigt sein, Schuhe von… Nein, was waren das nur für Gedanken… von Fremden? Nein. Inge war keine Fremde. Keiner stand ihr so nahe wie Inge. Ingrid sagte sich, daß sie sich das Honorar verdient hatte. Sie wußte, daß sie ein gutes Modell war. Inge hatte es ihr so oft gesagt. Sie konnte ausgezeichnet stillsitzen, sie konnte sehr gut die Stellung beibehalten und auch den Ausdruck, der von ihr gefordert wurde.

Inge las ihre Gedanken. „Da kannst du mal sehen, wie wir dich ausnützen!“ lachte sie. „Deine Tante läßt dich alle Hausarbeit machen, ohne einen Öre zu bezahlen, und ich lasse dich als Modell arbeiten und speise dich mit einem Paar alter Schuhe ab!“

„Ach Inge – wie kannst du so etwas nur sagen? – Liebste Inge, ich müßte zehn Jahre hintereinander Modell sitzen, wenn ich alles zurückzahlen wollte, was du für mich getan hast. Übrigens macht es mir Spaß, Modell zu sitzen.“

„Das merke ich. Und du kannst dich darauf verlassen: ich werde dich künftighin tüchtig mißbrauchen!“

Die Stunden liefen viel zu schnell dahin. Inge machte Mittag. Es schmeckte unglaublich gut, weil man wieder an dem gemütlichen kleinen Tisch saß und Dixi unerlaubte Kosthäppchen in den Mund steckte.

Das hätte Tante Agate sehen müssen. Sie wäre vor Schreck in Ohnmacht gefallen und hätte gesagt, das gäbe Labskaus genug für zwei Personen am nächsten Tag, und es wäre eine Sünde und eine

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Schande, ein Tier mit so was Gutem zu füttern… „Wie geht’s mit dem Dänischen, Ingrid?“ fragte Inge, als sie mit

dem Essen fertig waren. „Oh, gar nicht so übel. Ich verstehe jetzt schon eine ganze

Menge. Ich muß ja.“ „Aber deine Tante spricht wohl deutsch?“ „Nicht so gut wie du. Und oft vergißt sie es auch und redet dann

dänisch mit mir.“ „Das ist eigentlich ganz gut. Desto mehr lernst du. Und da du ein

ganzes Jahr hierbleiben sollst, mußt du es ja lernen.“ Ein ganzes Jahr – Ingrid wagte nicht, sich das auszumalen. Ein

Jahr in der dunklen, trostlosen, staubigen Wohnung! Ein Jahr lang Tante Agate unaufhörlich über Teuerung und Sparsamkeit lamentieren zu hören. Ihr war es jetzt schon, als würde sie eines Tages daran ersticken, ebenso an den engen, finsteren Räumen wie an dem ewigen Gejammer.

„Du, Inge – kannst du begreifen, weshalb Tante Agate mich eigentlich nach Kopenhagen eingeladen hat?“

Inge verstand es nur zu gut. Tante Agate hatte ihrer Hausgehilfin gekündigt. Jetzt hatte sie ja eine kostenlose Hilfe, und obendrein noch eine, die ganz und gar von ihr abhängig war.

„Nein, ich weiß nicht“, antwortete sie nur. Ingrid setzte ihre eigenen Gedankengänge fort.

„Ich hatte mir vorgestellt – ich hatte geglaubt, ich dürfte hier in die Schule gehen. Aber…“

„Du bist doch mit der Volksschule fertig, nicht wahr?“ „Ja, das bin ich.“ „Was würdest du denn gern lernen, Ingrid? Was möchtest du

werden? Was für eine Ausbildung wünschst du dir?“ „Ich weiß nicht recht. Ich kann ja nichts Besonderes. Ich kann

nicht zeichnen wie du – nicht singen und nicht…“ „Ich frage nicht, was du nicht kannst. Ich frage, was du kannst.“ „Ich kann Geschirr aufwaschen.“ „Ja, und du hast Talent zum Kochen. Und du kannst mit kleinen

Kindern umgehen, nicht wahr?“ „Ja. Eigentlich würde ich furchtbar gern Kinderpflegerin werden.

Es müßte irgend etwas mit Kindern oder mit Tieren sein.“ „Vielleicht Tierpflegerin?“ „Tierpflegerin? Was ist das?“ „Weißt du das nicht? In den letzten Jahren hat man angefangen,

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Krankenschwestern für Tiere auszubilden.“ „Oh, das wäre sicher was für mich!“ „Ja, siehst du. Man muß erst ein Ziel haben, und dann muß man

sehen, wie man es erreicht. Nimm dieses Jahr in Kopenhagen ruhig mit. Eines ist auf alle Fälle sicher: du lernst bei deiner lieben Tante sparsam wirtschaften.“ Da mußte Ingrid lachen.

„Ja, ich kann bald Luftsuppe und Wasserklöße kochen“, lachte sie. „Und eines schönen Tages komme ich bei dir an und bitte um die angetrockneten Reste in Dixis Napf, um Suppe daraus zu kochen. Wenn man sich vorstellt, daß es zwei so verschiedene Menschen gibt wie dich und Tante Agate…“, fügte sie hinzu.

„Tja“, meinte Inge, „nun darfst du um Himmels willen nicht denken, Tante Agate sei typisch für Dänemark. Im Gegenteil, sie ist eine betrübliche Ausnahme. Und ich bin wohl auch so ‘n bißchen anders als andere Leute. Das behaupten wenigstens meine Freunde.“

„Das glaube ich nicht so ganz“, meinte Ingrid. „Ich finde, Herr Hall und seine Frau sind ähnlich wie du.“

„Meinst du? Ja, vielleicht. Ingrid, es wird mir sauer, aber ich muß dich jetzt nach Hause bringen. Wir dürfen Frau Jespersen nicht zu lange warten lassen, sonst darfst du am Ende nächsten Mittwoch nicht wieder weg. Und da wollen wir doch in den Zoo gehen!“

„Oh, wie ich mich freue! Es fällt einem gar nicht schwer, zu arbeiten, wenn man weiß, daß man sich auf einen freien Tag freuen darf.“

„Sag mal, Ingrid – offen und ehrlich: hast du überhaupt Geld?“ Die Röte stieg Ingrid in die Wangen. Inge berührte hier einen sehr wunden Punkt.

„Nein. Ich dachte ja, daß – daß Tante…“ „Schau – hier hast du zwanzig Kronen. Ja, mein Kind, ich

verstehe, es ist nicht schön für dich, aber du mußt mich auch verstehen. Der Gedanke, daß du nicht einmal Geld für eine Briefmarke hast, ist mir unerträglich. Also, sei schon lieb und nimm es an. – Du kannst übrigens diese Briefmarken haben, die sich in meiner Tasche herumtreiben – laß mal sehen – fünfzig – achtzig – eine Krone – einsvierzig – sieh mal an, das genügt für einen Deutschlandbrief!

Steck alles ein!“ Ingrid nahm die Scheine und die Briefmarken zögernd in

Empfang. Aber gleichzeitig fiel ihr ein, daß sie jetzt endlich den Brief an Tante Margrete und Onkel Peter abschicken konnte. Der lag

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schon eine ganze Woche in ihrer Tasche. Inge brachte sie nach Haus. Sie gingen zu Fuß durch den großen

Park und durch breite, schöne Straßen. Dixi hüpfte und sprang neben ihnen her, verrückt vor Lebenslust und vor Glück, beide Freundinnen neben sich zu haben.

Dann wurden die Straßen schmäler, die Häuser grauer, die Luft war dumpfer – und nun stand Ingrid wieder vor der Haustür bei Tante Agate.

Aber sie fühlte sich trotzdem wohler. Sie hatte gebadet und hatte neue Schuhe an; sie hatte gut zu Mittag gegessen und zwanzig Kronen in der Tasche. Modell gesessen hatte sie auch, und am nächsten Mittwoch sollte sie wieder mit Inge zusammen sein.

Vielleicht hielt sie doch durch – dies eine Jahr…

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Rebellion und Herzeleid

„Was habt ihr gestern gemacht?“ fragte Tante Agate am nächsten Morgen beim Kaffee.

Ingrid hatte neuen Mut und wollte nicht lügen. „Ich habe gebadet und mein Haar gewaschen, und eine Tablette

gegen Erkältung hat mir Fräulein Skovsgaard auch gegeben. Ich hatte ja solch fürchterlichen Schnupfen.“

„Ich möchte wirklich mal wissen, wie du das machst, in dieser Hitze Schnupfen zu kriegen.“

„Ich hatte nasse Füße bekommen. Meine Schuhe waren kaputt.“ „Warum hast du nichts davon gesagt?“ Ingrid sah der Tante offen

ins Gesicht. „Ich hatte Angst, du würdest neue Sohlen zu teuer finden.“ „Bist du unverschämt?“ „Nein, Tante. Ich habe nicht die Absicht, unverschämt zu sein.

Ich antworte nur auf das, was du mich fragst.“ „Was machst du sonst so bei Fräulein Skovsgaard?“ „Wir unterhalten uns, und sie bringt mir Dänisch bei.“ „Wovon redet ihr?“ „Gestern haben wir davon geredet, was ich werden will, wenn ich

groß bin.“ „Was geht sie das eigentlich an?“ „Sehr viel. Noch nie hat mir jemand so viel Gutes getan wie Inge

Skovsgaard.“ Ingrids Stimme klang klar und fest. „Aha! Weil sie dich vierzehn Tage als Haushaltshilfe ohne Lohn

bei sich gehabt hat? Weil sie dich eigenmächtig vom Zug entführt hat?“

„Was hätte ich an dem Abend denn machen sollen?“ „Du hättest in ein Hospiz für junge Mädchen gehen können. Oder

zur Polizei.“ „In einer Stadt, wo ich die Sprache nicht kann? Ich bin heilfroh,

daß ich zu Inge Skovsgaard gekommen bin, und ich bin überhaupt nicht ihre Hausangestellte gewesen. Was ich dort zu tun hatte, habe ich mit Freude getan, und sie hat mir dafür gedankt und es mir viele Male vergolten. Und gestern habe ich ein Paar wunderhübsche Schuhe von ihr geschenkt bekommen…“

„Aha! Mein Pflegekind soll also mit ihren abgelegten Schuhen

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rumlaufen?“ Jetzt war Ingrid wütend, ehrlich wütend. Und sie wog ihre Worte

nicht ab, sie redete frei heraus aus einem empörten Herzen. „Ja, wenn ich schon mit abgelegten Sachen gehen muß, dann gibt

es niemand, von dem ich sie lieber erben möchte. Und es ist immer noch besser, in Inges abgelegten Schuhen zu laufen als in meinen eigenen kaputten. Inge ist der feinste und beste Mensch, den ich kenne. Sie fragt mich nicht aus, was andere Leute reden, und sie liest nicht die Briefe von anderen, und sie…“

Weiter kam Ingrid nicht. Auf ihrer linken Backe knallte eine schallende Ohrfeige.

„Jetzt langt’s mir aber! Hier füttere ich dich durch und geb dir ein Dach übern Kopf und zahlte dir die teure Reise, und du lohnst es mir mit Unverschämtheiten.“

Ingrid war außer sich vor Wut. Die Tränen strömten ihr über die Backen. Nicht wegen des Schmerzes – obwohl die Backe brannte und glühte – sondern aus Scham, aus dem Gefühl der Ohnmacht und einer schreienden Ungerechtigkeit heraus…

Und sie redete, sie schluchzte die Worte in sinnloser Verzweiflung hervor, ohne Hemmungen, ohne Furcht vor den Folgen: „Ich habe nicht drum gebeten, herkommen zu dürfen. Du hättest dir die teure Reise sparen können. Ich hätte ja bleiben können, wo ich war; dort sind sie gut zu mir gewesen.“

„Ja, natürlich, du hättest bei dem Kleinbauern bleiben können, nicht wahr? Ich denke, die haben genügend Mäuler satt zu machen und werden froh sein, daß sich wer anders um dich kümmert.“

Ingrid war weiß im Gesicht, so zornig war sie. Aber sie war auch klein, jung und verzweifelt hilflos gegen alle diese Niedertracht. Und wenn die Tante sie auch völlig zuschanden schlagen würde, sie mußte sich dagegen auflehnen, daß über Tante Margrete und Onkel Peter häßlich geredet wurde.

„Die waren alles andere als froh. Sie sind immer wie Eltern zu mir gewesen. Ich habe Sehnsucht nach ihnen – ich habe täglich Sehnsucht nach ihnen. Und ich habe den Brief absichtlich mit gotischen Buchstaben geschrieben, damit du nicht lesen solltest, was ich über diese garstige, stickige Wohnung erzählt habe und daß ich nicht mal genug Wasser kriege um mich zu waschen, und daß…“

Tante Agate erhob sich. Erst in diesem Augenblick erkannte Ingrid, wie groß und breit und furchteinflößend sie doch war.

Und plötzlich befiel Ingrid eine zitternde Angst. Es wurde ihr mit

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einemmal klar, wie klein sie war, wie allein, wie fürchterlich allein und hilflos vor dieser Frau, die nicht begriff – die nichts von Kindern ahnte, vor diesem alten Menschen, der nichts anderes im Kopf hatte als Geschäft und Geld und Sparen.

Ingrid hätte am liebsten die Flucht ergriffen, aber sie war wie gelähmt, stand zitternd und voll Furcht vor Tante Agate, voll Furcht und gleichzeitig gedemütigt, mit ihrer rotglühenden Wange.

Ach, wenn Tante Agate bloß gehen wollte. Wenn sie bloß nichts sagte. – Ach, gab es denn keine Menschenseele, die ihr helfen konnte, niemand, der…

Doch. Einer war da, der eingreifen konnte. Denn in diesem Augenblick ging die Ladenklingel. In diesem Augenblick kam ein Kunde ins Geschäft.

Und die Kunden gingen allem anderen vor. Tante Agate ging hinüber in den Laden. Gleich darauf schellte

die Glocke von neuem. Und noch einmal – und noch einmal. Ingrid wusch sich das verquollene Gesicht. Dann strich sie sich

das Haar glatt, zog die neuen Schuhe an, zerrte die Schürze herunter und verließ das Haus.

Im Park fand sie unter einer großen Trauerweide eine stille Bank. Hier ließ sie sich nieder. Sie war seltsam ruhig, ganz kalt in ihrem Innern. Irgendwie leer. Alles, was sie gepeinigt und in ihr genagt hatte, das hatte sie ausgespuckt; es tat wohl, jetzt alles los zu sein.

Ihr erster Gedanke war, zu Inge zu fahren. Aber als sie ein Weilchen hier unter der Weide gesessen hatte, verwarf sie den Plan wieder. Der ganze Auftritt mit der Tante war so abscheulich, so häßlich gewesen – nein, davon wollte sie Inge nichts erzählen.

Nein. Inge durfte nichts erfahren. Aber was sollte sie tun? Sie starrte vor sich hin. Die Empörung in ihrem Innern legte sich,

und eine große Gleichgültigkeit überkam sie. Sie mußte wohl zurück. Aber dann wollte sie durch den Ladeneingang gehen. Im Laden konnte ihr nichts geschehen. Es konnten ja jeden Augenblick Kunden kommen.

Sie blickte auf die Uhr an der Kirche. Fast zwei Stunden hatte sie hier gesessen. Sie stand auf und ging langsam durch die sonnenheißen Straßen zurück.

Im Laden war es fast kühl. Es waren gerade keine Kunden da. „Wo bist du gewesen?“ „Im Park.“ „Hm. Es ist jemand hiergewesen und hat nach dir gefragt.“

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„Fräulein Skovsgaard?“ „Nein. Eine Frau Hall. Sie wollte dich einladen. Ihre Tochter hat

am nächsten Samstag Geburtstag.“ „Lise?“ „Wie sie heißt, weiß ich nicht.“ „Ja – darf ich hingehen?“ „Gott behüte – natürlich. Ich werd dich doch nicht wie ‘ne

Sklavin festhalten! Du mußt jetzt einholen gehen. Hier…“ Tante Agate holte etwas Geld aus der Schublade, „du kannst heute Karbonaden kaufen. Und ein paar Erdbeeren. Sie kosten jetzt nicht alle Welt, soviel ich weiß.“ Ingrid mußte plötzlich hüsteln, um ihr Erstaunen zu verbergen. Alles hatte sie erwartet, nur dies nicht. Es kostete sie eine unglaubliche Anstrengung, nur „jawohl, Tante“ zu sagen.

„Und – äh – hast du überhaupt ein anständiges Kleid, wenn du zu dem Geburtstag gehen willst?“

„Ich hab das blaukarierte.“ „Nichts weiter?“ „Nein.“ „Drüben an der Ecke bei Mortensen & Co. ist Ausverkauf. Die

haben billige Kleider vom vorigen Jahr. Ich kann nicht mitkommen wegen des Ladens. Aber du kannst hingehen und dir ansehen, was sie haben, und dann kannst du mir sagen, wieviel man für ein passendes Kleid ausgeben muß.“

Jetzt mußte sich Ingrid eiligst in die Küche verziehen, um sich hinzusetzen und in den Arm zu kneifen.

Sie hätte kaum erschrockener sein können, wenn die Tante ihr gesagt hätte, sie solle zu dem Goldschmied gehen und sich einen Diamantring kaufen.

Am selben Abend noch war Ingrid zu ihrer eigenen, größten Verwunderung im Besitz eines kleingeblümten Sommerkleides mit Glockenrock und kleinen Puffärmeln. Es hatte im Fenster gehangen und war ein wenig angeschmutzt. Deshalb wurde es für vierzig Kronen losgeschlagen.

Beim Mittagessen war Tante Agate beinahe leutselig. Sie sagte, die Karbonaden seien gut gebraten, und als sie die Tageskasse durchgezählt hatte, reichte sie Ingrid einen Zehnkronenschein.

„Hier. Du wirst ein bißchen Taschengeld brauchen. Ich kann dir zehn Kronen die Woche geben, dann hast du ‘n bißchen für die Straßenbahn und so was.“

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Die kleine Ingrid war nicht dumm. Aber sie war jung und unerfahren und konnte nicht bis auf den Grund von Tante Agates Seele loten. Sie verstand wohl, daß Tante Agate versuchte, etwas wiedergutzumachen. Doch den Anlaß dazu wußte sie nicht.

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Wiedersehen mit alten Bekannten Eine aufgeregte und erwartungsvolle Ingrid ging am Sonntag zur Geburtstagsgesellschaft von Lise Hall. Das Kleid war gewaschen und gebügelt worden; kein Mensch konnte sehen, daß es zu halbem Preis im Ausverkauf erstanden war. Ihr Haar schimmerte blank vom vielen Bürsten; an den Füßen trug sie Inges hübsche Schuhe.

Sie fuhr mit der Straßenbahn zu Inge, und dann stiegen sie zusammen – Dixi an der Leine – in die S-Bahn.

Ingrid sollte einen wundervollen Nachmittag erleben. Der lange Kaffeetisch war im Garten unter einer Blutbuche

gedeckt worden. Zehn Mädchen in Ingrids und Lises Alter – zwischen vierzehn und fünfzehn – saßen daran. Einige versuchten mit Ingrid deutsch zu sprechen und hatten ihren Spaß an Ingrids Dänisch. Nicht eine Sekunde fühlte Ingrid sich beiseite geschoben. Sie war eine der Fröhlichsten, als nach Tisch auf dem großen Rasenplatz gespielt wurde. Im Vorüberlaufen winkte sie Inge zu, die in einem Gartensessel saß und zeichnete, daß der Stift nur so flog. Für sie, die am liebsten Kinder zeichnete, war es eine Lust, diese zehn hellgekleideten, lebhaften Mädels vor sich spielen zu sehen.

Ingrid ahnte nicht, wie es zu dieser Einladung gekommen war. Sie wußte nicht, daß Inge gerade an dem Tag, als sie auf der Treppe gesessen und vergebens gewartet hatte, bei Halls gewesen war. Sie wußte nicht, daß sie alle bis in den tiefen Abend hinein gesessen und geredet hatten von ihr, von Inges kleinem Reiseandenken. Daß Inge sich ihre Sorge um das Mädel von der Seele geredet hatte, die Sorge um das Kind, das einer unsympathischen und geizigen alten Frau ausgeliefert war. Sie wußte nicht, was Inge, Frau Hall und Lise zusammen für Pläne geschmiedet hatten.

Die Geburtstagsgesellschaft war die erste Stufe in diesen Plänen. Man wollte dem kleinen fremden verwaisten Vogel ein wenig Sonnenschein und Freude verschaffen, ein wenig Glück in ihren grauen Alltag einschmuggeln.

Sie war munter, fröhlich und gesprächig, als sie endlich in die Stadt zurückfuhr. Und Inge stellte freudig fest, daß in ihre dünnen Bäckchen etwas Farbe gekommen war und ein neuer Glanz in ihre Augen.

Aber zu Hause wartete das graue Einerlei. Der furchtbare Morgen, an dem Tante Agate sie geohrfeigt hatte,

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wurde nicht mit einem Wort mehr erwähnt. Sie hatte auch Inge nichts davon erzählt. Inge hatte sich über das neue Kleid gefreut und war zufrieden, daß sie jetzt wöchentlich Taschengeld bekam. Was dem aber vorausgegangen war, erfuhr sie nicht.

Die Tage gingen dahin, einer wie der andere. Tante Agate schimpfte nicht mehr so viel; freundlich war sie deshalb aber noch lange nicht. Sie brütete über ihrer Geldkassette und versah ihren Laden. Ingrid besorgte das Hauswesen und holte ein. Sie hatte eine gewaltige Übung darin bekommen, bei den Besorgungen die billigsten Waren aufzustöbern; damit beugte sie allem Krach und der ewigen Schimpferei vor.

In diesem grauen Alltag glänzte der Mittwoch wie ein Stern. Punkt zwei Uhr ging die Ladentür auf, Mittwoch für Mittwoch. Da stand Inge mit Dixi, sagte höflich „Guten Tag, Frau Jespersen“, kaufte ihre Zigaretten und sagte dann, sie käme, um Ingrid zu holen. Ingrid stand schon immer in ihrem kleingeblümten Kleid fertig angezogen bereit und ging glücklich mit Inge und Dixi fort.

Der Nachmittag im Zoo war so schön, daß sie lange davon zehrte.

Wohl hatte sie von zoologischen Gärten gehört, aber daß sie so aussehen könnten, hätte sie sich nie träumen lassen. Dies war ja ein riesengroßer Park mit Bäumen und Blumen und breiten Wegen – mit viel Luft und Licht; nicht nur einfach Reihen von Käfigen mit Tieren darin, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Von dem wunderbaren Vogelhaus, in dem kleine Papageien in allen Regenbogenfarben plapperten und schnalzten und ein winzig-winzigkleiner Kolibri den langen, dünnen Schnabel in einen langen Glasbehälter voll Honig steckte, konnte sie sich fast nicht losreißen. Sie geriet außer sich vor Wonne über zwei kleine Pumajunge, und als sie vor den besonders schönen Okapis und den beiden kleinen blauen Duckerantilopen stand, flüsterte sie beinahe vor Bewunderung. Oh, es gab hier unendlich viel zu sehen für jemand, der Tiere gern hatte!

Dann blieb sie still und andächtig vor einem kleinen Zwergesel stehen.

„Nun?“ sagte Inge. „Was bekomme ich, wenn ich deine Gedanken errate?“

„Nichts“, sagte Ingrid, „denn ich weiß ja, daß du sie kennst. Sieh nur den kleinen Kerl, Inge. Nun komme mir einer und sage, deine Eselzeichnung sei nicht gut…“

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Das Tier ging ganz dicht ans Gitter, und Ingrid streichelte sein weiches Maul. „Denk doch nur, wenn ich wirklich Tierpflegerin werden könnte…“, sagte sie leise.

„Warum nicht?“ meinte Inge. „Warum solltest du es nicht werden können?“

Ingrid lächelte. „So sagst du immer, Inge“, meinte sie, „wenn etwas gut und

angenehm und lustig ist, sagst du immer: warum nicht? Für dich ist es selbstverständlich, daß das Gute und Angenehme in Erfüllung geht.“

„Ja, das stimmt“, lächelte Inge. „Es ist schon immer mein Leitfaden gewesen, und bisher bin ich damit auch gut gefahren. Jetzt müssen wir aber weiter, ich will dir noch etwas ganz Besonderes zeigen.“

Sie zog Ingrid mit sich zu einem großen viereckigen grauen Haus. Hier drin war es kühl und leer, nur große leere Käfige standen da. Nein – halt – nicht alle waren leer. In einem riesengroßen Käfig bewegte sich hinter Glaswänden der größte Affe, den Ingrid sich überhaupt vorstellen konnte.

„Das ist ein Gorilla“, erklärte Inge. „Er sieht von hier aus gutmütig aus, und er ist es sicher auch, aber ich wünsche dir nicht, daß du dem mal im Urwald begegnest.“

Inge begrüßte den uniformierten Wärter. Ingrid hatte allmählich so viel Dänisch gelernt, daß sie folgen konnte, wenn gesprochen wurde.

„Dies ist die kleine Wohltäterin aus Flensburg“, sagte Inge. „Sie opferte damals ihren Pfleglingen ihren ganzen Proviant.“

„Ah, sieh mal an“, lächelte der Wärter. „Ja, die kleinen Affen wohnen noch immer für sich allein, wir haben sie bis jetzt nicht mit den anderen zusammentun wollen. Willst du ihnen guten Tag sagen?“ wandte er sich an Ingrid. „Furchtbar gern…“

Sie folgten dem Wärter, den Inge gut kannte. Im Jahr vorher war sie täglich in den Zoo gegangen und hatte Tiere gezeichnet. Damals hatte sie sich mit allen Tierpflegern angefreundet. Diesen Wärter hatte sie zufällig auf der Straße getroffen und ihm die Geschichte mit den Apfelsinen in Flensburg erzählt.

Am hinteren Ende des Hauses lag ein kleinerer Käfig. Er war ebenfalls leer. Eine offene Luke führte in den Außenkäfig. Der Wärter blieb stehen, gab leise Locktöne von sich und rief ein paar Worte. Da kamen im Nu sechs Äffchen in den Käfig gerannt und

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drängelten sich am Gitter. Der Wärter öffnete mit einem großen Schlüssel die Tür im Gitter

und griff sich den kleinsten von den Affen. „Der hier ist am gutmütigsten“, sagte er, „willst du ihn mal

halten?“ Er reichte Ingrid das kleine braune Tier hin. Sie nahm es fast andächtig zwischen ihre Hände. Furcht irgendwelchen Tieren gegenüber kannte sie nicht. Sie meinte es ja nur gut mit ihnen. Der Gedanke an Furcht kam ihr gar nicht.

Das kleine Geschöpf kroch auf ihre Schulter hinauf und untersuchte gründlich ihr Haar. Dann schaute es ihr in die Ohrmuscheln und in den Kleidausschnitt. Ingrid mußte so sehr lachen, daß sie den Schluckauf bekam. So etwas Lustiges hatte sie noch nie erlebt.

Zuletzt legte der Affe seine Arme um ihren Hals wie ein kleines Kind, das um Zärtlichkeit bettelt. Ingrid strich ihm über den Kopf, wieder und wieder, und kraulte ihn hinter dem Ohr. Da brummelte und quietschte das Tierchen vor Dankbarkeit.

Schließlich wurde es wieder in den Käfig zurückgetan. Inge holte ein paar Apfelsinen aus ihrer Tasche, und nun standen sie wieder nebeneinander und fütterten Affen, sogar dieselben Affen!

Der Wärter drückte ein Auge zu. Sonst war ja das Füttern verboten, aber dies war ja sozusagen ein „Sonderfall“.

Sie warfen sich einen Blick zu und lächelten, die große und die kleine Ingrid. Sie dachten das gleiche. Wie viel war in diesen Wochen geschehen – und wie glücklich waren sie, daß sie einander gefunden hatten!

Sie sagten nichts. Sie kannten sich so gut, daß Worte überflüssig waren.

Als aber die gierigen kleinen Geschöpfe die letzten Apfelsinenstückchen verzehrt hatten, reichte die kleine Ingrid unwillkürlich der großen Ingrid die Hand. Diese ergriff sie. „Liebe kleine Kameradin“, sagte sie.

Sie aßen im Zoo-Restaurant zu Mittag. „Ist es nicht seltsam und traurig“, sagte Ingrid nachdenklich, „ich

hab nie etwas so Lustiges wie dies mit dem Äffchen erlebt, das mit mir geschmust hat – und ich glaube beinahe, es hat mich wiedererkannt. Wenn ich aber heute abend nach Hause komme, kann ich Tante Agate nichts davon erzählen.“

„Warum nicht?“ „Weil sie kein bißchen verstehen würde. Sie würde nur sagen, es

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hätte mein Kleid beschmutzt – das stimmt auch, sieh bloß, die vielen Flecke! – und dann würde sie sagen, es wäre blödsinnig, Affen mit teuren Apfelsinen zu füttern, und würde ausrechnen, wieviel Kronen du für die Apfelsinen ausgegeben hast…“

Sie schwiegen ein Weilchen. Dann sagte Inge: „Weißt du, Ingrid – es gibt keinen Menschen, der mir so leid tut wie deine Tante Agate.“

„Tut dir die Olle…“ „Pscht, nicht so sprechen, Ingrid. Ja, sie tut mir leid. Kannst du

dir etwas Schlimmeres vorstellen, als geizig zu sein? Das ist nämlich eine Krankheit, mußt du wissen, diese Liebe zum Geld um des Geldes willen. Oh, es ist grausig, daß sie nicht versteht, wozu das Geld da ist. Es ist ein Tauschmittel, nichts weiter, ein Mittel, sich selbst und anderen Freuden zu bereiten, ein Mittel, das Leben hell und gut zu gestalten, ein Mittel, anderen zu helfen, hübsche Sachen zu kaufen, sich mit Schönheit zu umgeben. Geld an sich hat keinen Wert. Nur des vielen Guten wegen, das man dafür bekommt, darum lohnt sich der Besitz von Geld.“

Ingrid hörte zu. Sie nickte. „Alles, was du da sagst, weiß ich natürlich, aber ich hab es mir

nie selber klarmachen können. Natürlich ist es so! Wenn du wüßtest, wie – wie garstig Tante Agate aussieht, wenn sie dasitzt und ihre Kasse nachzählt. Sie ist taub und blind gegen alles übrige, und trotzdem – trotzdem…“

Sie hielt inne, und eine Röte huschte über ihr Gesicht. Es war so schwer, sich richtig auszudrücken.

„Was wolltest du sagen?“ fragte Inge. Ihr Gesicht war Ingrid zugewandt, aufmerksam zuhörend.

„Wenn ich ausspreche, was ich denke, dann fürchte ich, du wirst wütend.“

Inge blinzelte, wie immer, wenn sie sich scharf auf etwas konzentrierte.

„Nein, ich werde nicht wütend. Ich weiß vermutlich, was du sagen wolltest. Du wolltest sagen: Wenn Frau Jespersen so über ihrem geliebten Geld sitzt, dann erinnert sie dich an mich, wenn ich wie eine Wahnsinnige zeichne, nicht wahr?“

„Wie kannst du wissen, daß ich das gedacht habe?“ „Weil ich dich kenne, und weil ich weiß, wie scharf du

beobachtest. Vielleicht kannst du nicht selber erklären, wie du auf diesen Gedanken kommst – aber ich kann das.“

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„Ist das wahr? Du siehst so hübsch aus, wenn du dich mit irgend etwas sehr beschäftigst, und Tante ist so garstig, und trotzdem…“

„Siehst du – die Ähnlichkeit beruht darauf, daß wir beide voll und ganz von dem gefesselt sind, was wir in der Welt am liebsten haben. Ich liebe am meisten schöne Farben und gute Kunst. Darum sehe ich hübsch aus, wie du es nennst. Frau Jespersen aber liebt das Geld – das unfruchtbare, harte Geld. Du kannst nicht erwarten, daß diese Liebe sie verschönen sollte. Es ist viel wert, wenn man sich einer Sache völlig hingeben kann. Du hast es eben erst selbst getan, als du mit dem kleinen Affchen spieltest. Du tust es, wenn du mit Dixi plauderst. Die Beschäftigung mit Tieren, mit allem Lebendigen überhaupt, bringt den hübschen Ausdruck bei dir hervor. Du mußt also verstehen, daß wir froh sein müssen, wir beide – nicht stolz und prahlend, sondern demütig dankbar, daß der liebe Gott so gut gegen uns gewesen ist. Dir hat er die Liebe zu allem Lebenden geschenkt, und mir die Liebe zu den Farben, zum Licht, zur Kunst. Tante Agate ist wie ein Stiefkind auf Erden, weil sie nur die Liebe zum Geld mitbekommen hat. Begreifst du jetzt, warum sie mir leid tut?“

Ingrid lauschte – lauschte mit großen, dunklen Augen und halbgeöffnetem Mund. Nie hatte sie über das nachgedacht, was Inge sagte – nie, bis zu diesem Augenblick. Aber Inge hatte recht: Und wie hatte sie recht. Man denke bloß, wie gräßlich es sein mußte, nie einen Spaß zu haben, sich nie an etwas zu freuen, weil man immer nur daran dachte, wieviel es gekostet hatte!

Arme, alte verdrießliche, geizige Tante Agate! Als Ingrid an diesem Abend nach Hause kam, ganz erfüllt von

dem schönen Nachmittag, war ihre Bitterkeit gegen Tante Agate wie weggeweht.

Ein großes, staunendes Mitleid erfüllte sie mit diesem Menschen, der sich selber von allem ausschloß, was gut und hell und schön auf der Welt ist!

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Sonnentage am Meer „Ich gebe nicht nach!“ sagte Inge. Ihre Stimme klang fest und entschlossen.

„Aber wie willst du es schaffen?“ fragte Frau Hall zweifelnd. „Ich weiß noch nicht. Aber eines steht fest, das Kind soll nicht

den ganzen Sommer über in dem tabakstinkenden Loch von Wohnung zubringen, über Aufwaschschüsseln und Scheuereimer gebeugt.“

„Du, Inge“, sagte Lise langsam, „Ingrid ist ja ein prima Mädchen. Aber sie ist doch sehr still. Und – ich meine – was hat sie an sich, daß du sie so sehr gern hast? Sie hat doch gar keine besondere Begabung – sie ist nicht die Spur aufregend…“

„Mein junges Fräulein“, sagte Inge, „wenn du glaubst, daß es die großen Begabungen oder die aufregenden Menschen sind, die einem am liebsten sind, dann irrst du dich. Die kleine Ingrid besitzt zwei Eigenschaften, die ich außerordentlich hoch schätze: Sie ist gut, freundlich und sanft und immer guter Laune. Man weiß stets, wie man mit ihr dran ist. Sie ist nicht launisch, sie ist schlicht, ruhig und zufrieden. Und dann ist sie fleißig. Sie macht alle Arbeit, die sie schaffen kann, und sie macht sie gut. Du hättest sehen sollen, wie einfach und selbstverständlich sie bei mir Zugriff. Still und zufrieden ging sie herum, tat das Nötige, und sie kann eine ganze Menge mit ihren fünfzehn Jahren. Der stetige Fleiß und ihre Anspruchslosigkeit können ihr eine ruhige Sicherheit hier im Leben geben, die von den großen Begabungen vielleicht nie erreicht wird! Kannst du mich verstehen?“

„O ja“, meinte Lise, „es klingt ganz einfach und einleuchtend.“ „Es handelt sich ja auch um ein einfaches und höchst

sympathisches kleines Menschenkind“, fügte Inge hinzu. „Und im übrigen gibt es noch zwei Dinge, die mich stark an dieses Kind binden. Erstens verdanke ich es ihr, daß meine Mutterinstinkte hell aufgelodert sind. Sie braucht mich – basta! Es ist ein wahres Glück, daß wir uns an jenem Tag auf dem Bahnhof kennenlernten. Ich wage es gar nicht, daran zu denken, wie es ihr sonst ergangen wäre. Ohne Geld und ohne die Sprache zu verstehen und die Stadt zu kennen. Und zweitens: Sie ist das beste Modell, das ich je gehabt habe. Ich habe drei große Bilder in Arbeit: Das ,Mädchen mit dem Pudel’, ,Ingrid vor dem Nähkorb’ und ,Die kleine Seejungfrau’. Euch,

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meinen guten Freunden, kann ich es ja ruhig sagen: Ich habe noch nie so große Hoffnungen auf meine Arbeit gesetzt wie jetzt auf diese drei Bilder. Ich will sie zur Herbstausstellung einschicken, so wahr ich Ingrid Skovsgaard heiße. Und dann werden wir mal sehen.“

„Also müssen wir die Sache mit den Sommerferien zurechtkriegen“, meinte Frau Hall. „Du mußt diese Bilder fertig machen können, und dazu brauchst du dein Modell um dich.“

„Auch das“, gab Inge zu. „Aber am allerwichtigsten ist es, daß das Kind in die Sonne und in die frische Luft kommt. Es ist so lieb von euch, daß ihr uns beide einladen wollt.“

„Das wäre sonst auch noch schöner!“ sagte Frau Hall. „Daß du mitkommst wie jeden Sommer, versteht sich von selbst, und ebenso selbstverständlich ist es, daß wir die kleine Ingrid mitnehmen. Du mußt nur aufpassen, Inge, daß das Kind auch richtig faulenzt. Da wird nicht eine Tasse abgewaschen und nicht ein Stäubchen weggewischt. Das Mädel soll wirklich Ferien haben.“

„Einverstanden“, sagte Inge. „Also – morgen werde ich gegen den Drachen zu Felde ziehen.“

„Mit gezücktem Schwert?“ fragte Lise. „Ich glaube, mit einem Scheckbuch und einem gezückten

Kugelschreiber habe ich mehr Aussicht auf Erfolg“, erwiderte Inge trocken.

Am nächsten Tag erschien Inge bei Tante Agate im Laden, kaufte die üblichen Zigaretten und rückte dann mit dem heraus, was sie auf dem Herzen hatte. Sie wolle Ingrid gern für vierzehn Tage mit in die Sommerferien nehmen. Sie seien beide von Architekt Hall und seiner Frau in deren Ferienhaus am Sund eingeladen.

Tante Agate erhob wilden Protest, Inge hatte das auch nicht anders erwartet. Das sei eine ungehörige Einmischung. Alles habe seine Grenzen. Sie könne allein für ihr Pflegekind sorgen. Und wenn sie selbst sich keine Ferien gönne, so brauche Ingrid wohl auch keine zu machen. Sie könne im übrigen Ingrid auf keinen Fall vierzehn Tage entbehren.

Inge kochte vor Zorn, aber sie beherrschte sich. „Es ist wirklich schade, daß Sie diesen Standpunkt einnehmen, Frau Jespersen. Sie müssen doch einsehen, mir ist es sehr darum zu tun, daß ich Ingrid in diesen beiden Wochen um mich habe. Wie Sie wissen, bin ich Malerin und habe ein großes Bild mit Ingrid als Modell angefangen.“

„Das ist Ihre eigene Sache. Sie können nicht erwarten, daß ich Ihnen Ihr Modell umsonst liefere.“

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Jetzt haben wir dich gleich, dachte Inge, und unter Aufbietung all ihrer Selbstbeherrschung lächelte sie so zuvorkommend wie nur möglich.

„Aber, meine Beste, da haben Sie mich ganz mißverstanden! Ich will sie doch nicht umsonst haben. Natürlich bezahle ich für jede Stunde, die sie mir sitzt, das ist doch klar. Das Geld können Sie sogar auf Vorschuß bekommen, so daß Sie sich dann nach einer anderen Hilfe umsehen können für die Zeit, die Ingrid weg ist.“ Diese Worte wirkten wie eine Zauberformel. Zehn Minuten später war ein Scheck über den Ladentisch gewandert, und es war ausgemacht, daß Ingrid am kommenden Samstag abgeholt werden sollte, um vierzehn Tage mit der Familie Hall in die Ferien zu fahren.

„Meine Arme sind ganz grün und blau“, sagte Ingrid, „so sehr habe ich mich immerzu gekniffen, seit ich es erfahren habe. Du kannst ja zaubern, Inge! Ich kann es noch gar nicht fassen, daß ich verreisen soll! Oh, ich freue mich ja so! Ich weiß nicht, was ich für dich tun möchte – und für Frau Hall – und Lise und Merete und Herrn Hall und alle, alle miteinander. Du weißt nicht, wie sehr ich mich freue.“ Sie saßen im Zug, der sie aus der Stadt hinausführte, weg von dem sonnenheißen Asphalt und Staub, und vor allen Dingen: weg von Tante Agates finsterem Laden und der dumpfen, halbdunklen guten Stube.

Nach drei Tagen hatte Ingrid eine richtige braune Farbe. Sie hatte einen gewaltigen Appetit, und ihre mageren Bäckchen wurden rund. Die Augen bekamen einen neuen, lebhaften, glücklichen Ausdruck. Den ganzen Vormittag lag sie mit Inge, Lise und der kleinen Merete zusammen unten am Strand. Lag war allerdings zu viel gesagt. Sie badete, sie baute für Merete eine Burg, sie schwatzte mit Lise, und – sie saß für Inge Modell.

Stundenlang konnte sie dasitzen wie an jenem Tag oben im Atelier, still, verwundert lächelnd, ihre eigenen Füße betrachtend – in ihr schimmerndes Haar gehüllt. Es war so leicht – sie dachte einfach nur unablässig an die kleine Seejungfrau, und je mehr sie daran dachte, desto deutlicher empfand sie, was die Seejungfrau gefühlt haben mußte. Zuletzt war ihr, als habe sie das Ganze selber erlebt, als habe sie ihre eigene Stimme hergegeben, um eine menschliche Gestalt und menschliche Füße zu bekommen, ihr Blick wurde noch tiefer vor Staunen und Andacht. Sie spürte die leichte Brise von der See her an ihrem nackten Körper, sie hörte das

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Plätschern der Wellen – und schließlich kam es ihr vor, als wäre sie wirklich eine kleine Seejungfrau.

Inge arbeitete wie besessen. Nachmittags, nach dem Lunch – nach dem Frühstück, wie die Dänen sagen – malte sie an dem anderen Bild, an dem von Ingrid und Dixi. Dazu brauchte sie Stubenlicht, das konnte sie nicht an dem grellweißen Strand machen. Ingrid und Dixi aber waren immer geduldig und fanden das Ganze herrlich. Eines Tages war die Seejungfrau fertig. Das Ehepaar Hall stand lange vor dem Bild und betrachtete es.

„Nun, Inge“, meinte Herr Hall, „ich verstehe ja auch ein wenig vom Malen. Dies Bild ist das beste, das du je gemacht hast. Aber ich würde dir raten, das ganze Zitat aus dem Märchen draufzusetzen. Male die Zeilen da unten in die Ecke. Sie würden den geheimen Reiz noch erhöhen, den das Bild ausstrahlt.“

„Du hast recht“, erwiderte Inge. Sie tauchte ihren feinsten Pinsel in schwarze Farbe und schrieb

mit kleinen, deutlichen Buchstaben: „Da sah sie, daß ihr Fischschwanz fort war, und daß sie die

niedlichsten kleinen weißen Beine hatte, die nur ein Mädchen haben kann; aber sie war ganz nackt, deshalb hüllte sie sich in ihr dichtes, langes Haar ein.“

Dann wurde das Bild ohne Rahmen in dem Fremdenzimmer aufgehängt, in dem die beiden Ingrids schliefen. Später sollte es einen Rahmen erhalten und zur Herbstausstellung eingeschickt werden. Und dann, dann würde man sehen!

Zum erstenmal in ihrem Leben erfuhr Ingrid, was vierzehn Tage Faulenzen bedeuten. Alle Familienmitglieder paßten auf wie die Luchse, daß sie nicht die geringste Arbeit tat. Sie durfte nicht einmal ihr Bett selber machen. Das hatte Lise übernommen. Lise war ebensosehr darauf bedacht wie die anderen, daß Ingrid wirklich Ferien machte. Alle waren gütig zu ihr. Alle waren sanft und voller Fröhlichkeit und Lachen. Ingrid konnte nicht fassen, daß es solche Menschen überhaupt gab.

Den Gedanken an Tante Agate und den Laden und all das Graue und Trostlose hatte sie verdrängt. Sie wollte es in dieser Zeit vergessen.

Abends gingen sie und Lise zu einem Bauernhof in der Nähe und holten Milch. Immer mußte Ingrid schnell mal in den Stall laufen und die Pferde streicheln. Und endlich, endlich durfte sie zeigen, daß auch sie Talente hatte. Der junge Sohn des Hofes kam auf den Platz

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geritten, sprang vom Pferd und blieb stehen, um mit Lise zu reden, die er kannte. Ingrid trat an das Tier heran und tätschelte ihm das Maul. Sie hatte noch ein paar Stückchen Zucker in der Tasche, die holte sie jetzt hervor. Das Pferd schnupperte an ihr herum. Der junge Mann beobachtete sie und kam lächelnd näher.

„Hast du Pferde gern?“ „Ja, furchtbar gern.“ „Hast du Lust, mal aufzusitzen?“ „Oh-ja-ja!“ Er wollte ihr behilflich sein, aber Ingrid hatte schon den Fuß im

Steigbügel und schwang sich allein nach oben. Aufrecht und sicher saß sie auf dem Pferderücken. Sie drückte mit den Absätzen gegen die Weichen des Tieres. Das spürte sofort, daß eine geübte Reiterin im Sattel saß. Im nächsten Augenblick ritt Ingrid in einem schönen, festen Trab um die Hofecke. Als sie nach einem kleinen Spazierritt auf der Landstraße wieder auftauchte, ritt sie in gleichmäßigem, wiegendem Galopp.

„Warum hast du nie erzählt, daß du reiten kannst?“ fragte Lise. Inge lächelte.

„Ich weiß nicht – das versteht sich doch von selbst. Ich habe auf dem Pferd gesessen, seit ich ganz klein war.“

„Herrgott!“ stöhnte Inge, als Lise davon erzählte. „Schafft mir ein Pferd herbei. Ich muß Genoveva auf dem Pferderücken zeichnen, Genoveva, in ihr langes Haar gehüllt…“

„Noch mehr Haar?“ lachte Ingrid. „Und wer ist Genoveva?“ „Sie ist nicht, sie war“, sagte Inge, und Herr Hall holte ein Buch

und las die Geschichte von der heiligen Genoveva vor. Es blieb noch Zeit übrig für ein paar Skizzen mit Ingrid auf dem

Pferderücken – aber eine Genoveva wurde es nicht, denn Genoveva war kein schmächtiges fünfzehnjähriges Mädchen – es entstanden ein paar frische gute Zeichnungen von einem schlanken und aufrechten Mädchen auf einem schlanken, stolzen Pferd. Für Ingrid sprang ein täglicher Ritt dabei heraus, sie wurde von der ganzen Familie wegen ihres guten Reitstils bewundert.

Dann aber waren die herrlichen zwei Wochen vorüber. Unwiederbringlich zu Ende. Ingrids Herz lag schwer wie Blei in der Brust, als sie ihre Sachen packte. Das bißchen Unterwäsche, die beiden Paar Schuhe, das geblümte Sommerkleid – und die Zeichnung von dem Esel. Die hatte sie mitgenommen. Sie war ihr kostbarster Besitz, und es wäre ihr nie eingefallen, sie bei Tante

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Agate zurückzulassen. An einem heißen Sommernachmittag nahm sie von dem Ehepaar

Hall, von Lise und der kleinen Merete Abschied. Mit tränennassen Augen ging sie mit Inge zum Zug.

„Ich bleibe ein paar Tage in der Stadt“, sagte Inge. „Wir gehen am Mittwoch zusammen aus, damit kannst du dich trösten. Später fahre ich vielleicht noch einmal für eine Woche zu Halls hinaus. Aber du weißt immer, wo ich zu finden bin.“

Wieder stand Ingrid vor Tante Agates Haustür. „Kopf hoch, kleines Reiseandenken. Auf Wiedersehen am

Mittwoch!“ Ingrid preßte Inges Hand. Sie konnte nicht ein Wort über die

Lippen bringen. Dann blieb sie im Hausflur, gleich hinter der Tür, stehen und

lauschte Inges Schritten, die allmählich auf dem Bürgersteig verhallten.

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Ein Ausreißer wird geschnappt Später fragte Ingrid sich oft, was sie wohl dazu getrieben hatte, so zu handeln, wie sie es getan. Ein ums andere Mal rief sie sich den Augenblick vor Tante Agates Wohnungstür ins Gedächtnis zurück, jene Minuten in dem dunklen Flur. Was hatte nur den Ausschlag gegeben? – Was zwang sie dazu, etwas so Wahnsinniges zu tun?

Vielleicht war es die Luft gewesen. Die schwere, abgestandene Luft, an der sie schier ersticken wollte. Der verhaßte Tabakgestank, der Geruch von Eingeengtheit, von altem Staub, von nicht gelüfteter Küche, in der schlechtes und billiges Essen gekocht wurde.

Oder – vielleicht war es auch etwas anderes. Ja! Sie wußte, was es gewesen war. Das Geräusch der verhallenden Schritte auf dem Bürgersteig. Inge, die sie gerade verlassen hatte.

Die Einsamkeit schlug ihr entgegen, grau und beklemmend, als sie vor der finsteren Wohnungstür stand. Doppelt grau und bedrückend nach diesen wunderbaren beiden Wochen. Und dann hörte sie drinnen Tante Agates schlurfende Schritte.

Da erschrak sie. Nein – sie konnte nicht! Alles andere – nur das nicht.

Sie nahm ihren Koffer auf, machte kehrt und stand wieder auf der sonnenheißen Straße.

Sie lief, lief, so schnell sie ihre Beine tragen konnten. Nach einer Weile entdeckte sie, daß sie die Richtung zur Stadtmitte eingeschlagen hatte. Sie kannte sich jetzt überall ganz gut aus und ihre Beine liefen wie von selbst dorthin, wohin das Unterbewußtsein sie lenkte.

Zu Inge? Nein. Inge war der liebevollste und beste Mensch der Welt, aber Ingrid konnte nicht einfach bei ihr erscheinen und sagen: „Ich will bei dir sein und nicht bei Tante Agate.“ Sie wußte auch, daß sie auf der Ausländerpolizei unter Tante Agates Adresse eingetragen war. Es war nicht so leicht, Ausländerin zu sein, man durfte keinesfalls etwas tun, was nicht erlaubt war…

Zurück zu Halls? Nein, auch nicht. Die hatten genug für sie getan.

Es gab in dem ganzen, milden, gastlichen Dänemark gerade jetzt nicht einen Menschen, der der kleinen Ingrid helfen konnte.

Und noch nie hatte sie so stark wie jetzt gefühlt, wo ihre Heimat war.

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Ihre Heimat, die war da unten im Dorf, nur eine Tagesreise von dieser großen, fremden Stadt entfernt. Ihre Heimat war bei Tante Margrete und Onkel Peter, in dem friedlichen Häuschen, bei Elke, Monika und den Zwillingen. Sie wollte nach Hause! Sie wollte dorthin, wo sie lauter Freunde hatte, wo alle sich mit einem netten Wort und einem freundlichen Lächeln begegneten, dorthin, wo die Sonne schien und die Luft frisch und rein war, wo sie ihre eigene Sprache hören und sprechen konnte. Sie wollte nach Hause!

Bei einer Bank an einer Haltestelle blieb sie stehen und zählte ihr Geld. Die zwanzig Kronen von Inge – zwei Wochen Taschengeld von Tante Agate – wie weit sie damit wohl kommen würde? Sie fuhr für den halben Preis, und im Sommer gab es außerdem verbilligte Fahrkarten. In der Tasche trieb sich noch etwas loses Kupfergeld herum. Sie kratzte alles zusammen. Im hintersten Fach der Tasche, neben dem Paß, lag ein Zwanzigmarkschein. Den hatte Onkel Peter ihr geschenkt.

„Du brauchst doch Geld, wenn du einmal nach Deutschland zurückkommst“, hatte er gesagt.

Ingrid lief eine lange Strecke. Sie wollte die Straßenbahn sparen. Das Fahrscheinheft war aufgebraucht, und sie wollte nicht einen

Öre ausgeben, ehe sie nicht wußte, was die Fahrkarte kostete. Dann kam sie zum Hauptbahnhof und studierte die

Abfahrtszeiten der Züge. In einer halben Stunde ging ein Zug nach Korsör. Sie runzelte die Brauen und überlegte. Korsör – ja, dort mußte sie auf die Fähre umsteigen – und dann weiter bis Nyborg fahren. Wenn sie mit dem Zug bis Padborg kommen konnte, war es nicht mehr weit bis zur Grenze. Und über die Grenze kam sie ohne Schwierigkeiten, sie hatte ja einen gültigen Paß.

War sie aber erst in Deutschland, dann konnte sie sich leicht zurechtfinden. Da konnte sie doch jedenfalls die Sprache! Und da konnte sie vielleicht per Anhalter vorwärtskommen. Im übrigen brachten die zwanzig Mark sie eine ganze Strecke weiter.

Ob aber ihr Geld für eine Fahrkarte bis Padborg ausreichte? Ingrid überlegte hin und her. Bis Nyborg schaffte sie es auf jeden

Fall. Und vielleicht – da war so viel Verkehr, vielleicht konnte sie sich in einen Zug nach Padborg einschmuggeln. Oder vielleicht sogar in einen Nachtzug nach Deutschland. Sie konnte sich auf der Toilette verstecken, wenn der Schaffner kam – oder in einen anderen Wagen gehen. Oder sie konnte sagen, daß sie ihre Fahrkarte verloren hatte. Niemand würde sie unterwegs hinauswerfen. O ja, sie würde

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sich schon durchschlagen! Sie wollte um jeden Preis nach Hause. In ihr eigenes Land zurück, zu ihrer eigenen Sprache, zu Elke und Monika, Hans und Grete – nach Haus in ihr eigenes Bett, zu den Kaninchen, zu den Kühen – nach Hause!

Zu Hause – ach, es war ein Paradies, verglichen mit Tante Agates Welt!

Aber was würde Inge sagen? Sie wollte Inge schreiben und ihr alles erklären. Inge würde sie

verstehen. Daß sie aber Inge vielleicht nie mehr wiedersehen sollte, nie mehr Modell sitzen, nie mehr mit Dixi spielen – und daß sie nie auf die Herbstausstellung kommen und Inges Gemälde sehen sollte – bei diesem Gedanken war ihr nicht wohl.

Nein, nicht denken. Jetzt nicht mehr denken. Nur handeln. Ein schlankes, sonnenverbranntes Mädchen mit langen blonden Haaren stand vor dem Fahrkartenschalter und verlangte in gebrochenem Dänisch eine Fahrkarte bis Nyborg.

Inges Telefon läutete. „Hier ist Frau Jespersen. Wo in aller Welt bleibt Ingrid?“ „Ingrid? Aber, liebe Frau Jespersen, ich habe doch Ingrid selbst

vor mehreren Stunden vor Ihrem Hause abgesetzt.“ „Na, das ist ja komisch. Bei mir hat sie sich nicht blicken lassen.

Das Mädel ist unzuverlässig – sie kriegt das Fell versohlt, wenn sie nach Hause kommt. So was ist mir doch noch nicht vorgekommen. Ich hätte sie eben nie weglassen dürfen.“

Inge unterbrach sie, und jetzt klang ihre Stimme scharf. „Frau Jespersen, es ist jetzt nicht an der Zeit, zu schimpfen oder sich zu beschweren. Das Kind ist in einer großen Stadt verschwunden, ohne die Sprache ordentlich zu können. Wir müssen sofort etwas unternehmen. Ich glaube, ich weiß, was zu tun ist. Ich klingle Sie an, wenn ich etwas erfahren habe. Guten Abend.“

Inge läutete auf dem Hauptbahnhof an und erkundigte sich nach dem Zug nach Korsör und ob er unmittelbaren Anschluß an die Fähre habe.

Dann ließ sie sich die Telegrammaufnahme geben und schickte ein drahtloses Telegramm an den Kapitän der betreffenden Fähre.

Auf Deck der Fähre über den Großen Belt saß in einem geschützten Winkel ein schmales, schlankes, sonnenverbranntes Mädchen. Es hatte einen braunen Koffer neben sich stehen. Unter dem zu kurz gewordenen Mantel guckte ein geblümtes Sommerkleid heraus.

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Ein uniformierter Mann mit einem Blatt Papier in der Hand kam über das Deck und sah sich suchend um. Sein Blick fiel auf das schmale Kind, das da in der Ecke saß und förmlich in sich zusammenkroch.

Er warf einen Blick auf das Papier, steuerte dann auf das Mädchen los und redete sie in fließendem Deutsch an: „Ingrid Schramm, nicht wahr? Komm doch mal mit zum Kapitän.“

Das Herz sank Ingrid bis in die Schuhe. Der Mann hatte mit fester Stimme, aber nicht unfreundlich gesprochen.

Was sollte sie aber wohl beim Kapitän? Und wie konnte dieser Mann wissen, wer sie war?

Er nahm den Koffer auf und sagte lächelnd: „Ich werde deinen Koffer nehmen. Den läßt man doch eine Dame nicht selber schleppen!“

Sein freundliches Lächeln und seine guten Augen trösteten Ingrid ein bißchen. Zaghaft folgte sie ihm.

Der Kapitän war ein älterer Mann. Er sah gar nicht böse aus. Er zupfte Ingrid scherzend am Ohrläppchen – und dann sagte er in einem guten, leichtverständlichen Deutsch: „Na, kleines Fräulein, du willst also wieder nach Haus? Nun ja, das ist zu verstehen, aber wäre es nicht richtiger gewesen, du hättest vorher Bescheid gesagt? Es tut mir leid, mein Kind, aber ich habe versprochen, dich gleich mit der nächsten Fähre wieder zurückzuschicken. Ich muß dir sogar Geld für die Fahrkarte Korsör – Kopenhagen geben. Außerdem will ich dein Ehrenwort haben, daß du wirklich zurückfährst.“ Ingrid stand in Glut getaucht.

„Wieso wissen Sie denn, daß…“ „Hast du schon mal was von drahtloser Telegrafie gehört? Siehst

du, das ist eine ganz nützliche Erfindung – sehr nützlich, wenn junge Damen sich auf eigene Faust in die Welt hinausbegeben. Nun darfst du dich hierher setzen, dann habe ich dich doch unter meinen Augen. So, hier hast du ein paar deutsche illustrierte Zeitschriften, bitte sehr, und dann hast du vielleicht ein bißchen Hunger, was?“

Ingrids Unterlippe zitterte. Vor Scham, vor Angst, vor Reue – und vielleicht am meisten deshalb, weil der Kapitän so schrecklich nett gegen einen Ausreißer war…

Zwei Stunden später fuhr sie wieder zurück. Diesmal behandelte man sie nicht wie einen Ausreißer, denn sie hatte ihr Ehrenwort gegeben, zurückzufahren und nicht noch weitere dumme Streiche zu machen.

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Du großer Gott, wie sie sich grauste! Was würde Tante Agate sagen? Tante Agate hatte Geld für ein

teures drahtloses Telegramm ausgeben müssen! Tante Agate hatte vergeblich gewartet. Ingrid wagte gar nicht an die Heimkehr zu denken. Ihr grauste, daß ihr ganz schwindlig davon wurde. Sie wußte, diesmal setzte es ernstlich Prügel – und ihr grauste vor dem Schmerz und der entsetzlichen Erniedrigung.

Und Inge? Jetzt fiel es Ingrid ein, welche Unannehmlichkeiten sie Inge

bereitet hatte. Inge war für sie verantwortlich gewesen, ihr würde die Schuld zugeschoben werden.

Daß Inge um ihretwillen Schimpfe und Ärger bekommen würde, war ihr noch schlimmer als der Gedanke an Tante Agate, an die Schläge, an das Keifen.

Jetzt würde auch Inge kein Vertrauen mehr zu ihr haben. Jetzt war es vielleicht ganz aus mit den herrlichen Mittwochnachmittagen. Jetzt war sie ganz und gar auf Tante Agate angewiesen und nur auf sie allein.

Ingrid war so verzweifelt, daß sie nicht einmal weinen konnte. Stumm und unglücklich saß sie in ihrer Ecke und sah Korsör

auftauchen. Sie griff nach ihrem Koffer und ging zur Landungsbrücke. Mit einemmal sperrte sie die Augen weit auf. Hatte sie richtig

gesehen? Dort unten stand ja – ach nein, sie träumte sicher. Sie sah Gespenster! Die Gestalt dort unten in dem blauen Leinenkostüm – ein lächelndes, ja, tatsächlich lächelndes Gesicht – zwei winkende Hände…

Ingrid stürzte die Schiffsbrücke hinunter, und gleich darauf hatte sie beide Arme um Inges Hals geschlungen: „Verzeih mir, Inge! Verzeih mir!“

Die Tränen strömten über Inges Schulter auf das blaue Kostüm. Eine Hand fuhr ihr immerfort über den Rücken, eine sanfte, gute Stimme sagte: „Mein armes kleines Mädchen!“

Ein paar Stunden später saßen sie an dem niedrigen Tisch im Atelier einander gegenüber. Der Tee in den blauen Tassen dampfte…

„Und jetzt erzählst du mir alles“, sagte Inge entschieden. „Jede kleinste Kleinigkeit.“

„Ja, Inge – aber du schickst mich doch nicht wieder zu Tante Agate zurück? Ich trau mich nicht – ich trau mich nicht…“

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„Nein, Kind, du kommst nicht zurück. Du bleibst hier. Gott mag wissen, wie ich diese ganze Geschichte zurechtkriege – es wird nicht leicht sein. Aber zurück sollst du nicht. Geht es nicht anders, dann schenke ich dir eine Fahrkarte nach Hause in deine Heimat. Aber du darfst nicht auskratzen, Kind. Auf diese Weise macht man sich’s zu leicht.“

„Ich muß übrigens deine vielgeliebte, sogenannte Tante anläuten und sagen, daß du dich wieder eingefunden hast. Obgleich – offengestanden schadet es ihr gar nichts, wenn sie sich ‘n bißchen ängstigt.“

Inge ging ans Telefon und teilte kurz mit, daß Ingrid wieder da sei. Dann schien Tante Agate eine ganze Menge zu antworten, denn Inges Stirn wurde rot vor Ärger. Sie ließ einen längeren Redeschwall über sich ergehen, dann unterbrach sie ihn kurzerhand: „All das werde ich morgen mit Ihnen persönlich besprechen, Frau Jespersen. Ich behalte Ingrid heute nacht hier. Doch, das tue ich wohl – jaja, die Verantwortung kann ich ohne weiteres übernehmen. Voll und ganz. Guten Abend.“ Sie legte den Hörer auf.

„So, das wäre getan. Und jetzt, Ingrid: Erzähl mir alles – von A bis Z. Warum bist du ausgerückt?“

„Ach, Inge – du mußt es verstehen. Ich konnte nicht – ich konnte einfach nicht anders!“

„Hast du mir vielleicht diese ganze Zeit über irgend etwas verschwiegen? Hat Frau Jespersen dir jemals etwas angetan?“

Eine heiße Röte schoß in Ingrids Wangen. Sie dachte an den Morgen, als die Tante ihr eine Ohrfeige gegeben hatte. Sie sträubte sich dagegen, Inge von dem häßlichen Auftritt zu erzählen.

„Na? Heraus mit der Sprache!“ Inges Stimme klang fast gebieterisch, wie Ingrid sie nie zuvor

gehört hatte. Dann erzählte sie alles. Von Anfang bis zu Ende. Wie die Tante

häßlich über Inge geredet hatte, über Tante Margrete, über Onkel Peter. Wie sie selber die Beherrschung verloren und unverschämte Antworten gegeben hatte. Wie Tante Agate ihrerseits so wütend geworden war, daß sie ihr eine Ohrfeige gegeben hatte. Und dann von dem plötzlichen Wandel – von dem Kleid, dem guten Mittagessen, dem Taschengeld und der Erlaubnis, zu Lises Geburtstag zu gehen.

„Ich verstehe gar nicht, wieso sie plötzlich so… so… ich hätte fast gesagt, freundlich wurde“, meinte Ingrid zum Schluß.

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„Denk nur: das verstehe ich ganz ausgezeichnet“, sagte Inge. „Sie hat natürlich gemerkt, daß sie zu weit gegangen war, und nun mußte sie dich milde stimmen. Man bekommt nicht so leicht eine neue Hausgehilfin – noch dazu eine, der man nur zehn Kronen die Woche bezahlt.“

„Haus – Hausgehilfin?“ „Mein Herzchen – du mußt doch endlich begriffen haben, daß

diese deine sogenannte Tante eine entfernte Bekanntschaft auf das schändlichste ausnutzt, um sich eine kostenlose Hilfe für den Haushalt zu verschaffen. Ist dir das noch immer nicht aufgegangen?“ Ingrid starrte Inge fassungslos an.

„Darum also! Darum hat sie mich eingeladen! Darum hat sie das Reisegeld geopfert!“

„Und darum hat sie dir von dem schönen Kopenhagen vorgeschwärmt, damit wollte sie dich locken. Wieviel hättest du wohl von dem schönen Kopenhagen zu sehen bekommen, wenn…“

„Wenn ich dich nicht gehabt hätte!“ vollendete Ingrid. „Ja, und wenn du nur auf diese Frau und ihren Laden angewiesen

gewesen wärst? Du hättest keinen Öre dänisches Geld gehabt, du wärest die reinste Sklavin bei ihr gewesen. Siehst du, ich war ihr ein dicker Strich durch ihre Rechnung. Und dieser Strich wird noch größer und dicker werden; darauf kannst du dich verlassen!“ Ingrid riß die Augen ganz weit auf.

„Wie gemein“, flüsterte sie, „wie gemein!“ „Ja, das ist gemein. Ich will dir etwas sagen, Ingrid. Es gibt leider

Menschen, die sich der Flüchtlingskinder und Waisen annehmen – um sie auszunützen. Gott sei Dank kommt das selten vor; es gibt unzählige Kinder, die es wunderbar getroffen und gute, nette Pflegeeltern bekommen haben. Wenn sich jemand nämlich an eine Organisation wendet – das Rote Kreuz zum Beispiel oder andere Hilfsorganisationen – , um ein Pflegekind zu bekommen, dann werden die Verhältnisse dieser Leute ganz genau untersucht, sie müssen der Organisation Rede und Antwort stehen. Und wenn das Kind es nicht gut hat, dann wird eingegriffen. Hier aber lag der Fall so unglücklich, daß Frau Jespersen sich auf die alte Freundschaft mit deiner Mutter berufen konnte. Es klingt ja so bezaubernd, wenn sie sagt, sie wolle für das kleine Mädchen ihrer lieben verstorbenen Jutta etwas tun. Nicht wahr? Und du kommst in gutem Glauben und wirst schändlich ausgenutzt. Du hast keinen Menschen, der dir helfen kann; du hast kein Geld für die Heimfahrt; du bist voll und ganz in

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den Händen dieser Frau. Wenn du wirklich zur Polizei gehen würdest, was dann? Glaubst du, du würdest weit damit kommen? Oh, keineswegs! Solange nicht grobe Mißhandlung nachzuweisen ist, kannst du auch dort keine Hilfe erwarten. Siehst du: Das alles hat sich Frau Jespersen sicher auch ausgerechnet. Sie wußte ganz genau, daß es sich lohnte, die Reise für dich zu bezahlen.“

Ingrid war unter der braunen Haut ganz blaß geworden. „Inge – denk bloß, wenn ich dich nicht gehabt hätte! Denk bloß,

wenn…“ „Ja, ich glaube wahrhaftig, der liebe Gott hat uns die durstigen

Affchen in Flensburg über den Weg geschickt, denn ohne die hätten wir uns sicher nie kennengelernt…“

Ingrid blickte Inge nachdenklich an: „Wenn ich mal wieder Geld habe“, sagte sie feierlich, „dann kaufe ich eine Riesentüte mit Rosinen und Nüssen und lauter guten Dingen für die sechs Äffchen. Denn die haben es verdient!“

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Zäher Kampf um Ingrid Als Inge am nächsten Morgen aus dem Haus ging, um Agate Jespersen aufzusuchen, war sie nicht ganz so mutig, wie sie sich stellte. Es war immerhin eine schwierige Sache, einem Menschen kurzerhand zu eröffnen, daß man die Absicht habe, sein Pflegekind wegzunehmen und es unter keinen Umständen zurückzugeben. Es war so eine Sache, eine ganze Reihe von Vorwürfen zu erheben über Dinge, die einen strenggenommen nicht unmittelbar betrafen. Aber dann dachte Inge an einen ihrer Wahlsprüche:

„Wenn ich sehe, daß es jemand schwer hat, dann betrifft es auch mich! Wenn es in meiner Macht steht, jemandem zu helfen, der der Hilfe bedarf, dann ist es meine Pflicht zu helfen!“

Unterwegs stellte sie ihren Schlachtplan auf. Sie wollte gar nicht von dem ausgehen, was Ingrid ihr erzählt, sondern nur von dem, was sie selbst gesehen hatte.

So fing Inge denn ganz einfach davon an, daß sie gesehen hätte, wie dünn und blaß Ingrid geworden war. Sie hätte ungepflegt gewirkt, und das erste, worum sie gebeten hätte, sei ein Bad gewesen. Man müßte ja blind sein, wenn man nicht sähe, daß das Kind sich unglücklich fühlte. Sie hätte rauhe, rissige Hände von all dem Geschirrwaschen und Scheuern bekommen, ihre Wangen wären hohl und die Haut welk aus Mangel an frischer Luft. Mit größter Selbstbeherrschung verzichtete Inge darauf, das zu erwähnen, was Ingrid ihr erzählt hatte. Dafür gab es keine Zeugen. Das könnte Agate Jespersen also glatt abstreiten.

„Das geht Sie alles überhaupt nichts an, Fräulein Skovsgaard!“ sagte Agate Jespersen. „Es ist mein Pflegekind und nicht das Ihre.“

„Aber sie ist meine gute Freundin und nicht Ihre“, sagte Inge schlagfertig. „Ich werde unter gar keinen Umständen tatenlos zusehen, wie ein Kind ausgenutzt wird.“

„Und ich lasse es mir unter gar keinen Umständen gefallen, daß mein Pflegekind mir so mir nichts dir nichts weggenommen wird. Ich werde mich an die Polizei wenden, wenn das Kind nicht noch heute zu mir zurückkommt.“

„Das Kind“, wiederholte Inge, „das Kind? Sie meinten doch wohl Ihre kostenlose Hausangestellte?“

„Fräulein Skovsgaard!“ rief Frau Jespersen, „Sie nehmen sich etwas zuviel heraus. Ich habe für Ingrid die Reise bezahlt, ich habe

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ihr Kost und Wohnung und Taschengeld gegeben, es handelt sich nicht um Ihr Pflegekind, sondern um meins…“

Inge öffnete den Mund, um eine heftige Antwort zu geben. Aber sie besann sich, schluckte, räusperte sich ein paarmal, und als sie endlich sprach, war die Stimme ruhiger und gefaßter: „Hören Sie, Frau Jespersen. Sie wissen, daß ich nur das Wohl der kleinen Ingrid im Auge habe, und ich möchte meinen, Sie auch? Wäre es nicht besser, wenn Sie das täten, was für alle Teile das Richtigste wäre und auch das Einfachste: Zugeben, daß Sie sich nicht dazu eignen, ein Kind im Hause zu haben? Zugeben, daß Ihr ganzes Herz bei Ihrem Geschäft ist und nicht bei dem Kinde? Zugeben, daß es für Sie eine Erleichterung wäre, wenn Sie das kleine Ding loswürden, das von glühendem Heimweh erfüllt ist? Wenn Sie dies alles einsehen und zugeben, dann übernehme ich alles Übrige. Ich behalte Ingrid für den Rest dieses Jahres bei mir. Ich werde zur Ausländerpolizei gehen und die Angelegenheit regeln, dafür sorgen, daß das Kind auf mich überschrieben wird. Lassen Sie es uns so machen, Frau Jespersen, in aller Verträglichkeit!“

Die andere hörte zu, versuchte ein paarmal zu unterbrechen, aber Inge ließ sich in ihrer ruhigen Entschlossenheit nicht stören.

Jetzt kam die Antwort. Der Ton war spöttisch, wenn auch beherrschter: „So, so, Sie wollen sie zu sich nehmen! Und was ist mit dem Heimweh?“

Da lächelte Inge. Das Lächeln verschönte ihr Gesicht ungemein, so daß es selbst Frau Jespersen nicht entgehen konnte.

„Ich bin in Ingrids Heimweh einbegriffen, Frau Jespersen. Meine Häuslichkeit – das ist für Ingrid zu Hause. Ist Ihnen das noch nicht aufgegangen?“

Das hätte Inge nicht sagen sollen. Es war unklug. Denn jetzt loderte die Eifersucht in der alten, im

Grunde vereinsamten und unglücklichen Frau auf. „Aha. Und Sie scheuen sich nicht, das zu sagen? Sie bestärken

mich damit nur in meiner Meinung von Ihnen: Sie haben mir Ingrid ganz einfach weggenommen! Ich habe die Reise für sie bezahlt, und Sie kommen an und nehmen sie mir vor der Nase weg! Sie haben…“

Jetzt unterbrach Inge sie, und aus ihrer Antwort ging ihr ganzer, unbeugsamer Wille hervor: „Gut, Frau Jespersen. Wenn Sie sich zu einer freiwilligen Regelung nicht bereitfinden wollen, dann werde ich um Ingrid kämpfen. Und ich werde siegen! Aber für Sie wird das sehr unangenehm sein!“

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„Ist das eine Drohung?“ fragte Frau Jespersen spöttisch. „Ja, so können Sie es ruhig auffassen. Denn ich werde alles

einsetzen, damit diesem Mißbrauch, den Sie mit einem hilflosen Kind treiben, ein Riegel vorgeschoben wird. Wissen Sie nicht, Frau Jespersen, was die Ausländerpolizei mit Leuten macht, die ein Pflegekind ausnützen? Wissen Sie, wie die heiteren, gutherzigen, netten Dänen reagieren, wenn sie erfahren, daß ein Kind mit List aus seiner Umgebung und seinem Zuhause herausgerissen wurde und nichtsahnend auf eine unerquickliche Hausgehilfinnenstellung hereinfällt? Wissen Sie, daß es gesetzlich verboten ist, Minderjährigen die Arbeit von Erwachsenen zuzumuten? Sind Sie sich darüber klar, daß Ingrid Ihnen unverzüglich weggenommen wird, wenn Sie mich zwingen, zur Polizei zu gehen, und daß Sie dadurch allerlei Unannehmlichkeiten bekommen und todsicher auch erhebliche Unkosten? Aber wie Sie wollen, Frau Jespersen! Sie können eine billige Abmachung bekommen, wenn Sie vernünftig sind, und Sie werden an meiner Statt mit der Polizei verhandeln müssen, wenn Sie es nicht sind. Bitte, Sie haben die Wahl!“

Frau Jespersen war blaß geworden. Ihre Augen waren auf Inge geheftet, zuerst wütend, dann verblüfft und zuletzt – ja, zuletzt schien es Inge, als drückten sie Scham und Hilflosigkeit aus. Sie wartete geduldig. Es dauerte eine Minute, es dauerte zwei Minuten. Dann antwortete eine seltsam müde, hoffnungslose Stimme: „Ich habe nicht die Kraft, noch länger mit Ihnen zu streiten. Nehmen Sie meinetwegen die Ingrid zu sich. Auf Ihre eigene Verantwortung. Und das mit den Behörden – das erledigen Sie!“

„Das erledige ich, ja“, sagte Inge, und ihre Augen glänzten. „Und dann werden Sie ja sehen… Sie werden sehen… ob… ob

sie sich bei Ihnen wohler fühlt. Sie sind jung – und ich… ich… ja, ich bin ja auch nur eine alte Frauensperson, ich…“

Agate Jespersens Kopf sank auf die Brust herab. Und mit einemmal hatte Inge Mitleid mit ihr. Arme, alte, glücklose, einsame Frau – das unglückliche Opfer einer schrecklichen Eigenschaft, des Geizes!

„Ich werde gut zu Ingrid sein“, sagte Inge, und sie merkte zu ihrer eigenen Verwunderung, daß ihre Stimme unsicher klang. „Und… und… vielen Dank!“

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Ein glückseliger Brief

Liebe Tante Margrete und Onkel Peter!

Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll! Hier

ist so furchtbar viel passiert, und ich

muß Euch sehr schnell alles erzählen.

Erstens: Ich habe eine neue Adresse! Das

heißt, ich habe die alte Adresse wieder,

denn jetzt wohne ich bei Inge Skovsgaard,

und hier bleibe ich auch wohnen! Ihr könnt

Euch gar nicht denken, wie glücklich ich

bin! Jetzt, wo ich nicht mehr bei Tante

Agate bin, kann ich Euch erzählen, daß ich

es da ziemlich schlecht hatte. Inge

behauptet, ich wäre dünner geworden in der

Zeit dort, und das stimmt sicher, denn

meine Kleider sind mir zu weit. Und dann

hatte ich fast immer Kopfschmerzen, weil

ich nicht genügend frische Luft bekam. Wie

Ihr wißt, bin ich mit Inge verreist

gewesen. Als ich nach Haus kam, passierte

etwas, das ich Euch lieber später mal

erzählen werde – ich habe etwas Dummes

gemacht. Aber das wurde dann doch mein

Glück; denn dadurch merkte Inge, daß ich

nicht mehr bei Tante Agate sein konnte. Da

hat sie mich zu sich genommen. Tante Agate

hat sich damit einverstanden erklärt, daß

ich umziehe. Jetzt ist alles in bester

Ordnung. Ich bin seit vier Tagen hier bei

Inge. Gestern sind wir zusammen zu Tante

Agate gefahren, denn ich mußte meine

letzten Sachen noch abholen. Ich graulte

mich schrecklich davor, denn man weiß ja

nie, was Tante Agate plötzlich in den Sinn

kommt, und was sie so sagt. Aber denke

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nur, sie war beinahe freundlich. Ja – aber

nur beinahe. Es war zu schön, als ich

hörte, wie hinter mir die Tür wieder

zuschnappte. Manchmal kann sie mir

freilich leid tun. Sie ist so allein, und

sie ist alt. Ich wäre gern gut zu ihr

gewesen, aber es ist so schwer, gut zu

jemand zu sein, der immer mürrisch ist und

nur ans Sparen denkt. Und ich hab ja im

Grunde auch viel für sie getan, denn ich

bin die ganze Zeit über ihre

Hausangestellte gewesen, aber ohne Lohn.

Ihr dürft aber nicht glauben, daß ich hier

nichts tue! Inge sagt täglich, sie nütze

mich fürchterlich aus. Sie hat viel zu

tun, sie malt und malt, denn bald ist die

Herbstausstellung, und sie will mehrere

Bilder ausstellen. Sie sagt, daß sie nie

so viel Ruhe zum Arbeiten gehabt hat wie

jetzt, weil ich den Haushalt mache. Es

macht furchtbar viel Spaß, hier den

Haushalt zu besorgen. Wenn ich einholen

gehe, kommt Dixi mit. Auf der Straße

bleiben die Leute alle stehen und sagen

irgendwas Nettes über den Hund. Und denkt

Euch, ich verstehe, was sie sagen! Ist es

nicht komisch, daß ich jetzt ein bißchen

eine Sprache verstehe, die Ihr nicht

könnt?

Ich lege ein Bild von Inge und mir mit

ein. Ein Straßenfotograf hat es gemacht.

Findet Ihr nicht, daß Inge wahnsinnig nett

aussieht? Denkt Euch, ich kriege von Inge

jede Woche zwanzig Kronen für meine Arbeit

hier. Es ist mir schrecklich, das

anzunehmen, aber sie sagt, ich muß. Jetzt

hab ich dadurch immer Taschengeld, und

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heute hab ich Euch ein Paket geschickt,

mit was Gutem drin! Das Geld für das Paket

hab ich ganz allein verdient! Denn den

ersten Wochenlohn hab ich auf Vorschuß

bekommen. Ich hab jetzt keine Zeit, noch

mehr zu schreiben, denn ich soll Inge

Modell sitzen. Ich wünschte, Ihr könntet

mal sehen, wie wunderschön sie malt!

Tausend liebe Grüße an Euch alle

miteinander. Ich denke so oft an Euch, und

wenn es mir auch hier herrlich geht, so

sehne ich mich doch auch nach Euch. Sagt

Elke, sie kann den roten Gürtel nehmen,

den ich zu Haus vergessen habe; Inge hat

mir einen neuen geschenkt. Und sagt

Monika, sie müßte schreiben, wenn das

große graue Kaninchen Junge bekommen hat.

Sie darf auf keinen Fall vergessen,

rechtzeitig den Nistkasten in den

Kaninchenstall zu stellen, und sie muß

auch aufpassen, daß die Zwillinge nicht

die frischgesetzten Jungen rausnehmen und

mit ihnen spielen. Inge läßt Euch alle

herzlich grüßen.

Die liebsten Grüße!

Eure Ingrid

Ingrid legte mit einem Seufzer der Erleichterung den Kugelschreiber aus der Hand. Inge hörte es und ließ den Pinsel für einen Augenblick ruhen.

„Na? Fertig?“ „Ja. Ich hab von dir gegrüßt. Willst du sehen, was ich

geschrieben habe?“ „Du hast doch gewiß auch diesmal sicherheitshalber mit

gotischen Buchstaben geschrieben, du Strick?“

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„Pfui, schäm dich! Ich hatte grad eben gedacht, du liest sicher nie anderer Leute Briefe! Aber schau her, du darfst, und es sind keine gotischen Buchstaben.“

Ingrid reichte Inge den Brief und stellte sich neben sie, ihrer jungen Pflegemutter den Arm um die Schultern legend. Inge blieb auf dem Hocker vor der Staffelei sitzen, in der Linken die Palette haltend, und überflog die engbeschriebenen Blätter mit den Augen. Dann blickte sie auf und lächelte.

„Du Kleines! Du bist also mit deiner sonderbaren Stellung hier zufrieden?“

„Meinst du meine Stellung im Haushalt oder als Modell oder als Kindermädchen – ach entschuldige, ich meine, als Hundemädchen?“

„Ich meine alles zusammen. Hör mal Ingrid – wenn du mich jetzt fragen würdest, ob du eine Tasse Tee machen sollst, dann würde ich keineswegs nein sagen!“

„Du sollst deinen Tee haben. Und der Bäcker hat mir ein altes Stück Hefekuchen für Dixi geschenkt, das hab ich für ihn aufbewahrt.“

Lächelnd ging Ingrid in ihre Küchenecke und machte sich trällernd an die Arbeit.

Bald saßen sie wieder an dem geliebten runden Tisch und tranken dampfenden Tee aus den blauen chinesischen Tassen. Dixi heftete ein Paar erwartungsvolle braune Augen zuerst auf seine große, dann auf die kleine Freundin – und er wurde nicht enttäuscht. „Ach, Inge, wie haben wir es gut!“

Ingrid atmete die Luft mit einem langen, glücklichen Seufzer aus. „Ja, mein Liebling. Bei uns ist’s gemütlich. Obwohl ich dich so ausnutze. Fast ebenso schlimm wie deine sogenannte Tante!“

„Ich bin so froh, daß ich dich nicht Tante zu nennen brauche, Inge!“

„Wirklich? Meinst du nicht, ich könnte eigentlich eine ganz brauchbare Tante abgeben?“

Ingrid schaute in ihren Schoß und lächelte mit zitternden Lippen. Sie schwieg. Schwieg so lange, bis Inge sie zuletzt fragte, woran sie denke.

Ingrid blickte wieder hoch, und ihre großen, klaren Augen waren so merkwürdig blank.

„Ich überlege mir“, sagte sie langsam, und ihre Stimme war belegt, „ich überlege mir, daß du… daß du etwas ganz anderes sein kannst als eine Tante – du bist viel mehr…“ Ingrid wurde rot, und

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das letzte kam nur im Flüsterton: „Du bist wie eine Mutter…“

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Froher Abschied aus einem gastlichen Land

In den großen, lichten Sälen summte es von vielen Stimmen. Die Gemäldeausstellung war gerade eröffnet worden. Vor einem großen Bild standen die Beschauer dicht gedrängt.

„Hiermit hat Ingrid Skovsgaard sich wirklich durchgesetzt“, sagte jemand.

„Es ist das schönste Bild der Ausstellung“, sagte ein anderer. „Sie muß ja ein entzückendes Modell gehabt haben“, meinte ein

dritter. „Man sehe sich nur den beseelten Ausdruck an“, sagte eine

Dame, ebenfalls eine Malerin. Ein etwas kurzsichtiger, älterer Herr neigte sich näher zum Bild

vor und las halblaut: „Da sah sie, daß ihr Fischschwanz fort war, und daß sie die niedlichsten kleinen weißen Beine hatte, die nur ein Mädchen haben kann. Aber sie war nackt, deshalb hüllte sie sich in ihr dichtes, langes Haar ein.“

„Haben Sie ,Das Mädchen und der Pudel’ gesehen? Das müssen Sie sehen. Da hat sie dasselbe Modell gehabt. Ja, und ,Ingrid mit dem Nähkorb’ – doch ja, es ist dieselbe. Ingrid – halt mal eben – Kinder, ich sah sie doch gerade hier mit Fräulein Skovsgaard…“ So wurde geredet und gesummt. Und vor den drei Ingrid-Bildern standen immer viele Menschen. Hinter ihnen verschwanden eine helle, kurzsichtige Dame, ein langes, schlankes Mädchen und ein kleiner, lockiger schwarzer Pudel.

„Du wirst berühmt, Groß Ingrid!“ lächelte das Mädchen. „Wir

werden berühmt, Klein Ingrid!“ entgegnete die Dame. Wau! sagte der Pudel, womit er sagen wollte, daß er mit zu dem Begriff „Wir“ gehöre.

„Du bist mein kleiner Talisman“, sagte Inge, „jetzt schwirrt’s mir vor den Augen. Setz dich und hör zu.“ Ingrid legte das Staubtuch aus der Hand.

„Halt dich fest! Du weißt, daß die ,Seejungfrau’ verkauft ist, das hatte ich dir ja erzählt. Zum Glück an ein Museum – ja, Ingrid, wie findest du das? An ein Museum! Ich, Ingrid Skovsgaard, dreißig Jahre alt, werde in einem Museum hängen. Da können wir dann hingehen und es uns angucken, so oft wir wollen. – Jetzt weiter: ,Das

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Mädchen und der Pudel’ ist verkauft – und heute wollte ein Kunsthändler den ,Nähkorb’ haben. Ich werde wohlhabend, Ingrid – ich habe einen Erfolg gehabt, wie ich ihn mir nie erträumt hätte.“

„Oh, Inge, wie freue ich mich!“ „Was denkst du, was ich tue? Du mußt verstehen: dies ist das

Märchen meines Lebens. Und heute kommt nun das Pünktchen auf dem i, darum mußt du dich jetzt mal festhalten: Ich habe ein Stipendium bekommen, Ingrid! Allerdings mit Reisepflicht – aber ich will ja auch reisen. Und ich werde bald reisen!“ Ingrid schluckte einen Kloß hinunter.

„Wie… wie schön für dich, Inge…“ „Für mich? Was meinst du denn, kleiner Dummkopf? Für uns!

Du denkst doch nicht etwa, ich reise ohne dich! Glaubst du, ich könnte so ein Modell entbehren – von deinem Knopfnähen und Rocksaumausbessern ganz zu schweigen und…“

„Wohin fahren wir denn, Inge?“ „Ja, mein Herzchen, jetzt ist der Augenblick gekommen, wo ich

dir ein Geheimnis verraten muß. Bisher hat sich alles mehr um dich gehandelt als um mich, nicht wahr? Aber jetzt muß ich dir wohl mal ein bißchen von mir erzählen. Siehst du, mein Kind, irgendwo auf dieser Welt sitzt ein Mann und wartet auf mich. Ein Mann, der einen so unglaublichen Geschmack hat, daß er mich gern mag. Ja mehr als das – er hat mich, um es rundheraus zu sagen, lieb – und er will mich heiraten!“

„Und du, Inge?“ „Ja, siehst du – ich will es auch. Vor einem halben Jahr hab ich

es ihm versprochen. Aber erst wollte ich noch etwas Bestimmtes erreichen. Ich wollte an dieser Herbstausstellung teilnehmen. Ich wollte zeigen, daß ich etwas kann. Ich wollte nicht meine Arbeit abbrechen, bevor ich sie zu einem Abschluß gebracht hatte. Als wir beide uns in Flensburg trafen, kam ich gerade von einer Studienreise aus dem Ausland zurück. Ich war voller Ideen, und ich hatte bei einem berühmten Professor in Wien Stunden genommen. Sollte ich nun alles hinwerfen und mitten in die Ehe hineinspringen und nur Kartoffeln kochen und Hemden bügeln? Ich schwärme nicht für die Hausarbeit, es ist bedauerlich, aber wahr. Ja, siehst du – da erschien dann dieser Mann. Er wollte mich heiraten. Wir kamen überein, daß wir bis nach der Herbstausstellung warten wollten oder vielleicht ein ganzes Jahr. Erst wollte ich sehen, ob ich es wirklich zu etwas bringen konnte – ob es sich sozusagen für mich lohnte, mit der

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Malerei fortzufahren. Und das tut es: Jetzt weiß ich, daß ich es kann. Und Ingrid – nun werde ich heiraten. Denn ich liebe diesen Mann. Ich möchte auch gern Kinder haben. Jetzt aber kann ich meine Zukunft zurechtlegen. Ich kann weiter malen, ich kann es verantworten, ohne zu glauben, daß ich dadurch meine Häuslichkeit vernachlässige. Ich kann malen, ich kann Geld verdienen. Ich kann eine Hausgehilfin bezahlen, ich kann zum Haushalt beitragen mit selbstverdientem Geld. Siehst du, über alles dies wollte ich mit mir erst im reinen sein, ehe ich heirate.“

„Und, Inge – was wird mit mir?“ „Das hab ich doch schon gesagt. Dich kann ich nicht entbehren.

Ich denke mir das erst mal so: Wir reisen weg und lassen uns irgendwo in einem gemütlichen, idyllischen Dorf nieder, und ich mache einen Haufen Herbstskizzen. Wir müssen einen Ort finden, wo es schöne Farben gibt, weißt du?“

„Du solltest bloß unser Dorf zu Hause sehen“, warf Ingrid ein. „Und Weihnachten wollen wir dann heiraten. Und da wollte ich

dich fragen, Kind: Willst du bei mir bleiben – bei uns? Bei meinem Mann und mir? Willst du mir ein bißchen im Haushalt zur Hand gehen, willst du mir Modell sitzen, willst du meine Besorgungen machen, kurz und gut, willst du gleichzeitig Haustochter und Modell sein? Natürlich bekommst du Gehalt, und wir werden genau darüber nachdenken, was wir sonst noch für dich tun können. Ob du an Abendkursen teilnehmen oder bei mir bleiben willst, bis du so alt bist, daß du Krankenpflege oder Kinderpflege lernen kannst – oder auch Tierpflege, was du nun willst. Aber vorläufig jedenfalls – könntest du dir eine solche Lösung denken?“ Ingrid hörte zu, mit großen Augen.

„Ja, Inge. Nichts möchte ich lieber als das.“ Sie dachte weiter nach, ihre Augen waren dunkel und fragend.

„Aber, Inge, wo wollen wir denn hinfahren? Und wo ist der Mann?“

Da lächelte Inge und legte ihre Hände auf die Schultern der kleinen Freundin.

„Denk mal nach. Ich hatte gesagt, vor einem halben Jahr hätte ich versprochen, ihn zu heiraten. Du weißt ja, wo ich vor einem halben Jahr gewesen bin?“

Ingrid sperrte die Augen weit auf: „In Deutschland?“ „Ja, in München.“ „Mün… München? Werden wir in – München wohnen?“

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„Ja, Ingrid. In einigen Monaten sind wir Landsleute, du und ich.“ „Ach, Inge – ach, Inge!“ „Freust du dich, Ingrid?“ „Inge – ich habe gar nicht gewußt, daß man sich so furchtbar

freuen kann!“ „Sollen wir morgen die Fahrkarten bestellen, Ingrid? Und in

vierzehn Tagen losfahren?“ „Ja-ja!“ „Und versprichst du mir, daß ihr in eurem Dorf schöne

Herbstfarben habt?“ „Ja! Und unser Nachbar kann dir sicher, ganz sicher Zimmer

vermieten, denn jetzt sind seine Sommergäste abgereist.“ Ingrid war überwältigt. Inge sollte Onkel Peter und Tante

Margrete kennenlernen – die drei Menschen, die sie am allerliebsten hatte, sollten sich kennenlernen. Und Inge würde bestimmt laut vor Wonne schreien und nach Bleistift und Pinsel greifen, wenn die Zwillinge auftauchten, dreckig um die Mäuler, mit wuscheligem Haar und jeder schleppte sich mit seinem Kaninchen ab. Oder wenn Tante Margrete auf dem Hofplatz die Wäsche auf die Leine aufhängte. Dann spielte die Herbstsonne im roten Laub, und sie glänzte auf Tante Margretes braungebrannten Armen und auf ihrem kräftigen Gesicht unter dem grauen Haar…

Hinterher aber kam München. München mit den tausend Möglichkeiten. München mit Schulen und Museen, München – eine alte Stadt, ein Stück Kultur voll Traditionen und doch ewig jung.

Dort würde sie wohnen, sie, die kleine Ingrid. Dort würde sie eine der vielen Möglichkeiten ausnutzen und einen Beruf erlernen. Dort würde sie ihre Zukunft aufbauen.

In einer großen Stadt in ihrem eigenen Land… Sie stand an diesem Abend am Fenster. Weit, weit aus der Ferne

klangen die Rathausglocken herüber, die ihre Melodie abspielten und zehn langsame, dröhnende Schläge hören ließen.

Ingrid summte ganz leise vor sich hin. Und dann sang sie gedämpft: „Herrliches, herrliches Kopenhagen…“

Die Türme reckten sich dunkel zum Himmel auf. Die Leuchtreklamen flimmerten. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen, fröhlichen, lächelnden, gemütlichen Menschen. Ingrid hatte diese Stadt liebgewonnen. Ihre Schönheit, ihren Humor, den ganzen milden Geist.

Und dennoch! Fremd war sie ihr trotz allem. Schön – und fremd.

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Jetzt aber würde sie in ihr eigenes Land zurückkehren. Da mußte sie auf einmal lächeln. „Worüber lächelst du?“ fragte Groß Ingrid.

„Ach – mir fiel nur ein…“, sagte Klein Ingrid. „Der arme kleine Dixi muß jetzt auf deutsch bellen lernen, sonst versteht ihn ja kein deutscher Hund.“

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Zwei Monate später Es war noch dunkel, als Ingrid aufwachte. Sie merkte, daß Elke und Monika ganz leise aufstanden und lautlos aus dem Zimmer schlichen. Ingrid lächelte. Wenn eine der beiden Geburtstag hatte war sie es, die früh und leise aufstand, sich schnell fertig machte und nach unten ging, um Tante Margrete bei dem Geburtstagstisch zu helfen.

Aber heut, an diesem kühlen, dunklen Novembertag, war sie es selbst, die gefeiert werden sollte. Ihretwegen hatte es gestern in der Küche nach frischgebackenem Napfkuchen geduftet, ihretwegen herrschte jetzt unten im Wohnzimmer eine fröhliche Emsigkeit.

Ingrid wurde heute sechzehn Jahre. „Du bist ein Glückspilz“, hatte Onkel Peter gestern abend gesagt.

„Sechzehn Jahre! Beinahe das ganze Leben hast du vor dir. Sechzehn Jahre, hübsch und gesund und glücklich! Ja, denn jetzt bist du doch glücklich, Ingrid?“

Ja, Ingrid war glücklich. Die schlimme Zeit bei Tante Agate gehörte der Vergangenheit an. Seit dem Tag, als sie zu Inge zurückkam, war alles wunderbar gewesen. Sie hatten tüchtig geschuftet, die große und die kleine Ingrid, denn ein Umzug in ein anderes Land war eine komplizierte Sache. Was gab es doch alles zu packen, zu ordnen, zu schicken!

Jetzt standen Inges Siebensachen in einem Zimmer in Jans Wohnung in München. Bei dem Schauspieler Jan Gerhold, den Ingrid in vierzehn Tagen heiraten würde. Bis jetzt hatte Ingrid zu Hause bei Tante Margrete und Onkel Peter gewohnt, und Inge hatte ein Zimmer beim Nachbarn. Inge hatte unglaublich fleißig gearbeitet diese paar Monate, sie hatte in Herbstfarben geschwelgt, sie hatte auch reizende Porträts von den Zwillingen gemalt, und ein Bild von Ingrid, Elke und Monika draußen auf dem Felde beim Rübenernten.

Ingrid guckte auf den Wecker. Schon sieben! Ob sie jetzt aufstehen sollte? Sie durfte ja nicht zu früh nach unten kommen, durfte bei den Geburtstagsvorbereitungen nicht stören.

Plötzlich hob sie den Kopf und horchte. Ein Hund bellte direkt unter ihrem Fenster. Es konnte doch wohl nicht Dixi sein, so früh? Doch, dies war nicht die kleine Hündin von nebenan, auch nicht der große Wolfsspitz drüben beim Inspektor. Bestimmt war es Dixi!

Ingrid sprang aus dem Bett, und bevor sie Wasser ins

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Waschbecken reingelassen hatte, hörte sie das Trippeln von Hundepfoten auf der Treppe. Da wurde an die Tür gekratzt. Sie machte auf, und Dixi rannte ihr entgegen, sprang hoch, versuchte, ihr Gesicht zu lecken und wedelte wild mit seinem Stummelschwänzchen. Und dann stand Inge in der Tür.

„Herzlichen Glückwunsch, mein kleines Reiseandenken! Alles Gute für dein neues Lebensjahr!“

Ingrid wurde umarmt, und Inge drückte ihr einen kleinen Blumenstrauß in die Hand.

„Tausend Dank, Inge… daß du so früh kommst, ich dachte…“ „Was du dachtest, dachte Dixi anscheinend nicht, er hat mich

nämlich um sechs geweckt und wollte unbedingt rüber zu dir. Als ich sah, daß in eurem Wohnzimmer Licht angemacht wurde, bin ich einfach losgegangen. Ich bin doch von deiner Tante Margrete zum Frühstück eingeladen!“

„Ich komme in zehn Minuten, Inge!“ „Und ich laufe nach unten, vielleicht kann ich ein bißchen helfen

– nein, sieh mal den da, so ein Frechdachs…“ Das letzte war an Dixi gerichtet. Er war auf Ingrids Bett

gesprungen und rollte sich am Fußende bequem zusammen. „Laß ihn bloß, Inge! Die Betten werden sowieso heute frisch

bezogen!“ Inge ging kopfschüttelnd nach unten, Ingrid wusch sich und zog

sich an, und Dixi holte seinen versäumten Morgenschlaf in Ingrids Bett nach.

Auf Tante Margretes selbstgebackenem Kuchen brannten sechzehn Kerzchen, und um den Kuchen lagen säuberlich eingepackte Geschenke in buntem Papier. Da war ein warmer Pulli von Tante Margrete und Onkel Peter, ein gesticktes Deckchen von Elke, zwei Taschentücher von den Zwillingen und eine Tafel Schokolade von Monika.

„Hier ist noch was“, sagte Inge. „Aber das Paket ist zu groß für den Frühstückstisch.“

Nanu, was hatte Inge sich jetzt einfallen lassen? „Oh, Inge! Nein, Inge, du bist wohl verrückt! Nein, so was

Hübsches! Und wie ich ihn brauche!“ Es war ein warmer, schöner Wintermantel, dunkelblau, mit einem

kleinen Pelzkragen. „Und grade jetzt, wo ich festgestellt habe, daß der alte Mantel

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hoffnungslos zu klein ist!“ Ingrid hatte schon die Arme in den neuen gesteckt.

„Au fein!“ rief Elke. „Jetzt kriege ich deinen alten!“ Ja, so war es immer gewesen. Die Kleidungsstücke wurden in der

Reihenfolge Ingrid – Elke – Monika – Grete vererbt. „Hier ist auch Post für dich“, sagte Tante Margrete. „Aus

Dänemark!“ Eine Karte und ein dicker Brief wurden Ingrid gereicht. Die

Karte war von Lise Hall. Und der Brief… „Nein, Inge!“ rief Ingrid. „Jetzt schlägt es aber dreizehn! Guck

dir das mal an!“ „Absender: Agate Jespersen“ stand auf der Rückseite. Das

Kuvert enthielt ein buntes Halstuch und einen kleinen Brief.

Liebe Ingrid!

Ich gratuliere vielmals zum Geburtstag. Ich

hoffe, daß mein Geschenk noch rechtzeitig

ankommt. Ich kann ja erst abends nach

Geschäftsschluß zum Briefkasten gehen.

Hoffentlich geht es Dir gut. Mit mir ist nicht

viel los. Mein Herz macht mir zu schaffen, und

jede Arbeit strengt mich sehr an. Ja, ich

merke eben das Alter. Ich wünsche Dir einen

schönen Geburtstag.

Viele Grüße von

Tante Agate

„Was ist mit ihr wohl los?“ wunderte sich Elke. „Das alte Biest, denkt sie wohl, daß du aus lauter Mitleid zu ihr zurückkommst?“ Ingrid steckte langsam den Brief zurück ins Kuvert.

„Weißt du, Elke, eigentlich ist sie kein Biest. Sie ist – ja, sie ist nur ein unglücklicher Mensch. Was hast du damals in Kopenhagen gesagt, Inge? ,Tante Agate ist wie ein Stiefkind auf Erden, weil sie nur die Liebe zum Geld mitbekommen hat.’ Nicht, so war’s doch? Wie hattest du recht! Wenn ich es jetzt so gut habe, hier unter meinen eigenen Lieben, und mit dir, Inge, dann denke ich manchmal an die scheußliche, muffige Wohnung von Tante Agate, denke an

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das traurige Leben, das sie führt, ganz allein, ohne einen einzigen Menschen, der sie liebhat. Ja, und dann – dann kann ich wirklich nur Mitleid empfinden. Ich bin keine Spur böse mehr – sie tut mir nur leid!“

Inge nickte. Ihre Augen waren auf das junge Mädchen gerichtet. Ihre Stimme hatte einen so sanften, warmen Klang. Und wie hatte die kleine Ingrid gelernt, sich auszudrücken, die richtigen Worte zu finden!

„So, Kinder, kommt zu Tisch!“ Tante Margrete stand in der Tür mit der feinen, geblümten

Kaffeekanne in der Hand. Jetzt kam auch Onkel Peter vom Kuhstall. Er war gerade noch mit dem Melken fertig geworden.

Und jetzt schmeckten die Brötchen, die frischen Eier und Tante Margretes Marmelade phantastisch gut.

Inge richtete die Augen auf das Geburtstagskind. „Wenn wir das damals gewußt hätten, Ingrid“, sagte sie.

„Damals, als wir in Flensburg die kleinen Affen fütterten!“ „Ja, wenn jemand mir damals gesagt hätte, in einem halben Jahr

wirst du zusammen mit dieser netten Dame am Frühstückstisch daheim sitzen und Geburtstag feiern! Ist es nicht komisch, wie ein Zufall einem das ganze Leben umkrempeln kann?“

„Na, umgekrempelt ist dein Leben ja nicht – du bist in deinem eigenen schönen Zuhause, bei allen, die du liebhast…“

Ingrid nickte. „Stimmt! Gerade bei allen! Weil du auch dabei bist! – Ach, wenn Tante Agate eine Maus in der Ecke wäre, wenn sie sehen könnte, wie schön man es haben kann! Wenn sie – ja, wenn sie bloß lächeln lernen könnte! Ich glaube, sie ist nie in ihrem Leben so richtig fröhlich gewesen!“

„Wenn das stimmt, verstehe ich, daß du vor allem Mitleid mit ihr empfindest“, sagte Tante Margrete. „Man möchte direkt etwas für sie tun, möchte ihr aus ihrem traurigen Dasein raushelfen, wenn man könnte! Aber, wie dem auch sei, ich habe jetzt zu tun, Kinder, und ihr auch! Monika, schnell zum Schulbus, du hast nur noch zehn Minuten Zeit! Elke, du mußt heute die Hühner füttern!“

„Das mache ich, Tante Margrete“, sagte Ingrid. „Elke muß zu den Kaninchen, wer weiß, ob die Graue heute nacht geworfen hat, es ist ja die Zeit! – Und du, Inge, was machst du?“

„Aufräumen“, seufzte Inge. „Es ist unglaublich, wieviel Kram sich bei mir angesammelt hat. Und Unterwäsche waschen und Blusen plätten, vergiß nicht, daß ich anständig aussehen muß, wo ich

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doch in einer Woche heirate!“ So gingen alle ihren Pflichten nach. Geburtstag hin, Geburtstag

her, in einem Sieben-Personen-Haushalt auf dem Lande darf der tägliche Arbeitsrhythmus nicht durcheinanderkommen. Eigentlich wurden alle Geburtstage hier im Haus nur durch ein festliches Frühstück gefeiert. Der Rest des Tages war Alltag und Arbeitstag.

Im Haus herrschte Mittagsruhe. Inge hatte mit ihnen gegessen wie jeden Tag. Drüben beim Nachbarn hatte sie nur Zimmer mit Frühstück, Mittags aß sie hier bei Ingrid und der Familie, und Abendbrot machte sie selbst.

Die Kinder waren draußen beim Spielen, Elke war zu ihrer Freundin gegangen und Ingrid saß allein im Zimmer. Allein, und von guten, glücklichen Gedanken erfüllt. Da lagen ihre Geburtstagsgeschenke. Der schöne Mantel war schon im Schrank, aber der Pulli und das Halstuch lagen noch da. Das Halstuch – sie hatte es gleich wiedererkannt. Tante Agate hatte es aus ihrem eigenen Schrank genommen. Ingrid hatte es oft genug gesehen, wenn sie nach dem Plätten die Taschentücher eingeräumt hatte.

Der Schrank in dem dunklen kleinen Schlafzimmer mit dem Fenster zum Hinterhof. Die ganze muffige Wohnung, die kalte Küche mit der abgeschabten Farbe, der Spülstein mit der abgeblätterten Emaille. Die schwere Luft, der Geruch aus dem Tabakladen…

Ingrid warf einen Blick durchs Fenster. Bald würde die Sonne untergehen. Ihre letzten Strahlen warfen einen roten Schimmer auf die weiten Felder, auf das letzte goldbraune Laub.

Es war alles so frei, so offen, so frisch, so – ja, so sauber! Wer kochte wohl jetzt für Tante Agate? Hatte sie überhaupt

jemand, der für sie sorgte? Was aß sie, außer ihren Margarinebroten? – Machte sie sich vielleicht selbst einen Grießbrei oder einen Haferschleim zu Mittag? Vielleicht ein Spiegelei?

Nein, Ingrid haßte sie nicht. Je mehr sie an sie dachte, desto größer wurde ihr Mitgefühl. Mußte man nicht Mitleid mit einem Menschen haben, der lebenslänglich im Gefängnis saß? In einem dunklen Gefängnis, von der großen schönen Welt ganz abgesondert? Wenn auch das Gefängnisdasein freiwillig war?

Ingrid holte ihre Schreibsachen aus der Schublade. Jetzt, gerade jetzt, in diesem Augenblick konnte sie Tante Agate schreiben. Eben jetzt, wo sie selbst so ruhig und so glücklich war!

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Liebe Tante Agate!

Vielen Dank für das hübsche Halstuch und für

Deine guten Wünsche. Es tut mir leid, daß

Deine Gesundheit Dir zu schaffen macht.

Könntest Du Dir gar nicht denken, für zwei

Wochen das Geschäft zu schließen und zur

Erholung aufs Land fahren? Ich habe doch

öfters in Kopenhagen das Schild mit

„Ferielukning“ im Fenster der geschlossenen

Läden gesehen. Und Ferielukning bedeutet doch

„Geschlossen wegen Ferien“? Mir geht es sehr gut. Ich bin, wie Du

weißt, wieder zu Hause und bleibe noch über

Weihnachten hier. Inge Skovsgaard hat bei

unserem Nachbarn ein Zimmer gemietet und hat

zwei Monate hier fleißig gearbeitet. Sie wird

in einer Woche heiraten. Und während sie auf

eine kurze Hochzeitsreise geht, werde ich

ihren Pudel Dixi hüten. Es wird bestimmt

gutgehen, denn Dixi hängt sehr an mir, und ich

an ihm. Er ist ein so liebes und kluges Tier.

Anfang Januar holen mich Inge und ihr Mann in

ihrem Wagen ab, und dann trete ich meine

Stellung als Haustochter bei den beiden an.

Ich denke auch viel an meine Zukunft. Ich habe

vor, soviel wie möglich von meinem

Monatsgehalt bei Inge auf die hohe Kante zu

legen, damit ich nachher etwas für meine

Ausbildung tun kann. Ich weiß noch nicht, was

es sein wird. Vielleicht Krankenpflege, aber

dazu bin ich noch zu jung. Außerdem möchte ich

so gern meine Schulkenntnisse ergänzen. Ich

habe ja nur die Volksschule, und ich möchte

doch z.B. Fremdsprachen lernen. Inge meint,

daß ich gute Anlagen habe, weil ich so schnell

Dänisch lernte. Nun ja, fließend spreche ich

es ja längst nicht, aber irgendwie habe ich es

ja geschafft. Ich wünsche Dir recht gute Besserung, und

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bedanke mich noch einmal für das hübsche

Halstuch, das ich sehr gut gebrauchen kann.

Viele Grüße von Ingrid

Ingrid legte den Kugelschreiber weg und las den Brief durch.

Dann schob sie die Gardine zur Seite und warf einen Blick rüber zum Nachbarhaus. Siehe da, in Inges Zimmer brannte Licht.

Sie steckte den fertigen Brief in die Tasche, zog eine Jacke an und lief die Treppe runter, dann über die Wiese, machte einen großen Schritt über die niedrige Hecke, dann weiter über die Nachbarwiese. So oft war sie hier gelaufen, daß sich in diesen zwei Monaten beinahe ein Pfad gebildet hatte.

Aber in wenigen Tagen war es zu Ende. Dann würde der Pfad nicht mehr benutzt werden. Sie würde Inge furchtbar vermissen. Aber in sechs Wochen würde sie nach München geholt werden, in sechs Wochen würde sie wieder bei Inge sein, für sie sorgen, ab und zu Modell sitzen, und sie würde eine große, schöne Stadt kennenlernen. Und in der Wartezeit würde sie ja Dixi haben. Er würde sicher dafür sorgen, daß sie keine Zeit zum Sich-Sehnen haben würde!

„Hab ich mir doch gedacht“, waren Inges Grußworte, „daß du kommen würdest! Es gibt noch einmal Tee aus den blauen Tassen, Ingridlein, aber dann werden sie auch schnell abgewaschen und eingepackt. Am Sonntag kommt Jan und holt den größten Teil meiner Sachen ab, dann muß er noch zwei Tage spielen. Und wenn du es nicht weißt, dann muß ich es dir sagen, daß ein Schauspieler, der gerade eine Hauptrolle hat, für solche Nebensachen wie Heiraten kaum die Zeit aufbringen kann.“

„Aber dann spielt er ja nicht in dem nächsten Stück…“ „Nein, zum Glück – und eine ganze Woche ohne Proben. Siehst

du, es ist schließlich das Theater, das unseren Hochzeitstag bestimmt hat. Und die Hochzeitsreise wird ja auch denkbar kurz. Ja, ja, Ingridlein, dann geht’s an die Hausfrauenpflichten, ich muß bis Neujahr meinen armen Mann bekochen. Wir werden bestimmt abnehmen, das wird mir übrigens guttun. Aber wie es nachher wird, wenn du den Kochlöffel schwingst – dann kommen bestimmt die Pfündchen wieder!“

„Ich kann ja nach Tante Agates Rezepten kochen“, schmunzelte

Page 103: Das kleine Reiseandenken

Ingrid. „Um Gottes willen, wir wollen doch nicht an Hunger und

Vitaminmangel sterben! Koch dann lieber so, wie du es von deiner Tante Margrete gelernt hast!“

„Ich habe übrigens Tante Agate geschrieben“, sagte Ingrid. „Und jetzt hast du den Brief in der Tasche, um ihn mir zu

zeigen?“ „Woher kannst du das wissen?“ „Weil ich dich kenne, mein Fräulein. Na, zeig mal her.“ Inge las

den Brief aufmerksam durch. „Sehr schön, Ingrid. Nicht zuviel und nicht zuwenig. Genau

richtig.“ „Inge, kannst du begreifen, warum sie mir geschrieben und ein

Geschenk geschickt hat?“ „O ja, ich begreife es schon. Sie merkt wohl, daß es nicht so

leicht ist, ganz für sich selbst zu sorgen. Nachdem du weg bist, ist es ihr vielleicht klargeworden, wieviel du eigentlich für sie getan hast, und sie bereut vielleicht, daß sie dich nicht so behandelte, daß du bei ihr geblieben bist.“

„Aber sie denkt sich doch wohl nicht, daß ich zurückkomme?“ „Kaum. Aber vielleicht – vielleicht ist doch ein kleines

verkrüppeltes Zärtlichkeitsgefühl in ihr wach geworden – vielleicht empfindet sie trotz allem eine Art Dank für alles, was du für sie getan hast. Anders kann ich es mir nicht erklären.“

„Ich auch nicht“, sagte Ingrid. „Du hast bestimmt recht, Inge. Das hast du ja beinahe immer!“

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Gute Ratschläge

Ingrid machte den Backofen auf und holte das Blech mit den duftenden, goldgelben Vanillekringelchen heraus. Ja, sie waren genau richtig. Vorsichtig löste sie das Gebäck vom Blech und legte es auf das große, bereitgestellte Tablett. Trotz aller Umsicht gingen zwei, drei davon kaputt, die Stücke wurden auf den „Unglücksteller“ gelegt, und als ob die Zwillinge es geahnt hätten, waren sie plötzlich in der Küche.

„Au fein, da sind doch welche kaputt!“ Eifrige kleine Hände holten sich die Stücke.

„Aber jetzt verschwindet ihr!“ sagte Ingrid streng. „Geht raus zu Dixi, er möchte bestimmt gern mit euch spielen, und hier kann ich euch nicht gebrauchen!“

„Ich muß aber Mutti was fragen“, wandte Hänschen ein. „Jetzt nicht, Mutti hängt die Gardinen im Wohnzimmer auf. Geht

nun endlich, hier könnt ihr euch die Finger verbrennen!“ Ingrid schubste die Kleinen zur Tür raus, bevor sie das nächste Blech in den Ofen schob.

Sie guckte auf die Uhr. Ja, sie hatte noch Zeit den Teig für die braunen Kuchen anzurühren. Dann könnte er bis zum Abend ruhen, und sie würde ihn dann ausrollen und backen, nachdem die Zwillinge im Bett waren.

Sie warf einen Blick durchs Fenster. Da tobten sie mit Dixi, er rannte nach den Stöckchen, die die Zwillinge warfen. Er genoß richtig seine Freiheit. Ja, wie würde es nun in München werden? Da mußte Dixi wieder an der Leine spazieren und in einer Etagenwohnung sich zurechtfinden, so wie in Kopenhagen.

Es würde eine Umstellung sein, sowohl für Dixi als auch für Ingrid selbst!

Vor drei Wochen hatte Jan Gerhold Inge abgeholt, seit vierzehn Tagen war Inge jetzt Frau Ingrid Gerhold. Sie hatte Ingrid eine Karte aus Wien geschrieben, von der Hochzeitsreise. Jetzt waren sie wieder in München. Jan ging jeden Tag zu Proben ins Theater, und Inge – was machte sie wohl? Malte sie oder war sie nur noch Hausfrau?

Ingrid lächelte. Sie dachte an Jan Gerhold, wie nett und lustig er mit ihr geplaudert hatte an dem Tag, als er Inge abholte.

„Daß du uns bloß nicht im Stich läßt!“ hatte er gesagt. „Wir

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brauchen dich dringend, Ingrid! Wir lassen den Staub liegen, bis du kommst, und nähren uns mit Dosenfraß. Ich verlasse mich nicht auf Inges Kochkünste! Sie hat mir errötend gebeichtet, daß sie nie in ihrem Leben einen Kasseler Rollbraten zubereitet hat!“

„Ich werde Tante Margrete fragen“, versprach Ingrid. „Und dann mache ich so einen Braten an dem ersten Sonntag. Ist das dein Lieblingsgericht?“

Ingrid mußte irgendwie einen Anlauf nehmen, um „Du“ zu sagen. Aber Jan Gerhold hatte gleich gesagt: „Machen wir bloß keinen Umweg um das Siezen, Ingrid! Du bist ja sozusagen Inges Pflegetochter. Und die Tochter seiner Frau kann man nicht siezen.“

Ja, er war lustig und warmherzig, und wunderbar gradeaus und unkompliziert. Gerade der Mann, der für Inge paßte!

Ingrid lächelte wieder. Bei Inge und Jan würde sie es gut haben, das wußte sie. Was hatte sie doch für Glück!

„Schon fertig mit den Vanillekringelchen, Ingrid? Das ist aber fein! Ich klaue ein einziges, bevor du sie in die Dose legst. Oh, die sind aber gut geraten.“

Es war Tante Margrete, die in die Küche gekommen war. „Fertig mit den Gardinen, Tante Margrete?“

„Ja, jetzt hängen sie! Und ich muß schleunigst mit dem Mittagessen anfangen. Nein, bleib wo du bist, mir genügt der kleine Tisch. Ich muß sowieso heute ein einfaches Essen machen.“

„Und ich muß zugucken“, sagte Ingrid. „Du weißt, ich muß soviel wie möglich lernen, bevor ich nach München fahre!“

„Freust du dich darauf?“ „O ja, das tue ich! Sehr sogar!“ Tante Margrete hatte ein Stück Speck geholt und war dabei, es in

dünne Scheiben zu schneiden. „Aber ich denke an etwas, Ingrid. Weißt du, zu meiner Zeit war

alles anders, da hieß es nicht ,Haustochter’ sondern ,Dienstmädchen’. Damals gehörte das Mädchen in die Küche und in ihr Zimmer. Die Frau des Hauses war ,die Gnädige’, mit der man privat nichts zu tun hatte.“

„Du meinst doch wohl nicht, daß ich Inge als ,die Gnädige’ betrachten soll?“

Tante Margrete schmunzelte. „Nein, das meine ich nicht! Aber ich denke daran, daß so eine

Stellung mit Familienanschluß dir vielleicht Probleme schaffen wird. Siehst du, ein junges, neuvermähltes Paar möchte gern für sich allein

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sein. Manchmal können sie gar nicht eine dritte Person gebrauchen. So lieb du ihnen auch bist. Was ich dir sagen wollte: Sorg dafür, daß du zum Beispiel abends, wenn Jan Gerhold also nicht im Theater ist, etwas in der Küche oder in deinem Zimmer zu tun hast. Ob es nun Plätten, Backen oder Abwaschen ist! Oder setz dich in dein Zimmer mit einem guten Buch. Du bist ja eine Leseratte!“

„Es tut auch nötig, Tante Margrete“, sagte Ingrid. „Es ist so furchtbar, furchtbar viel, was ich nicht weiß! Wenn Inge und Jan über die Rollen sprechen, dann weiß ich nie etwas über die Verfasser der Stücke. Als Jan mal erwähnte, er hätte den Romeo gespielt, wußte ich nicht, daß ein Dichter mit dem Namen Shakespeare ein Drama ,Romeo und Julia’ geschrieben hat. Ja, daß ich lesen werde, das verspreche ich dir. Und ich werde auch sehr daran denken, was du mir gesagt hast, daß ich die beiden oft allein lasse.“

„Ja, weißt du“, sagte Tante Margrete, als sie den restlichen Speck zurück in den Kühlschrank legte, „es ist besser, daß die beiden dich vermissen und sagen ,aber wo ist bloß Ingrid?’, als daß sie dich satt haben und denken ,ach, wenn das Mädchen uns doch endlich allein lassen würde!’“

„Du bist klug, Tante Margrete“, sagte Ingrid. „Na, das weiß ich nun nicht – aber ein blindes Huhn findet auch

manchmal ein Körnchen!“ „Nicht nur das“, lächelte Ingrid. „Das blinde Huhn lehrt das

Küken, wie man ein Körnchen findet!“ „Du wirst bestimmt viele finden“, sagte Tante Margrete mit

einem kleinen Zwinkern. „Aber wie dem auch sei, jetzt mußt du dich mit deinem Teig zurückziehen, ich muß den Speck braten!“

Der Heilige Abend wurde so schön wie er immer wird in Familien mit Kindern. Und in Familien, wo man sich gern hat und sich gut versteht. Da gab es keine sehr großen, teuren Geschenke, aber was es gab, kam von Herzen. Lauter nützliche und praktische Sachen. Inge hatte bei ihrer Abreise ein Paket hinterlassen mit einer großen Aufschrift: „Zutritt verboten! Erst am 24. 12. aufmachen!“

Jetzt wurde es ganz feierlich geöffnet. Da waren lauter kleine hübsche Päckchen drin, für jedes Familienmitglied eins. Ein Spielauto für Hänschen, eine Puppe für Grete, Monika bekam einen Federkasten, Elke Strumpfhosen und Ingrid ein Paar Hausschuhe. Für Tante Margrete war ein netter, bunter Hauskittel drin, und für Onkel Peter eine ganz feine, große Taschenlampe.

„Was ist deine Inge für ein lieber Mensch“, sagte Tante

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Margrete. „Sie hat sich genau gemerkt, was wir brauchen!“ „Und sie kann bestimmt unser Paket auch gebrauchen“, meinte

Ingrid. Sie hatte persönlich einen Christstollen für Inge gebacken, und Tante Margrete hatte ein großes Stück Landschinken geschickt.

„Dann verhungern sie ja nicht“, sagte Onkel Peter. „Eine Woche halten sie noch durch, und dann kommst du ja und versorgst sie.“

Ja, nur noch eine Woche und zwei Tage! Ingrid freute sich, und war auch ein bißchen ängstlich. Allerdings hatte sie sehr viel von Tante Margrete gelernt. Aber ob Jan mit den einfachen Gerichten zufrieden sein würde?

Nun ja, morgen sollte es Kasseler Rollbraten geben, und Ingrid hatte sich fest vorgenommen, nicht von Tante Margretes Seite zu weichen, während sie den zubereitete!

Diese letzten Tage flogen nur so dahin, und dann packte Ingrid am Abend des Neujahrstages ihren Koffer. Sie freute sich auf das, was sie erwartete. Gleichzeitig war es ein komisches und etwas wehmütiges Gefühl, alles hier zu verlassen.

„Laß man“, sagte Onkel Peter. „Diesmal weißt du jedenfalls, daß du es gut hast. Es war anders, als du nach Dänemark fuhrst. Wenn du damals geahnt hättest…“

„Dann wäre ich doch gefahren, Onkel Peter“, sagte Ingrid. „Denn wenn ich überhaupt Ahnungen gehabt hätte, hätte ich auch geahnt, daß ich Inge kennenlernen würde. Und das war die ganze schlimme Zeit bei Tante Agate wert!“

Vierundzwanzig Stunden nach diesem Gespräch stand Ingrid in einem kleinen, netten Zimmer in einer Etagenwohnung in München und packte ihren Koffer aus. Nun ja, Etagenwohnung – es war eine Mansarde, aber eine ganz große. Der Mittelpunkt der Wohnung war Inges Atelier mit großen Dachfenstern. Da war auch eine gemütliche Sitzecke mit Fernseher und Radio. Dann hatte Jan ein kleines Arbeitszimmer zum Rollenstudieren. Auf der anderen Seite des Flurs waren das Schlafzimmer, Küche und Bad und Ingrids Zimmer. Gegessen wurde in der Küche, da war eine recht nette Eßecke eingerichtet. „Wenn wir Gäste haben, essen wir eben im Atelier“, hatte Inge erklärt, als sie Ingrid durch die Wohnung führte.

Inge hängte ihre Sachen in den Kleiderschrank, legte die Unterwäsche in die Schubladen. Da kam Inge mit Dixi an. Er war überglücklich, weil er sein Frauchen wiederhatte.

„Nun, Ingridlein, findest du dich auch zurecht hier?“ „O ja, wunderbar. Du hast alles so schön für mich eingerichtet,

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Inge! Und weißt du, es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich ein Zimmer für mich habe! Denn ich rechne nicht das Wohnzimmer bei Tante Agate, wo ich auf ihrem Plüschsofa schlief!“

„Dafür schläfst du jetzt auf meiner Couch aus Kopenhagen“, lächelte Inge.

„Ja, ich erkenne sie wieder! Und auch den Schrank und den Korbsessel! Nur der kleine Tisch fehlt.“

„Der steht im Atelier. Und da werden wir beide gleich Tee trinken – aus den blauen Tassen, Ingrid! Ja, Jan ist schon weg, er kommt erst gegen 23 Uhr nach Hause. Ich muß eben schnell Dixi Gassi führen, kommst du mit? Nachher gibt es Tee!“

Da war eine kleine Parkanlage in der Nähe. Dorthin wurde Dixi geführt. Es gab unzählige aufregende Düfte, und Dixi mußte an jeder Duftecke das Beinchen heben.

„Weißt du, was das bedeutet?“ sagte Inge. „Ich, Dixi aus Kopenhagen, bin hierhergekommen, bitte, hier ist meine Visitenkarte!“

„Das ist es wohl, was die Zoologen ,Markieren’ nennen“, sagte Ingrid. „Ich habe darüber gelesen.“

„Ja, das stimmt. Und Ingrid, wenn du mal allein abends mit Dixi gehst, dann bleib hier in diesen kleinen friedlichen Straßen. Hier triffst du immer andere Hundebesitzer. Geh bloß nie in den großen Park mit den dunklen, unübersichtlichen Wegen! München ist eine große Stadt, und jede Großstadt kann gefährlich sein. Alle Menschen sind nicht gut und anständig, das darfst du nicht vergessen. In jeder Großstadt gibt es Diebe und Gewaltverbrecher!“

„Dixi würde mich schon verteidigen!“ tröstete Ingrid. „Sicher! Aber trotzdem. Ein Gewaltverbrecher würde wohl auch

mit einem kleinen Pudel fertig werden. So, Dixi, hast du jetzt genug geschnüffelt? Komm, nu gaar vi hjem og drikker te!“

Als Dixi die dänischen Worte hörte, spitzte er die Ohren. Diesen Satz kannte er nur zu gut; „Komm, Dixi, wir gehen jetzt nach Hause und trinken Tee.“ Teetrinken bedeutete für Dixi ein paar Kekse oder ein Stück Kuchen. Also ging er fröhlich und ohne Widersprüche mit und rannte als erster die vielen Treppen nach oben!

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Pflichten und Zukunftspläne

München, 10. Januar

Liebe Tante Margrete! Jetzt ist es aber an der Zeit, daß ich von mir

hören lasse. Heute abend spielt Jan nicht, er

ist zu Hause und ich denke an Deine klugen

Worte und lasse die beiden allein. Nun habe

ich mich an die praktische Schreibklappe in

meinem urgemütlichen Zimmer gesetzt und werde Dir erzählen, wie es mir geht. Eigentlich

könnte ich es mit einem einzigen Wort

ausdrücken, nämlich: Großartig! Die Wohnung ist praktisch eingerichtet und leicht zu pflegen. Alles wird hier elektrisch gemacht! Staubsaugen, Bohnern, Waschen, Mangeln, ja sogar Abwaschen! Wenn ich einmal ganz reich bin, schenke ich Dir eine Geschirrspülmaschine. Das ist eine ganz feine Sache! Ja, und dann wird Teig elektrisch gerührt, und Zwiebeln elektrisch gehackt und Petersilie elektrisch gewiegt. Das einzige,

wozu wir keinen elektrischen Apparat haben, ist das Gassigehen mit Dixi! Es dauerte ein paar Tage, bis ich gelernt hatte, mit all diesen Apparaten umzugehen. Aber jetzt klappt es ganz gut. Ich mache alle Einkäufe in einem großen Supermarkt. Da darf ich Dixi nicht mitnehmen, denn es kommt vor, daß Hunde, die draußen angebunden sind, gestohlen werden! Wenn das mit Dixi passieren sollte! Nicht auszudenken! Mit dem Kochen ist es jedenfalls bis jetzt gutgegangen. Deine Kartoffelknödel wurden ein

großer Erfolg, ebenso Deine eingelegten

Heringe. Aber Deine Speckeierkuchen darf ich

nicht machen, wegen der Kalorien! Jan hat mir

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erklärt, daß er mit einem dicken Bauch und

einem fetten Nacken keine Heldenrollen mehr

spielen kann. Er muß schon vorsichtig sein.

Und Inge stöhnt auch über ihre Pfündchen. Als

Nachtisch gibt es hier immer frisches Obst.

Die Kartoffelknödel darf ich nur zweimal im

Monat kochen. Vorgestern war ich mit Inge im Theater! Das

war vielleicht ein Erlebnis! Bis jetzt hatte

ich ja nur zweimal Theateraufführungen

gesehen. Weißt Du noch, als ein Tourneetheater

bei uns im Gemeindehaus spielte? Dies war ganz

was anderes! Das Theater ist so groß, und so

schön, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie

schön. Und die Bühne ist riesengroß. Ich

konnte Jan kaum wiedererkennen, denn er trug

eine blonde Perücke. Nachher besuchten wir ihn

in seiner Garderobe, und er sah furchtbar aus,

mit ganz dicker Schminke im Gesicht. Aber im

Bühnenlicht war er direkt schön. Das Stück

hieß „Lady Windermeres Fächer“, und es ist von

einem Engländer namens Oscar Wilde

geschrieben. Ich hatte den Namen nie gehört.

Aber gestern abend saß ich hier und las eine

Menge über ihn. Auch über einen anderen großen

Dichter, der Bernard Shaw heißt. Ach, ich bin

ja so unwissend, Du ahnst nicht, wieviel ich

nachzuholen habe! Im Februar soll Jan eine

große Hauptrolle spielen und Inge hat mir

versprochen, mich zur Premiere mitzunehmen.

(Das Wort Premiere habe ich auch hier

gelernt.) Sie hat mir ein hübsches Kleid

geschenkt, das ihr zu eng geworden ist. Mein

Glück! Denn zu einer Premiere muß man sich

fein anziehen. Wir sind auch zusammen in der Stadt gewesen,

zum Einkaufen. Die Stadt macht mich ganz schwindelig! In einigen Straßen ist der

Verkehr so dicht, daß man sie einfach nicht

überqueren kann. Aber da sind Fußgänger-

Unterführungen unter der Straße gebaut. Treppe

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runter, durch einen langen Gang, Treppe hoch,

und dann ist man auf der anderen Straßenseite. Ich habe „Ausgang“ jeden zweiten Sonntag und

jeden Mittwoch nachmittag. Am kommenden

Sonntag werde ich in den Zoo gehen. Da kann

man ja auch allein rumwandern. Ich wünsche

nur, daß ich eine Freundin hätte, eine, mit

der ich meine freien Tage verbringen könnte.

Nun ja, wer weiß, es kommt vielleicht noch.

Also, es geht mir sehr gut, Inge und Jan sind

reizend zu mir, und ich denke täglich an Deine

klugen Worte, und lasse die beiden allein. –

Hier wurde ich unterbrochen. Jan kam und sagte

mir, daß in fünf Minuten eine schöne

Fernsehsendung anfängt, ein Tierprogramm, das

ich unbedingt sehen muß. Grüße alle – ich

denke viel an Euch! Viele, viele liebe Grüße

von Deiner

Ingrid Die Tage flogen dahin. Wenn Ingrid Vollbeschäftigung hatte, lag

es nicht ausschließlich an der Hausarbeit. Die war leicht zu bewältigen, und Inge nahm ihr auch viel ab. Zum Beispiel das langweilige Staubwischen, die Pflege der Zimmerpflanzen und andere zeitraubende Kleinarbeiten. Was Ingrids freie Stunden ganz und gar ausfüllte, war das Lesen. Sie durfte aus Jans großem Bücherregal alles herausholen, was sie wollte. „Wenn du bloß nicht die Bücher aus dem Haus bringst“, hatte Jan lächelnd gesagt. Sie las Romane, Biographien, und vor allem Dramatik. Wenn ein Schauspieltitel nur erwähnt wurde, suchte Ingrid sich das Buch heraus. Sie las und las. „Du hast anscheinend vor, Literaturhistoriker zu werden“, sagte Inge schmunzelnd, als Ingrid sich wieder ein neues Buch holte.

„Vorläufig habe ich vor, noch etliche Löcher in meinem Wissen zu stopfen“, antwortete Ingrid. „Du ahnst nicht, wie furchtbar es ist, so unwissend zu sein!“

Inge sah sie einen Augenblick gedankenvoll an. „Weißt du, Ingrid, das ist alles nur halb so schlimm. Wissen kann

man sich immer aneignen. Die Hauptsache ist, daß das Gehirn

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imstande ist, das Gelesene und das Gelernte aufzunehmen. Daß man einen gewissen Grips hat. Und das hast du, Ingrid. Du hast alle Vorbedingungen, du brauchst nur zu lernen. Du warst ja mit die Beste in der Schule, erzählte deine Tante Margrete.“

„Nun ja – das war ich wohl.“ „Ich habe viel darüber nachgedacht, wie du weiterlernen

könntest, Ingrid. Wenn es nun möglich wäre, einen Abendkurs zu besuchen, und vielleicht die mittlere Reife zu machen. Hättest du dazu Lust?“ Ingrids Augen strahlten.

„Und ob ich Lust hätte!“ „Weißt du, wenn du bei deinen Krankenpflegeplänen bleibst, hast

du ja zwei Jahre zu überbrücken. Ich glaube, man muß achtzehn sein, um als Schwesternschülerin aufgenommen zu werden. Vielleicht könntest du bis dahin die mittlere Reife geschafft haben.“

„Ja, aber Inge, es ist ja nicht mit den Unterrichtsstunden getan. Ich müßte ja auch zu Hause lernen. Und was wäre dann mit meiner Arbeit hier?“

„Na, dann müßte ich selbst ein bißchen mehr tun, das ist klar. Weißt du was, ich werde mit Jan darüber sprechen. Ich schlage dir vor, daß du bis Anfang September wartest, dann fangen sicher neue Kurse an, und zu der Zeit werden wir einen Plan gemacht haben, das verspreche ich dir!“

„Ihr seid zu lieb zu mir, Inge.“ „Was du nicht sagst! Und was bist du zu uns? Du sollst etwas

lernen, Ingridlein, etwas, worauf du deine Zukunft aufbauen kannst. Ich denke, daß ich mit meinem Sparschwein und dem guten Gehalt, das ihr mir zahlt, schon einen Abendkurs belegen kann.“

„Es war ja eigentlich meine Idee, so einen Kurs für dich zu bezahlen“, sagte Inge. „Aber wir bleiben dann dabei, Ingrid? Vorläufig machst du deine Kartoffelknödel und deine eingelegten Heringe für uns…“

„…und plätte eure Taschentücher und führe Dixi spazieren“, unterbrach Ingrid. „Und lese Jans Bücher abends. Himmel, ich muß ja raus mit Dixi, es ist höchste Zeit.“

„Hat er denn nicht heute mittag ,sowohl als auch’ gemacht?“ fragte Inge.

„Nur ,sowohl’! Jetzt ist bestimmt ,als auch’ fällig“, lächelte Ingrid und holte die Hundeleine vom Haken im Flur.

Nach weiteren zwei Wochen hatte Ingrid sich in München gut zurechtgefunden. Sie konnte allein mit dem Bus in die Stadt fahren,

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sie machte ihre Einkäufe, und sie war allein mit Dixi bei der Tierärztin gewesen, als er geimpft werden sollte. Es machte ihr Spaß, im Wartezimmer die verschiedenen Hunde, Katzen und deren besorgte Frauchen zu studieren. Sie kam mit einer jungen Dame ins Gespräch, und die Zeit verging so schnell, bis sie aufgerufen wurde. Sie hatte Dixis dänische Impfkarte mit und mußte der Tierärztin ein paar dänische Worte übersetzen. Das Wesentlichste waren aber lateinische Ausdrücke.

Die Tierärztin nickte und sagte: „Ja, ich sehe es, es ist die dreifache Impfung, wann war das – ach so, ja, dann ist sie jetzt fällig!“

Sie zeigte Ingrid, wie sie Dixi festhalten sollte und bat sie, mit ihm zu sprechen, ihn zu beruhigen.

„Dixi, vi skal gaa hjem og drikke te“, sagte Ingrid in ihrem nicht gerade fließenden Dänisch. Aber Dixi schien zu verstehen. Dann stotterte sie noch ein paar dänische Worte zusammen, Dixi horchte – und eins, zwei, drei war die Spritze fertig. Es ging so schnell, daß Dixi nicht einmal Zeit zum Ängstlichwerden hatte!

Ingrid guckte sich um in der hübschen Praxis, sie beobachtete die flinken, geübten Hände der Tierärztin. Wie müßte es schön sein, den ganzen Tag mit Hunden und Katzen sich zu beschäftigen, ihnen zu helfen und sie gesund zu machen!

Sie bezahlte gleich, wie Inge es ihr gesagt hatte. Als sie auf das Wechselgeld wartete, sprang Dixi auf ihren Schoß.

„Na, du kleiner Ausländer“, lächelte die Ärztin und strich Dixi schnell über den Kopf. „Du warst ja ganz lieb! Übrigens ein sehr schönes Tier“, fügte sie hinzu. „Also, ein paar Tage ein bißchen vorsichtig sein, nicht allzu weite Wanderungen mit dem kleinen Kerl machen. Sagen Sie Frau Gerhold, daß ihr Dixi in bester Verfassung ist, er wirkt kerngesund.“

Ingrid wanderte in Gedanken versunken nach Hause. Krankenpflege – ja, das war ein schöner Beruf. Bestimmt. Aber –

wenn sie nun Tierpflege wählen würde? Vielleicht brauchte sie dann nicht zu warten, bis sie achtzehn war?

Sie wollte mit Inge darüber sprechen. Als sie an dem Abend mit Inge beim Tee saß – Jan war im

Theater und „machte Kunst“, wie er zu sagen pflegte – , wollte Ingrid das Thema zur Sprache bringen. Aber sie kam nicht dazu. Es war Inge, die anfing. Und dann vergaß Ingrid für eine Weile alles, worüber sie hätte sprechen wollen.

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„Ingridlein, ich werde dir was erzählen“, sagte Inge, und ihr Gesicht hatte ein glückliches, irgendwie geheimnisvolles Lächeln. „Du weißt doch, wer in diesem Haus die Hauptperson ist?“

Ingrid sah einen Augenblick verständnislos aus, dann lächelte sie. „Na, klar! Die Hauptperson ist natürlich Dixi!“

„Stimmt. Aber was würdest du nun sagen, falls eine neue Hauptperson plötzlich auftreten würde?“

„Eine neue – werdet ihr euch noch einen Hund anschaffen?“ Inge schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht. Aber… ja, siehst du, Ingridlein… ich kriege ein

Kind!“

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Wieder auf Reisen

Die Februarsonne guckte zum Küchenfenster herein, direkt auf Ingrid, die am Tisch stand und Kartoffeln schälte. Sie summte leise vor sich hin und lächelte mit der Sonne um die Wette. Inge kam durch die Tür.

„Du siehst so fröhlich aus, Ingrid. Seit wann singst du bei der Arbeit?“

Inge stellte eine große Blumenvase auf den Tisch und nahm die Blumen heraus, um das Wasser zu wechseln.

„Ich weiß nicht! Ich bin eben so guter Laune… aber Inge! Die schwere Vase darfst du gar nicht tragen! Jan hat doch gesagt…“

„Ich weiß genau, was Jan gesagt hat. Er ist halb verblödet. Ich darf nicht dies und nicht das, darf nicht einen vollen Einkaufskorb tragen und nicht schnell die Treppe laufen und nicht…“

„Aber Inge, das ist doch nur schön, daß er soviel Rücksicht auf dich und auf das Baby nimmt!“

„Ja, entzückend! Er behandelt mich, als wäre ich eine schwerkranke Patientin, und dabei strotze ich vor Gesundheit! Am liebsten würde er mich in eine Vitrine einschließen! Ich hätte ihm gar nichts von der Schwangerschaft erzählen sollen!“

„Bis er eines Tages nach Hause käme und dich mit deinem Erstgeborenen im Arm vorfände“, lachte Ingrid.

„Na, bis dahin hätte er es wohl entdeckt. Jedenfalls habe ich es ihm viel zu früh erzählt. Daß ein Mannsbild so verrückt werden kann! Das neueste ist, daß er mir verboten hat, das Tonbandgerät anzuheben.“

„Und ich muß jeden Morgen mein Ehrenwort geben, daß ich gut auf dich aufpasse!“ schmunzelte Ingrid. „Aber im Ernst, Inge, er freut sich doch so ganz schrecklich auf das Kind!“ Da kam ein warmes Leuchten in Inges Augen.

„Ja, das tut er! Ach, Ingridlein, er ist doch der liebste und beste Mann auf der Welt, er ist nur zur Zeit ein bißchen… ein bißchen…“

„Übertrieben“, schlug Ingrid vor. „Aber jedenfalls trage ich jetzt die schwere Bodenvase ins Wohnzimmer, sonst könnte ich nachher Jan nicht unter die Augen treten! Ach, da ist die Post, ich laufe schnell nach unten! Nein, du darfst nicht, Inge, all die Treppen…“ Es hatte zweimal geklingelt. Ingrid lief schon zur Tür.

„So, nun fängst du auch an“, stöhnte Inge. „Es würde mich nicht

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wundern, wenn Jan hier einen Lift einbauen ließe, damit seine zarte Frau keine Treppen zu steigen braucht!“

Ingrid brachte eine Zeitschrift und ein paar Briefe, einer davon hatte dänische Marken. Inge machte ihn auf und las schnell.

„Ach, du heiliger Bimbam! Jetzt wird Jan Zustände kriegen, wenn ich ihm erzähle, daß ich für ein paar Tage nach Kopenhagen muß!“

„Was? Nach Kopenhagen?“ „Eben. Ich muß unbedingt dort ein paar Sachen in Ordnung

bringen. Es geht um den Verkauf eines Bildes, und vielleicht gibt es auch eine neue Bestellung. Na, das ist ja nicht schlimm, ich fliege eben, und ein paar Tage kannst du wohl Jan und Dixi ohne meine wertvolle Hilfe versorgen?“

„Das werde ich wohl können. Aber was Jan dazu sagt? Ich fürchte, du hast recht, er wird Zustände kriegen!“

Inge behielt recht. Denn als sie am Mittagstisch ihrem Mann von dem Brief und der Reise erzählte, legte er Messer und Gabel aus der Hand und starrte seine Frau entsetzt an.

„Was? Reisen? Fliegen? Du bist wohl nicht bei Trost? Und jetzt, wo ich die schwere Rolle einstudiere – jetzt, wo ich täglich die langen Proben habe…“

„Aber lieber Jan, du kannst ruhig weiterproben. Du bist es doch nicht, der nach Kopenhagen muß!“

„Ich lasse dich doch nicht allein fahren! Mit einem schweren Koffer. Und allein im Hotel wohnen, womöglich im fünfzehnten Stock. Und wenn dort ein Feuer ausbräche oder…“

„…oder ein Tornado“, sagte Inge trocken. „Lieber Jan, ich werde bei Familie Hall wohnen, das Fremdenzimmer liegt im Parterre, und ich brauche nur einen kleinen Koffer, und…“

„… und schwangere Frauen dürfen nicht fliegen!“ rief Jan. „Das ist mir neu“, sagte Inge. „Aber meinetwegen, ich kann gern

mit der Bahn fahren.“ „Eins sagte ich dir!“ kam es energisch von Jan. „Ich lasse dich

nicht allein fahren! Wenn es unbedingt sein muß, dann fahr eben, aber dann nimmst du Ingrid mit!“

„Das tu ich gern. Es ist allerdings vollkommen überflüssig, aber wenn du meinst. Und was ist mit Dixi?“

„Er wird vor und nach den Proben Gassi geführt, und während der Probe schläft er in meiner Garderobe. Nur Ingrid muß dafür sorgen, daß genug Hundefutter im Tiefkühlfach ist.“

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„Ich werde auch für ein bißchen Menschenfutter sorgen“, lächelte Ingrid. „O Jan, das ist großartig, daß du um Inge so besorgt bist. So komme ich zu einer Kopenhagenreise!“

„Aha, du sehnst dich wohl nach deiner geliebten Tante Agate!“ neckte Jan.

„Sehnen ist wohl ein bißchen übertrieben. Aber wißt ihr was, wenn ich nach Kopenhagen komme, ist es schon möglich, daß ich bei ihr reingucke, nur um guten Tag zu sagen. Sie ist so furchtbar einsam – sie macht sich selbst das Leben so unendlich grau…“

„Eigentlich bist du ein liebes Mädchen, Ingrid“, sagte Jan. „Na denn, fahrt in Gottes Namen los, ihr beiden. Und du Ingrid paßt wie ein Schießhund auf, daß Inge keinen Koffer trägt und daß sie…“

„…Herrn Hall sagt, er darf nur im ersten Gang fahren, wenn er uns am Bahnhof abholt“, schlug Ingrid vor.

„Und dich habe ich ein liebes Mädchen genannt!“ brummte Jan. „Eine unverschämte Göre bist du! Jedenfalls bin ich sehr froh, daß du mitfährst!“

Froh war Ingrid auch. Sich vorzustellen, wieder mit Inge zu reisen, so wie damals, und die reizende Familie Hall wiederzutreffen!

Daß sie beide willkommen waren, das wußte sie. Als sie im September ihren Abschiedsbesuch bei Halls gemacht hatten, waren Frau Halls letzte Worte: „Und vergeßt nicht, ihr seid jederzeit allerherzlichst willkommen, beide! Unser Fremdenzimmer wartet immer auf euch!“

In dem Sinne war auch der Brief geschrieben, der nach wenigen Tagen als Antwort auf Inges Mitteilung eintrudelte. Da war auch ein Extrazettelchen für Ingrid drin:

Liebe Ingrid! Prima, daß Du kommst! Ich kann jetzt etwas

mehr Deutsch, und Merete brennt darauf, Dir

unsere neuen Kätzchen zu zeigen. Unsere Muschi

hat schon wieder einen Wurf. Papa und ich

holen Euch vom Bahnhof ab! Viele herzliche

Grüße von

Lise

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Dann kam der Tag, an dem die beiden Ingrids sich wieder gegenüber im Zug saßen. Diesmal in der ersten Klasse! Es war Jan, der mit der Handbewegung und der Kraft eines trainierten Skatspielers zwei Karten erster Klasse auf den Tisch gepfeffert hatte. „Mein Kind soll bequem reisen!“ war seine energische Erklärung.

Ja, sie hatten es bequem. Vorläufig waren sie allein im Abteil, und konnten sich „breitmachen“, wie Inge sagte. Inge holte eine Strickarbeit aus ihrer Tasche – ein eben angefangenes Strampelhöschen.

„In Kopenhagen werde ich mehr Strickwolle kaufen“, sagte sie. „Die dänische Wolle ist sehr schön!“

Ingrid nickte. In dem kleinen Geschäft Mortensen & Co, in der Nähe von Tante Agates Wohnung, hatte sie selbst ein großes Regal voll bunter Wolle gesehen. Ja, dorthin wollte sie gehen. Da hatte sie damals ihr buntes Kleid gekauft. Frau Mortensen verstand Deutsch.

Ingrid wollte ja auch Babysachen stricken! Sie holte sich nun ein Buch heraus. Und während die beiden sich

mit Stricken und Lesen beschäftigten, brachte der Zug sie immer weiter gen Norden.

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Tante Agate Es war ein neues und seltsames Gefühl für Ingrid, sozusagen als „freier Mensch“ durch die wohlbekannten Straßen zu gehen. Hier in der Gegend, wo sie in hilflosem Dänisch ihre Einkäufe gemacht hatte, immer mit der Angst, Tante Agate würde schimpfen, weil sie zuviel Geld verbraucht hatte. Hier, wo sie die billigsten Sachen aussuchte, kleine Mengen kaufte und rechnen und zählen mußte. Hier, wo sie sich immer hatte beeilen müssen, weil Arbeit auf sie wartete, Arbeit in der dunklen, kalten Küche…

Wie anders war es jetzt! Sie hatte keine Sorgen, sie war gut angezogen, sie hatte Geld in der Tasche, Geld, das ihr selbst gehörte. Trotz aller guten Sparvorsätze hatte sie hundert Mark von ihrem Gehalt umgewechselt. Du liebe Zeit, was bekam sie doch für eine Menge dänische Kronen dafür!

Sie fand das Geschäft und sie fand die Wolle, die sie suchte, feine, weiche Babywolle. Und die Inhaberin erkannte sie.

„Sie waren doch damals bei Frau Jespersen?“ fragte sie, während sie die Wolle einpackte. Ingrid nickte.

„Und was machen Sie denn jetzt, während Frau Jespersen im Krankenhaus ist?“

„Im Krankenhaus? Das ahnte ich nicht. Ich bin nur zu Besuch in Kopenhagen. Ich fahre in wenigen Tagen zurück nach Deutschland.“

„Ach, wußten Sie das nicht? Ein Kunde hatte sie ohnmächtig im Laden gefunden, er hat einen Arzt gerufen, und sie kam dann ins Städtische Krankenhaus. Es war – ja, vorigen Mittwoch wird es gewesen sein. Ich habe ja den Krankenwagen vor dem Haus gesehen, er fuhr mit Blaulicht davon.“

„Ich hatte keine Ahnung“, wiederholte Ingrid. „Ich glaube – ja, ich werde sie besuchen.“

„Das ist aber nett von Ihnen. Sehr nett, nachdem Sie es so schwer bei ihr hatten!“

Ingrid antwortete nicht, aber sie wunderte sich darüber, wieviel Nachbarn oft wissen. Wie konnte nur diese Frau ahnen, daß Ingrid es so schwer gehabt hatte? Sie hatte sich doch nie beklagt, hatte nie mit den Nachbarn gesprochen außer „guten Tag“ oder „wie ist es doch heut kalt“ oder „heut gibt es Rindfleisch im Sonderangebot beim Schlachter“.

Aber Tante Agate hatte dreißig Jahre hier gewohnt, dann hatten

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wohl die Nachbarn so allmählich ihren Geiz kennengelernt. „Ich kenne die Besuchszeiten im Krankenhaus“, sagte Frau

Mortensen. „Ich habe sie mir aufgeschrieben, als meine Schwester da lag. Moment mal, ich schreibe sie Ihnen schnell auf! Sollten Sie wieder in diese Gegend kommen, dann erzählen Sie mir, wie es Frau Jespersen geht – ja, und grüßen Sie sie und wünschen ihr gute Besserung!“

Ingrid wunderte sich noch, als sie wieder auf der Straße stand. Erstens, daß Frau Mortensen sie wiedererkannt hatte, dabei hatte sie doch so wenig bei ihr gekauft – ein billiges Kleid im Ausverkauf, sonst nur ein paar Wäscheknöpfe, etwas Nähgarn, ein- oder zweimal eine Strumpfhose.

Zweitens wunderte sie sich darüber, wie die Menschen sich für ihre Nachbarn interessieren.

Im Blumenladen kaufte sie ein paar Anemonen, dann begab sie sich zum Krankenhaus.

„Agate Jespersen? Moment mal – vorigen Mittwoch – mal sehen – ja, auf der Station für Innere Medizin, Zimmer vierundzwanzig.“

Es war nicht leicht, sich in dem großen Krankenhauslabyrinth zurechtzufinden. Aber endlich fand Ingrid das Schild mit „Indre-medicin“ und ging die Treppe hoch. Da oben in einem langen, weißen Korridor kam ihr eine Krankenschwester entgegen.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte sie freundlich, als sie Ingrids suchende Augen sah.

„Ja, bitte. Zimmer vierundzwanzig, Frau Jespersen.“ „Frau Jespersen? Ach, das ist aber schön, sie hat noch keinen

einzigen Besuch gehabt. Aber bleiben Sie nicht zu lange, Frau Jespersen ist schwer krank. Außerdem bedrückt sie etwas, ich weiß nicht was, aber sie ist so nervös, kommt gar nicht richtig zur Ruhe und antwortet nicht, wenn wir fragen. Vielleicht spricht sie mit Ihnen! Hier, diese Tür.“ Die nette Schwester machte eine der weißen Türen auf und ging vor Ingrid in das Zimmer.

„Besuch für Sie, Frau Jespersen!“ Es war ein Dreibettzimmer. Die Schwester zeigte mit dem Finger

auf das Bett am Fenster. Dort drehte sich ein Kopf, langsam, und Ingrid erkannte Tante Agates Gesicht. Aber wie war es verändert! Eingefallen, blaß, müde, mit einem Ausdruck, den Ingrid nie bei ihr gesehen hatte.

Ein erwachsener, erfahrener Mensch hätte gesagt: „Sie ist schon vom Tode gezeichnet.“ Aber Ingrid war jung und unerfahren. Sie sah

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nur, daß Tante Agate sehr verändert war. „Guten Tag, Tante Agate. Ich bin es – Ingrid!“ Da richtete die Patientin die Augen auf sie, jetzt kam Leben in ihren Blick. „Ingrid! Was machst du in Kopenhagen?“ Die Stimme war leise, beinahe nur ein Flüstern. „Ich begleite nur Inge Ger… Inge Skovsgaard“, antwortete Ingrid. „Ich hörte zufällig im Laden, daß du krank bist, Tante Agate. Wie geht es dir?“

Sie antwortete nicht direkt. Sie starrte Ingrid unentwegt an, dann flüsterte sie: „Ingrid… du besuchst mich… ich dachte, du wärest in Deutschland… danke für deinen Brief… geht es dir gut?“ Es kam stoßweise, mit Pausen. „Ja, Tante, es geht mir sehr gut. Ich wollte nur fragen, ob ich vielleicht etwas für dich tun kann?“

Tante Agates Augen bekamen einen neuen Ausdruck, einen Ausdruck von Entschlossenheit. „Ja, du kannst. Nimm… im Schub… meine Schlüssel…“ Ingrid öffnete den Nachttischschub. Da lagen ein Portemonnaie, ein Personalausweis und ein Schlüsselbund.

„Zu Hause… Wäscheschrank… ganz unten… unter der Bettwäsche…“ Das Flüstern wurde leiser, Ingrid mußte sich sehr anstrengen, um es zu verstehen.

„Ja, Tante. Unter der Bettwäsche. Liegt da etwas, was ich dir bringen soll?“

„Großes graues Kuvert. Dickes Kuvert. Bring es mir. Bald. Es eilt. Bald. Ingrid, bald!“

„Ja, Tante Agate. Ich fahre direkt hin, sofort.“ „Keinem Menschen was sagen“, flüsterte Tante Agate.

„Versprich!“ „Mein Ehrenwort, Tante Agate.“ „Dann geh. Komm bald wieder. Es eilt.“ Ingrid stand auf, verabschiedete sich. Sie war halbwegs zur Tür,

als sie noch einmal das heisere Flüstern vernahm: „Fräulein… Skovsgaard… soll… mitkommen…“

„Ja, Tante Agate. Sie wird mitkommen.“ Draußen auf dem Korridor traf Ingrid wieder die junge

Schwester. Ingrid stotterte die notwendigen dänischen Worte zusammen und fragte, wann sie wiederkommen dürfe, sie sollte was Wichtiges für Frau Jespersen erledigen.

„Warten Sie einen Augenblick, ich werde die Stationsschwester fragen.“

Ingrid wartete in dem weißen Korridor. Da kam die junge Schwester zurück, von einer älteren begleitet.

„Sie können heute abend zwischen sieben und halb acht

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kommen. Sagen Sie unten beim Pförtner, daß Schwester Johanna Sie herbestellt hat.“

„Frau Jespersen ist wohl sehr krank?“ fragte Ingrid. „Ja. Sie ist sehr krank. Wenn Sie heute abend kommen, möchte

ich gern mit Ihnen sprechen. Wenn Sie mich auf der Station nicht sehen, fragen Sie bei einer Schwester nach mir. Stationsschwester Johanna.“

„Ja. Vielen Dank, Schwester Johanna!“

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Der große Frieden Mit seltsamen, gemischten Gefühlen machte Ingrid die Tür zu Tante Agates Wohnung auf. Wie hatte sie diese Wohnung gehaßt. Sie war voll bitterer Erinnerungen. Da, im Wohnzimmer, hatte sie geschlafen, ohne das Fenster aufmachen zu dürfen. Hier, in der Küche, hatte sie gestanden, als Tante Agate ihr eine Ohrfeige gegeben hatte. Da, auf den beiden Gasflammen, hatte sie die spärlichen Mahlzeiten gekocht. Da stand die Brotdose, aus der sie sich heimlich mitten in der Nacht eine trockene Brotscheibe geholt hatte.

Sie ging in den Laden, zum Telefon. Sie rief bei Halls an und erklärte, warum sie noch nicht zurückgekommen sei.

„Gut, daß du anrufst, Ingrid, wir fingen so langsam an, uns Sorgen um dich zu machen“, sagte Frau Hall. „Inge ist gerade gekommen.“

„Ich bin in einer Stunde da“, versprach Ingrid. Dann ging sie ins Schlafzimmer und machte den Wäscheschrank auf, fuhr mit der Hand unter den Stoß Laken im unteren Fach.

Ja, da war es, das große, graue Kuvert, das Tante Agate so am Herzen lag. Es war dick und schwer. Viel zu groß für die Handtasche. Ingrid suchte und fand die alte Einkaufstasche mit Reißverschluß. Da legte sie das Kuvert rein. Niemand sollte es sehen. Mit der Einkaufstasche fest in der Hand ging sie zum S-Bahnhof, und eine halbe Stunde später war sie zu Hause bei Familie Hall.

„Selbstverständlich komme ich mit“, sagte Inge. „Gott, wie einsam wird die alte Frau sein, wenn sie einen fremden Menschen wie mich zu sich bittet. Soviel verstehe ich, daß sie unbedingt etwas vor ihrem Tod in Ordnung bringen will.“

„Den Eindruck habe ich auch“, sagte Ingrid. „Es sah aus, als daß sie direkt erleichtert war, als ich kam – als ob sie nur auf einen Menschen gewartet hätte, dem sie sich anvertrauen konnte. Ich habe etwas aus ihrer Wohnung geholt, das soll ich ihr heute abend bringen. Und sie flüsterte, als ich wegging: ,Fräulein Skovsgaard soll mitkommen.’“

„Ja, irgendwelche Verfügungen wird sie treffen“, nickte Inge. „Das ist klar. Und selbstverständlich tut man was man kann für einen einsamen alten Menschen, der im Sterben liegt.“

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„Ich glaube beinahe, daß es wirklich so ist“, sagte Ingrid. „Sogar ich kann sehen, daß sie sehr, sehr krank ist!“

„Wenn ich bloß wüßte, warum sie will, daß du mitkommst“, sagte Ingrid, als sie und Inge abends in der Vorortbahn saßen.

„Das kann ich mir schon denken“, antwortete Inge. „Erstens, weil ich ja etwas mehr dänisch verstehe als du…“

„Das läßt sich nicht bestreiten“, sagte Ingrid mit einem kleinen Lächeln.

„Zweitens, weil ich älter bin…“ „Das stimmt auch“, nickte Ingrid. „Und vielleicht braucht sie eine Zeugin, eine volljährige Zeugin.“ „Ach ja, daran habe ich nicht gedacht. So wird es wohl sein.“ Als sie beim Pförtner Schwester Johannas Namen sagte, nickte er

und ergriff das Haustelefon. „Sie können raufgehen. Schwester Johanna wartet auf Sie.“

Das tat sie. Sie stand im Treppenhaus, vor der großen Tür zur Station.

„Gut, daß Sie kommen. Frau Jespersen hat eine Spritze bekommen, sie ist jetzt ansprechbar, ja, sie ist vollkommen klar. Aber es wird wohl nicht lange dauern, bis sie ihre Ruhe gefunden hat. Sie liegt jetzt hier – diese Tür – wir haben sie heute nachmittag in ein Einbettzimmer gelegt.“

Es war ein kleines Zimmer, nur mit einem Bett, einem Stuhl und einem kleinen Tisch. Auf dem Tisch lag eine Bibel, an der Wand hing ein Kreuz.

Sterbezimmer, fuhr es Ingrid durch den Kopf. Tante Agates Augen waren wach und hell. Ein todkranker

Mensch, dessen Gehirn noch einmal wach war, ein Mensch, der mit den allerletzten Kräften sich auf etwas konzentrierte.

Ingrid reichte ihr das graue Kuvert. Da flog eine Andeutung von einem Lächeln über Tante Agates vom Tode gezeichnetes Gesicht.

Sie richtete die Augen auf Inge. „Fräulein Skovsgaard, Sie sind Zeuge. Ich schenke Ingrid dieses Kuvert mit dem ganzen Inhalt. Ich bin noch am Leben. Sie sind Zeuge, daß ich noch zu Lebzeiten dies verschenkt habe. Es ist keine Erbschaft, es ist ein Geschenk. Sie sind Zeuge!“

„Ja, Frau Jespersen. Das bin ich.“ „Hier, Ingrid. Nimm das Kuvert. Mach es erst auf, wenn du allein

bist, oder nur in Gegenwart von Fräulein Skovsgaard.“ „Das verspreche ich dir, Tante Agate.“

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Sie sahen, wie die Patientin sich entspannte, wie die Ruhe über sie kam.

Sie schwieg eine Weile, dann flüsterte sie: „Ingrid!“ „Ja, Tante?“ „Ausweis. Im Schub. Zettel drin.“ Ingrid holte den Ausweis, fand

einen beschriebenen Zettel. „Gib ihn mir.“ Sie gab ihr den Zettel in die Hand. „So. Jetzt ist es gut. Nun kriegt sie… alles… was ihr Bruder…

alles was mein Mann…“ Es kam eine Pause. Tante Agate keuchte. Dann flüsterte sie wieder: „Aber nicht, was ich selbst gespart habe… gespart… gespart… dann kommt der Tag, wo man… wo man es nicht mitnehmen kann… all das Gesparte… Ingrid!“

„Ja, Tante?“ Ingrid beugte sich über die Kranke. „Du kriegst eine Ausbildung. Lerne was.“

„Ja, Tante.“ Die Patientin schloß die Augen. Sie war jetzt ganz entspannt,

man sah förmlich, wie ein großer Friede sie erfüllte. Ingrid nahm ihre Hand, drückte sie ganz vorsichtig. „Ich danke dir, Tante Agate.“

War es ein kleines, schattenhaftes Lächeln, das über die Gesichtszüge der Kranken huschte?

Ingrid beugte sich über die alte Frau. Ihr junges Herz war bis zum Rande voll von Mitleid. Sie tat das einzige, was sie tun konnte. Sie küßte Tante Agates Stirn.

Sie spürte eine ganz kleine Bewegung der Hand, die sie noch in der ihren hielt. Dann war alles still.

Sie versuchte nach ein paar Minuten: „Tante Agate, kannst du mich hören?“

Keine Bewegung, kein Wort. Inge fand die Klingel und drückte auf den Knopf. Schwester Johanna kam. „Ich glaube, sie ist nicht mehr ansprechbar“, sagte Inge leise.

Schwester Johanna fühlte den Puls, nahm den Zettel aus Tante Agates linker Hand. Die Rechte lag noch in Ingrids Hand.

Wortlos reichte Schwester Johanna Inge den Zettel, sie zeigte ihn Ingrid:

„Bei meinem Tode bitte Nachricht an meine Schwägerin, Frl. Elwira Jespersen, Virum, Telefon…“ Die Nummer war groß und deutlich geschrieben.

„Merkwürdig“, sagte Schwester Johanna. „Als wir nach ihren Verwandten oder Freunden fragten, sagte sie nur, sie hätte keine. Und jetzt – ich verstehe es nicht.“

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Sie warf noch einen Blick auf die Kranke. „Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen. Frau Jespersen ist nicht mehr bei Bewußtsein.“

Behutsam zog Ingrid ihre Hand aus der Tante Agates. „Schwester, wollen Sie uns benachrichtigen, falls sie wieder zu sich kommt, oder… wenn es vorbei ist?“

Schwester Johanna versprach es, und Inge schrieb ihr die Telefonnummer von Familie Hall auf.

In der Tür drehte sich Ingrid um und warf noch einen Blick auf Tante Agate. In diesem Augenblick wurden all die bösen Erinnerungen weggewischt wie von einer unsichtbaren, barmherzigen Hand.

Zurück blieb das Bild des großen Friedens. Eine Stunde später saßen die beiden, die große und die kleine

Ingrid, in ihrem Zimmer bei Halls. Ingrid holte das graue Kuvert aus der alten karierten Einkaufstasche.

„Glaubst du, daß Geld drin ist, Inge?“ „Geld wohl kaum. Aber Bankbücher, vielleicht Wertpapiere,

Aktien oder so was. Etwas für deine Ausbildung. Du mußt es eben aufmachen. Was es auch ist, es gehört dir.“

Dann machte Ingrid mit zitternden Händen das Kuvert auf, steckte die Hand hinein und zog einen Stoß Geldscheine heraus.

„Inge… es ist Geld… alles bares Geld…“ Sie hielt das Kuvert mit der Öffnung nach unten, und immer mehr Scheine fielen auf den Tisch. Große Scheine, kleinere Scheine – Unmengen von Geld. Nie in ihrem Leben hatte Ingrid so viel Geld auf einmal gesehen.

„Du liebe Zeit!“ flüsterte Inge. „Ich kann es nicht begreifen. Das alles soll mir gehören –

verstehst du es, Inge? Und warum hat sie es nicht auf die Bank gebracht – warum – warum…“

Die „Warums“ häuften sich, es wurde zuviel für Ingrid. „Auf diese Fragen werden wir nie eine Antwort kriegen“, sagte

Inge. „Wir müssen versuchen, uns alles selbst zusammenzureimen. Zählen wir nun vorerst das Geld, nachher packen wir es hübsch gebündelt zusammen, und morgen werde ich sehen, wie man es am einfachsten nach Deutschland überführen kann.“

Sie sortierten, sie zählten. Aus den Fünfzigern und Hundertern wurden Tausender, die Zehnkronenscheine häuften sich zu Hundertern.

„Inge“, flüsterte Ingrid. „Es ist ja ein Vermögen! Ich kann es nicht fassen…“

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Dann war Inge plötzlich die Vernünftige, die Tatkräftige. „So, Ingridlein. Nun werden die Scheine gebündelt und schön

eingepackt. Und dann gehen wir rüber zu den anderen. Mir ist so nach einer Tasse Tee. Dann werden wir soviel erzählen, wie wir erzählen dürfen. Wir brauchen ja nicht unbedingt die Höhe der Summe zu sagen. Und wer weiß, vielleicht werden wir gemeinsam herausfinden, warum Tante Agate so gehandelt hat. Und denk daran, daß dein Vermögen beträchtlich zusammenschrumpfen wird, wenn du es nach Deutschland überführst. Du hast ja selbst Geld gewechselt, du weißt, daß man für eine dänische Krone ungefähr fünfundvierzig Pfennig bekommt!“

Ingrid starrte wieder wie gebannt auf all die Haufen Scheine. „Trotzdem, Inge. So viele Male fünfundvierzig Pfennige…“

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Aus Geld wird Glück „Verstehen tu ich es schon“, sagte Architekt Hall, als er die ganze Geschichte gehört hatte. „Es gibt eben Menschen, die das Geld so lieben, daß sie es keiner Bank anvertrauen wollen. Sie wollen die Münzen und die Scheine sehen, wollen sie – ich hätte beinahe ‚liebkosen’ gesagt. Sie wollen es bei sich haben, immer wieder zählen. Ja, es ist unglaublich, aber so was gibt es. Und Frau Jespersen war ein solcher Mensch. Ja, dann kam sie also ins Krankenhaus, da war sie immer unruhig, etwas quälte sie maßlos. Sie hatte keinen Menschen, dem sie sich anvertrauen konnte. Wenn eine freundliche Nachbarin sie besucht hätte, hätte sie vielleicht das ganze Geld bekommen. Man kann es nicht wissen. Dann kamst du, Ingrid. Ein junger Mensch, der nur zu gut Geld gebrauchen kann, Geld für die Ausbildung, Geld, das deine Zukunft sichern kann.

Frau Jespersen wußte, daß es mit ihr zu Ende ging. Es lag ihr erstens daran, das heißgeliebte Geld zu verschenken, es selbst zu verschenken, so lange, wie sie am Leben war. Damit nichts davon an den Staat als Erbschaftssteuer gehen sollte.

Als dann alles geregelt war, als sie dir das Kuvert in die Hand gegeben hatte, vor Inges Augen, dann war sie ruhig. Und dann erst hat sie im Krankenhaus mitgeteilt, daß sie eine Schwägerin hat. Die ist wahrscheinlich die Alleinerbin.“

„In all der Zeit, als ich bei Tante Agate war“, sagte Ingrid langsam, „hat sie nur ein einziges Mal diese Schwägerin erwähnt, und das sehr kurz und sehr unfreundlich. Ich bekam den Eindruck, daß die beiden sich ernstlich verkracht hätten.“

„Dann war es ja klar, daß sie nervös und ängstlich bei dem Gedanken war, daß diese Schwägerin ihren Schatz finden sollte“, nickte Frau Hall. „Nun ja, Ingridlein, jedenfalls ist es ein Segen für dich! Was machst du nun mit all dem Geld?“

„Ihr werdet glauben, daß ich verrückt bin“, sagte Ingrid mit einem kleinen Lächeln. „Ich, die ich nur die Volksschule habe. Ich werde aber lernen, lernen – ich werde das Abitur machen und ich werde studieren, und ich werde Tierärztin werden!“ Inge legte die Hand auf die ihre.

„Großartig, Ingrid! Nur eine Bitte hätte ich: Mach doch deine Ausbildung in München! Daß ich dich als Haustochter verliere, damit muß ich mich abfinden. Aber wenn du auch arbeitest und

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lernst und viel um die Ohren hast, könnte ich vielleicht ab und zu mit dir rechnen, abends, meine ich – als Babysitter?“

„Worauf du dich verlassen kannst!“ sagte Ingrid. Das Telefon klingelte am folgenden Morgen gegen sechs. Es war

Schwester Johanna. Frau Jespersen sei vor einer halben Stunde eingeschlafen, ohne zu Bewußtsein zu kommen. Die Schwägerin sei benachrichtigt.

Inge war am Apparat gewesen, sie war es, die es Ingrid erzählte. Ingrid lag noch im Bett, sie horchte wortlos Inges Worten. Dann liefen ihr zwei Tränen über die Wangen. Inge strich ihr übers Haar.

„Wenn deine Tante Agate das gewußt hätte“, sagte sie leise. „Gewußt was, Inge?“ „Daß jemand bei ihrem Tode Tränen vergießen sollte“, sagte

Inge. Ingrid antwortete nicht. Sie wußte ja selbst nicht, warum ihr die Tränen kamen. Und Inge fragte nicht. Vielleicht verstand sie sie ohne Erklärung. Vielleicht verstand sie das, was Ingrid selbst nicht verstehen konnte.

Inge war fertig mit allem, was sie in Kopenhagen zu erledigen hatte. Aber sie und Ingrid blieben noch zwei Tage, damit sie zu Tante Agates Beerdigung gehen konnten. Es war eine unsagbar traurige Beerdigung. Da saß die Schwägerin, da saßen ein paar Nachbarn und drei oder vier getreue Kunden. Das war alles.

Unter den bescheidenen und nicht allzuvielen Blumen war ein einziger großer Kranz, ein Prachtstück aus lauter Rosen. Die Schwägerin wunderte sich. Es war keine Karte dabeigewesen.

Ingrids Augen hingen an dem Kranz. Nur sie und Inge wußten, was er bedeutete: einen Dank, eine Versöhnung, einen Strich unter allem, was schlimm und peinlich und traurig gewesen war.

Zwei Tage später saßen sie wieder in der Wohnung in München. Jan und Inge auf dem Ecksofa, er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt. Ingrid in dem großen Sessel mit Dixi auf dem Schoß.

„Schade, daß ich dich nicht hinfahren kann“, sagte Jan. „Ich wäre zu gern dabeigewesen, wenn du deinem Onkel Peter erzählst, daß er als dein Vormund dreiundvierzigtausend Mark für dich verwalten muß!“

„Ich kann doch mit dem Zug fahren“, lächelte Ingrid. „Ich bleibe nicht lange“, fügte sie schnell hinzu. „Und ich mache das Sonntagsessen fertig und stelle es in den Kühlschrank. Montag bin ich zurück!“

„Das beruhigt mich“, lächelte Jan. „Und wie lange bleibst du nun

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bei uns?“ „Bis das Kind geboren ist. Das kommt doch Ende August, und

ich fange am ersten September mit meinem Kurs an. So hat Inge reichlich Zeit, sich nach einer neuen Hilfe umzusehen, und ich, um ein Zimmer zu suchen. Am liebsten hier in der Nähe!“

„Zimmer? Wieso? Willst du denn nicht das Zimmer bei uns behalten?“

„Natürlich möchte ich das, nichts wäre mir lieber – aber ihr werdet es doch für eure neue Hilfe brauchen!“

„Durchaus nicht!“ sagte Inge eifrig. „Ich will keine feste Hausangestellte. Ich werde mich nach einer zuverlässigen Zugehfrau umsehen, die dreimal in der Woche kommt. Und Jan kann sagen, was er will, aber das Kochen besorge ich selbst!“

„Ach du liebe Zeit“, seufzte Jan. „Na, dann weiß ich jedenfalls, was ich dir zum Geburtstag schenke: das größte Kochbuch, das zu haben ist!“

„Ach, ich kann viel mehr als du glaubst“, tröstete Inge. „Eigentlich haben wir Glück, Jan! Sich vorzustellen, immer einen Babysitter im Haus zu haben!“

„Wenn ich auch die Babyflasche in der einen und die englische Grammatik in der anderen Hand halten werde“, lächelte Ingrid. „Ich bin schrecklich froh, daß ihr mich hierbehalten werdet! Dann sind all meine Wünsche erfüllt!“

„Aber vorerst ab zu deinem Vormund“, sagte Jan. „Er muß sich auf der Bank beraten lassen, wie er das Geld für dich am besten anlegen kann, damit du möglichst viel Zinsen kriegst. Ein Studium ist teuer, du kannst nicht so mit Geld um dich schmeißen! Natürlich, dreiundvierzigtausend ist eine Summe, Ingrid, aber…“

„Zweiundvierzig“, korrigierte Ingrid. „Wieso? Du hast doch gesagt…“ „Du vergißt den Geschirrspüler für Tante Margrete“, sagte

Ingrid. „Inge und ich haben ihn heute gekauft. Er kostete tausend Mark! Ich habe doch Tante Margrete gesagt, daß ich ihr einen Geschirrspüler schenken würde, wenn ich einmal zu Geld käme! Und außerdem: Deine kluge Frau hat einmal gesagt, ja ich weiß es noch wörtlich: ,Geld ist ein Mittel, sich selbst und anderen Freude zu bereiten.’ – Hat sie vielleicht nicht recht?“

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