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StudieDas Leitbild von der „Urbanen Mischung“
IBA Berlin 2020
Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ Geschichte, Stand der Forschung, Ein‐ und Ausblicke
Studie im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, Berlin
Bearbeitung: Freie Planungsgruppe Berlin, Dr. Nikolai Roskamm
Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, SBD‐IBA Herr Joachim Günther Am Köllnischen Park 3 10179 Berlin
Februar 2013
INHALT
Einleitung......................................................................................................................................................2
1) ...........................................................................................3 Die Geschichte der Trennung/Mischung
• .................................................................................................... 3 Trennung durch Zonierung• ................................................................................. 4 Großstadtfeindschaft und Gartenstadt• ................................................................................................................. 6 Funktionstrennung• ............................................................................................................. 7 Die gegliederte Stadt• ................................................................................................................................ 9 Urbanität• ............................................................................................................. 11 Die gemischte Stadt• .......................................................................................... 13 Von Brüchen und Kontinuitäten
2) ................................................................................................................15 Der Stand der Forschung
• ............................................................................................................... 15 Nutzungsmischung• .................................................................................................................. 18 Soziale Mischung• ............................................................................................................. 21 Ethnische Mischung• ....................................................................................................... 25 Neue Urbane Mischung
3) ..........................................................................................................................27 Ein‐ und Ausblicke
• ...................................................................... 27 „Urbane Mischung“ beim PRAE‐IBA‐Konzept• ............................................................................................. 28 Das „Strategische Gutachten“• ..................................................................................... 29 Das Leitbild der Nutzungsmischung• ..................................................................................... 30 Das Leitbild der Sozialen Mischung• ................................................................................................................. 31 Mischung, anders
Literatur......................................................................................................................................................37
Anhang: Steckbriefe
Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
2
Einleitung
Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Um‐welt bereitet die Internationale Bauausstellung Berlin 2020 vor. In den bisherigen Überlegungen zur thema‐tischen und programmatischen Ausrichtung der IBA 2020 wird die „gemischte Stadt“ beziehungsweise das Ziel der „Urbanen Mischung“ als ein Leitbild des über‐greifenden Mottos "Draußenstadt wird Drinnenstadt" gesetzt: Mit der IBA soll sich dem Thema der sozial, kulturell, strukturell und funktional gemischten Stadt gewidmet werden. Durch diesen Ansatz wird auf den gegenwärtigen fachlichen Grundkonsens in der städ‐tebaulichen Planung fokussiert: „Urbane Mischung“ ist heute ein zentrales, wenn nicht das zentrale Leit‐bild von Städtebau und Stadtplanung.
Allerdings ist das nicht immer so gewesen. Im Gegenteil hat sich die städtebauliche Disziplin Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich mit dem gegenteili‐gen Leitbild der Trennung, genauer: der Funktions‐trennung konstituiert, das bis in die 1960er Jahre in den städtebaulichen Fachdebatten unangefochten gewesen ist. Der daraus abgeleitete städtebauliche Funktionalismus – das Denken von Stadt in aufgeteil‐ten, getrennten und gegliederten Funktionen –, war das verbindende Element beinahe sämtlicher Ansätze für die Neu‐ und Umgestaltung des Urbanen. Stadt‐planung und Städtebau sind in ihren ersten einhun‐dert Jahren als Fachdisziplinen Apparate der Trennung und der Entmischung gewesen. Erst in den 1960er Jahren wurde dem Leitbild der Nutzungstrennung hörbar widersprochen. In den 1970er und 1980er Jahren etablierte sich diese Umkehrung des klassi‐schen städtebaulichen Ansatzes und wurde bald dar‐auf zum dominierenden und anerkannten neuen städ‐tebaulichen Paradigma. In den 1990er Jahren setzte sich das Leitbild der Nutzungsmischung – nicht zuletzt befördert durch die Berliner IBA 1987 – in allen städ‐tebaulichen Bereichen durch, zumindest was die pro‐grammatischen Ebene betrifft. Die Leipzig‐Charta von 2007 bündelt diese Entwicklung zu einem übergrei‐fenden städtebaulichen Grundkonsens, der heute weitgehend unwidersprochen ist.
Ziel der hier vorgelegten Studie ist es, heraus‐zuarbeiten, welchen inhaltlichen Gehalt, welche The‐sen und welche Möglichkeiten/Unmöglichkeiten mit dem Leitbild von der „Urbanen Mischung“ verbunden sind. Internationale Bauausstellungen sind in der Vergangenheit immer Räume für ungewohnte, inno‐vative und auch für kritische Ansätze gewesen. Gera‐de der IBA 1987 wird attestiert, dass es einer ihrer
Erfolgsfaktoren gewesen ist, eingefahrene Vorge‐hensweisen radikal zu hinterfragen (SenStadt 2011b, 24). Mit dem hier vorgelegten Gutachten soll diese IBA‐Tugend auch auf der analytischen Ebene ange‐wendet werden. Üblicherweise wird in den verfügba‐ren städtebaulichen Untersuchungen und Studien zum Thema der „Urbanen Mischung“ das Leitbild von der gemischten Stadt an den Anfang gestellt, um dann herauszuarbeiten, wie das gesetzte Leitbild am besten umgesetzt werden kann; die Frage nach dem Warum rückt dabei oftmals in den Hintergrund (siehe Kapitel 2). Die in diesem Gutachten vertretene These lautet dagegen, dass erst mit einem grundsätzlich hinterfra‐genden Vorgehen ein Ansatz möglich wird, der nicht lediglich den dominanten Wertekanon des aktuellen Städtebaus verlängert, sondern dazu in der Lage ist, für sich selbst stehende inhaltliche Akzente zu setzen. Die Strategie der hier vorgelegten Studie besteht also darin, das Leitbild der „gemischten Stadt“ zu prüfen, die dahinter liegenden Routinen zu beleuchten und den Kern herauszuarbeiten, der im Zentrum des Beg‐riffs „Urbane Mischung“ zu finden ist. Schließlich soll am Ende diskutiert werden, ob (und wenn ja: wie) dieser Kern zugänglich für neue Inhalte ist, respektive in eine neue Richtung gewendet werden kann.
Gegliedert ist die Studie in drei Teile. Erstens wird untersucht, wie das Leitbild der „Urbanen Mi‐schung“ historisch zustande gekommen ist; dafür ist ein Blick in die Geschichte des modernen Städtebaus zu werfen und vom eindrucksvollen Wandel des Ziels von der funktionsgetrennten Stadt zur gemischten Stadt zu berichten. Zweitens wird der Stand der For‐schung dargestellt und dabei einerseits die Ergebnisse der umfangreichen Forschungen zum Thema „Nut‐zungsmischung im Städtebau“ aus den 1990er Jahren dargestellt; andererseits wird die soziologische For‐schung zum Thema „Soziale Mischung“ und „ethni‐sche Mischung“ rekapituliert. Schließlich wird auch die aktuellen Debatten über die „Renaissance der Städte“ betrachtet. Drittens wird untersucht, wie das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ für eine IBA Berlin 2020 fruchtbar gemacht werden kann und die bisher vorgelegten Ansätze für die IBA 2020 hierauf geprüft. Abgerundet wird die Untersuchung von sechs Steckbriefen, in denen Geschichte, Erfolge und Miss‐erfolge von dezidierten Steuerungsansätzen skizziert werden, die eine „Urbane Mischung“ zum Ziel gehabt haben.
1) Die Geschichte der Trennung/Mischung
Die Geschichte der Trennung/Mischung
Das aktuelle städtebauliche Leitbild der Mischung wendet sich gegen die getrennte Stadt, die ihrerseits das ureigene Produkt des klassischen modernen Städ‐tebaus ist. Die These, die der folgenden Analyse zu‐grunde liegt, lautet, dass Mischung und Trennung untrennbar zusammengehören. Um die Geschichte der Mischung zu erzählen, ist daher erst einmal die Geschichte der Trennung zu untersuchen. Aus diesem Grunde wird hier eine wissenschaftsgeschichtliche Be‐trachtung unternommen, in der das Begriffspaar Tren‐nung/Mischung zusammen betrachtet wird. In der historischen Herleitung werden die wichtigsten Strän‐ge der Begriffsgeschichte zum Konzept der Tren‐nung/Mischung exemplarisch zusammengefasst und somit ein Überblick hergestellt, der für ein tieferes Verständnis des Leitbildes „Urbane Mischung“ not‐wendig ist. Dabei werden die Ursprünge des Ideals der Trennung/Mischung beleuchtet und insbesondere auf die Entwicklung der entsprechenden städtebauli‐chen Leitbilder fokussiert.
• Trennung durch Zonierung
Der instrumentelle Städtebau ist eine Weiterentwick‐lung der seit dem Mittelalter bestehenden bauord‐nungsrechtlichen Traditionen. Die reformerische Städ‐tebaubewegung, die im Zuge der Stärkung der kom‐munalen Selbstverwaltung und eingebunden in die Diskurse der Gesundheitspflege entstanden ist, setzte sich von Anfang an das sozialreformerisch motivierte Ziel, einheitliche und allgemein geltende städtebauli‐che Regelungen herauszuarbeiten und durchzusetzen, um damit die städtische Alltagswirklichkeit neu zu ordnen. Die bauordnungsrechtlichen (auf das einzelne Grundstück bezogenen) Regelungen wurden dabei zur stadtplanerischen und städtebaulichen Steuerung ausgeweitet. Dieser Maßstabs‐ und Qualitätssprung markiert die Entstehung des modernen Städtebaus als eigene und bald auch als an den Universitäten gelehr‐te Disziplin.
In dieser Phase entstanden die ersten Ansätze, städtebauliche Mischung/Trennung durchzusetzen. Die Zusammensetzung der Stadt sollte insbesondere mit dem Instrument der „Zonierung“ gesteuert wer‐den. Die Vorschriften der Zonenplanung wurden in einem größeren Stadtplan abgestuft, wobei die Stufen „aufgrund der bestehenden Bodenwerte“ sowie mit Rücksicht auf die „erwünschte Bauweise“ gewählt wurden (Baumeister 1906, 67). Mit dieser Begrün‐dung wurden Ende des 19. Jahrhunderts in vielen deutschen Städten Zonen‐ und Staffelbauordnungen verabschiedet, die in verschiedenen Bereichen von
innen nach außen abnehmend die zulässigen Höchst‐maße des Maßes der baulichen Nutzung vorgaben. Erste Formen von Zonenbauplänen gab es 1874 in Budapest, 1878 in Dresden und 1879 in Erfurt. Zu Anfang handelte es sich dabei um die rudimentäre Form einer Abstufung der Bebauungsdichte in ge‐schlossene und offene Bebauung (Fisch 1990, 185), bald darauf wurden Zonenbauordnungen mit mehr als diesen beiden Zonen verabschiedet (1884 in Altona und 1891 in Frankfurt/Main). In Berlin wurde 1892 als erste Zonenbauordnung die Bauordnung für die Berli‐ner Vororte beschlossen. Die differenzierteste Zonen‐bauordnung war die Münchener Staffelbauordnung von 1904, in der die Festlegungen an eine umfangrei‐che Gebäudetypologie (die Staffeln) gekoppelt wur‐den. Unter dem Dach der Zonierung wurden ganz unterschiedliche Inhalte versammelt: Funktions‐ und Nutzungstrennung spielten zwar noch kaum eine Rolle, in verschiedene Zonen (also getrennt) aufgeteilt werden sollten insbesondere die Bauweisen und Bau‐dichten.
Die Zonierungsplanung war nach der städte‐baulichen Lehrmeinung „von großer sozialer Be‐deutung“ (Stübben 1902, 8). Deshalb wird in dieser Gründungsdebatte auch das Thema der „Sozialen Mischung“ diskutiert: „Wer kann auch sein Auge der Tatsache verschließen, dass die ärmere Klasse vieler Wohltaten verlustig geht, die ein Durcheinanderwoh‐nen gewährt. Nicht Abschließung, sondern Durchdrin‐gung scheint mir aus sittlichen und darum aus staatli‐chen Rücksichte das Gebotene zu sein“ (Hobrecht 1868, 513). Auch Reinhard Baumeister plädiert für eine maßvolle Vermischung der sozialen Klassen, eine „völlige Vermischung aller Klassen“ könne dagegen nicht befriedigen: Die Trennung der Klassen bringe „sociale Gefahren und auch hygienische Uebelstände mit sich“, dagegen müsse eine „Mischung der Woh‐nungsclassen“ günstig ausfallen „für den Ausgleich der socialen Gegensätze, für das moralische Verhalten beider Theile und ganz speciell auch für die Gesund‐heit der Aermeren“ (Baumeister/Miquel 1889, 30).
In der Praxis führte die komplexe Begrün‐dungskonstruktion aus volkswirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Annahmen sowie die unter‐schiedlichen Trennungs‐ und Mischungsansätze zu recht widersprüchlichen Ergebnissen der Zonie‐rungsplanung. Zudem gab es von den Grundbesitzern erhebliche Widerstände, da sie ihre wirtschaftlichen Verwertungsmöglichkeiten beschränkt sahen (und die zeitgenössischen Gemeindevertretungen in Deutsch‐land waren aufgrund des bestehenden Wahlrechts überall Hausbesitzerparlamente). Auf der anderen
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Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
Foto: Eva Brüggmann, 1962, Bundesarchiv: Bild 183‐92806‐0003
Seite wurde jedoch festgestellt, dass eine Baube‐schränkung dann, wenn sie nicht nur das eigene Grundstück, sondern auch die aller Nachbarn betraf, auch wertsteigernd wirken konnte. Ein Villengrund‐stück ließ sich besonders gut verkaufen, wenn dem Käufer garantiert wurde, dass er nicht von fünfstöcki‐gen Mietskasernen eingekreist werden würde (Fisch 1990, 186). Die erzieherische und paternalistische Note hinsichtlich der Sozialen Mischung ergab schließ‐lich „eine Ambiguität, die das staatlich geförderte `Durchmischungsziel´ auch späterhin nie ganz verlo‐ren hat“ (Harlander 2000, 110).
Die tatsächlichen Auswirkungen der Zonen‐bauordnungen auf die Stadtentwicklung lassen sich insgesamt allerdings nur schwer festmachen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die städtebaulichen Instru‐mente selbst zur Produktion der materiellen Wirklich‐keit beigetragen haben (und beitragen) und dass die abgestufte Baudichte volkswirtschaftliche und städte‐bauliche Realitäten herstellte (oder verfestigte). Der Anfangsgedanke des instrumentellen Städtebaus war es jedenfalls, die vorhandene Stadt anhand „wissen‐schaftlich“ ermittelter Kriterien neu zu ordnen und in einzelne definierte Bereiche aufzutrennen. Durch die Benennung und Festlegung von Zonen wurden einer‐seits bereits bestehende Trennungen nachvollzogen und verfestigt, andererseits wurden solche Trennun‐gen aber auch durch den Städtebau erst hergestellt. Die Aufteilung der Stadt in getrennte Bereiche (qua Benennung und qua Verordnung) ist der Gründungs‐akt des modernen Städtebaus.
• Großstadtfeindschaft und Gartenstadt
Um die Herkunft des städtebaulichen Ideals der funktionalen Trennung einordnen zu können, ist neben dem instrumentellen Städtebau und seinen Zonierungen auch die Entwicklung der Debatte zu betrachten, in der die Suche nach dem Bild einer künftigen, besseren, schöneren und sozial gerechte‐ren Stadt im Vordergrund steht, in der also über städtebauliche Konzepte und Leitvorstellungen so‐wie über das geeignete städtebauliche Selbstver‐ständnis gerungen wurde. Eingebunden war diese städtebauliche Debatte in eine politische Stim‐mungslage, die Ende des 19. Jahrhunderts von einer breiten Ablehnung des verhandelten Gegenstandes – der bestehenden Stadt – geprägt gewesen ist. Der inhaltliche Kern der sich mit allgemeinen Ausprä‐gungen des Zeitgeistes wie Kulturpessimismus und Fin‐de‐siècle‐Stimmung verbündenden Großstadt‐feindschaft (Engeli 1999, 33) bestand in der These, dass das flache Land und seine Bevölkerung durch die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtba‐
ren massive Verstädterung unaufhaltsam und ge‐setzmäßig geschwächt werden würde. Der Bauern‐stand wurde in dieser „Jungbrunnenideologie“ als „Urquell“, „Urstand“, „Urmaterial“ und „Vorratsbe‐hälter für alle übrigen Stände“ idealisiert, die Groß‐stadt war verlorenes Terrain, dem Untergang und dem proletarischen Siechtum geweiht (Bergmann 1970, 144). Die großstadtfeindlichen und argrar‐freundlichen Doktrinen bilden den Kern des zu Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreiteten vaterländisch‐konservativen Denkens, in dessen Kontext sich Ende des 19. Jahrhunderts die Diskussion über das richtige städtebauliche Selbstverständnis entwickelte (vgl. Durth/Gutschow 1988).
Im Zentrum dieser Debatten stand bald das Konzept der Gartenstadt, das durch den völkisch‐nationalen Publizisten Theodor Fritsch in die deutsch‐sprachige städtebauliche Debatte eingeführt wurde (1896). Auch Fritsch konzipiert seine Stadtvision dezi‐diert als antistädtisches Modell, sein Ausgangspunkt ist ein ausgeprägter Hass auf die bestehende Groß‐stadt, die er als „Lasterparadiese“ und „wüste Stein‐haufen“ (1896, 4f.) bezeichnet. Fritsch postuliert, dass „dem Volke in seinen Großstädten und Industrie‐Zentren schwere Gefahren“ drohten und dass die Bewohner der Städte einem „raschen Aussterben preisgegeben“ seien (1912, 28). Trotz dieser Kritik betrachtet Fritsch die Stadt jedoch auch als eine Not‐wendigkeit. Man dürfe „nicht verhelen“, so erklärt Fritsch, dass es „für eine größere Nation und ihre manchfachen Bedürfnisse notwendiger Weise Städte geben“ müsse. Aus diesem Grunde sollte man sie „wenigstens vernünftig anlegen“. Was den alten
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1) Die Geschichte der Trennung/Mischung
Stadtvierteln am meisten fehle sei die „innere Ord‐nung“ und „der Plan“. Fritschs Ideal ist eine kleine, überschaubare Stadt, die sich in spiralförmig erwei‐ternden bautypologisch und klassengetrennten Zonen entwickelt und in der sich Grund und Boden in Ge‐meindeeigentum befinden. Im Zentrum von Fritschs Zukunftsstadt stehen die „monumentalen Gebäude“, dann folgen „vornehme Villen“, „feinere Wohnhäu‐ser“, Wohn‐ und Geschäftshäuser, Arbeiter‐Wohnun‐gen, kleine Werkstätten, Fabriken und ländliche Be‐triebe (ebd.).
Im Jahre 1897 veröffentlichte Ebenezer Ho‐ward seine Schrift Garden Cities of Tomorrow, die in der heutigen städtebaulichen Rezeption der Garten‐stadt im Vordergrund steht. Die Gartenstadt von Ho‐ward ist eine von der Einwohnerzahl her begrenzte Ansiedlung auf dem Land, in der die Naturnähe mit den Vorteilen der städtischen Lebensweise verbunden werden sollte (Howard 1968 [1897]). Bei Howard verschmelzen die jeweiligen Vorteile aus Stadt und Land im Begriff „Landstadt“. Zu diesen Vorteilen zählt er das Gesellschaftsleben, die soziale Solidarität und das reiche kulturelle Angebot. Ebenso wie Stadt und Land sollen mit der Gartenstadt auch die verschiede‐nen sozialen Klassen versöhnt werden. Howard wollte in seinem Planungsmodell das private Grundeigentum abschaffen und das gesamte Siedlungsterrain zum kollektiven Eigentum der Gemeinde erklären, um die aus der wirtschaftlichen Entwicklung resultierenden Wertsteigerungen als kommunale Einnahmen verbu‐chen zu können. Allerdings trennt auch Howard die Zonen seiner Gartenstadt in verschiedene funktionale Bereiche, die sich kreisförmig nach außen entwickeln.
Bei der Einordnung des Konzepts der Garten‐stadt wird heute einerseits festgestellt, dass die „Ideologie der Gartenstadt“ eine „historische Auffor‐derung eines resignierenden Städtebaus an die Bes‐serverdienenden“ gewesen sei, die „am Proletariat und den Lasten der Industrialisierung anscheinend unheilbar kränkelnde Stadt“ zu verlassen und „sich auf dem billigen Land im Eigenheim“ neu anzusiedeln (Rodriguez‐Lores 1991, 75). Das „gartenstädtische Rezept zur Rettung der Menschen“, so eine promi‐nente Kritikerin, sei „die Vernichtung der Großstadt“ gewesen (Jane Jacobs, zitiert nach Bergmann 1970, 163). Andererseits wird die Gartenstadtidee als aus der Verschmelzung von „bürgerlich‐romantischen und sozialistischen Gedanken“ hervorgegangene „ebenso naiv wie pragmatisch klingende Liaison“ bezeichnet (de Bruyn 1996, 171) oder auch als Synonym, für alle „fortschrittlichen Bemühungen, durch Städtebau die Lebensbedingungen der unteren Mittelschichten zu heben“ (Schubert 2004, 92). Unbestritten ist, dass das Modell „sehr schnell zum populärsten Planungsmodell der Moderne“ aufgestiegen (de Bruyn 1996, 173) und „von Liebknecht bis Himmler“ beliebt gewesen ist (Durth/Gutschow 1988, 168).
Die kontroversen Bewertungen des Garten‐stadtmodells lassen sich vor allem darauf zurückfüh‐ren, dass sich hier zwei unterschiedliche Denklinien – die Diskurse des völkisch‐nationalen Konservatismus und der reform‐sozialistischen Moderne – einander näherten und beide im Gartenstadtgedanken ihr städ‐tebauliches Leitmotiv fanden. Die Idee der Garten‐stadt wurde zum Vorbild einer Vielzahl von städtebau‐lichen Konzepten, in denen sich sozialrevolutionäre Hoffnungen auf eine Stadt für die arbeitende Klasse mit Elementen der konservativen Stadtfeindschaft mischten (Häußermann/Läpple/Siebel 2008, 58). Die sozialistischen und die völkischen Ideen trafen sich bei der Ablehnung der bestehenden städtischen bauli‐chen Strukturen und Eigentumsverhältnisse. In den beiden Gründungsgeschichten des Konzepts der Gar‐tenstadt von Fritsch und Howard zeigt sich der Ur‐sprung sowohl des modernen als auch des völkisch‐nationalen Diskurses. Die Großstadtkritik machte „kausal ein baulich‐räumliches Phänomen“ für die mit Industrialisierung und Verstädterung verbundenen gesellschaftlichen Probleme verantwortlich (Schubert 2004, 31). Damit steht das Gartenstadtmodell für den die Geschichte des Städtebaus dominierenden Ansatz, durch eine Manipulation der gebauten Umwelt gestal‐tend auf soziale Prozesse und Beziehungen einwirken zu wollen.
Abbildung: TThe Garden City Concept, E. Howard, 1902; aus "Garden Cities of tomorrow", Sonnenschein publishing.
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Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
• Funktionstrennung
Nach dem ersten Weltkrieg veränderte und erweiter‐te sich das Spektrum der städtebaulichen Debatte. Die vorherrschende Stimmung der Weimarer Republik war ein „komplexes Amalgam aus expressionistischer Schwärmerei, sozialistischen Utopieelementen, Anti‐Wilhelminismus und Großstadtkritik“, in der zum Aufbruch zur neuen Stadt, zur neuen Wohnung und zum neuen Menschen gerufen wurde. Erhalten blieb jedoch die „Frontstellung gegen den gründerzeitlichen Moloch Großstadt“ (Harlander 2006, 26f.). In der Weimarer Republik entstand erstmals eine systema‐tisch angelegte Wohnungspolitik, die Lösung der „Wohnungsfrage“ wurde auf allen Ebenen des Staates zur vordringlichen Aufgabe der Sozialpolitik erklärt (vgl. Kuhn 2012a). Der Anspruch auf gesunde Woh‐nung wurde in die Reichsverfassung aufgenommen und bot die Basis für weitreichende Staatsinterventi‐onen. Mit der neu eingeführten Hauszinssteuer wurde die finanzielle Grundlage für eine staatliche Städte‐bauförderung gelegt (Häußermann/Läpple/Siebel 2008, 55f.; Durth/Gutschow 1988, 175; Peltz‐Dreck‐mann 1978, 59). Das Gartenstadtkonzept wurde vor allem in den sozialdemokratisch regierten Kommunen auf den Arbeitersiedlungsbau angewendet, allerdings ohne die ursprünglichen sozio‐ökonomischen Be‐standteile dabei umzusetzen. Bei den dann tatsächlich errichteten Arbeiter‐ und Kleinbürgersiedlungen der Wohnungsbaugenossenschaften, die nur aufgrund ihrer landschaftlich schönen Lage als Gartenstädte bezeichnet wurden, blieb von Howards Konzept ledig‐lich die Naturnähe und das preisgünstige Wohnen übrig, Howards ökonomisches Model hatte mit den realisierten Projekten dagegen nicht mehr viel zu tun (Harlander 2006, 26f.). Auf der konzeptionellen Ebene formte sich – als Gegenbewegung zum historizisti‐schen Stil der Heimatschutzbewegung und des kon‐servativen Teils der Gartenstadtvertreter – das archi‐tektonische und städtebauliche Konzept des Neuen Bauens. Ziel der ersten architektonischen Moderne (für deren Entwicklung etwa der Deutsche Werkbund und das Bauhaus stehen) war es, ausgehend von den neuen verfügbaren Materialien und Bautechniken eine völlig neue Form der Architektur und des Städte‐baus zu entwickeln.
Der bedeutendste Vertreter des städtebauli‐chen Modells der Funktionstrennung ist der Schweizer Architekt Le Corbusier. Le Corbusier betrachtete den industriellen und seriellen Wohnungsbau als die ent‐scheidende Errungenschaft der „modernen Bau‐kunst“, als „Revolutionierung der Architektur“ (1926, 166f.). Le Corbusiers Ziel war es, die Stadt nach den Prinzipien industrieller Rationalisierung, optimaler Besonnung, Belichtung und Durchlüftung zu gestalten
und in seinen Thesen erhebt er den Städtebau zu der bestimmenden gesellschaftlichen Aufgabe. Das „Werkzeug des Menschen“, so schreibt Le Corbusier, sei „zu allen Zeiten dem Menschen in die Hand gege‐ben“ gewesen, nun müsse man „dem dummen Men‐schen beibringen, wie er seine Werkzeuge zu gebrau‐chen hat“ (Le Corbusier 1926, 239). Le Corbusiers Blick auf die bestehende Stadt unterscheidet sich dabei kaum vom herrschenden städtebaulichen Dis‐kurs seiner Zeit. Für Le Corbusier waren die Großstäd‐te „fruchtlose Gebilde: sie verbrauchen den Körper, sie arbeiten dem Geiste entgegen, die Unordnung, die sich in ihnen vervielfältigt, wirkt verletzend: ihre Ent‐artung verwundet unsere Eigenliebe unsere Würde. Sie sind des Zeitalters nicht würdig: sie sind unsrer nicht mehr würdig“ (1929, VII). Das Zentrum der Städ‐te sei „tödlich erkrankt, ihre Umfriedung ist wie vom Ungeziefer zerfressen“ (1929, 83). Der Augenblick sei gekommen, den modernen Städtebau zu schaffen, „weil eine Kollektivleidenschaft aufgewacht ist unter dem Drucke der brutalsten Not, geleitet von einem hohen Gefühle für Wahrheit.“ Haus, Straße und Stadt müssten in Ordnung gebracht werden, wenn sie „nicht den Grundgesetzen zuwiderlaufen sollen, auf denen wir selbst aufgebaut sind.“ (1929, 15). Wie ein solcher moderner Städtebau zu handeln habe, wird von Le Corbusier ebenfalls offen gelegt: „Ich denke also ganz kühl daran, dass man auf die Lösung verfal‐len muß, das Zentrum der Großstädte niederzureißen und wieder aufzubauen, dass man ebenfalls den schmierigen Gürtel der Vorstädte niederreißen, diese weiter hinausverlegen und an ihre Stelle nach und nach eine freie Schutzzone setzen muß“ (1929, 83).
Le Corbusier avanciert mit seinem Stadt‐ und Städtebauverständnis zum Begründer des städtebau‐lichen Funktionalismus beziehungsweise des Modells der Funktionstrennung. Er ergänzt dabei den Fort‐schritt der konstruktiven und materiellen Möglichkei‐ten mit einem planerisch‐organisatorischen Ansatz, der die Trennung der „menschlichen Funktionen in Wohnen, Arbeiten, Kultivierung von Körper/Geist und Fortbewegung (und der Anwendung dieser Funktiona‐lisierung auf den Städtebau) zum Ausgangspunkt hat. Le Corbusiers Modell der Funktionstrennung war in der städtebaulichen Debatte schnell erfolgreich. Auf dem ersten Congrès International d’Architecture Mo‐derne (CIAM) in La Sarraz wird Städtebau als „seinem Wesen nach“ funktioneller Natur deklariert. Als die drei grundlegenden Funktionen, über deren Erfüllung der Städtebau zu wachen hat, werden genannt: „1. wohnen; 2. arbeiten; 3. sich erholen. Sein Gegenstand sind: a) Aufteilung des Bodens; b) Organisation des Verkehrs; c) Gesetzgebung.“ (Le Corbusier 1962). In der berühmten Charta von Athen, dem Abschlussdo‐
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1) Die Geschichte der Trennung/Mischung
kument des IV. CIAM‐Kongresses von 1933 wird pos‐tuliert: „Die Schlüssel zum Städtebau liegen in folgen‐den vier Funktionen: wohnen, arbeiten, sich erholen (in der Freizeit), sich bewegen“ (1962, 118). Die städ‐tebaulichen Planungen sollten die Struktur der Viertel bestimmen, denen jeweils eine der vier Schlüsselfunk‐tionen zugewiesen wurde, und deren „entsprechende Lokalisierung innerhalb des Ganzen fixieren“ (1962, 119). Die künftig als funktionelle Einheit definierte Stadt müsse dann harmonisch in jedem ihrer Teile wachsen, da sie über Räume und Verbindungen ver‐füge, in denen sich die Entwicklungsetappen im Gleichgewicht vollziehen können; den Erfordernissen des Gebietes unterworfen, dazu bestimmt, den Rah‐men für die vier Schlüsselfunktionen abzugeben, wer‐de die Stadt nicht mehr das ordnungslose Resultat zufälliger Initiativen sein, sondern den Charakter eines „im voraus durchdachten Unternehmens“ annehmen, das den strengen Regeln eines allgemeinen Planes unterworfen ist. Es sei von dringlicher Notwendigkeit, dass jede Stadt ihr Programm aufstellt und die Geset‐ze erlässt, die seine Verwirklichung gestatten. Zu‐sammengenommen sei das ein „totaler Städtebau“, der imstande ist, das Gleichgewicht in der Provinz und im Lande herzustellen (1962, 123).
Die Charta von Athen, die maßgeblich von den Ideen Le Corbusiers geprägt ist, gilt zurecht als diskur‐siver Höhepunkt des modernen Städtebaus und zeigt noch einmal, wie des Denken der Funktionstrennung entstanden ist und auf welchen Annahmen es beruht. Der moderne Städtebau ist eine Disziplin, die sich konstitutiv gegen die vorhandene städtische Alltags‐wirklichkeit gerichtet hat und die bestehende Stadt als krankes, lasterhaftes und vor allem als ungeordne‐tes Gebilde ablehnte. Die selbstgestellte Aufgabe des modernen Städtebaus sollte es sein, „objektive“, „wissenschaftliche“ und „wahre“ Kategorien und Ge‐setze zu schaffen, mit denen die Stadt von Grund auf neu geordnet werden sollte. Mit der Trennung und Aufteilung der Stadt – in Bereiche verschiedener Bauweise und verschiedener Dichten – wurde der klassische Ansatz des sozialreformerischen instrumen‐tellen Städtebaus in das Programm des modernen Städtebaus integriert. Der neue Ansatz der Funktions‐trennung war eine Weiterentwicklung dieser Traditi‐on, welche die bautypologische Trennung um eine or‐ganisatorische/soziale Dimension erweiterte. Die Funktionstrennung rückte damit in den Kern des theo‐retischen Ansatzes des modernen Städtebaus und wurde dort mit dem neoliberalen Ansatz verbunden, die Stadt als ein Unternehmen zu denken. Die aus heutiger Sicht naheliegende Interpretation, die Tren‐nung als Schutz (beispielsweise des Wohnens) vor
gewerblichen Immissionen zu verstehen, wird zu die‐ser Zeit dagegen kaum thematisiert.
Die durch die Charta gestellten Aufgaben be‐standen darin, ein allgemein gültiges und verbindli‐ches städtebauliches Regelwerk zu schaffen, und die Trennung der Stadt nicht mehr nur nach baulichen Kriterien, sondern nach Funktionen vorzunehmen. Diesen beiden Aufgaben nahm sich die städtebauliche Planung in Folge auch in Deutschland an. Seit 1934 wurde im Reichsarbeitsministerium an einem Entwurf für ein Reichsbaugesetz gearbeitet, infolge der Kriegs‐ereignisse wurden diese Kodifizierungsbestrebungen im Jahr 1942 jedoch vorerst eingestellt. Die Trennung der Stadt nach funktionellen Gesichtspunkten wurde erstmals mit der Bauregelungsverordnung von 1936 in das Planungsrecht aufgenommen. Durch die Baupoli‐zeiverordnung konnten nun Kleinsiedlungsgebiete, Wohngebiete, Geschäftsgebiete und Gewerbegebiete ausgewiesen werden. Die Bauregelungsverordnung ist damit die Vorläuferin der Baunutzungsverordnung, die bis heute die Funktionstrennung in verschiedenen Baugebietstypen zum stadtplanerischen Grundprinzip erhebt (siehe unten).
• Die gegliederte Stadt
Die gegliederte Stadt ist die städtebauliche Weiter‐entwicklung des Prinzips der Funktionstrennung. Die Entwicklung dieses Leitbilds lässt sich exemplarisch anhand des Wirkens des Stadtplaners Johannes Göde‐ritz nachvollziehen. Ende der 1930er Jahre schreibt Göderitz zwei Grundsatzbeiträge zu den Themen Städtebau und Altstadtsanierung. Erst nach dem poli‐tischen Umbruch des Jahres 1933 sei hier „Klarheit geschaffen worden“, so formuliert Göderitz: Der neu‐zeitliche Städtebau umfasse „die Ordnung des völki‐schen Lebensraums“ (Göderitz 1938a, 1015). Mit dem Städtebau setze der Staat die Ziele für die „Ordnung des deutschen Lebensraumes“ und regele das Bauen „auf deutschen Boden nach den Lebensnotwendigkei‐ten des Volkes“ (ebd. 1021f.). Göderitz fordert den „Umbau“ und die „Auflockerung“ der überalterten, ungesunden und „sonstwie den neuzeitlichen An‐forderungen nicht mehr entsprechenden“ Stadtvier‐tel. In den Städten zeigten sich so viele Missstände, dass sich „deren Beseitigung zu einer technischen, sozialen und finanziellen Sonderausgabe“ herausge‐bildet habe (Göderitz 1938b, 15f.). Der Städtebau, so prognostiziert Göderitz, werde „zu einem großen Teil Städteumbau“. Die der Begründung dieser ›Gesun‐dungsplanung‹ zugrunde liegende Analyse bewegt sich in den bekannten Bahnen des Städtebaudiskur‐ses. Der „Stadtkörper“ sei „krank“ und müsse daher „gesundet“ werden. In den Großstädten hätten sich,
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Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
so schreibt Göderitz, „sozial und politisch unerträgli‐che Zustände“ gebildet, die Städte böten Unterschlupf für „asoziale Elemente, Prostitution und Verbrecher‐welt“. Ganze Stadtteile würden „in ihrer Anlage und vor allem in ihren Wohnverhältnissen den neuzeitl‐ichen Leistungsansprüchen“ nicht mehr genügen. Be‐troffen seien vor allem die Altstadtviertel, aber auch die „in neuerer Zeit, vor allem seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts aufgrund schlechter Bau‐ordnungen dicht und vielgeschossig bebauten Stadt‐teile“ seien „ungesund“ (ebd.). Die „erforderliche Auflockerung“ werde eine „Herabzonung“ notwendig machen und damit eine „Senkung der Wohndichte“ herbeiführen, in vielen Fällen sei der Abriss ganzer Blöcke oder gar die „Niederlegung von Stadtteilen“ erforderlich (ebd.).
Im Januar 1945 – also noch während des Kriegsgeschehens – formuliert Göderitz den Entwurf für ein Thesenpapier, das die Begriffe Gliederung und Auflockerung als zentrale Aufgaben des Städtebaus erklärt (DASRL 1945). Die Gliederung der Stadt entwi‐ckelt Göderitz ganz im Kontext der nationalsozialisti‐schen Städtebaudebatte: „Große Massen von Men‐schen“ sollten organisiert werden, indem man sie in „kleinere, übersehbare, einander über und unterge‐ordnete Einheiten“ aufgliedere; zu orientieren sei sich dabei an der militärischen Gliederung in Kompanie‐stärken (DASRL 1945, 571). Wie die „Masse der Men‐schen durch Gruppierung und Gliederung“ organisiert und übersichtlich gemacht werde, so leitet Göderitz den räumlichen aus dem militärischen Gliederungsge‐danken ab, könne auch der Stadtraum – die „Masse der städtischen Baugebiete“ – als das „bauliche und räumliche Gefäß des menschlichen Lebens“ nur durch Gliederung in Stadtzellen geordnet und organisiert werden (ebd.).
Zusammen mit Roland Rainer und Hubert Hoffmann fasst Göderitz im Jahre 1957 seine seit den 1930er Jahren vertretenen Thesen in der Schrift Die gegliederte und aufgelockerte Stadt zusammen, die zum Standardwerk des westdeutschen Nachkriegs‐städtebaus geworden ist. Je mehr – so wird hier wei‐terhin auf die konservativ‐völkische Bevölkerungsde‐batte aus der ersten Jahrhunderthälfte rekurriert – die „lebensstarke Landbevölkerung“ gegenüber der Bevölkerung der Großstädte, die „ihre Volkszahl nicht aus eigener Kraft erhalten können“, zurück trete, um so stärker müsse sich der „ungünstige Bevölkerungs‐aufbau dieser immer zahlreicher werdenden Groß‐städte in der Vergreisung des gesamten Volkes aus‐wirken“ (Göderitz/Rainer/Hoffmann 1957, 9). Die „allgemeine bevölkerungspolitische Lage“ und die Folgen des Krieges machten es zu einer „brennenden Lebensfrage“, die „nicht ernst und gründlich genug
erörtert und nicht frühzeitig genug“ beantwortet werden könnte. Der Städtebau habe für die Zeit nach dem Krieg eine „besonders ernste Verpflichtung“ zu erfüllen, nicht nur die baulichen Schäden, auch die „Schädigungen am Volkskörper“ müssten wieder gutgemacht werden (ebd. 84f.). Sei dagegen der „Stadtkörper durch und durch gesund“, so würden auch die „in ihm lebenden und ihn bildenden Men‐schen gesunden Sinnes sein“. Im Städtebau seien die Lösungen zu bevorzugen, die geeignet seien, zum „Ausgleich der schweren Verluste des Volkes an Gut und Blut den gesunden und leistungsfähigen Stadt‐körper zu schaffen“. Auf die „volksbiologischen, ethi‐schen und gesundheitlichen Vorzüge“ des Einfamili‐enhauses mit Garten sei daher besonders zu verwei‐sen. Zur Durchführung dieser Vorstellungen seien „wenige, aber durchgreifende“ neue boden‐ und bau‐rechtliche Regelungen erforderlich (ebd.).
Vor dem Hintergrund dieser Debatten wurde in Deutschland1 schon bald nach Kriegsende über ein Bundesbaugesetz diskutiert. In einem Rechtsgutach‐ten des Bundesverfassungsgerichts von 1954 wurde die städtebauliche Planung (nach Art. 74 Ziff. 18 GG) in die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes ver‐wiesen. Das alte Baupolizeirecht solle dabei nur Bun‐desrecht werden, insofern es „Bestandteile des Pla‐nungsrechts“ enthalte (Schöning 1968, 18). Die Fest‐setzung von „Art und Maß der baulichen Nutzung“ wird durch das Karlsruher Gutachten als eine städte‐bauliche und nicht mehr – wie nach der früheren preußischen Regelung – als eine baupolizeiliche Ange‐legenheit definiert (Wambsganz 1959, 26). Im Jahre 1960 wurde das Bundesbaugesetz (BBauG) verab‐schiedet. Mit dem BBauG wurde eine vereinheitli‐chende Kodifikation der städtebaurechtlichen Rege‐lungen umgesetzt und eine allgemeine Rechtsgrund‐lage für die städtebauliche Planung in der Bundesre‐publik Deutschland geschaffen. Zentrales Instrument des Bundesbaugesetzes ist die Bauleitplanung, als dessen Zweck im BBauG die „Ordnung und die Steue‐rung der städtebaulichen Entwicklung“ definiert wer‐den. Die Gemeinden sollen – so lautet das allgemeine Modell der formellen Stadtplanung – mit Bauleitplä‐nen die städtebauliche Entwicklung auf ihrem Ge‐meindegebiet steuern. Wie diese Steuerung konkret stattfinden soll, wird in der Baunutzungsverordnung BauNVO geregelt.
Bereits im Jahre 1949 war – unter Vorsitz von Johannes Göderitz – ein Arbeitsausschuss der Deut‐schen Akademie für Städtebau und Landesplanung DASL (der Nachfolgerin der DASRL) gegründet wor‐den, um den Entwurf für eine Baunutzungsverord‐
1 Zur Entwicklung in der DDR vgl. Harlander 2012b.
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1) Die Geschichte der Trennung/Mischung
nung zu erstellen (Schöning 1968, 18). Die beiden Kernelemente der 1962 beschlossenen BauNVO sind die Ausgestaltung der Regelungen über die Art und das Maß der baulichen Nutzung. Diese Kernelemente entsprechen direkt dem, was in der städtebaulichen Debatte seit den 1930er Jahren als die grundlegende Aufgabe des Städtebaus weitgehend akzeptiert wur‐de: Die Gliederung der Stadt durch die Festsetzung der Art der Nutzung, die Auflockerung durch die Rege‐lung des Maßes der Nutzung. Die Festsetzung der Art der Nutzung nach der BauNVO funktioniert über die Gliederung der städtischen Wirklichkeit in unter‐schiedliche Gebietstypen – etwa in Wohngebiete, Mischgebiete und Gewerbegebiete. In der BauNVO werden diese Gebietstypen definiert und es wird geregelt, welche Nutzungen in den Gebietstypen jeweils zulässig, ausnahmsweise zulässig oder unzu‐lässig sind. In der gemeindlichen Bauleitplanung wer‐den die Gebietstypen dann in den Bebauungsplänen festgesetzt, um damit die baulich‐räumliche Entwick‐lung zu steuern. Mit der BauNVO ist der Städtebau damit an seinem selbstgesetzten Ziel angekommen: die BauNVO ist das verbindliche und bundesweit gel‐tende Instrument, mit dem das „Wohl der Allgemein‐heit“ durch die Trennung der Stadt in vordefinierte funktionale Bereiche gewährleistet werden sollte und das zum allgemeinen stadtplanerischen Standard geworden ist.
Foto: Jane Jacobs 1961, Quelle: New York World‐Telegram and the Sun Newspa‐per, Library of Congress, Reproduction No.: LC‐USZ‐62‐137838
Erst nach der Einführung der BauNVO regte sich hörbare Kritik an diesem Ansatz und es begann eine umfangreiche Debatte, in der Zweifel am Bild der gegliederten und aufgelockerten Stadt als nicht mehr zeitgemäßer Metapher für die „Lebensvorgänge und einer daraus hergeleiteten Stadtform“ geäußert wer‐den (Fahrenholtz 1963, 74). In dieser Fachdebatte wurde zum einen die Weiterentwicklung und thematische Auffächerung des städtebaulichen Diskurses sichtbar, zum anderen die dabei bis heute vermutlich ausführ‐lichste und reflektierteste Auseinan‐dersetzung mit den beiden Grundfes‐ten der instrumentellen Stadtpla‐nung – der Auflockerung und der Gliederung – geführt. Einerseits wur‐de in den 1960er Jahren also das Konstrukt Trennung durch die BauN‐VO zum einheitlichen Planungsrecht bestimmt und tief in den institutio‐nellen Grundfesten der Stadtplanung verankert. Andererseits wurde dieser Gebrauch jedoch auch erstmals Ziel einer vielschichtigen und vielstimmi‐gen Kritik. Das Konzept der aufgelo‐
ckerten und gegliederten Stadt büßte im städtebauli‐chen Diskurs an Deutungshoheit ein, die klassische Beweisführung, dass nur eine funktional getrennte Stadt den bestehenden Zustand von Chaos und Krankheit in Ordnung bringen könne, verlor deutlich an Überzeugungskraft. Im Rahmen dieser Diskussion wurde als Antithese zur Auflockerung der Stadt ein Zielbild entworfen, welches durch Bezeichnungen wie gemischte Stadt und kompakte Stadt seinen begriffli‐chen Ausdruck fand. Erstmals wurde damit im städte‐baulichen Diskurs für eine funktionale Durchmischung und eine hohe Einwohner‐ und Bebauungsdichte plädiert, die grundlegenden Werte also um 180 Grad gedreht: Eine funktionale Nutzungsmischung wurde nun tendenziell als etwas Erstrebenswertes angese‐hen und dem Ideal der „gemischten Stadt der kurzen Wege“ der Boden bereitet.
• Urbanität
Entscheidenden Anteil an dieser Kehrtwende hatte die Eröffnungsrede der Volkswirtschaftler Edgar Salin auf der 11. Hauptversammlung des Deutschen Städte‐tages. Edgar Salin nimmt in seinem Grundsatzreferat Bezug auf die historischen Entstehungslinien des Beg‐riffs Urbanität in der Antike. Urbanität ist hier als stadtbürgerliches Ideal definiert gewesen, als eine sich nur in einem speziellen städtischen Umfeld her‐ausbildende Geisteshaltung der Offenheit, Toleranz und Humanität (Salin 1960, 14f.). Im europäischen Feudalismus habe der Einzelne dagegen kaum mehr Teil am städtischen Geschehen genommen und daher sei in dieser historischen Phase der Begriff praktisch komplett von der Gebrauchsfläche verschwunden.
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Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
Erst nach der französischen Revolution könne vor allem in Paris eine wieder erstarkende ›Urbanität‹ festgestellt werden, in Deutschland habe sich die ›Urbanität‹ dagegen deutlich weniger ausprägen können. Mit der Machtübernahme der Nationalsozia‐listen, so Salin weiter, seien „alle guten Ansätze“ er‐stickt worden, der „Sieg des Ungeistes“ habe bewusst und erfolgreich die „Urbanität von den Wurzeln her vernichtet“ (ebd. 22f.). Da die deutsche Vergangen‐heit noch „völlig unbewältigt“ hinter den Deutschen liege, sei dieser überaus folgenschwere Tatbestand in seiner „geschichtlichen Endgültigkeit“ noch kaum wahrgenommen worden. Salin bezeichnet das Jahr 1933 als „das Ende der deutschen Urbanität“, die „Verbrecher“ hätten „für Zeit und Ewigkeit“ die „hu‐manistische Humanität“ genommen. Salin empfiehlt den deutschen Städtebauern daher, „auf lange hin‐aus“ das „Wort Urbanität ganz zu vermeiden“ (ebd. 24). Salins Vortrag ist dabei weit entfernt von der Postulierung eines neuen städtebaulichen Leitbildes. Salin diskutiert, welche neuen Handlungsfelder der Stadtpolitik und Stadtplanung in Frage kommen kön‐nten, das größte Augenmerk legt er auf die Ermögli‐chung der politischen Teilhabe und der allgemeinen Bildung. Salin plädiert dafür, die Städte wieder zu einer „Burg der Demokratie“ zu entwickeln und die Bevölkerung einer Stadt in eine „Gemeinschaft von Stadtbürgern“ zu verwandeln. Vor allem die Bildung sei als „existentielle Stadtaufgabe“ anzuerkennen und zu betreiben, Mitbestimmung, Mitverantwortung und Selbstverwaltung seien Schlüsselwörter für die künfti‐ge Stadtgestaltung. Diese Bereiche sind aber gerade keine baulich‐räumlichen Themenfelder, Salin fokus‐siert auf gesellschaftliche Inhalte. Allerdings können Inhalt und Umstände von Salins Vortrag – ein Volks‐wirtschaftler, der eine kulturphilosophische Rede vor der versammelten Riege der Städtebauer hält – als Anzeichen der Öffnung der städtebaulichen Debatte für eine soziologische und politische Perspektive ge‐nommen werden.
Forciert wurde diese Entwicklung dadurch, dass sich erstmals Widerstand gegen die bestehende städtebauliche Praxis regte und auf die theoretische Ebene reproduziert wurde. Großen Einfluss auf den städtebaulichen Diskurs entfaltete vor allem das Buch The Death and the Life of Great American Cities von Jane Jacobs, in dem die Autorin – selbst Aktivistin der in einigen amerikanischen Städten aufkommenden Bürgerbewegung gegen die Flächensanierungen – eine grundsätzliche Kritik an den Grundfesten der Stadtplanung übt (1961). In ihrer Streitschrift protes‐tiert Jacobs gegen die vorherrschende Stadtplanung und das dieser Praxis zugrunde liegende Stadtver‐ständnis. Jacobs entwickelt als Gegenbild zum hege‐
monialen Städtebau vier Bausteine, die in ihrem Zu‐sammenwirken zum Entstehen von Stadt (den Begriff Urbanität verwendet Jacobs nicht) führen würden: Erstens die Mischung von verschiedenen – möglichst mehr als zwei – unterschiedlichen primären Funktio‐nen (etwa von Wohnen und Arbeiten) an einem Ort, zweitens eine nicht zu große Dimensionierung der Baublöcke, drittens eine Mischung der Gebäude hin‐sichtlich ihres Alters und ihres Zustandes und viertens die Konzentration von „genügend Menschen“ auf einem Raum (Jacobs 1963, 95). Die Flucht aus der Stadt (wie bei Howards Gartenstadtmodell) sei keine zeitgemäße Antwort auf die städtischen Probleme, Fortschritte in der Medizin, der Hygiene, der Epide‐miologie und im Arbeitsrecht hätten die soziale Lage, die einst untrennbar mit den Bedingungen des hoch‐verdichteten Stadtlebens verbunden gewesen sei, grundsätzlich geändert. Jacobs leistet damit Pio‐nierarbeit: Mischung und Dichte hatte im städtebauli‐chen Diskurs vor ihr noch niemand als Ziel formuliert. Die ersten deutlich wahrnehmbaren Rufe nach einer Umkehr der klassischen städtebaulichen Perspektive erklingen somit nicht aus den eigenen Reihen, son‐dern im Rahmen einer von außerhalb in den Diskurs hineingetragenen disziplinären Fundamentalkritik.
Im gleichen Jahr wie Jacobs veröffentlichte der Soziologe Hans Paul Bahrdt sein Buch Die moderne Großstadt und auch hier beschäftigt sich ein außer‐halb der Disziplin stehender Protagonist mit den grundlegenden Belangen des Städtebaus. In seinen Ausführungen fundiert Bahrdt dabei eine „Kritik der Großstadtkritik“, in der er die historischen Wurzeln der traditionellen Großstadtfeindschaft aufdeckt (Bahrdt 1969 [1961], 132). Zudem formuliert er eine soziologische Perspektive und fordert die Mitwirkung der Soziologie im Städtebau ein. Zwar ließe sich „aus der Soziologie kein städtebaulicher Entwurf“ deduzie‐ren (ebd. 34) und der Soziologe müsse dem Städte‐bauer klarmachen, dass sich „durch den Umbau der Städte“ nur „wenig an der Gesellschaft“ ändern ließe, dennoch ist es für Bahrdt ein wichtiges Anliegen, die Soziologie im städtebaulichen Geschehen einzubin‐den. Bahrdt steht damit am Beginn der Entwicklung der Stadtsoziologie zur „Stadtplanungssoziologie“, mit der die Themen Urbanität und Mischung zunehmend auf der städtebaulichen Agenda erscheinen.
Nach der von Soziologen wie Bahrdt geleiste‐ten Analyse der disziplinären Großstadtfeindschaft wurde die Debatte dem stadtsoziologischen Stadtdis‐kurs geöffnet. Damit wird zu diesem Zeitpunkt ein weiterer Grundlagentext in die Debatte eingespeist, und zwar das Essay Urbanism as a Way of Life (1938) von Louis Wirth. Wirth stellt die „für unsere Zivilisati‐on überlegene Bedeutung der Stadt“ dem mageren
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1) Die Geschichte der Trennung/Mischung
Wissen „über das Wesen der Urbanität und den Pro‐zess der Urbanisierung“ gegenüber (Wirth 1997, 44). Wirths zentrale These ist die Loslösung von Urbanität und Urbanisierung aus ihrem rein physisch‐realen Zusammenhang. Urbanität definiert er als die Lebens‐form der Menschen in der Stadt, also als Gefühl, Zu‐stand, Attitüde. Wirths Ansatz ist es, heraus zu finden, was dieses Gefühl ausmacht und vor allem, wodurch es hervorgerufen wird. Nach Wirth kann Stadt als relativ große, dichte und dauerhafte Siedlung von sozial heterogenen Individuen definiert werden (1938, 8). Wirth postuliert, dass der Großstadtbewohner dazu neige „ein gewisses Feingefühl einer Welt künst‐licher Erzeugnisse gegenüber zu erlangen und zu kul‐tivieren“ (Wirth 1997, 54). Die „Konfrontation diver‐gierender Persönlichkeiten und Lebensformen“ schaf‐fe im Allgemeinen eine „relativistische Betrachtungs‐weise“ und ein „Gefühl der Toleranz Unterschieden gegenüber“, was wiederum eine „Voraussetzung der Rationalität und der Säkularisierung des Lebens“ sei.
In der Folge der diskursiven Interventionen von Salin, Jacobs, Bahrdt und anderen wandelte sich das städtebauliche Selbstverständnis. Ziel war es nun weniger, durch städtebauliche Planung die Gesell‐schaft grundsätzlich zu ändern, sondern der Gesell‐schaft (wie sie ist) mit städtebaulichen Mitteln zu dienen, mithin „eine wichtige Erkenntnis und ein bedeutsamer Fortschritt“ von den „häufig recht ge‐walttätigen ideologischen Forderungen des Städte‐baues“ (Schmidt‐Relenberg, 1968, 41). Das Leitbild der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ wurde zunehmend hinterfragt und kritisiert und dieser Kritik lag eine „grundsätzlich ›stadtfreundliche‹ Tendenz“ zugrunde. Diese „positive Hinwendung zum Städti‐schen“ und zur „städtischen Lebensweise“ kulminiert im „Schlagwort Urbanität“ (ebd. 208) und der These, dass die „städtische Lebensweise“ eine „gesamtge‐sellschaftlich relevante Funktion“ erfülle, indem sie „allgemeine humane Qualitäten“ und speziell die „Toleranz der Beteiligten“ untereinander erfordere und erzeuge (ebd. 113). Der Einzug des soziologischen Denkens in den städtebaulichen Diskurs der 1960er Jahre bringt damit grundlegende Neuerungen. Die städtebauliche Diskussion wird für eine soziologische Perspektive geöffnet, die Stadtsoziologie bietet sich als Hilfswissenschaft für den Städtebau an und wird auch als solche angenommen. Auf dieser Ebene wird der Wechsel bei der städtebaulichen Bewertung von Trennung/Mischung unterstützt (eingeleitet). Mit der Analyse der klassischen Großstadtfeindschaft wird auch diese zentrale städtebauliche Kategorie seziert und das ehemalige Vermeidungsedikt zum positiven Ziel gewendet. Deutlich wird bei der Ankunft des stadtsoziologischen Mischungsparadigmas im städte‐
baulichen Diskurs, dass im Städtebau erst die Groß‐stadtfeindschaft überwunden werden musste, bevor die soziologische Toleranzthese diskutierbar wurde. Immerhin bedeutete dieser Wechsel ja, dass die The‐se „Großstadt produziert Seuchen und Revolte“ durch die Antithese „städtische Mischung führt zu Offenheit und Toleranz“ abgelöst wurde – mithin (zumindest auf den ersten Blick) eine recht fundamentale Kehrt‐wende.
• Die gemischte Stadt
Zwischen der Neubewertung von Mischung als etwas tendenziell Positives und Erstrebenswertes, die sich im städtebaulichen Diskurs der 1960er Jahre (wenn auch mit unterschiedlicher Konsequenz) erstaunlich schnell etablierte, und der praktischen Anwendung des Konstrukts, klaffte allerdings noch eine gewaltige Lücke. Der Konzeption des Städtebauförderungsge‐setzes, an der wiederum Johannes Göderitz maßgeb‐lich beteiligt gewesen ist (Fahrenholtz 1963, 69), lag weiterhin der „Gesundungsansatz“ der 1930er Jahre zugrunde. In den 1960er Jahren begann die Praxis der Flächensanierung (im wahrsten Sinne) durchzuschla‐gen. Erklärtes Ziel der Stadtsanierung war es, die verhassten Gründerzeitviertel zu beseitigen und auf deren Trümmern die aufgelockerte und gegliederte Stadt zu errichten. Auch renommierte Städtebautheo‐retiker waren in dieser Zeit in die Praxis der Flächen‐sanierung eingebunden; bei der Sanierungsplanung für ein Gebiet im Berliner Bezirk Wedding im Jahre 1963 stellte lediglich eines der von den 12 deutsch‐sprachigen Städtebaulehrstühlen erarbeiteten Gut‐achten die Strategie des Totalabrisses grundsätzlich in Frage (vgl. Geist/Kürvers 1989, 594f.).
Mitte der 1960er Jahre formierte sich auch in den deutschen Städten erster Protest der Bewohne‐rInnen gegen die städtebauliche Praxis der Flächensa‐nierung (vgl. Geist/Kürvers 597f.). Der Widerstand gegen die Flächensanierungen (und damit gegen die herrschende Städtebaupolitik), der ab Mitte der 1970er Jahre zu einer allmählichen Umkehr dieser städtebaulichen Praxis führte, ist im Kontext der in den 1960er Jahren gegründeten allgemeinen Politisie‐rung der gesellschaftlichen Debatten zu sehen. 1968 revoltierten – nach französischem Vorbild – die deut‐schen Studenten, Mitte 1969 wurde mit Willy Brandt der erste sozialdemokratische Bundeskanzler der Bundesrepublik gewählt. Stadtplanung und Städtebau änderten sich in dieser Zeit grundlegend, die jungen und kritischen Stimmen der Zunft gewannen zuneh‐mend an Einfluss. Die exemplarisch nachvollzogenen Änderungen des städtebaulichen Diskurses – auch die Etablierung der soziologischen Perspektive und die
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Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
Etablierung der Mischung – sind Anzeichen wie Er‐gebnis dieser Umwälzungen. Stadtplanung und Städ‐tebau wurden in dieser Zeit vor allem als soziale Ent‐wicklungsplanung definiert, für die einerseits der in den 1960ern etablierte kritische theoretische Zugang, andererseits der Drang zur Verwissenschaftlichung und damit die Affinität zum Gebrauch von vermeint‐lich objektiven Zahlen und mathematischen Formeln wichtige Erkennungsmerkmale sind.
In den 1970ern hatte die Neuentdeckung von städtebaulichen Qualitäten der über Jahrzehnte ver‐teufelten „Mietskasernenstadt“ begonnen und dieser Prozess erhielt durch das Europäische Denkmalschutz‐jahr 1975 einen gewaltigen Schub. In West‐Berlin wurde der Bau von Großsiedlungen am Stadtrand im Jahre 1974 eingestellt; zu dieser Zeit entwickelte sich auch die Hausbesetzerszene, die Anfang der 1980er ihren Höhepunkt erreichte. Gefordert wurde hier weniger eine städtebauliche Nutzungsmischung, son‐dern der Erhalt der bestehenden Strukturen und vor allem Mitbestimmung und Mitsprache bei der Stadt‐sanierung. Der Protest gegen die bestehende Stadt‐planungspraxis und die umfangreichen und heftigen Auseinandersetzungen im Rahmen der Hausbeset‐zungen beeinflussten maßgeblich die programmati‐sche Ausgestaltung der IBA 1984‐87. Mit der IBA‐Alt in Kreuzberg wurden im Jahre 1982 die 12 Grundsätze der behutsamen Stadterneuerung beschlossen. Auch in diesen Grundsätzen spielt das Thema Nutzungsmi‐schung noch kaum eine Rolle, gefordert wurde jedoch die „Erhaltung der Kreuzberger Eigenart“ (Grundsatz 3). Erst über den Kampf für den Erhalt dieser Eigenart wurde dann letztlich die Kreuzberger Mischung als Prototyp der gemischten Stadt in die städtebauliche Leitbildebene implementiert. Auch wenn von der IBA 1987 eine theoretische Hinterfragung des Ziels Nut‐zungsmischung nicht geleistet worden ist (SenStadt 2011b, 58), ist die „Urbane Mischung“ seitdem fester Bestandteil des übergreifend konsensfähigen Leitbil‐des der „gemischten und kompakten Stadt der kurzen Wege“ geworden.
Gleichzeitig zu diesem epochalen Bewertungs‐wechsel im städtebaulichen Diskurs etablierte sich in den 1960er Jahren eine grundlegendere Form von Kritik am Urbanismus. Von der reformerischen Positi‐on eines Hans Paul Bahrdts, nach der den räumlich‐physischen Faktoren eine – wenn auch eingeschränk‐te – Wirkungsmöglichkeit für die Verbesserung des sozialen Klimas in den Städten zugestanden wurde und deren Ziel es war, die städtebauliche Planung durch die „Hilfswissenschaft“ Soziologie zu unterstüt‐zen und zu qualifizieren, grenzte sich nun mehr und mehr eine fundamentalere gesellschaftskritische Hal‐tung ab. Die kritischen Soziologen lehnten die These
ab, dass räumliche Faktoren eine positive Wirkung auf das Sozialverhalten haben könnten. Ausgangspunkt dieser Sichtweise war eine grundsätzliche Kritik an Gesellschaft und Politik, die (als deren Bestandteil) speziell die Städtebaupraxis in den Fokus nahm. Ge‐sucht wurde nicht nach besseren Modellen und Pla‐nungsmethoden, sondern nach den gesellschaftlichen Gründen für unzulängliche Ergebnisse des Städtebaus. Räumliche und bauliche Strukturen wurden aus dieser Warte nur als Indikatoren gesellschaftlicher Prozesse gesehen, die es zu ändern galt. Stadtplanung wurde als „gesellschaftliches Problem innerhalb eines Be‐zugssystems von Herrschaftspositionen“ betrachtet, „Urbanität, Öffentlichkeit und Nachbarschaftsidee“ samt deren räumlichen Vorstellungen wie „Entmi‐schung, Verdichtung, Funktionstrennung und Gliede‐rung“ als Versuche interpretiert, „Symptome einer Gesellschaftsordnung“ kurieren zu wollen, ohne nach den „Ursachen der Mißstände“ zu fragen; gefordert wurden in der kritischen Soziologie daher auch keine baulich‐räumlichen, sondern politische Maßnahmen (vgl. Hohenadl 1977 , 66f).
So fokussiert etwa Werner Durth mit einer grundlegenden Hinterfragung von Theorie und Praxis des Städtebaus und Anleihen an neomarxistischen und politökonomischen Positionen auf die soziologi‐sche Wende in der Städtebaudebatte (1977). In „ideo‐logie‐kritischer Aufräumarbeit“ hätten die Sozialwis‐senschaftler zunächst geholfen, einige „allzu pessimis‐tische Argumente der traditionellen Großstadtkritik“ abzuräumen und an deren Stelle ein „leuchtendes Bild der Möglichkeiten städtischer Lebensformen aufzu‐bauen“ (Durth 1977, 30f.). Nach der soziologischen Kritik an den überkommenen „organizistischen Vor‐stellungen“, so Durth, seien deren eigenen Konzepte (Privatheit, Öffentlichkeit, Urbanität) in die „Lücke der Leitbilder“ gedrängt worden. Die soziologischen Kon‐zeptionen von Privatheit und Öffentlichkeit (Bahrdt) oder von Urbanität (Salin) wären trotz ihrer wissen‐schaftlichen Präsentation im Grunde eine „simple In‐Eins‐Setzung gesellschaftlicher Beziehung mit räum‐lich eindeutigen Einheiten.“ Gerade der von Salin in die Diskussion eingebrachte Begriff der Urbanität sei „durch seine schillernde Unbestimmtheit allen Projek‐tionen offen und für unterschiedliche Zwecke instru‐mentalisierbar“ geworden und habe zu einer „Aus‐blendung des gesellschaftlichen Reproduktionszu‐sammenhangs“ geführt. Damit sei bewusst auf eine „vom Wirtschaftssystem ausgehende Betrachtung des sozioökonomischen Gebildes der modernen Stadt“ verzichtet worden (ebd.). Gleichzeitig kritisiert Durth den „Sieg der Zahlen über die Bilder“, mithin die Ablö‐sung des „organischen“ durch das „ökonomische“ Denken als die neue eigentliche Antriebsfeder der
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1) Die Geschichte der Trennung/Mischung
Disziplin. Die jüngste Entwicklung im Städtebau habe zu einer „Transformation sozialer und räumlicher Qualitäten“ der Städte in quantifizierbare Größen wie „Geschoßflächenzahlen und Verdichtungsziffern“ ge‐führt. Durth beklagt die „Reduktion planerischen Den‐kens“, für die Aufgabe von „differenzierten Vorstel‐lungen vom gelebten Raum der Menschen“ auf „zwei‐dimensionale Leit‐Bilder der Planung“ (Durth 1987, 46) und für die Abkehr von den (ehemaligen) „sozia‐len und politischen Qualitäten“ des Städtebaus hin zu einer „Ökonomisierung“ der Disziplin (Durth 1985, 367). Aus dieser fundamental‐kritischen soziologi‐schen Perspektive wird die städtebauliche Praxis ins‐gesamt zum Objekt der Kritik. Urbanität und Mi‐schung werden dagegen als Leitbildsurrogate in der Tradition des orthodoxen Städtebaus verstanden.
Diese Debatte führte auf unterschiedlichsten Ebenen der kritischen Theorie dazu, dass die Relevanz des Begriffs der Stadt grundsätzlich hinterfragt wurde. Jürgen Habermas schreibt 1985, mit dem Begriff ver‐binde sich eine Lebensform, die sich derart verwan‐delt hätte, „dass ihr der angestammte Begriff nicht nachzuwachsen vermag“ und dass daher „der Begriff der Stadt selbst überholt“ sei; (1985,22). Der Soziolo‐ge Peter Saunders wendet sich gegen den ›räumlichen Ortsbezug‹ der Stadtsoziologie und leitet daraus die „stadtsoziologische Irrelevanz“ von Stadt ab. Saunders fordert, dass das „Problem des Raumes“, auf welches die Stadtsoziologie traditionell orientiert sei, von der Analyse spezifisch gesellschaftlicher Prozesse getrennt werden müsse. Die Stadtsoziologie könne nicht länger im Sinne einer eigenständigen Thematisierung der „räumlichen Formen“ definiert werden (ebd. 17). Die moderne Stadt sei von Gesellschaft nicht zu unter‐scheiden, die „räumliche Form der Stadt“ keine brauchbare Konstruktion für eine eigene Theoriebil‐dung.
Trotz dieser Kritik beschäftigten sich (und be‐schäftigen sich noch) Städtebau und Stadtsoziologie auch weiterhin mit der Stadt. Begriffe wie Urbanität, Mischung und Dichte haben sich seit den 1980er Jah‐ren auf der städtebaulichen und stadtplanerischen Ebene als allseits anerkannte Leitbilder durchgesetzt. Das Leitbild der gemischten Stadt ist damit zu einem Zeitpunkt dominant geworden, zu dem sich die kri‐tisch reflektierte Theorie in weiten Teilen von der Stadt abgewendet hat. Grundsätzlich hinterfragende Annäherungen an Begriffe wie Mischung, Urbanität und Dichte sind heute daher nur noch selten zu fin‐den. Die städtebauliche Debatte ist in ihrer jüngeren Vergangenheit insgesamt deutlich pragmatischer, anwendungsbezogener und auch unpolitischer ge‐worden. Nicht zuletzt beruht diese Entwicklung dar‐auf, dass sich die kritische Theorie in vielen Bereichen
vom Stadtbegriff abgewendet hat – und damit auch von einer Beschäftigung mit Stadtentwicklung, Stadt‐planung und Städtebau. Die kontroverse Diskussion um die städtebauliche Praxis wurde weitgehend abge‐löst von einem überwiegend affirmativen Diskurs über städtebauliche Leitbilder, der die theoretische Exper‐tise der Disziplin seitdem dominiert.
• Von Brüchen und Kontinuitäten
Zusammenfassen lässt sich dieser historische Rück‐blick auf die Entwicklung der gemischten Stadt vom Schreckens‐ zum Leitbild der städtebaulichen Disziplin als eine Geschichte des Wandels und als eine Ge‐schichte der Kontinuität. Einerseits hat sich im städte‐baulichen Kontext tatsächlich der Blick auf die städti‐sche Alltagswirklichkeit gewandelt. Bis in die 1960er Jahre gab es hier große Einigkeit im Städtebau, die bestehende Großstadt als chaotische, krank machen‐de oder doch zumindest völlig ungeordnete Wirklich‐keit zu betrachten. Vorrangiges Ziel des Städtebaus war es, dieses Chaos neu und besser zu ordnen, und zwar nach den eigens aufgestellten städtebaulichen Regeln und Gesetzen, die zentral auf der Trennung der städtischen Realität in Funktionen beruhte. Nur mit dem Einstürzen des Schreckenbildes konnte dem Leitbild der gemischten Stadt der Boden bereitet wer‐den und schließlich statt der Trennung die Mischung gefordert werden.
Andererseits gibt es eine ganze Reihe von Kon‐tinuitäten festzuhalten: erstens das kontinuierliche Denken in Nutzungskategorien; die gemischte Stadt, so lässt sich dieser Ansatz vielleicht zuspitzen, denkt weiter in Kategorien der Trennung. Anders gesagt muss die Stadt erst einmal gedanklich getrennt wer‐den, um ihre Mischung städtebaulich korrekt einzu‐fordern. Dem Ziel Nutzungsmischung geht die gedank‐liche Trennung in Nutzungsarten voraus. Verdeutli‐chen lässt sich das am Baugebietstyp des „Mischge‐bietes“, der von Anfang an im Katalog der Baunut‐zungsverordnung enthalten gewesen ist. Ein Mischge‐biet nach BauNVO hat nur dann einen Sinn, wenn der Rest der Stadt kein Mischgebiet ist; das Mischgebiet definiert sich also erst durch sein Äußeres. Und mehr noch: Praxis der Mischgebietsfestsetzungen in der Bauleitplanung ist es, den Mischungsanteil zu definie‐ren. Auch hier wird deutlich, dass diese Art von Mi‐schung nicht ohne Trennung auskommen kann. Schließlich lässt sich vermutlich auch nur so, also durch die konstitutive Notwendigkeit der Trennung für das Leitbild der Mischung, erklären, weshalb die auf den Ursprüngen des Städtebaus basierende Sys‐tematik der Baunutzungsverordnung innerhalb der Disziplin Städtebau kaum als Hindernis für die allseits
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Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
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angestrebte gemischte Stadt empfunden wird (siehe Kapitel 2). Die gesetzlichen Grundlagen der Stadtpla‐nung – insbesondere die Baunutzungsverordnung von 1962 –, wurden im Wesentlichen unverändert beibe‐halten. Weiterhin wird bei jedem neuen Bebauungs‐plan der städtische Raum in Baugebietstypen einge‐teilt; die städtebauliche Trennung wird also durch die Stadtplanung unvermindert planerisch organisiert und vollzogen.
Eine weitere Kontinuität besteht darin, dass der Städtebau immer noch dazu tendiert, sich gegen die bestehende urbane Alltagswirklichkeit zu wenden. Denn auch wenn die Großstadt heute kaum mehr pauschal als `Grab der Zivilisation´ gebrandmarkt wird, werden bestimmte Gebiete auch weiterhin als „städtebaulich problematisch“ klassifiziert und die Kategorie des „städtebaulichen Missstandes“ hält sich hartnäckig in der städtebaulichen Analyse. In der aktuellen Debatte finden sich diese Missstände nicht mehr in den gründerzeitlichen Quartieren, die im Gegenteil für die Leitbilder der Urbanität und Mi‐schung paradigmatisch geworden sind; heute ist der städtebauliche Misstand zum einen im „suburbanen
Siedlungsbrei“ und zum anderen im „problematischen Bestand des Städtebaus nach dem 2. Weltkrieg“ be‐heimatet. Und natürlich ist es weiterhin die Aufgabe des Städtebaus, diese Missstände zu beheben. Der Grund für diese Kontinuität liegt tiefer, sozusagen im Subkontext des städtebaulichen Ansatzes verborgen. Als anwendungsbezogene Disziplin ist der Städtebau historisch als Intervention gegründet worden, als re‐parierende Institution. Um etwas reparieren zu kön‐nen, ist es jedoch erst einmal notwendig, zu erkennen (zu bezeichnen), dass etwas kaputt ist, oder eben „un‐gesund“ – daher auch der bis heute anhaltende Drang zu Biologisierung von Stadt. Leitbilder übernehmen dabei die Funktion, die notwendigen Kriterien für die Diagnosen kaputt/ganz oder krank/gesund herzustel‐len. War früher die dichte und ungegliederte Stadt ein zu korrigierender Zustand, so ist es heute die „mono‐funktionale“ Stadt, die repariert werden muss.
2) Der Stand der Forschung
Der Stand der Forschung Im zweiten Teil dieser Studie wird die neuere Diskus‐sion zum Leitbild der „Urbanen Mischung“ unter‐sucht. Dabei wird zunächst ein Blick auf die Forschung zum Thema „Nutzungsmischung im Städtebau“ ge‐worfen. Anschließend wird der Diskussionsstand in der stadtsoziologischen Debatte zum Thema „Soziale Mischung“ dargestellt und dabei auch auf die jüngst veröffentlichte umfangreiche Studie Soziale Mischung in der Stadt (Harlander/Kuhn/Wüstenrot 2012) einge‐gangen. Drittens wird der Forschungsstand zum eng verwandten Themenbereich der „Ethnischen Mi‐schung“ dargestellt und diskutiert. Viertens werden die aktuellen Debatten untersucht, die unter dem Titel „Renaissance der Innenstadt“, „Kreative Stadt“ und „Nachhaltige Stadt“ geführt werden, und dabei geprüft, ob hier neue Impulse für das Leitbild der „Urbanen Mischung“ gegeben werden.
• Nutzungsmischung
In den Jahren 1996‐1999 wurde im Rahmen des Pro‐gramms Experimenteller Wohnungs‐ und Städtebau eine umfangreiche Forschung zum Thema „Nut‐zungsmischung im Städtebau“ durchgeführt. In 13 Fallstudien wurden Ansätze untersucht, in denen in Neubau‐ und Umbauprojekten das Ziel der „gemisch‐ten Stadt“ verfolgt worden ist. Zudem wurden Vertie‐fungsstudien beauftragt, etwa zu den Themen Pla‐nung städtebaulicher Nutzungsmischung in Stadter‐weiterungs‐ und Stadtumbauvorhaben in Europa (BBR 1999a) und Nutzungsmischung und Stadt der kurzen Wege (BBR 1999b). Gleichzeitig entwickelte sich eine Fachdiskussion über das Leitbild der Nutzungsmi‐schung, die sich in zahlreichen Tagungen und Veröf‐fentlichungen widerspiegelt (u.a. Becker/Jessen/San‐der 1998). Im Folgenden werden die wichtigsten Er‐gebnisse dieser Forschungen zusammengefasst und diskutiert.
Der Forschungsgegenstand dieser Beiträge ist die Nutzungsmischung. Andere Mischungsformen, also etwa Soziale Mischung, konzeptionelle Mischung oder Akteursmischung, spielen, wenn überhaupt, nur am Rande eine Rolle. Festgestellt wird dabei, dass das Konzept der Nutzungsmischung in Abkehr von der Funktionstrennung als dem dominanten städtebauli‐chen Prinzip der letzten 50 Jahre in der aktuellen städtebaulichen Diskussion und Praxis wieder an Be‐deutung gewinne und dass mit dem Leitbild der Nut‐zungsmischung sich vielfältige Hoffnungen verbinden, etwa auf einen Alltag mit kürzeren Wegen (Verkehrs‐vermeidung) und auf Alltagserleichterungen für den Einzelnen (BBR 1999b, 9). Thematisiert wird zudem
häufig die Frage des Maßstabes, also ob vertikal oder horizontal, fein‐ oder grobkörnig, im Gebäude, im Block oder im Quartier gemischt wird oder gemischt werden soll. Klar benennbare Aussagen werden aus dieser Thematisierung jedoch kaum abgeleitet.
Untersucht werden in den Studien zur Nut‐zungsmischung zunächst die ökonomischen und be‐trieblichen Rahmenbedingungen, also welche äuße‐ren Entwicklungen dazu führen, dass Nutzungsmi‐schung stattfindet beziehungsweise welche sie behin‐dern. Dabei werden Entwicklungen in beide Richtun‐gen ausgemacht. Als Funktionsmischung fördernde Entwicklungen und Rahmenbedingungen werden vor allem genannt: die zunehmende Miniaturisierung der Produkte und damit einhergehend abnehmende Be‐darfe an Lagerflächen; die Diversifizierung/Individuali‐sierung der Produkte, die eine größere Kundennähe erfordern (Produktfinishing); der Einsatz moderner Immissionsschutztechnologien, die Umweltbelastun‐gen weiter reduzieren; moderne Informations‐ und Kommunikationstechnologien, die Wohnen und Ar‐beiten in enge Nachbarschaft bringen; die Annähe‐rung der Erwartungen zwischen dem sekundären und tertiären Sektor hinsichtlich eines höherwertigen Arbeitsumfeldes und damit verbesserte Möglichkei‐ten der städtebaulichen Integration von Produktio‐nen; die zunehmenden Verflechtungen zwischen Produktion und Service (Herwarth/Holz 1997, 12). Als gegenläufige Entwicklungen werden genannt: eine allgemeine Expansionstendenz der ökonomischen Entwicklung, die Lage von vielen alten Gewerbebe‐trieben in überalterter Bausubstanz; eine unzurei‐chende Erschließung solcher Standorte; beengte Flä‐chenzuschnitte und das Fehlen von Erweiterungsflä‐chen im Bestand. Insgesamt wird konstatiert, dass es nur eine recht geringe Investitionsbereitschaft bei privaten Investoren für gemischte Strukturen auszu‐machen ist (ebd.). Von Investorenseite aus wird ver‐merkt, dass die kleinräumliche Mischung aus Woh‐nen, Arbeiten und sozialer Infrastruktur, wie sie als Beispiel der alten europäischen Stadt immer wieder diskutiert werde, „unter heutigen Marktbedingungen nicht (mehr)“ herstellen ließe und auch von vielen potentiellen Nutzern gar nicht nachgefragt werde (Unger 1998, 268).
Auch bei der Beurteilung der rechtlichen und instrumentellen Rahmenbedingungen für die Durch‐setzung von Nutzungsmischung ergibt sich kein ein‐heitliches Bild. Auf der einen Seite werden restriktive Umweltschutzauflagen, die häufig fehlende Planungs‐sicherheit, das Nicht‐im‐Vordergrund‐Stehen bei der planenden Verwaltung und vor allem das im Pla‐
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Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
nungsrecht verankerte Leitbild der Funktionstrennung als Hemmnisse genannt (Herwarth/Holz 1997, 12). Es wird darauf hingewiesen, dass Nutzungsmischung nicht als Ziel des Städtebaurechts angelegt und dass der wichtigste Grundsatz des Baugesetzbuchs und der Baunutzungsverordnung die Optimierung der Rah‐menbedingungen für einzelne Funktionen durch ihre räumliche Trennung ist (BBR 2000, 31). Insgesamt betrachtet seien die Handhabung des Planungsrechts durch die Stadtplanung und die „wirtschaftlichen Tendenzen und Zwänge“ die „eigentlichen Motoren der Funktionstrennung“ (Scharmer 1998, 260). Auf der anderen Seite wird im Endbericht des ExWoSt‐Projektes jedoch auch formuliert, dass „das allgemei‐ne Städtebaurecht kein Hindernis für die Nutzungsmi‐schung“ darstelle (BBR 2000, 31).
In einer der Studien des ExWoSt‐Forschungs‐feldes wird explizit untersucht, was ein Leitbild der Nutzungsmischung auf der ökologisch motivierten Begründungsebene zu leisten imstande ist. (BBR 1999b). Dafür werden insbesondere die mögliche Verkehrswirkungen einer Nutzungsmischung auf Quartiersebene betrachtet und damit analysiert, wie der Zusammenhang zwischen ei‐ner propagierten Nutzungsmi‐schung und dem Leitbild von der „Stadt der kurzen Wege“ sich darstellt. In dieser Studie wird eine Reihe von Maßnah‐men für die Umsetzung von Nutzungsmischung vorge‐schlagen. In einer Beispielsam‐mlung von „organisatorischen Konzepten“ wird etwa der his‐torische Werkswohnungsbau diskutiert, die Berücksichti‐gung der Lage des Arbeitsplat‐zes bei der Vergabe von Grundstücken oder die vor‐zugsweise Vermietung kom‐munaler Wohnungen an Ein‐pendler (ebd. 111). Auch das umgekehrte Prinzip, bei dem durch spezielle Jobbörsen der Arbeitsplatz zum Wohnort rücken soll, wird hier auf‐gelistet und das Zusammen‐führen beider Ansätze in der Telearbeit besprochen. Insge‐samt wird herausgestellt, dass eine große Bandbreite mög‐licher Ansatzpunkte zur Redu‐zierung von Distanzen durch
Organisation besteht und dass sich eine kleinteiligere Verteilung von sämtliche funktionalen Bereichen – seien es Bildungseinrichtungen, Verwaltungsstandor‐te, Einzelhandelsbetriebe oder Freizeiteinrichtungen – tendenziell positiv auf eine gemischte Struktur der Stadt auswirkt (ebd. 111). Allerdings wird gerade in dieser Studie auch immer wieder herausgearbeitet, dass die Nutzungsmischung keinen nachweisbaren Einfluss auf den Berufsverkehr habe, dass eine nach‐haltige Reduzierung der zurückgelegten Durch‐schnittsdistanzen mit dem Konzept der quartiersbe‐zogenen Nutzungsmischung allein nicht herstellbar sei und dass das städtebauliche Konzept der Nutzungsmi‐schung im Hinblick auf den gesamten Verkehrsauf‐wand unter heutigen Rahmenbedingungen nur einen sehr geringen Beitrag zur Reduzierung von Distanzen leisten könne (ebd. 74). Aus ökologischer Sicht sei eine nachhaltige Reduzierung der zurückgelegten Durchschnittsdistanzen zwar wünschenswert, könne durch die diskutierten Maßnahmen jedoch nicht er‐reicht werden. Vielmehr entkoppele sich das individu‐elle Verkehrshandeln zunehmend von den baulich‐
Abbildung „Nutzungsmischung“, aus: ExWoSt‐Forschungsfeld "Nutzungsmischung im Städtebau", Potsdam‐Kirchsteigfeld, Freie Planungsgruppe Berlin, 1999
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2) Der Stand der Forschung
räumlichen Rahmenbedingungen und sei somit bei einer hohen und weiterhin steigenden Raumdurchläs‐sigkeit immer weniger durch siedlungsstrukturelle Ansätze direkt zu beeinflussen (ebd. 74). Aus indivi‐dueller Sicht eröffne eine nutzungsgemischte baulich‐räumliche Struktur dagegen Möglichkeiten zu kurzen Wegen, die alltagserleichternd sind (ebd. 4). Zudem gebe es ohne entsprechende baulich‐räumliche Rah‐mensetzungen gar keine Möglichkeit zur Distanzredu‐zierung durch Organisation, organisatorische Konzep‐te erhöhten die Wirksamkeit baulich‐räumlicher An‐sätze. Gute Angebote beim Umweltverbund sowie für Fußgänger und Radfahrer würden den Nahbereich attraktiver machen, nur in einer Umgebung, die aus‐gestattet ist mit Geschäften, Freizeitgelegenheiten, Schulen, sozialer Infrastruktur und Arbeitsplätzen, könne man als Fußgänger oder Radfahrer sein Ziel erreichen (ebd. 112).
Die allgemeinen Forschungsergebnisse zum Thema Nutzungsmischung im Städtebau fallen wenig überraschend aus. Insgesamt werden vier Aufgaben‐bereiche identifiziert: Stadterweiterung, Stadtumbau, Nutzungsbereicherung monofunktionaler Stadtgebie‐te, Erhalt der bestehenden Nutzungsmischung in alten Stadtquartieren (BBR 1999a, 3). Das Wohnen wird als die Schlüsselfunktion in allen Projekten bezeichnet, auf die das Ziel der städtebaulichen Nutzungsmi‐schung bezogen ist (BBR 1999a, 10). Dabei wird resü‐miert, dass innenstadtnahe Brachen gute Vorausset‐zungen für das Herstellen von Nutzungsmischung bieten, während dies bei Siedlungen am Stadtrand: deutlich schwerer falle (BBR 2000, 1). Bereits ge‐mischt genutzte Quartiere würden günstige Voraus‐setzungen und Anknüpfungspunkte für eine Stabilisie‐rung und funktionale Weiterentwicklung bieten. Die Planung und Realisierung neuer städtebaulicher Nut‐zungsmischung sei dagegen schwierig, aber möglich (BBR 1999a, 27). Als Maßnahmen für die Umsetzung von Nutzungsmischung werden ein kleinräumliches Stadtteilmanagement und eine integrierte Stadtent‐wicklungspolitik eingefordert. Notwendig seien eine kommunale Bodenvorratspolitik, ein Stadtentwick‐lungskonzept und ein kooperativer Planungsansatz (BBR 1999 a, 30). Die wichtigsten Elemente seien dabei die konsequente und innovative Anwendung des bau‐ und planungsrechtlichen Instrumentariums, die aktive Vermarktung des Produkts „Nutzungsmi‐schung“ sowie die Unterstützung durch die Kommu‐nalpolitik und Informaton/Beratung der Träger und Nutzer (BBR 2000, 1). Als Ergebnis des ExWoSt‐Projektes wird zum einem festgestellt, dass es in allen Städten Deutschlands bereits Quartiere gibt, in denen Wohnungen und Betriebe unterschiedlicher Art fein‐körnig gemischt sind. Solche Quartiere, so lautet die
Zusammenfassung der Forschung, bieten insbesonde‐re kleinen und mittleren Betrieben sowie Existenz‐gründern gute Standortbedingungen. Allerdings wird ebenso festgestellt, dass traditionelle feinkörnige Mischungen durch ökonomische Entwicklungen zu‐nehmend bedroht sind. Die Modellvorhaben zeigten, dass diese Gebiete durch Einsatz planungsrechtlicher Instrumente, Information und Beratung stabilisiert und modernisiert werden können. Gerade innenstadt‐nahe Brachen würden gute Voraussetzungen für Nut‐zungsmischung bieten. Nutzungskonflikte könnten durch Planung weitgehend vermieden werden. (BBR 1999).
Auffällig bei den Forschungsarbeiten zum Thema „Nutzungsmischung im Städtebau“ ist ein sich in nahezu allen Beiträgen wiederholender Argumen‐tationsbogen: Stets wird an den Anfang gesetzt, dass Nutzungsmischung als städtebauliches Ziel unter Pla‐nern fast unumstritten ist und kaum noch von jeman‐dem „ernsthaft in Frage gestellt“ werde (Sander 1998, 475). Gefolgt wird diese Feststellung von der Diagno‐se, dass die „reale Entwicklung unserer Städte jedoch weiterhin durch Entmischung und Funktionstrennung geprägt“ (BBR 2000, 9) und dass ein „anhaltend star‐ker gegenläufiger Trends in der Siedlungsentwicklung“ festzustellen sei (Sander 1998, 475). Zusätzlich wird vermerkt, dass städtebauliche Nutzungsmischung ein abstraktes Ziel und „nur sehr indirekt programm‐ und politikfähig“ ist (BBR 1999a, 31) und dass es sich auch „nur schwer empirisch überprüfen“ lasse (BBR 1999b, 1). Die Beseitigung von Restriktionen und die Förde‐rung von Potentialen könnten nur sehr vermittelt geschehen und aus den „bisher eher bescheidenen wissenschaftlichen Befunden“ bezüglich der ökologi‐schen Wirkungen der Nutzungsmischung könnte kaum ein besonderer Fördertatbestand hergeleitet werden (BBR 1999a, 30). Trotz dieser erheblichen Zweifel wird jedoch regelmäßig am Ende der jeweili‐gen Studien dafür plädiert, das Ziel der Nutzungsmi‐schung weiter zu verfolgen und „mischungsstützende Baussteine“ gezielt zu fördern (BBR 1999a, 31). Auch Zweifel an den „Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen“, so wird hier schon beinahe beschwörend formuliert, sollen das Leitbild „nicht in Frage“ stellen (BBR, 1999b, 5). Regelmäßig wird in diesen Untersuchungen also nicht nur festgestellt, dass sich Leitbild und Reali‐tät gegenläufig entwickeln, sondern auch, dass es mit städtebaulichen/stadtplanerischen Mitteln kaum möglich erscheint, das Ziel des Leitbildes zu erreichen; und dennoch wird das Leitbild selbst am Ende jedes Mal bestätigt. Dieser in sich widersprüchliche Argu‐mentationsaufbau ist symptomatisch für das gesamte Forschungsfeld „Nutzungsmischung im Städtebau. Was mit der Forschung durchgehend nicht hinterfragt
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Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
wird, ist das Leitbild der „Nutzungsmischung“ selbst; weder wird diskutiert, warum eigentlich eine Nut‐zungsmischung angestrebt werden sollte, noch, wel‐che Implikationen das Vorhaben „Herstellen von Nut‐zungsmischung“ mit sich bringt. Damit ist die Anwen‐dungsforschung des ExWoSt‐Projekts eher als eine programmatische Vertiefung und Verfestigung des bestehenden Leitbildes einzuschätzen und weniger als eine grundlegende und wissenschaftlichen Ansprü‐chen genügende Auseinandersetzung mit dem For‐schungsgegenstand selbst.
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass sich die Debatte tief in den eigenen Widersprüchen verfangen hat und dass daher klare Positionen fast unmöglich geworden sind. Der Hauptwiderspruch besteht zwi‐schen der Analyse, die zeigt, dass die Rahmenbedin‐gungen äußerst komplex und gegenläufig sind, und dem Festhalten an einer Programmatik, die keine Antworten darauf geben kann.
• Soziale Mischung
Der Themenbereich „Soziale Mischung“ ist das not‐wendige Pendant zur Nutzungsmischung, erst beide zusammen bilden das Leitbild der „Urbanen Mi‐schung“. Bereits im ersten Paragraphen des Bauge‐setzbuchs wird die „Schaffung und Erhaltung von sozialen Bewohnerstrukturen“ als Ziel gesetzt und da‐mit das Leitbild von der „gesunden sozialen, ethni‐schen und kulturellen Mischung“ umschrieben. Die Soziale Mischung war über Jahrzehnte hinweg (und ist auch heute) selbstverständliches, kaum je hinterfrag‐tes und daher reichlich diffuses Gemeingut der städ‐tebaulichen Planung (vgl. Harlander 2000, 109), und zwar relativ unabhängig davon, ob auf der funktiona‐len Seite Trennung oder Mischung propagiert wurde. Konkretisiert wurde der Topos der „Sozialen Mi‐schung“ erst in Folge des beschriebenen städtebauli‐chen Paradigmenwechsels von der getrennten zur gemischten Stadt. Mit der Soziologisierung der städ‐tebaulichen Debatte wurde die „Soziale Mischung“ als Heterogenität konzeptualisiert, der positive Auswir‐kungen auf die Stadtgesellschaft zugeschrieben wur‐den. Diese Sichtweise konnte dann direkt mit der dominant werdenden Vorstellung von Urbanität ver‐knüpft werden. Die soziale und ethnische Mischung wurde zum Sinnbild der urbanen, europäischen Stadt, die den städtebaulichen Diskurs seit den 1980er Jah‐ren als Leitbild zu Grunde liegt. Zum anderen gewann das Thema jedoch auch von einer anderen Seite aus an Aktualität, und zwar durch die zunehmende Migra‐tion nach Westdeutschland in den 1970er Jahren. Die Problematisierung der räumlichen Verteilung der Mi‐gration führte zu einer Praxis der großen Wohnungs‐
unternehmen, die als richtig erachtete „Soziale Mi‐schung“ durch Steuerung der Belegung ihrer Bestände herzustellen; auf der städtebaulichen/stadtplaneri‐schen Seite wurde diese Praxis kaum hinterfragt. Eine intensive Forschung über die Grundlagen einer sol‐chen Steuerungspolitik findet sich allerdings in der sozialwissenschaftlichen Forschung, wo Themen wie Segregation, Quartierseffekte und Integration um‐fangreich verhandelt wurden und werden. Im Folgen‐den wird daher ein kurzer Überblick über die Ergeb‐nisse der sozialwissenschaftlichen Forschung gege‐ben.
Im Mittelpunkt der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung steht der Segregationsbegriff, der mit `Absonderung´ oder `Trennung´ übersetzt werden kann. Auch bei der Untersuchung der „Sozialen Mi‐schung“ findet sich somit gleich zu Anfang ein Begriff der Trennung. Segregation kann dabei nach sozialem Status, nach demografischen Merkmalen und/oder nach ethnischen, religiösen und kulturellen Kriterien auftreten. Aufbauend auf die Klassiker der Soziologie (Karl Marx, Emil Durkheim, Max Weber und Georg Simmel) wurden in den 1920er Jahren durch die Ar‐beiten der Chicago School of Sociology die Theorien über das Entstehen von sozialer Ungleichheit zusam‐mengebracht und dabei besonders deren räumliche Ausprägung betont. Ergebnis dieser Übertragung war das Konzept der residentiellen Segregation, mit dem die städtische soziale Ungleichheit durch ihr Abbild im städtischen Raum analysiert werden sollte. Seit den 1970er Jahren wurde das Modell der Segregation – häufig mit Bezug auf Pierre Bourdieu – weiter ausge‐baut. Segregation wird dabei als die Verräumlichung sozialer Ungleichheit definiert, die wiederum selbst die bestehenden sozialen Ungleichheiten verstärkt. In diesem Theorieansatz wird davon ausgegangen, dass die ohnehin sozial Benachteiligten in ihren Hand‐lungsmöglichkeiten und Partizipationsmöglichkeiten zusätzlich benachteiligt werden, und zwar aufgrund ihrer räumlichen Konzentration (Dangschat 2000, 210). Die wachsende sozialräumliche Differenzierung habe in den großen Städten die Herausbildung von Quartieren bewirkt, in denen sich soziale Probleme konzentrieren. Dadurch würde die Segregation eine neue Qualität gewinnen: Sie bewirke eine soziale und ethnische `Spaltung´ und `Polarisierung´ der Städte, bei der der Wohnort selbst zu einer Quelle weiterer Benachteiligung und Ungleichheit wird. Somit können in den Städten Orte der Ausgegrenzten entstehen, die auch Orte der Ausgrenzung sind (Häußermann/Läpp‐le/Siebel 2008, 198).
Der Begriff der Segregation ist ein Analyse‐werkzeug, mit dem die Ungleichheit in den Städten erfasst und verstanden werden soll. Das Ziel der städ‐
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2) Der Stand der Forschung
tebaulichen und wohnungspolitischen Planung, Seg‐regation zu steuern, wurde in der soziologischen For‐schung bereits vielfach kritisiert und dieser planungs‐bezogene Ansatz bildet ein eigenständiges Untersu‐chungsfeld (siehe auch das Kapitel „Ethnische Mi‐schung“). Aber auch auf der Theorieebene wird das Modell der Segregation grundlegend hinterfragt. Bei dem Fokus auf die räumliche Ausgestaltung und Be‐dingtheit von Segregation – so lautet eine dieser Kriti‐ken – werden politische und ökonomische Einflussfak‐toren häufig ausgeblendet; zudem setze der positivis‐tische Zugang zum Thema Segregation oftmals Theo‐riebildung mit „festgestellter empiristischer Regelhaf‐tigkeit gleich“ (Dangschat 2000, 211). Eine solch aus‐gestatte Ansicht der „nahezu unmittelbaren Übertra‐gung sozialer Ungleichheit in den Raum“ findet auch heute noch ihren Zuspruch in der Sozialökologie, in der polit‐ökonomischen Stadt‐ und Regionalforschung und in der Kultursoziologie (ebd.). Zudem werden die Arbeiten der Chicago School und der dabei transpor‐tierte Ansatz als Beispiel für einen „Reduktionismus“ bei der sozialwissenschaftlichen Thematisierung des Räumlichen bezeichnet, der vor allem auf die Traditi‐on der dort gepflegten naturwissenschaftlichen Bezü‐ge zurückzuführen ist (Werlen 2005, 17f.). Von den Protagonisten der Chicago School wurden – mit der Orientierung an biologistischen Analogien – die „nor‐malerweise als sozial“ bezeichneten Dinge in den Begriffen von „Raum und Positionsveränderung“ ge‐fasst und beschrieben und damit konsequenterweise Räumliches zum Index für Erklärungen des Sozialen gemacht. Dies hat zu einer „fatalen argumentativen Verwerfung“ geführt und der Beliebigkeit der Analo‐gie ein „breites Feld problematischer Kreativität“ ge‐öffnet. Mindestens implizit erlangt das Materielle in den Arbeiten der Chicago School und ihrer Nachfolger damit argumentativ „sinnstiftenden Gehalt“, dement‐sprechend schließen die Versuche der räumlichen Er‐klärungen des Sozialen eine „argumentative Überstra‐pazierung des Materiellen“ ein. Folglich geraten die räumlichen Erklärungen des Sozialen zwingend „in die Nähe vulgär‐materialistischer Argumentationsmuster“ (ebd.). Damit wird von theoretischer Seite aus auch der soziologische Forschungsansatz der sogenannten „Quartierseffekte“ hinterfragt und es scheint wissen‐schaftlich keineswegs hinreichend geklärt, „ob und gegebenenfalls auf welche Weise das Umfeld eines Wohnviertels die individuellen Lebenschancen seiner Bewohner beeinflusst“ (Münch 2010, 49).
In neueren Arbeiten wird vor allem auf die Wir‐kung einer zunehmenden marktförmigen Organisati‐on der Wohnungsversorgung hingewiesen, die zu immer stärkerer sozialer, kultureller und ethnischer Segregation führe, als dies auf sozialstaatlich mode‐
rierten und regulierten Märkten der Fall sei (Häußer‐mann/Läpple/ Siebel 2008, 289). Besonders wird auch auf die tendenziell segregationsfördernden Folgen der Privatisierung ehemals öffentlicher Wohnungsunter‐nehmen hingewiesen (Münch 2010, 222): „Marktför‐miger Städtebau bringt starke und feinkörnige Segre‐gation hervor“ (Häußermann/Läpple/Siebel 2008, 200). Die vorherrschende Tendenz der Stadtpolitik sei, dass die Ideologie des Wachstums als Allgemeinwohl propagiert werde und die Städte sich „unter dem Wachstumsdiktat zum Handlanger von privaten Inte‐ressen“ machen würden (ebd. 355). Folge dieser Poli‐tik sei es, dass die wachsende Zahl von Armen auf einem schrittweise liberalisierten Wohnungsmarkt in wenige Quartiere mit geringer Attraktivität gelenkt werde, in denen sich dann die sozialen Probleme kon‐zentrieren. Deshalb würden die einheimischen und die ausländischen Mittelschichten spätestens zur Einschulung ihres Nachwuchses „Exitstrategien“ ent‐werfen (Dangschat 2000, 220) und aus diesen Gebie‐ten wegziehen, so dass sich die Segregation der sozial randständigen Bevölkerung noch verschärfe. In allen großen Städten seien solche Prozesse der Residuali‐sierung von Stadtteilen mit einer hohen sozialen Prob‐lemdichte zu beobachten (Häußermann/Läpple/Siebel 2008, 363).
Der am weitesten reichende Versuch, Ansätze der Hierarchisierung von städtischen Räumen und der Ausdifferenzierung moderner (Stadt‐)Gesellschaften entlang vertikaler und horizontaler Merkmale sozialer Ungleichheit zu erklären, findet sich im Modell der Gentrification (Dangschat 2000, 212), welches gerade in den letzten Jahren die sozialwissenschaftliche De‐batte zur Stadtentwicklung dominiert. Mit Gentrifica‐tion/Gentrifizierung wird ebenfalls ein Segregations‐prozess bezeichnet: Innenstadtnahe Altbauquartiere, die einen hohen Anteil an bezahlbaren Wohnungen haben, werden von jungen Künstlern und Intellektuel‐len als günstiger, urbaner und trendiger Wohnstand‐ort entdeckt. Dieser Zuzug setzt Aufwertungsprozesse in Gang, die zu einer Steigerung der Wohnungsmieten führen, die letztlich die ursprünglichen Einwohner_in‐nen (und häufig auch die Gentrifizierungs‐auslösen‐den Pioniere selbst) aus dem Viertel verdrängen. Ein Effekt dieses derzeit besonders in Berlin gut zu beo‐bachtenden Prozesses ist es, dass gerade das von so vielen Stadtplaner_innen gepriesene Leitbild der Ur‐banität dort, wo es angetroffen wird (beziehungswei‐se wo es sich gerade entwickelt), eine Aufwertung bestimmter Wohnviertel bewirkt, die schließlich zur Verdrängung von denjenigen führt, die diese Urbani‐tät eigentlich erst ausgemacht haben – auch dieses Phänomen zeigt eine zentrale Widersprüchlichkeit des Leitbildes der gemischten Stadt. Das flächendeckende
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Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
Entstehen einer solchen Urbanität und die oftmals propagierte Renaissance der Städte (vgl. Kapitel 3) würde – den Vorbildern London und Paris folgend – zu einer flächendeckenden Gentrifizierung der innen‐städtischen Wohngebiete führen und damit zu einer Vertreibung der Haushalte mit niedrigeren Einkom‐men an die Ränder der Städte (Häußermann/Läpple/ Siebel 2008, 372).
In aktuellen Beiträgen zum Themenbereich der Gentrifizierung wird dem Paradigma der „Sozialen Mischung“ selbst eine tragende Rolle zugeteilt. Das Ziel der Sozialen Mischung „beziehungsweise ihr Alter Ego der Durchschnitt“ sei das eigentliche Leitbild der fordistischen Stadtentwicklung geworden und genüge sich auch „im Zeitalter der technokratischen Moder‐ne“ selbst (Holm 2009, 23). Lediglich in einer kurzen Phase in den 1980er Jahren sei es bei der Rede von der Sozialen Mischung nicht um die Verordnung eines sozialpolitischen oder städteplanerischen Ideals, son‐dern um den Erhalt von gewachsenen sozialen Struk‐turen gegangen. Mit der Privatisierung und Ökonomi‐sierung der Stadtentwicklungspolitik seit den 1990er Jahren sei diese kurze Phase der sozialorientierten Sanierungspolitik jedoch beendet gewesen. Die aktu‐ellen sozialpolitischen Interventionen orientierten sich allerdings weiterhin an dem Ziel der Sozialen Mischung, und zwar trotz „fehlender empirischer Evidenz“ dafür, dass die Umkehr der räumlichen Aus‐grenzung tatsächlich eine Lösung des Problems dar‐stellt. Mit diesem Festhalten am überkommenen Leit‐bild würden ökonomische und gesellschaftliche Ursa‐chen sozialer Ungleichheiten systematisch ausgeblen‐det und das wohlmeinende Sprechen von der Sozialen Mischung diene nur allzu oft der Legitimation von repressiven und autoritären Neuordnungen der städ‐tischen Umwelt (ebd.). Letztlich werde die Rhetorik der Sozialen Mischung selbst zur Legitimation von Aufwertungsprozessen herangezogen (ebd.). Der My‐thos der Sozialen Mischung sei nicht nur gescheitert, sondern Ausdruck einer „revanchistischen Stadtpoli‐tik“, da die „Soziale Mischung“ fast ausschließlich im Kontext einer Rückeroberung von Arbeitervierteln durch die Mittelklasse denkbar sei und nur selten in umgekehrter Richtung (ebd., vgl. auch Slater 2006 und Smith 2002).
Mit der Studie der Wüstenrot‐Stiftung zur So‐zialen Mischung in der Stadt (2012) wurde auch von Seiten der städtebaulichen Forschung ganz aktuell eine ausführliche Untersuchung zum hier verhandel‐ten Themenbereich vorgelegt. In der Studie wird fest‐gestellt, dass gegenwärtig in vielen städtebaulichen und stadtpolitischen Debatten das `Mischungsideal´ dominiert (Harlander/Kuhn 2012c, 386). Vermutet wird, dass dies damit zusammen hängt, dass die An‐
zeichen wachsender sozialräumlicher Polarisierung und eines `Auseinanderdriftens der Stadtgesellschaf‐ten´ immer unübersehbarer werden. Im Hintergrund stehe ein in Deutschland im Vergleich zu anderen OECD‐Staaten besonders ausgeprägtes Wachstum von sozioökonomischer Ungleichheit, das auch immer deutlicher sozialräumliche Ausdrucksformen fände (ebd.). Gerade in Deutschland sei die Einkommen‐sungleichheit seit 1990 stärker gewachsen. Die Folgen und Lasten dieser Entwicklung seien in den Kommu‐nen im „Anschwellen der Arbeitslosen, Hartz IV‐ und Obdachlosenzahlen“ am unmittelbarsten spürbar, drückten sich aber auch „im Wachstum marginalisier‐ter Quartiere auf der einen Seite und der Zunahme `abgeschirmter´ und abgeschlossener Wohnkomplexe auf der anderen Seite“ aus (ebd.). Gated Communities seien hierzulande noch Einzelfälle, aber „als (sozi‐al)räumlicher Ausdruck einer sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich […] und dem damit einher‐gehenden allmählichen Auseinanderdriften unserer Stadtgesellschaften durchaus ernst zu nehmen“ (ebd. 389). In der Studie der Wüstenrotstiftung werden damit zunächst wichtige politische Problemstellungen thematisiert: etwa von der nicht nur globalen, son‐dern gerade auch in Deutschland zunehmenden so‐zioökonomischen Polarisierung bis hin zum Phänomen der Gated Communities (vgl. auch Harlander 2012c), die sicherlich zu Recht zu den im globalen Maßstab dringendsten Problemen der Stadtentwicklung ge‐zählt werden.
In der Wüstenrot‐Studie wird also versucht, das Leitbild der „Sozialen Mischung“ zu verteidigen und aufrecht zu halten. Unter anderem wird die Frage gestellt, ob durch die Gentrifizierung eine „erwünsch‐te Aufwertung“ nicht erst ermöglicht werde und ob nicht „in sozialer Hinsicht Mischungsvehältnisse ent‐stehen, die die Zusammensetzung der Gesellschaft sehr viel besser abbilden als zuvor“ (Kuhn 2012b 324). Dabei zeigt es sich, dass das Ziel der „Sozialen Mi‐schung“ in Konkurrenz mit dem Ziel der sozialen Ge‐rechtigkeit tritt. Es ist nämlich tatsächlich ein Unter‐schied, ob gegen die räumliche Ausprägung von sozia‐ler Ungleichheit vorgegangen werden soll oder eben gegen soziale Ungleichheit selbst. Und wenn es beim Leitbild der „Sozialen Mischung“ wirklich nur darum geht, die „Zusammensetzung der Gesellschaft abzu‐bilden“ und dieses Leitbild gleichzeitig als letztlich relevantes Ziel gesetzt wird, dann bedeutet das, dass die zunehmende sozioökonomische Polarisierung auf ordentliche Weise verortet, aber nicht mehr bekämpft werden soll. Der räumliche Aspekt scheint damit, so lässt sich dieser Ansatz zuspitzen, Oberhand über den sozio‐ökonomischen Ansatz gewonnen und letzteren von der Agenda vertrieben zu haben.
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2) Der Stand der Forschung
Insgesamt wird in der aktuellen städtebauli‐chen Debatte jedenfalls wieder stark auf das Leitbild der „Sozialen Mischung“ abgestellt (vgl. Harlan‐der/Kuhn 2012a; Bundesamt für Raumentwicklung et al. 2011; zur europäischen Ebene Harlander/Kuhn 2012b) und dabei das Ziel einer „aktiven, steuernden Politik sozialer Durchmischung“ (Harlander 2012a, 89) in den Vordergrund gerückt. Dabei werden zwar die grundsätzlichen Kritiken am Mischungsziel zur Kennt‐nis genommen und teilweise sogar bestätigt; aller‐dings wird daraus nicht die Konsequenz gezogen, auf das Leitbild zu verzichten. Das Bild einer „nutzungs‐ und funktionsgemischten, kompakten europäischen Stadt“ wird weiterhin als ein „wichtiger und konsens‐fähiger Handlungsrahmen“ gesetzt; weiter wird pos‐tuliert, die „Soziale Mischung“ stehe auch heute für „eine gewachsene Urbanität, für gemeinsam empfun‐dene Identität, für anregende kulturelle Vielfalt, für spontane öffentliche Begegnungen und für eine stabi‐le soziale Kohäsion“ (Krämer/Kurz 2012, 8). In solchen Beiträgen wird also am Leitbild festgehalten, auch wenn seine Komplexität und Widersprüchlichkeit Er‐wähnung findet. Das Problem, so die durchgängige Ar‐gumentation, läge aber eben nicht am Leitbild selbst, sondern daran, wie unvollständig und fragmentarisch die Handlungsstrategien in ihrer „konkreten Ausfüh‐rung“ geblieben wären (ebd. 10).
Genau in dieser Argumentationsweise spiegelt sich jedoch nochmals die Problematik der Suche nach der „adäquaten Sozialen Mischung“ (Krämer/Kurz 2012, 11), die das Leitbild seit jeher (re)produziert. Was dabei nämlich nicht geleistet wird, ist, das Leit‐bild mitsamt seiner diskursiven und materiellen Aus‐wirkungen selbst zu hinterfragen. Immer wieder wird die These vertreten, dass das Ziel der Sozialen Mi‐schung nur halbherzig durchgeführt worden und des‐halb gescheitert sei (Krämer/Kurz 2012, 9). Dass dem Leitbild der „Sozialen Mischung“ selbst eine paterna‐listische und dirgistische Wirkung zu eigen ist, die letztlich eine sozialen Polarisierung eher befördert als verhindert, wird in letzter Konsequenz nicht erkannt. Die auffällige Diskrepanz zwischen der reflektierten Analyse und dem Festhalten an der Forderung nach einer „aktiven Mischungspolitik“ lässt sich vermutlich nur dadurch erklären, dass – ähnlich wie beim im Ka‐pitel 1 herausgearbeiteten Fall der „Nutzungs‐ und Funktionsmischung“ – in der städtebaulich/stadtpoli‐tisch gedachten „Sozialen Mischung“ der Trennungs‐ansatz historisch fest verankert ist.
• Ethnische Mischung
Auch zur Frage der „ethnischen Mischung“ wurde in den letzten Jahren eine umfangreiche Auseinander‐
setzung geführt – sowohl in den populären Medien als auch in diversen Fachdebatten. Die Verknüpfung zum gerade skizzierten Diskurs über den Begriff der Segre‐gation ist dabei offensichtlich, die Bereiche soziale und ethnische Mischung sind kaum voneinander zu trennen. In den programmatisch angelegten Diskur‐sen chargiert die Debatte dabei zwischen zwei Polen: Auf der positiven Seite findet sich das geläufige Urba‐nitätsbild einer multikulturellen und „ausgewogen“ ethnischen Bevölkerungsmischung, am Negativende der Skala das Schreckensbild des ethnisch homogenen „Ghettos“, das insbesondere durch die Revolten in den französischen und englischen Vorstädten an dis‐kursiver Aktualität gewonnen hat. Die ethnische Mi‐schung ist dabei auf den ersten Blick ebenso wie die Soziale Mischung nicht im direkten Handlungszugriff von städtebaulich planerischen Ansätzen. Stadtent‐wicklungspolitisch hat die Frage nach der ethnischen Mischung jedoch eine erhebliche und aktuelle Rele‐vanz, und auch die Frage der Steuerung – und damit das Kernelement städtebaulicher Planung – kann hier in besonderem Maße expliziert werden.
Grundlage des Ideals der ethnischen Mischung ist wiederum der räumliche Ansatz der Chicago School. Louis Wirths Text Urbanism as a way of life (vgl. Kapitel 1) ist der Ausgangspunkt für die unter dem Begriff `Kontakthypothese´ versammelte Diskus‐sion in der Soziologie, die in den 1950er und 1960er Jahren vor allem in den USA bezüglich der sozialen und sozialräumlichen Distanzierung zwischen Weißen und Afroamerikanern geführt wurde (vgl. Dangschat 1998, 45f.). Kern dieser These ist die Annahme, dass ein häufiger Kontakt mit „Fremden“ dazu führe, sich besser zu verstehen, und dass Menschen mit unter‐schiedlichem kulturellem Hintergrund die gegenseiti‐gen Vorurteile dann am schnellsten abbauten, wenn sie einen intensiven (positiven) sozialen Kontakt mit‐einander hätten (Dangschat/Hamedinger 2007, 227). Wirth behaupte, so formuliert es Hartmut Häußer‐mann, Großstädte seien „Brutstätten von Toleranz und Zivilisation“ und Wirths Ansicht sei, dass die In‐tegration von heterogenen Kulturen und Lebensstilen am besten in den Städten gelingen könne. Wirth ver‐trete die Auffassung „der `Stadtmensch´ zeichne sich – weil er in der Großstadt lebt! – durch eine `kosmo‐politische Haltung´ aus“, und für diese These seien ihm „Generationen von Stadtplanern und Stadtlieb‐habern“ dankbar gewesen, weil sich damit ein direk‐ter Zusammenhang zwischen des »zweifellos unge‐mütlichen Wohn‐ und Lebensbedingungen« der Groß‐städte am Anfang des 20. Jahrhunderts und einer „superioren, zivilisierten Geisteshaltung“ herstellen ließ (Häußermann 1994, 3).
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Die Gültigkeit der Kontakthypothese ist über‐aus umstritten. In Abhängigkeit zu unterschiedlichen Kontexten (Statusunterschiede, Art und Intensität der Kontakte, unterschiedliche Anlässe der Kontakte, individuelle und institutionelle Kontakte etc.) wurden zahlreiche Studien durchgeführt, mit denen bewiesen werden sollte, dass wenn man „die Fremden“ kennen‐lerne, sich die Verhaltensunsicherheiten verringern und sich Vertrauen entwickeln würde (Dangschat 1998, 81). Die entsprechenden Untersuchungen sind stark abhängig von den normativen Wertungen der Wissenschaftler_innen, die häufig etwas Positives aus den tatsächlichen Integrationsbedingungen herausle‐sen möchten. Der Kontakt zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen führt zwar zu veränderten Ein‐stellungen und Verhaltensweisen, Ausmaß und Rich‐tung der Änderungen bleiben aber weitgehend unklar (ebd. 45). Die Kontakthypothese lässt sich daher nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen verifizieren, bei „günstigen“ Kontexten, etwa bei ähnlichem sozia‐lem Status, bei normativer Unterstützung von außen und oder bei einem relativ hohen Status der Minder‐heitengruppe. Allgemein funktioniert die Hypothese bei der bildungsbürgerlichen Mittelschicht besser als bei sozial benachteiligten Gruppen. Bei schwer zu ertragender Nähe zu „Anderen“ schlägt die soziale Be‐ziehung leicht in einen Konflikt um (Dangschat/Hame‐dinger 2007, 227). Dieses Fazit gilt nicht nur für die USA, auch für die hiesige Situation bleibt unklar, in welchem Maße Bewohner_innen Mischung tolerieren und ob sie tatsächlich von einem heterogenen Umfeld profitieren (Münch 2010, 442). Häufigere Kontakte ändern Einstellungen zudem nicht unbedingt in die in‐tendierte Richtung; je ungünstiger die Rahmenbedin‐gungen sind, desto eher wirkt sich der Kontakt kon‐traproduktiv aus (Dangschat 1998, 82). Unsicherhei‐ten über die eigene soziale Position, Abstiegsängste und ‐erfahrungen, Konkurrenzen um knappe Güter und häufige, eher unfreiwillige Kontakte führten zu negativeren Vorurteilen, stärkerer Ablehnung und häufigerer Aggressivität gegenüber „Fremden“ (Dang‐schat/Hamedinger 2007, 227).
Die in der städtebaulichen Debatte bis heute meist unhinterfragte Kontakthypothese, die dem extensiven Gebrauch der Leitbilder Urbanität und gemischte Stadt stets zumindest latent zugrunde liegt, wird von soziologischer Warte also nicht bestätigt. Der in vielen Städten verfolgte „Imperativ der Begeg‐nung“, mit dem eine vermeintlich verloren gegangene Urbanität wiederhergestellt werden soll, ignoriert damit die wenig zustimmenden Ergebnisse der sozio‐logischen Forschung genauso wie die städtische All‐tagswirklichkeit (vgl. Blockland/Rae 2008, 24).
In Folge der Zweifel an der Kontakthypothese hat sich seit den 1970er Jahren in der sozialwissen‐schaftlichen Forschung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und erzwungener Segregation etabliert (vgl. Gans 1982). Hingewiesen wird dabei zum einen auf die gewollte Absonderung der Mittel‐ und Ober‐schichten in den „guten Gegenden“, die die Kehrseite der räumlichen Polarisierung in den Städten bildet und bei der Analyse oftmals unberücksichtigt bleibt; zudem scheint hinsichtlich dieses freiwilligen Segrega‐tionsprozesses eine planerische Steuerungsmöglich‐keit kaum vorhanden zu sein (Häußermann/Siebel 1990, 29). Zum anderen gerät aber auch die freiwillige ethnische Segregation in das Blickfeld: Migranten ziehen ganz gezielt in Quartiere, in denen sie auf vor‐handene Netzwerke zurückgreifen können, und sol‐che Quartiere zeichnen sich gerade durch eine ethni‐sche Konzentration aus, und nicht durch die von der Stadtentwicklungspolitik gewünschte „ausgewogene Mischung“. Daher besteht heute keine Einigkeit dar‐über, ob ethnische Segregation als Problem zu begrei‐fen ist oder nicht, und die wissenschaftliche Bewer‐tung der Folgen von Segregation im Allgemeinen und von ethnischer Segregation in Besonderen fällt ausge‐sprochen ambivalent aus (Münch 2010, 49).
Genau an diesem Punkt lässt sich auch die grundsätzliche Problematik der gesteuerten Mischung zeigen, die sämtlichen Ansätzen des Leitbildes von der gemischten Stadt immanent ist. Die Versuche eines „Social Engineering“, also einer Beeinflussung der Zusammensetzung der Quartiersbevölkerung, haben eine lange Tradition (vgl. Roskamm 2011). In dieser Tradition stehen auch die Bemühungen, eine `ausge‐wogene´ und `sozial stabile´ Zusammensetzung von einheimischer und zugewanderter Bevölkerung her‐zustellen (Münch 2010, 295). Besonders in den 1970er Jahren wurde die sozialräumliche Organisation der Siedlungsweise angesichts der Zuwanderung von Angehörigen anderer Kulturen neu problematisiert und gefragt, wie segregiert oder gemischt die multi‐kulturelle Stadt eigentlich sein solle (Häußermann/ Siebel 1990, 29). Auf der stadtentwicklungspolitischen Ebene wurden die Alternativen `sozialräumliche Mi‐schung´ und `Segregation´ gegenübergestellt und sich insbesondere im Rahmen der Wohnungspolitik stets zugunsten der Mischung entschieden (ebd.). Diese Entscheidung führte zu umfangreichen Steuerungs‐versuchen. In einer Bund‐Ländervereinbarung von 1975 wurden die Städte und Landkreise dazu ermäch‐tigt, solche Bereiche als „überlastete Siedlungsgebie‐te“ zu klassifizieren, deren Ausländeranteil mit 12 % doppelt so hoch lag wie der Bundesdurchschnitt. Auf Grundlage von § 7 Abs. 3 Ausländergesetz wurde den Einwander_innen ein Sperrvermerk in die Aufent‐
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haltserlaubnis oder die Arbeitsgenehmigung gestem‐pelt, der eine polizeiliche Anmeldung in den „Überlas‐teten Siedlungsgebieten“ untersagte. Im Januar 1977 hatten 55 deutsche Städte dementsprechende Rege‐lungen. Diese flächendeckenden Zuzugsperren wur‐den im April 1977 wieder aufgehoben (und zwar nicht, weil sie als diskriminierend erkannt wurden, sondern aus Gründen der fehlenden Effizienz). In Berlin wurde die ethnische Mischung durch Zuzugs‐sperre dagegen über 15 Jahre lang praktiziert (von 1975‐1990, vgl. Fallbeispiele).
Das Ziel, die Zusammensetzung einer ethni‐schen Mischung zu steuern, wird in Deutschland auch heute und insbesondere von den großen Wohnungs‐unternehmen verfolgt (Münch 2000, 396). Bemer‐kenswert ist dabei die Ausnahmeregelung für Kom‐munen und Wohnungsanbieter im 2006 verabschie‐deten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz AGG (umgangssprachlich auch Antidiskriminierungsgesetz genannt). Dieses Gesetz, mit dem vier Europäische Richtlinien aus den Jahren 2000 bis 2004 umgesetzt wurden, soll Benachteiligungen aus Gründen der „Rasse“, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinde‐rung, des Alters oder der sexuellen Identität verhin‐dern und beseitigen. In § 19 Abs. 3 AGG wird jedoch geregelt, dass bei der Vermietung von Wohnraum eine unterschiedliche Behandlung „im Hinblick auf die Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohner‐strukturen und ausgewogener Siedlungsstrukturen sowie ausgeglichener wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse“ zulässig ist. In der Begrün‐dung des Gesetzes wird ausgeführt, dass diese Rege‐lung dem Anliegen der Wohnungswirtschaft Rech‐nung trage, bei der Vermietung von Wohnraum den bewährten Grundsätzen einer sozialen Stadt‐ und Wohnungspolitik zu entsprechen. Die „europäische Stadt“ setze auf Integration und schaffe damit die Voraussetzungen für ein Zusammenleben der Kultu‐ren ohne wechselseitige Ausgrenzung. Je stärker der soziale Zusammenhalt sei, desto weniger komme es zu Diskriminierungen wegen der ethnischen Herkunft (Deutscher Bundestag 2006, 42).
Wie berichtet, lässt sich diese Begründung von sozialwissenschaftlicher Seite aus jedoch keineswegs bestätigen; ob Integration durch Mischungsversuche erleichtert wird, ist eine weitgehend unbewiesene Behauptung und es finden sich in der Forschung keine Hinweise, dass „eine erzwungene residentielle Mi‐schung ein angemessener Weg zu sozialer Integrati‐on“ darstellt (Münch 2010, 388). Insgesamt betrach‐tet ist die Sonderbehandlung der Wohnungswirtschaft im AGG einem „paternalistischen Verständnis“ zuzu‐schreiben, bei dem es darum geht, die Zuwanderer
gewissermaßen vor ihren eigenen Entscheidungen zu schützen und ihnen damit die Integration zu ermögli‐chen (ebd. 326). Auf den Punkt gebracht wird die Kritik an der gängigen Mischungspraxis der Woh‐nungswirtschaft im Familienbericht der Bundesregie‐rung. Mit dem „vermeintlich vorbeugenden Modell der prozentualen Zielmischung“ werde der Wider‐spruch zu einer menschenwürdigen Integration nur verieft, da dabei Ausländer_innen „wie Schadstoffe behandelt“ würden, für die „Obergrenzen festzulegen sind“ (Deutscher Bundestag 2000, 164). Die EU‐Kommission eröffnete im Oktober 2007 – unter ande‐rem aufgrund der Sonderbehandlungsklausel für die Wohnungswirtschaft – gegen Deutschland ein Ver‐tragsverletzungsverfahren (Münch 2010, 328).
Auf der allgemeinen Betrachtungsebene zeigt die hier referierte Kritik die Schwierigkeiten, die allen Bemühungen zu Eigen sind, bei denen eine soziale oder ethnische Mischung hergestellt werden soll. Zum einen ist bereits die Frage nach der `richtigen´ Bevöl‐kerungsmischung problematisch, und auch die darauf üblicherweise gegebenen Antworten, die mehr oder weniger offen von der normativen Vorstellung der Gleichverteilung sozialer Gruppen in einer Stadt aus‐gehen, ohne dabei zu fragen, welche soziale Gruppe das eigentlich wirklich möchte (Dangschat 2000, 209). Das Leitbild der ethnisch gemischten Stadt basiert auf einer „vagen Storyline zu Integration und Kohäsion“, die auf „Common Sense und nicht auf empirischer Forschung“ beruht (Münch 2010, 399).
Obwohl das Konzept der sozialen und ethni‐schen Mischung bereits seit langem in Frage gestellt wird – sowohl was die Herstellbarkeit der residentiel‐len Mischung als auch, was die Wirkung dieser Mi‐schung betrifft –, hält sich der Topos hartnäckig auf der stadtentwicklungspolitischen Agenda. Dabei wird einerseits die zunehmende gesellschaftliche Ausdiffe‐renzierung bei der Aufnahme‐ und Migrationsgesell‐schaft negiert (Dangschat 2000, 209). Andererseits – und das ist noch entscheidender – wird die vage Ana‐lyse zum Leitbild gewendet und zur Grundlage von restriktiven Steuerungsmaßnahmen gemacht. Diese Leitbildwerdung selbst, bei der ein Bevölkerungsmo‐dell von der analytischen auf die programmatische Ebene gehievt wird, ist der eigentliche kritische Punkt eines solchen Vorgehens.
In der bereits erwähnten Studie der Wüsten‐rotstiftung wird festgestellt, dass in der Programmatik und Praxis von Kommunen und Wohnungswirtschaft nach wie vor das `Mischungsideal´ dominiert (Harlan‐der/ Kuhn 2012c, 386). Kommunen und Wohnungs‐wirtschaft fühlten sich „ganz überwiegend einer inte‐grativen Politik sozialer Mischung verpflichtet“. Insge‐samt sei der Umgang der Wohnungswirtschaft mit
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Mischungsfragen durch „ein hohes Maß an `feinfühli‐gen´ und ganz auf die spezifische lokale Situation abgestimmten Pragmatismus gekennzeichnet“ (ebd. 391). Auf Quartiersebene die „richtige Balance zwi‐schen einem `Zuwenig´ und einem `Zuviel´ an öffent‐lich gefördertem Wohnraum“ zu finden, gehöre zu den „schwierigsten Herausforderungen gegenwärtiger kommunaler Mischungspolitiken“ (ebd. 398). Fraglich sei lediglich, ob die Wohnungswirtschaft auch über die geeigneten Instrumente verfügte, die richtige Soziale Mischung durchzusetzen. Notwendig sei in jedem Falle eine „aktive, ja offensive Mischungspoli‐tik“ (ebd. 401).
Diese Argumentationsweise ist wiederum symptomatisch für das gesamte Mischungsthema im Rahmen der städtebaulichen Debatte. Auch in der Wüstenrot‐Studie wird zwar die grundsätzliche Kritik der Sozialwissenschaftler_innen ausführlich referiert, aber am Ende doch – beinahe trotzig – am Mi‐schungsziel festgehalten und nur noch die Frage nach den Instrumenten und nach der „richtigen Körnung“ gestellt. Gleich einem Mantra wird die These wieder‐holt, „Soziale Mischung fördere Kontakt und dieser baue Vorurteile ab“ (ebd. 391), auch wenn kurz davor davon berichtet worden ist, dass die Segregationsfor‐schung diese These nicht bestätigen kann.
Symptomatisch ist auch der Bericht von einem Fallbeispiel, bei dem durch „falsche Belegungspolitik“ ein „Problem‐Mikrokosmos“ aus „kinderreichen Fami‐lien mit geringen Einkommen, Flüchtlingsfamilien und Asylbewerbern“ entstanden sei, der durch „hohen Vandalismus, Vernachlässigung der Freibereiche und den schlechten Zustand der nicht renovierten Woh‐nungen“ charakterisiert gewesen wäre; Abhilfe ge‐schaffen hätte dann die Herstellung der richtigen Mi‐schung (ebd. 401). Erwähnung findet auch die Studie Überforderte Nachbarschaften vom Bundesverband deutscher Wohnungsunternehmen GdW (1998), die in der aktuellen Wüstenrot‐Studie als „Plädoyer für Soziale Mischung“ bezeichnet wird (Harlander 2012d, 306). In der Gdw‐Untersuchung wird eindringlich von „Sozialghettos der Zukunft“ gewarnt, in denen eine Konstellation entstehe, die als „als Leere, Ereignisar‐mut, Abgeschnittenheit und Initiativlosigkeit“ zu be‐schreiben sei (GdW 1998, 105). Gefordert wird unter anderem, dass „leistungsbereite und gut integrierte Familien“ (ebd. 24) in den Großsiedlungen zu halten seien um die „überforderten Nachbarschaften“ zu er‐tüchtigen.
Mit solchem Vokabular, das sich kaum von den Ausdrücken wie „überlastete Gebieten“, „Ballung/Ent‐ballung“, „Ghettosierungstendenzen“ und „erheb‐lichen Ausländerbesatz“ unterscheiden, die in den 1970er Jahren als Begründung für die Westberliner
Zuzugssperre verwendet wurden (vgl. Fallbeispiel 1 im Anhang), werden nicht nur die immer problemati‐schen Zuschreibungen von sozialen Eigenschaften für räumliche Gebilde in Reinkultur exerziert, sondern es wird auch eine eindeutige Problemzuweisung vorge‐nommen. Diagnosen wie: „die Einheimischen werden zu Fremden im eigenen Land“ (GdW 1998, 33) gehö‐ren zu einer Semantik, die sonst nur von rechtspopu‐listischen Gruppierungen verwendet wird. In diesem „Meilenstein der Debatte“ (Harlander 2012d, 306) über die Soziale Mischung (der in der Wüstenrot‐Studie ausschließlich affirmativ referiert wird) zeigt sich eine tiefliegende Schicht, auf der zumindest Teile der planerischen Mischungsdebatte aufgebaut sind. Hier wird es zudem überdeutlich, dass ganz funda‐mentale Dinge in der Mischungsdebatte nicht geklärt sind, dass weiterhin „vulgär‐materialistische“ Argu‐mentationsweisen“ (Benno Werlen) nachgehangen wird und dass viele der Geschichten, die den städte‐baulichen Diskurs bestimmen, auf einem höchst prob‐lematischen begrifflichen Niveau stattfinden.
Eine ganz andere Richtung wird im aktuellen sozialwissenschaftlichen und migrationspolitischen Kontext vorgeschlagen. So wird etwa im Projekt Zu‐wanderer in der Stadt mit der These „Integration trotz Segregation“ seit einigen Jahren für einen Paradig‐menwechsel geworben, bei dem auf die positiven Funktionen von ethnischer Konzentration als Schutz‐ und Übergangsraum hingewiesen wird. Unterstrichen wird dabei, dass es die oberste Maxime einer solchen städtischen Integrationspolitik sein muss, dass Segre‐gation nur freiwillig und nicht gezwungenermaßen durch Diskriminierung, Wohnungspolitik oder Markt‐mechanismen zustande kommt. Bezeichnenderweise wird eine solche positive Diskussion von Segregation bei vielen Vertretern der Wohnungswirtschaft und der Stadtplanung abgelehnt (vgl. Münch 2010, 21). Auch in anderen Initiativen sind in neuerer Zeit alter‐native Ansätze entstanden, mit denen eine andere Form von Intervention versucht und anstatt auf Mischproportionen auf pluralistische Integrationsmo‐delle gesetzt werden soll – nicht zuletzt im Rahmen des Programms Soziale Stadt. Ziel von solchen plura‐listischen Integrationsmodellen ist es, unterschiedli‐che Migrantengruppen und verschiedene deutsche Haushaltsformen ohne mengenmäßige Quotierung in einer vielfältigen Nachbarschaft zu integrieren, ohne dass einzelne Bewohnergruppen ihre Eigenständigkei‐ten aufgeben müssen (Deutscher Bundestag 2000, 164). Die Pflege der Herkunftskultur wird dabei als wichtiger Beitrag verstanden. In dieser Sichtweise werden Migrant_innen nicht in der allgemeinen Pro‐portion zu einheimischen Deutschen wahrgenommen, sondern als bunte Mischung verschiedener Nationen
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2) Der Stand der Forschung
und Ethnien mit einer eigenständigen Identität. Das‐selbe gilt aber auch für unterschiedliche Lebensstile deutscher Haushalte, seien es nichteheliche Lebens‐gemeinschaften, Alleinerziehende, Wohngemein‐schaften oder junge bzw. alte Einpersonenhaushalte und Familienhaushalte. Unter einem pluralistischen Blickwinkel bedeutet Integration vor allem eine hohe Akzeptanz gegenüber Nachbarn unterschiedlicher Herkunft und Lebensstile (ebd.). Insgesamt setzt sich dabei mehr und mehr die Forderung durch, die Bil‐dung von ethnisch segregierten Gebieten in verschie‐denen Teilen der Stadt zu akzeptieren. Die Anerken‐nung der multikulturellen Realität ist aus dieser Sicht das oberste Gebot urbaner Kultur (Häußermann/Läp‐ple/Siebel 2008, 373). Die Quartiere, in denen die In‐tegrationsarbeit für die gesamte Stadtregion geleistet wird, sollten jedoch durch besondere Maßnahmen der sozialverträglichen Stadterneuerung, durch eine besonders intensive Infrastrukturausstattung und be‐sonders gute verkehrliche Anbindung `belohnt wer‐den´ (Dangschat 2000, 220).
• Neue Urbane Mischung
In diesem letzten Kapitel zum Stand der Forschung wird auf die aktuellen Diskurse zur „Renaissance der Städte“ und zur „kreativen Stadt“ fokussiert, in denen das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ an exponier‐ter Stelle vertreten ist. Die Metaerzählung von der Renaissance der Stadt und von den Creative Cities (Jessop 2004, 154) basiert dabei auf einem Import aus Großbritannien, mit dem eine marktförmige Variante von Stadtkultur propagiert wird, die sich von der fortwährenden Vermischung der Kulturen eine (öko‐nomische) Bereicherung des Stadtlebens verspricht. Der Kreativität kommt in dieser auf neoliberale Tradi‐tionen rekurrierenden These als wesentlicher Be‐standteil der Wissensökonomie zentrale Bedeutung zu. Die urbane Kultur wird als dynamische Kraft eines neuen kreativen Kapitalismus konzeptualisiert und das Bild von eigenständig handelnden Stadtregionen entworfen, die im globalen Maßstab um Unterneh‐mensansiedlungen, Kapitalinvestitionen und Prosperi‐tätseffekte konkurrieren (Ronneberger 2011, 38). Die verstärkte Durchdringung von Kultur und Ökonomie wird dabei als wesentliche Voraussetzung für die Prosperität der Städte gesehen und das städtische Leben als ökonomische Ressource, die es zu erschlie‐ßen und marktförmig zu verwerten gilt (Ronneberger 2011, 40). Eine weitere These der Urban Renaissance ist es, dass die Kulturalisierung der Stadtentwicklung zu einer verstärkten sozialen Kohäsion in der städti‐schen Gesellschaft beitrage (Landry 2009, 7‐11).
Ausgebaut und popularisiert wurde das Kon‐zept der Creative Cities insbesondere von Richard Florida in seiner Schrift The Rise of the Creative Class (2004). Floridas These ist es, dass die Kreativen ten‐denziell zur herrschenden Klasse der Gesellschaft geworden seien und dass in der Bereitstellung von Rahmenbedingungen, die sich an den Konsum‐ und Freizeitpraktiken der kreativen Klasse orientieren, die vorrangige Aufgabe der Stadtpolitik liege. Die Indika‐toren Technology, Talent and Tolerance (Florida 2004, 249) werden dabei zu den Gradmessern, die die Mo‐dernität einer Stadt bestimmen können und die Kultur zum ökonomischen Motor, der mit der Kraftstoff Diversität angetrieben wird; propagiert wird dabei die multikulturelle, europäische Kompaktstadt, die über ein produktives Patchwork von Kreativ‐Clustern ver‐fügt (Ronneberger 2011, 42). Der überaus großen Wirkung der These von den Creative Cities, die auch in Deutschland in vielen Fällen zu einer „Floridarisierung der Stadtpolitik“ (Holm 2010, 43) geführt hat, steht auf der sozialwissenschaftlichen Seite jedoch eine beträchtliche Skepsis hinsichtlich ihrer Geltung und Überprüfbarkeit gegenüber.
In Beiträgen der städtebaulichen Debatte zur Renaissance der Stadt wird ausgeführt, dass der „heu‐te oft deklarierter Zielbegriff“ der Nutzungsmischung eine „verbindende Erfolgsformel für zwei strategische Richtungen“ geworden sei, nämlich für die „Urbanität und die Nachhaltigkeit der kompakten Stadt“ (Bret‐schneider 2007, 13). Nachhaltigkeit könne vor allem durch Dichte, Nutzungsmischung sowie Soziale Mi‐schung erreicht werden (ebd. 5). Die Mischung der Stadtfunktionen bilde ein „natürliches Stadtgewebe“, das immer die wichtigste Eigenschaft der lebendigen Stadt gewesen und für die „Wiedergewinnung der Diversität“ als Stadtentwicklungsziel und Stadtum‐baumodell dringend notwendig sei (ebd. 19). Das Leitbild der europäischen Stadt wird hier besonders betont und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass „die Stadterweiterungsgebiete der monofunktionalen Siedlungsräume“ die „Urbanität der innerstädtischen Gebiete“ nie wirklich erreicht hätten (ebd. 23). Weiter wird verlautbart, dass Nutzungs‐ und Funktionsmi‐schung eine wesentliche Voraussetzung für die `krea‐tiven Milieus´ einer wissensbasierten Stadtgesell‐schaft seien (Frey 2009, 77) respektive ganz allgemein „Vorraussetzungen für Urbanität“ (ebd. 79). In be‐merkenswerter Neuinterpretation der historischen Abläufe wird erklärt, dass die Kreuzberger Mischung als Modell des 19. Jahrhunderts der funktionalen Entmischung der Moderne entgegengesetzt gewesen sei und gleichzeitig das „Modell der Kreuzberger Mi‐schung als Erbe der aktuellen Leitbilder Nutzungsmi‐schung und Urbanität“ interpretiert (ebd.).
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Solche Verlautbarungen knüpfen zum einen an die Studien zur Nutzungsmischung im Städtebau aus den 1990er Jahre an (siehe oben), indem sie auf die Hinterfragung ihres Forschungsgegenstandes weitge‐hend verzichten. Zum anderen wird jedoch auf der anwendungsbezogenen Ebene das damalige Analyse‐niveau kaum mehr erreicht und die Programmatik mit lediglich affirmativen und deskriptiven Beschreibun‐gen von städtebaulichen Projekten ergänzt.
In der deutschsprachigen Stadtsoziologie ist schließlich eine deutlich differenziertere Version der neuen Urbanen Mischung zu finden. Dabei wird for‐muliert, dass sich die Erzählung von der Renaissance der Stadt besser anhöre, als sie „in vielen Städten tatsächlich ist“ (Häußermann/Läpple/Siebel 2008, 372). Die Rückkehr in die Städte, so lautet der sozial‐wissenschaftliche Erklärungsansatz, sei vor allem durch Veränderungen der vorherrschenden Produkti‐onsweise bedingt. Der Auszug aus der Stadt ins Eigen‐heim seit den 1970er Jahren habe stabile ökonomi‐sche Verhältnisse vorausgesetzt, die es dem Haushalt erlaubten, das nötige Kapital aufzubringen, eine Fami‐lie zu gründen und sich mehr oder weniger auf Dauer an einem Ort niederzulassen. Diese Bedingungen würden heute für eine wachsende Zahl von Berufstä‐tigen (auch für hoch qualifizierte Arbeitskräfte) nicht mehr gelten. Berufsbiographien, die weder kontinu‐ierliche Einkommen noch räumliche und berufliche Stabilität garantierten, würden zunehmend zur Nor‐malität. Das verlange lebenslanges Lernen, dauerndes sich neu Orientieren, ein möglichst weit verzweigtes Netz von Kontakten, hohe Mobilität und Zugang zu ständig neuen Informationen. Und diese Anforderun‐gen würden sich weniger im voll verkabelten Eigen‐heim am Stadtrand realisieren lassen als mitten in der
Großstadt im gemieteten Appartement (Häußermann 2011, 33). Zudem gehe der Suburbanisierung „sozu‐sagen das Personal aus“, da den Frauen durch ihre wachsende Berufstätigkeit keine Zeit mehr für die – aufgrund der großen Entfernungen besonders zeit‐aufwendige – Haushaltsarbeit und Kinderbetreuung zu Verfügung stehe (Häußermann/Läpple/Siebel 2008, 370). In der neuen urbanen Arbeitsgesellschaft verflüssige sich insgesamt die traditionelle Trennung von Arbeiten, Wohnen und Freizeit (ebd. 365). Funk‐tionsmischung, vielfältige Infrastruktur und kurze Distanzen kämen den Anforderungen der Wissens‐ökonomie ebenso entgegen wie den Lebensstilen, die sie hervorbringt. Und vor diesem Hintergrund würden viele die Vorteile der Stadt wiederentdecken (ebd. 371).
Die neue Urbane Mischung scheint insgesamt gesehen also beides zu sein: Städtische Alltagswirk‐lichkeit und Leitbild eines kulturalisierten und neoli‐beralen Stadtdiskurses, Ergebnis von veränderten Produktionsbedingungen und aufgewärmtes Ziel des städtebaulichen Urbanitätsnostalgie. Und während das explizite Bemühen der städtebaulichen Planung um die Herstellung von Nutzungsmischung meist gescheitert ist, hat sich eine viel feinkörnigere Mi‐schung in der Stadt großflächig durchgesetzt. Die Mischung von Wohnen und Arbeiten ist – nicht nur bei den urbanen Kreativen – oftmals schon Normali‐tät, die alte Trennung von Arbeitszeit und Freizeit (oder von Wohnen und Büro) ein Modell von vorges‐tern: Neben den meisten Betten steht heute ein Lab‐top, Stadtplanung braucht es für diese neue Urbane Mischung gar nicht, sie ist längst zur Realität gewor‐den.
Ein‐ und Ausblicke
Ein‐ und Ausblicke
Im dritten Teil dieser Studie wird diskutiert, was das Leitbild der „Urbanen Mischung“ zu einer IBA 2020 Berlin beitragen kann. Dazu wird in einem vorberei‐tenden Schritt untersucht, auf welche Weise dieses Leitbild in den bisherigen Überlegungen für die IBA 2020 verwendet worden ist. Dazu werden zum einen das Konzept IBA Berlin Zwanzig Zwanzig (SenStadt 2011a) und das strategische Gutachten Perspektiven einer IBA 2020 (Bodenschatz/Polinna 2011) herange‐zogen und untersucht, welche Rolle der „Urbanen Mischung“ dort zugeschrieben wird. Im zweiten Schritt wird aufbauend auf der bisherigen Analyse diskutiert, welche Chancen und welche Fallstricke das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ für die pro‐grammatische Ausgestaltung der IBA mit sich bringt. Schließlich wird im abschließenden Kapitel ein ge‐wandeltes Mischungsdenken für die IBA 2020 vorge‐schlagen.
• „Urbane Mischung“ beim PRAE‐IBA‐Konzept
Im Konzept des PRAE‐IBA‐Teams spielen die gemisch‐te Stadt und das Leitbild der „Urbane Mischung“ durchgehend eine große Rolle. Allerdings ist die Funk‐tion, die der „Urbanen Mischung“ dabei zukommen soll, nicht immer einheitlich. Unterschieden werden kann in eine pluralistische und in eine traditionalisti‐sche Argumentationslinie. Mit der pluralistischen Ar‐gumentationslinie werden an vielen Stellen die Be‐deutung der „vielfältigen Stadt“ und insbesondere die Teilhabe der Stadtbewohner_innen betont. Gefragt wird, wo die IBA ansetzen kann und soll, um die für eine Neuausrichtung der Planung erforderlichen Zu‐gänge zur Wirklichkeit der Stadt aufzutun (ebd. 29). Ziel der IBA solle es sein, Teilhabe zu ermöglichen statt Partizipation zu organisieren (ebd. 10). Beson‐ders mit dem Begriff der „Sofortstadt“ wird diese Richtung verfolgt. Die Sofortstadt ist eine Strategie, die „Teilhabe nicht sucht, weil sie muss, sondern weil sie es will und kann“ (ebd. 38). Mit dem Konzept So‐fortstadt soll auf einem langjährigen Berliner Erfah‐rungsschatz in den Bereichen „Aneignung, Zwischen‐nutzung, urbane Pioniere und kulturelle Aktivierung“ aufgebaut werden. Viele Berlinerinnen und Berliner hätten mit „unterschiedlichen Formen von Temporali‐tät und Unsicherheit“ die Stadtkultur bereits nachhal‐tig geprägt (ebd.). Eine moderne, pluralistische Stadt‐gesellschaft produziere ihre Stadt zunehmend selbst – und das gelte ganz besonders für Berlin (ebd. 8). Nötig für das Prinzip Sofortstadt seien „besondere Spiel‐räume in Zeit und Raum, für Experimente und Aus‐handelsprozesse“ (ebd.). Und genau dafür könne die
IBA als großes Labor den passenden Rahmen geben. Bemerkenswert ist dabei auch die wiederholte Beto‐nung der Unsicherheit und der Nicht‐Festlegung: „Niemand unter all diesen Beteiligten weiß von vorn‐herein, was richtig ist und wo genau das gemeinsame Lernen hinführt“ (ebd. 31). Gerade unbestimmte und flexible Orte erlaubten „eine Aneignung durch noch unbestimmte Nutzer“ (ebd. 36). Entgegen dem Wort‐sinn könne Sofortstadt auch bedeuten, „Prozesse zu ihrer Verbesserung zu entschleunigen, Reflexions‐ und Erprobungsschlaufen einzubauen, bevor es schließlich zu einer baulichen Nutzungsverfestigung kommt“ (ebd. 38). Insgesamt sei die IBA Berlin 2020 als inno‐vatives Labor „ein unverzichtbarer Beitrag zu jener urbanen Vielfalt im 21. Jahrhundert, wie sie im Leit‐bild der gemischten Stadt zum Ausdruck kommt“; eine solche Urbanität entstehe „in der Differenz, im Konflikt und in der Mischung als Synergie unterschied‐lichster Funktionen und Mentalitäten in verschiede‐nen Räumen“ (ebd. 9).
Auf der anderen Seite findet sich im PRAE‐IBA‐Konzept auch der klassische Ansatz des städtebauli‐chen Leitbildes von der „Urbanen Mischung“. Unter dem Stichwort: „Vielfältige Urbanität: Die gemischte Stadt“ wird hier der „Weiterbau der monofunktiona‐len Quartiere aus dem 20. Jahrhundert hin zu leben‐digen Strukturen mit unterschiedlichsten Nutzern und Funktionen“ zu einer „großen Aufgabe in der Zukunft“ erklärt (ebd. 10) und etwa der Gropiusstadt ein „Be‐darf an Urbanität“ attestiert (ebd. 60). Auch die sozial gemischte Stadt wird als ein Ziel der IBA genannt (ebd. 50), allerdings ohne genauer auszuführen, was darunter verstanden wird respektive auf welche Wei‐se diese Mischung erreicht werden soll. Mit Begriffen wie „Stadtkapital“, „ressourceneffizente Stadt“ oder „zukunftsorientiert‐unternehmerische Stadt“ (ebd. 13) wird gleichzeitig an zentraler Stelle auf ein neoli‐berales Vokabular zurückgegriffen und damit auf Richard Floridas Creative‐City‐These abgestellt, nach der eine Ökonomisierung von Stadtkultur zu sozialer Kohäsion beitrage. Vor allem bei der Vorstellung der Suchräume der IBA wird das Leitbild der gemischten Stadt dann omnipräsent; in beinahe sämtlichen Bei‐spielen besteht das projektierte Ergebnis der IBA in der Herstellung von „gut gemischten“, „neu gemisch‐ten“, „gemischten attraktiven“ Stadtquartieren mit „urbaner Nutzungsmischung“ (ebd. 46‐63).
Ingesamt betrachtet hat das PRAE‐IBA‐Konzept also zwei verschiedene Gesichter: zum einen den klassischen Ansatz, mit dem Mischung als planeri‐sches Ziel konstruiert wird, welches es herzustellen gilt; und zum anderen die – und das ist hier die These
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Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
– gegenläufige Konzeptualisierung, mit der Mischung als Pluralität übersetzt und als vorhandener Aus‐gangspunkt für einen offen gehaltenen Prozess veror‐tet wird. Angedeutet wird dabei eine Verschiebung des klassischen Ideals der Urbanität in Richtung einer stark pluralistisch argumentierenden Auslegung, die zugleich mit dem Begriff „Konflikt“ eine oftmals ver‐nachlässigte Dimension des Städtischen ins Spiel bringt und diese sogar als konstituierendes Element von Urbanität verwendet. Damit wird zumindest im‐plizit Anschluss an das große Feld sozialwissenschaft‐licher Forschung gefunden, in dem aktuell Begriffe wie Pluralismus, Differenz, Kontingenz und Konflikt bewegt werden (vgl. etwa Moebius/Reckwitz 2008, S. 7‐23). Die urbane Praxis als Wirklichkeit der Stadt wird bei dieser Auslegung in den Vordergrund gestellt und anstatt einer festlegenden und ordnenden Planung von oben die Strategie einer offenen und prozesshaf‐ten Aneignung von unten das Wort geredet.
• Das „Strategische Gutachten“
Auch in der zweiten hier betrachteten Veröffentli‐chung Perspektiven einer IBA Berlin 2020. Ein strategi‐sches Gutachten (Bodenschatz/Polinna 2011) hat die „Urbane Mischung“ einen zentralen Platz. In dem von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung beauftrag‐ten Gutachten wird zunächst ein historischer Zugang gewählt und auf die Nutzungsmischung fokussiert. Dabei wird berichtet, dass in den 1970ern die Neu‐entdeckung von städtebaulichen Qualitäten der über Jahrzehnte verteufelten „Mietskasernenstadt“ zu einer Rehabilitierung von Nutzungsmischung geführt und durch das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 einen gewaltigen Schub erhalten habe (ebd. 14). Aus‐führlich wird die Rolle der Nutzungsmischung bei der IBA 1987 betrachtet. Die einseitige Ausrichtung auf Fördergelder aus dem Bereich des unflexiblen sozia‐len Wohnungsbaus habe hier zu einer geringen Nut‐zungsvielfalt der Projekte geführt (ebd. 24). In den Erdgeschoßzonen seien kaum Gewerbeflächen reali‐siert worden, weil für Läden in den Richtlinien keine Fördergelder vorgesehen waren und für sie im Gegen‐satz zu den Wohnflächen die volle Kostenmiete hätte verlangt werden müssen (ebd. 58). In den IBA‐Bereichen, die außerhalb des Sanierungsgebietes lagen, hätten trotz anderer Zielsetzungen und Vorga‐ben der Erhalt oder der Neuaufbau einer gemischten Nutzung nur in Ausnahmefällen realisiert werden können. Ein weiteres Problem habe darin bestanden, dass die IBA nicht mit planungsrechtlichen Kompeten‐zen ausgestattet war und keinen direkten Zugriff auf die Vergabe von Fördermitteln hatte (ebd. 33). Insge‐samt hätte die IBA 1987 das Ziel einer Mischnutzung
nur partiell realisieren können. Viele gewerbliche Nutzungen aus Zeiten der IBA‐Alt hätten zwar nicht überlebt, allerdings hätte eine Nutzungsmischung ermöglichende Gebäudestruktur erhalten werden können. Im überwiegenden Teil des Gebiets der IBA‐Neu seien dagegen große, zusammenhängende Wohnquartiere entstanden, deren Struktur wenig geeignet sei, um nachträglich umkompliziert eine Nutzungsmischung zu realisieren; die `Kreuzberger Mischung´ sei als wichtige städtebauliche Qualität zwar auf der Programmebene hochgehalten, jedoch nur in Ausnahmefällen praktisch realisiert worden. Auf der Theorieebene hätte die IBA 1987 die Fragen nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Nut‐zungsmischung weder gestellt noch beantwortet (ebd. 58).
Eine inhaltliche Verbindung zum PRAE‐IBA‐Konzept lässt sich beim Thema der Partizipation fest‐stellen. Hier wird – wiederum von der historischen Analyse ausgehend – der große Stellenwert der Be‐wohner_innenbeteiligung an der Ausgestaltung vor allem der IBA‐Alt herausgearbeitet. So wird etwa berichtet, dass die Materialien bei einigen IBA‐Projekten auch in türkischer Sprache abgefasst wor‐den sind und dass in der Erneuerungskommission Kottbusser Tor die Stadtteilbewohner mit einer Stim‐me die Mehrheit gegenüber den Repräsentanten der Verwaltung gehabt haben (ebd. 30). Auch der Fokus auf Einbindung und Beteiligung in den 12 Grundsätzen der behutsamen Stadterneuerung von 1982 findet Erwähnung. Es wird angeregt zu prüfen, „ob Elemente des Konzepts der Selbsthilfe – also die Eigenbeteili‐gung von Mietern an baulichen Maßnahmen in ihrem Wohnhaus – im Zuge der Erschließung von neuen Ressourcen für die IBA 2020 wiederbelebt werden können“ (ebd. 31). Soziale Inklusion von ausgegrenz‐ten sozialen und ethnischen Gruppen sei zu einer Daueraufgabe der Stadtentwicklungspolitik geworden und solle auch in eine neue IBA Eingang finden (ebd. 42). Schließlich wird vor der bestehenden Gentrifizie‐rungsgefahr gewarnt, welche die „wünschenswerte soziale Vielfalt solcher Quartiere“ bedrohe (ebd. 42).
Im programmatischen Schlussteil des Gutach‐tens wird dann auf das Thema Nutzungsmischung fokussiert. Hier wird an den Anfang gestellt, dass Nutzungsmischung ein zentrales Thema der nachhal‐tigen Stadt von morgen sei und bleibe – in wirtschaft‐licher, sozialer und ökologischer Hinsicht (ebd. 58). Auch auf Defizite des Mischungsdiskurses wird hin‐gewiesen und erläutert, dass sich zu diesem Themen‐feld sehr abstrakte oder naive Vorstellungen finden würden (allerdings ohne diese These auszuführen). Die nationale wie internationale Diskussion zu diesem Thema sei sehr breit und müsse angemessen rezipiert
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Ein‐ und Ausblicke
werden. Eine der zu stellenden Fragen laute, was Nutzungsmischung in einer „postindustriellen und postfossilen“ Gesellschaft heißt. Zudem müsse unter‐sucht werden, vor welchen Nutzungen die Bewoh‐ner_innen heute noch geschützt werden müssten und vor welchen nicht. Bei der Ableitung einer Program‐matik wird dann recht unvermittelt proklamiert, dass sich hier das „Problem der Nutzungsmischung in ers‐ter Linie für die (städte‐)baulichen Produkte des mo‐dernen Städtebaus nach dem Ersten, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg“ stelle. Zu fragen sei, was Nutzungsmischung für die Großsiedlungen mit ihren „introvertierten, mehr oder weniger funktionierenden Zentren“ bedeuten würde. Ganz konkret wird schließ‐lich als Hauptaufgabe der künftigen IBA gesetzt, Ant‐worten auf die Frage zu finden, wie Großbauten durch eine andere Nutzungsmischung revitalisiert und bes‐ser in den sie umgebenden Kontext integriert werden können: „Die Nutzungsmischung im Bestand der Pro‐dukte des modernen Städtebaus – das ist die große Herausforderung für morgen!“ (ebd. 58).
Bezogen auf das Leitbild der „Urbanen Mi‐schung“ lässt sich zusammenfassen, dass das strategi‐sche Gutachten zu den Perspektiven einer IBA Berlin 2020 einerseits eine gut informierte Analyse zur (weitgehend fehlgeschlagenen) Nutzungsmischung bei der IBA 1987 liefert und dass – ebenfalls überzeu‐gend – nicht nur der große Stellenwert und innovative Charakter der Beteiligung der Bewohner_innen bei der IBA 1987 herausgearbeitet, sondern dass auch mit guten Argumenten für eine Wiederbelebung dieses Gedankens im Rahmen der IBA 2020 geworben wird. Weniger überzeugend fällt dann die Einbindung des Konzepts der Nutzungsmischung im programmati‐schen Teil aus, da hier weder auf die Erkenntnisse der städtebaulichen Forschung der 1990er Jahre einge‐gangen wird, noch die sozialwissenschaftlichen Er‐kenntnisse der Segregations‐ und Integrationsfor‐schung auch nur ansatzweise berücksichtigt werden. Die unvermittelte Schwerpunktsetzung auf die „Durchmischung“ und eine Nachrüstung von Urbani‐tät in den Siedlungen der städtebaulichen Nach‐kriegsmoderne importiert daher vor allem ein nostal‐gisches Urbanitätsbild und eine traditionalistische Planermentalität in die Debatte. Vor diesem Hinter‐grund erscheint die wiederholt geforderte Kompe‐tenzerweiterung der Planer_innen in einem durchaus fragwürdigen Licht.
• Das Leitbild der Nutzungsmischung
Die Forderung nach Nutzungsmischung im Städtebau, so formuliert es der Stadtplaner Thomas Sieverts (dessen Positionen in beiden Publikationen zur IBA
Berlin 2020 als übergreifende fachliche Instanz der städtebaulichen Planung gesetzt werden), sei im kon‐zeptionellen Überbau der planungstheoretischen Diskussion inzwischen unumstritten; in der alltägli‐chen Bau‐ und Planungsrealität werde jedoch weiter überwiegend nach den Grundsätzen der Nutzungs‐trennung verfahren (1998, 142). Dieser Widerspruch, so Sieverts, zwinge zu einer kritischen Auseinander‐setzung; man müsse angesichts einer weiter auf Ent‐mischung angelegten Realität misstrauisch werden „gegen die oberflächlichen Bekenntnisse zur Nut‐zungsmischung“ (ebd.). Es sei zu hinterfragen, „wer oder was überhaupt noch gemischt werden will“ (ebd. 147) und auch, woher diese „Sehnsucht nach Nut‐zungsmischung“ eigentlich komme.
Tatsächlich ist der Widerspruch frappierend, der im aktuellen Diskurs der städtebaulichen Planung immer wieder zum Vorschein kommt. Operatives Kerngeschäft der instrumentellen Stadtplanung ist es, städtische Alltagsrealität in Funktionen zu trennen, in Wohngebiete, in Gewerbegebiete, in Mischgebiete; im programmatischen Diskurs regiert dagegen das „unumstrittene Ziel“ der Mischung. Um dieser Prob‐lematik auf den Grund zu gehen, wurde in dem hier vorliegenden Gutachten eine historisch‐analytische Herangehensweise gewählt. Dabei wurde gezeigt, dass städtebauliche Planung auf dem Gedanken der Trennung aufbaut und dass Städtebau und Stadtpla‐nung die Funktionstrennung – zumindest begrifflich – erst hervorgebracht haben: sie haben sie entdeckt, benannt, dargestellt, verordnet und gebaut. Der Be‐richt von der Inthronisierung der gemischten Stadt zum anerkannten städtebaulichen Leitbild hat gezeigt, dass dieser fundamentale Positionswechsel in den 1970er bis 1980er Jahren auf dem Widerstand gegen die Praxis der Flächensanierung beruht und die Über‐windung der Großstadtkritik in den städtebaulichen Fachdiskursen zur Voraussetzung hatte. Die neue Wertschätzung der vorhandenen gemischten Stadt ermöglichte es erst, dass die „Urbane Mischung“ zur bestimmenden fachlichen Position im städtebaulichen Diskurs werden konnte. Im Rückblick scheint mit dem Leitbild der Mischung also – und so lautet auch die üblicherweise verbreitete historische Analyse – mit dem eigenen disziplinären Erbe gebrochen worden zu sein.
Das Ergebnis der hier zur Diskussion gestellten Analyse ist jedoch ein abweichendes; und dieses Er‐gebnis soll an dieser Stelle noch einmal in drei Punk‐ten zusammengefasst werden:
a) Trennung/Mischung gehören zusammen: Mi‐schung und Trennung sind weniger gegensätzlich, als es auf den ersten Blick erscheint. Mischung ist
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immer eine Form von Trennung und Trennung immer eine Form von Mischung. Auch das stadt‐planerische Ziel der gemischten Stadt selbst ist ein Begriff und ein Instrument der Funktionstren‐nung. Trennung muss erst hergestellt werden, um Mischung (und Mischungsverhältnisse) denken zu können. Mit diesem Befund lässt sich auch erklä‐ren, weshalb die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit hinsichtlich des Ziels der Nut‐zungsmischung im Städtebau so gleichmäßig groß zu bleiben scheint: Die Rede von der „funktiona‐len Mischung“ transportiert den Funktionalismus und reproduziert ihn. Der Ansatz der Nutzungsmi‐schung führt den Ansatz der Trennung unbewusst weiter und kann schon aus diesem Grunde letzt‐lich nicht erfolgreich sein.
b) Stadt ist Mischung (auch Marzahn): In einem der Nutzungsmischungs‐Gutachten aus den 1990er Jahren findet sich folgender Passus: „Städ‐tebauliche Nutzungsmischung ist räumlich defi‐niert durch die räumliche Abgrenzung und die Körnung. Je nachdem, wo die räumlichen Grenzen gezogen werden, hat man es mit Mischung oder Trennung zu tun“ (BBR 1999a, 3). Dieses „je nachdem“ relativiert die Unterscheidung von Trennung und Mischung grundlegend: Je nach Be‐trachtungsmaßstab ist die Kreuzberger Mischung Trennung oder Mischung, und Gleiches gilt für Marzahn und Hellersdorf. Eine solche Relativie‐rung hat Auswirkungen auf die Begriffe „gemisch‐te Stadt“ und „Urbane Mischung“. Denn nun zeigt es sich, dass Stadt immer gemischt, dass die ge‐mischte Stadt nichts anderes ist, als eine Bezeich‐nung für die städtische Alltagspraxis. Und weiter lässt sich folgern, dass, wenn Städtebau und Stadtplanung die gemischte Stadt wirklich ernst nehmen möchten, diese gemischte Stadt, also die städtische Alltagspraxis, in ihren unterschiedli‐chen Maßstäben erst einmal erkannt und akzep‐tiert werden muss.
c) Leitbild vs. Stadt: Zwischen der (gemischten) Stadt und dem Leitbild der „Urbanen Mischung“ besteht ein latenter und struktureller Wider‐spruch. Und zwar deshalb, weil die gemischte Stadt die städtische Alltagswirklichkeit ist; das Leitbild einer `anderen´, `richtigen´ und `herzu‐stellenden´ „Urbanen Mischung“ tendiert immer dazu, die städtische Alltagwirklichkeit (die ge‐mischte Stadt) zu negieren. Je nachdem, in wel‐cher Ausprägung dieses Leitbild letztlich vertreten wird, verstärkt oder vermindert sich dieser Wi‐derspruch. Der Ansatz, eine bestehende Groß‐
siedlung mit „Urbaner Mischung“ nachzurüsten, ist aus dieser Perspektive durchaus problema‐tisch; mit dem Leitbild der „Urbanen Mischung“ wird sich hierbei in eine Lage manövriert, in der die bestehende „Urbane Mischung“ selbst nicht nur nicht verstanden, sondern in der ihre Existenz mit der geplanten Intervention gefährdet wird. Besonders ausgeprägt ist diese Gefahr dann, wenn Mischung (in der Tradition der historischen Begründung des Planungsziels der Trennung) als „natürliches“, „planungswissenschaftlich abgelei‐tetes“ und/oder objektive/rationales Ziel ausge‐geben wird.
Insgesamt ist das Leitbild der Nutzungsmischung in der städtebaulichen Planung deshalb so erfolgreich, weil damit ein spezifisches und dominantes Bild von „Urbanität“ transportiert wird. Diesem Bild mag man anhängen oder auch nicht – es auf die gesamte Stadt überzustülpen, ist jedenfalls ein verheerender wie verbreiteter Ansatz. Und dieses Vorgehen ist genauso ein Blindfeld (eine urbanistische Illusion) wie der his‐torische Ansatz des städtebaulichen Funktionalismus. Anders gesagt: Es kann im speziellen Fall gute Gründe für Trennung und es kann gute Gründe für Mischung geben. Der totalitäre Ansatz, die gesamte Stadt auf ein bestimmtes Bild hin trimmen zu wollen, ignoriert die bestehende urbane Praxis (und ignoriert daher auch Urbane Mischung).
• Das Leitbild der Sozialen Mischung
Etliche der für das Leitbild der Nutzungsmischung herausgearbeiteten Argumente treffen auch für das Leitbild der Sozialen Mischung zu und auch hier wer‐den innerhalb der wissenschaftlichen Debatten erheb‐liche und grundlegende Zweifel daran geäußert, wie die Problematik selbst konstruiert ist. So formulieren etwa Hartmut Häußermann und Walter Siebel (also zwei Autoritäten auf der stadtsoziologischen Mei‐nungsseite), dass die entsprechende Kontroverse „alt und ungelöst“ sei, was wiederum ein Indiz dafür wäre, dass „das Problem falsch gestellt ist“ (Häußermann/ Siebel 1990, 30). Auch bei der „Sozialen Mischung“ gibt es einen inhärenten Zusammenhang zwischen sozialer Mischung und sozialer Trennung und auch hier finden sich strukturelle Fallstricke, in die sich zu verfangen droht, wer „Soziale Mischung“ als Leitbild inszeniert. Beide Leitbilder beruhen zudem auf dem gleichen traditionalistischen und meist reichlich diffu‐sen Bild von Urbanität. Aber es gibt auch Un‐terschiede und weitere Problemdimensionen.
Erstens wird mit der Themensetzung „Sozialen Mischung“ ein soziales Problem (nämlich das der
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Ungleichheit) auf seine räumlichen Ausprägung he‐runtergebrochen; oftmals scheint es so zu sein, dass das soziale Problem der sozialen Ungleichheit auf sei‐ne räumliche Ausprägung reduziert wird. Und hier findet sich bereits das Kernproblem des Denkansat‐zes: Soziale Ungleichheit kann nicht damit verhindert oder beseitigt werden, dass sie stadträumlich umver‐teilt wird. Anders gesagt: räumliche Mischung von bestehender sozialer Ungleichheit zielt am eigentli‐chen Problem vorbei. Jede „Raumpolitik zur Behe‐bung sozialer Problemsituationen“ muss zwangsläufig „ins Leere greifen““ (Werlen 2005, 18), weshalb der Einfluss öffentlicher räumlicher Planung auf die sozia‐le Struktur „getrost als gering“ bezeichnet werden kann (Häußermann 1996, 7).
Zweitens importiert das Leitbild der „sozialen (oder ethnischen) Mischung“ regelmäßig ein paterna‐listisches und dirigistisches Grundverständnis in die Debatte. Das von den Planer_innen definierte „richti‐ge“ Mischungsverhältnis ist oftmals gegenläufig zu den vorhandenen Prioritäten der Bewohner_innen, die neu gemischt werden sollen. Die dargestellte sozialwissenschaftliche Debatte zu der Frage nach freiwilliger beziehungsweise unfreiwilliger Segregati‐on hat gezeigt, dass eine verordnete Mischung zwangsläufig (strukturell) dazu führt, dass bestehende Bedürfnisse ignoriert werden. Forderungen nach einer „gesunden Sozialen Mischung“ fungieren daher auch eher als ein Sammelbecken von Diskriminierung, da dabei ein allgemeines Leitbild über die Interessen der Stadtbewohner_innen gestellt wird. Die Aktualität dieser Debatte wurde beim Bericht über das Allge‐meine Gleichbehandlungsgesetz gezeigt (vgl. Kapitel 2). In der städtebaulichen Leitbilddebatte sollten diese Erkenntnisse zu größerer Vorsicht bei allen Ansätzen eines wie auch immer ausgestalteten „Social Engineering“ führen.
Dennoch, und das sollte dabei nicht vergessen werden, kann Stadtpolitik und städtebauliche Planung natürlich soziale Strukturen beeinflussen, bezie‐hungsweise sind sie beide „sozial wirksam“. Das zeigt sich auch bei der in Berlin derzeit sehr aktuellen De‐batte zur Gentrifizierung weiter Bereiche der innen‐stadtnahen Quartiere. Städtebauliche Aufwertungs‐maßnahmen in diesen Gebieten verschärfen beste‐hende Gentrifizierungsprozesse (sind also sozial wirk‐sam); baulich‐räumliche Maßnahmen, die dazu in der Lage sind, eine Gentrifizierung zu verhindern, gibt es dagegen kaum. Spätestens hier zeigen sich – bezogen auf die Steuerungsmöglichkeiten von sozialen Struk‐turen – die Grenzen von städtebaulichen Planungen insgesamt und die Grenzen eines Leitbildes der „So‐zialen Mischung“ im Besonderen.
Stadtentwicklungspolitik (und damit auch eine IBA‐Strategie) sollte soziale Ungleichheit im Blick haben und entsprechende Analysen bei ihren Ent‐scheidungen, wo sie intervenieren/investieren möch‐te; aber sie sollte nicht versuchen, Soziale Mischung herzustellen oder gar nachzurüsten. Zu unterscheiden ist dabei grundsätzlich in dirigistisch ordnende Pla‐nungsansätze und behutsam ermöglichende Strate‐gien. Während eine dirigistische Steuerung der Bevöl‐kerungszusammensetzung (und das ist regelmäßig das Ziel, das mit dem Leitbild der „Sozialen Mischung“ verfolgt wird) deshalb immer scheitert, weil das zugrundeliegende Denkmodell nicht funktioniert, gibt es auf der anbietenden Seite natürlich unzählige (und auch baulich‐räumliche) Möglichkeiten, eine Politik der „Sozialen Stadt“ zu verfolgen. Die einzige Chance, eine sozial gemischte Stadt herzustellen, besteht da‐gegen vermutlich in der Option, bezahlbaren Wohn‐raum auch dort anzubieten, wo er marktmäßig sonst keine Chance hätte. Auf den Prüfstand der IBA 2020 gehört damit nicht der Ansatz, Städtebau als soziales Instrument zu betrachten, sondern das Modell, das Soziale (die Bevölkerungszusammensetzung) durch Trennung/Mischung von oben zu steuern und durch‐zusetzen. Dieser bevormundende Ansatz ist unabhän‐gig davon, ob Trennung oder Mischung das Ziel ist; aber er ist der Kern einer immer noch verbreiteten Haltung in der städtebaulichen Planung, die die vor‐handene Urbane Mischung konterkariert.
Schließlich lohnt es sich bei einer Strategie‐entwicklung für eine neue IBA unbedingt auch, sich mit den Errungenschaften der IBA 1987 vertraut zu machen (beziehungsweise sie sich noch einmal ins Gedächtnis zu rufen). Kern der behutsamen Stadter‐neuerung war gerade die Akzeptanz der bestehenden Stadt und die Verlagerung von Entscheidungskompe‐tenzen hin zu den Bewohner_innen der beplanten Gebiete. Dass viele der damals durchgesetzten Quali‐täten und Innovationen (insbesondere bei der Beteili‐gung von Bewohner_innen) keineswegs zum Standard der heutigen Planung gehören, zeigt, dass ein solcher Ansatz auch heute wieder äußerst aktuell sein kann.
• Mischung, anders
Ziel der hier vorgelegten Studie war es herauszuarbei‐ten, welcher inhaltliche Gehalt und welche Möglich‐keiten/Unmöglichkeiten mit dem Leitbild von der „Urbanen Mischung“ verbunden sind. Die Anfangs‐these lautete dabei, dass erst über die grundsätzliche Hinterfragung ein Ansatz möglich wird, der nicht le‐diglich den dominanten Wertekanon des aktuellen Städtebaus verlängert, sondern dazu in der Lage ist, für sich selbst stehende inhaltliche Akzente zu setzen.
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Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
Insgesamt hat es sich dabei gezeigt, dass das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ als planungswis‐senschaftlich hergeleitetes Ziel wenig überzeugen kann. Die gemischte Stadt ist nicht mehr wie in den 1980er Jahren ein Inhalt, der mit einer IBA im städte‐baulichen Diskurs durchgesetzt werden muss (oder kann); Mischung ist dort seit langem diskursiver Kon‐sens und Kanon, und daher wird eine IBA 2020 mit dem Leitbild der Urbanen Mischung auch nicht trump‐fen können, zumindest nicht, was die Aspekte Kreati‐vität oder Innovation betrifft. Unter dem Leitbild der gemischten Stadt lassen sich zwar alle möglichen Maßnahmen und Projekte irgendwie versammeln – und diese Eigenschaft scheint das Leitbild tatsächlich strategisch attraktiv zu machen. Allerdings ist es sehr fraglich, ob ein solches Leitbild auch inhaltlich weiter‐führend ist. Von sich aus kann es jedenfalls kaum als innovativer inhaltlicher Leuchtturm glänzen.
Bei der Frage nach den Möglichkeiten einer IBA ist zu berücksichtigen, dass eine IBA kein Stadtent‐wicklungsprogramm ist. Allerdings ist ebenso festzu‐stellen, dass eine IBA Ansätze und Inhalte nicht nur transportiert, sondern durch ihren „Ausnahmecharak‐ter“ neue und die üblichen Routinen hinterfragende Positionen nicht nur einnehmen kann, sondern auch einnehmen soll. Nach der bisherigen Analyse scheint es naheliegend zu sein, einfach auf das Leitbild der „Urbanen Mischung“ bei der Zielsetzung der IBA 2020 zu verzichten. Gegen ein solches Vorgehen spricht allerdings zumindest, dass das Leitbild – wie bereits mehrfach festgestellt – vorhanden ist, und zwar vor‐handen als Leitbild mit „hegemonialem Status“ (Jo‐hann Jessen, nach Harlander/Kuhn 2012d, 422). Des‐halb mündet diese Studie nicht in den Vorschlag, auf das Leitbild der „Urbanen Mischung“ einfach zu ver‐zichten, sondern in Vorschlägen, wie das klassische Leitbild mit einer subversiven Strategie unterlaufen und damit gewendet und aktualisiert, wie Mischung anders gedacht werde könnte.
Zu diesem Zwecke werden abschließend fünf programmatische Punkte für eine solche Aktualisie‐rung ausgeführt und zur Diskussion gestellt. Die emp‐fohlene Subversion setzt zuerst bei der Präzisierung der Begriffe an (1), schlägt dann eine Neuinterpretati‐on vor (2) und kommt schließlich zu Mischungsansät‐zen jenseits der klassischen Mischungsideals ((3), (4) und (5)).
Ohne Trennung/Mischung (1) Eine produktive und kritische Aktualisierung des Leit‐bildes der „Urbanen Mischung“ muss bei der Hinter‐fragung der eigenen Begriffe und Denkstrukturen ansetzen. Das bedeutet, sich der Problematik Tren‐nung/Mischung nicht nur anwendungsorientiert zu
nähern, sondern an den Anfang eine Distanz zum üblichen planerischen Ordnungs‐, Gestaltungs‐ und Mischungsimpetus zu setzen. Das Problem des Ansat‐zes der Mischung/Trennung ist nämlich in weiten Teilen in der traditionellen Herangehensweise der Profession selbst zu finden, in der dort eingeübten Sicht auf das Urbane. Die der städtebaulichen Planung historisch maßgeblich zugrundeliegende Großstadt‐feindschaft hat sich – das ist hier die These – beim großen Paradigmenwechsel der 1960er bis 1980er Jahre keineswegs in Luft aufgelöst oder zu einer be‐dingungslosen Großstadtfreundschaft umgekehrt, sondern sich im wesentlichen einfach verschoben. Nicht mehr die Mietskasernenstadt ist seitdem das Feindbild der städtebaulichen Planung, sondern die Einfamilienhausgebiete der Zwischenstadt und die „monofunktionalen“ Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus. Dass sich das Negativbild nun auf Bereiche richtet, die im Grunde genau das Ergebnis der eigens entwickelten und mit der Bau‐ und Pla‐nungsgesetzgebung verwirklichten Leitlinien der auf‐gelockerten und gegliederten Stadt darstellen, wird dabei meist mit bemerkenswerter Nonchalance über‐gangen.
Für die These, dass der städtebaulichen Pla‐nung in großen Teilen weiterhin ein tendenziell anti‐städtisches Denken zugrunde liegt, spricht auch, dass Begriffe wie „städtebauliche Missstände“ oder auch „Stadtgesundung/ Stadtsanierung“ den skizzierten Paradigmenwechsel im städtebaulichen Diskurs unbe‐schadet überstanden haben und damit selbst Träger einer bestimmten Kontinuität sind. Weiter wird an dem Glauben festgehalten, damit beauftragt zu sein, städtebauliche (und damit gesellschaftliche) Miss‐stände zu lösen. Ehemals wurde für die Überwindung des Chaos Großstadt die geordnete funktionsgetrenn‐te Stadt verordnet, heute wird den „monofunktiona‐len“ Gebieten, und den „überforderten Nachbarschaf‐ten“ das Elixier des „lebendigen“ und nutzungs‐/sozialgemischten Urbanen übergestülpt. Und immer noch wird maßgeblich in der Kategorie der Funktio‐nen gedacht: Eine solche funktionalistische Sicht auf das Urbane produziert/reproduziert das Paar Mi‐schung/Trennung ständig aufs Neue.
Der Ansatz einer anders gedachten Mischung beginnt damit bei der kritischen Hinterfragung des eigenen Tun und Handelns sowie bei einer Präzisie‐rung der Begrifflichkeiten. Eine Strategie, die Mi‐schung nicht als etwas Herzustellendes, sondern als etwas Vorhandenes und sich ständig selbst Produzie‐rendes begreift, muss Mischung erst einmal akzeptie‐ren. Eine solche Strategie will nicht Mischung/Tren‐nung herstellen, sondern das Urbane begreifen ler‐nen. Konkret bedeutet das unter anderem, nicht die
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„problematischen Strukturen“ des Städtebaus des 20. Jahrhunderts nachrüsten zu wollen, sondern diese Strukturen als Teil der Stadt, als Teil der bestehenden „Urbanen Mischung“ zu verstehen. Eine solche Stra‐tegie ist ein städtebaulicher Planungsansatz ohne städtebauliches Leitbild. Das muss und das soll nicht heißen, sich von jeglicher inhaltlichen Position zu verabschieden – im Gegenteil. Eine Positionierung im sozialen und politischen Kontext, in dem städtebauli‐che Planung immer stattfindet, wird einfacher (oder sogar erst möglich), wenn auf die übergreifende Leit‐bildnerei des klassischen Urbanismus verzichtet wird. Aus der Mischung wird bei einer solchen Strategie das Urbane selbst, aus der „Sozialen Mischung“ mögli‐cherweise die „solidarische Stadt“. Anfangspunkt ist dabei nicht die These, mit baulich‐räumlichen Eingrif‐fen die richtige Gesellschaft herzustellen, sondern aus dem Gesellschaftlichen baulich‐räumliche Aufgaben‐stellungen abzuleiten. Auf der Handlungsebene be‐deutet das, sich aktuellen Debatten zu öffnen, Neues zuzulassen und auszuhalten, im Lokalen zu überzeu‐gen und vielleicht am meisten: offen zu halten: „Die Offenhaltung für veränderte Zukunftsoptionen ist vielleicht das Wesentlichste“, was der Städtebau heu‐te zu leisten in der Lage ist (Sieverts 1998, 150).2
Mischung als Diversität/Differenz (2) Mischung als Diversität zu denken ist ein Ansatz, mit dem die städtebauliche Planung Anschluss an aktuelle Diskurse der Sozial‐ und, Kulturwissenschaften und der politischen Theorie finden kann. Die Kultur der Stadt wird hier als eine Kultur der Differenz konzeptu‐alisiert. Differenz bedeutet dabei vor allem, Vielfalt anzuerkennen: Vielfalt der Positionen, Vielfalt der Identitäten, Vielfalt der Kulturen und Vielfalt der städ‐tischen Aneignungsformen. Auch hierbei geht es nicht darum, Vielfalt im Sinne eines nostalgischen Leitbildes von Urbanität zu rekonstruieren und herzustellen, sondern darum, Vielfalt zu akzeptieren und zuzulas‐sen. Das Weiterdenken von Mischung als Diversität könnte ein vielversprechender Gründungsakt für ein gewandeltes Leitbild der „Urbanen Mischung“ sein. Diversität als Ausgangspunkt zu nehmen, bedeutet auch, sich von dem Ansatz des einen Leitgedankens zu verabschieden. Gerade in der städtebaulichen Pla‐nung fällt das oftmals schwer, weil sich in der Disziplin historisch die Annahme entwickelt und verfestigt hat, dass städtebauliche Planung in der Lage sei, einen solchen allein geltenden Leitgedanken für die richtige Form von Stadtentwicklung liefern zu können. Die
2 Sieverts schreibt eigentlich: „was der Städtebau zur Förde‐rung einer lebendigen Nutzungsmischung leisten könnte“; der Vorschlag hier ist es jedoch, genau auf diese Begrifflich‐keit zu verzichten.
Entscheidung für ein Differenzdenken hat damit auch beträchtliche Auswirkungen auf die Konzeption des Planungsansatzes: Wenn der Planer die eine Antwort nicht kennt, dann ändert sich sein Vorgehen grundle‐gend; möglich wird es nun, sich auf die Positionen des Anderen einzulassen.
Allerdings ist auch der Begriff der Diversi‐tät/Differenz nicht unproblematisch. Der Fokus auf Differenz gerät nämlich schnell in die Gefahr, zur postmodernen Beliebigkeit zu führen. Das zeigen nicht zuletzt die Ausführungen zum Konzept der „neuen Urbanen Mischung“ im Rahmen des Diskurses der Creative Cities (vgl. Kapitel 2) und die Uneindeu‐tigkeiten, auf die bei der Betrachtung des PRAE‐IBA‐Konzeptes hingewiesen wurde. Eine Konzeptualisie‐rung von Differenz im Sinne der Konzentration der Stadtentwicklungspolitik auf Kreativität und Konsum ist häufig „mit einer Vernachlässigung oder gar Miss‐achtung von Alltagspraktiken und Institutionen ver‐bunden, die nicht mit der Logik der Kulturalisierung kompatibel sind“ (Ronneberger 2010, 43). Die Aufga‐be für einen Ansatz, bei dem Mischung als Differenz gedacht wird, wäre es daher einerseits, der Beliebig‐keit etwas Konkretes abzugewinnen, ohne dabei in einen städtebaulichen Fundamentalismus zurückzufal‐len, und andererseits, Stadt nicht kulturalistisch und in Kategorien von kommerzieller Eventkultur zu den‐ken. Dass diese Gefahr ganz konkret besteht, zeigt sich nicht zuletzt bei der extensiven Verwendung eines ökonomisierten Vokabulars in den bisherigen Publikationen zur IBA 2020: etwa der Setzung von "Stadtkapital" als Titel einer ersten IBA‐Konzeption, der Rede von der „ressourcen‐effizienten Stadt“ oder der Aufforderung, Stadt als Unternehmen zu denken. Auch wenn das Ziel bei der Platzierung dieser Begriff‐lichkeiten gewesen sein mag, eine aktualisierte/alter‐native Bedeutung von „Kapital“, „Ressourcen“, „Effi‐zienz“ etc., zu lancieren, wird damit doch immer auf eine Nähe zu neoliberalistischen Denkstilen verwiesen und solche Ansätze in den Kern der Thematik IBA 2020 transportiert.
Auch die Wendung der Mischung zur Diversi‐tät/Differenz bringt daher nicht nur Chancen für neue Ansätze bei der Ausgestaltung von städtebaulichen Interventionen mit sich, sondern ebenso das Erfor‐dernis, sich zu dem (mit dem Differenzbegriff teilwei‐se kompatiblen) neoliberalen und ökonomistischen Denken zu verhalten. Anders gesagt, sollte bei der Wendung von Mischung zur Diversität/ Differenz nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden und die Abkehr vom stadtplanerischen Dirigismus zur Aufgabe des (ebenfalls in der eigenen Tradition angelegten) sozialen und marktkritischen Gedankens in der Pla‐nung führen.
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Diese schwierige Aufgabe könnte mit dem in den Vordergrundstellen einer Beteiligung im Sinne von Teilhabe in Angriff genommen werden. Ziel wäre es dabei, eine neue Qualität von Partizipation zu ent‐wickeln, Verantwortung abzugeben, mitmischen zu lassen (vgl. Steckbrief zu Tübinger Südstadt) und – das ist speziell für eine IBA von Bedeutung – zu experi‐mentieren. Es könnte bei einer IBA explizit darum gehen, was „Bewohner und Benutzer machen, und nicht – sei es gestalterisch oder technisch – es vorzu‐schreiben“ (Kaltenbrunner 2009, 100). Ein weiterer Schwerpunkt könnte darin liegen, das „Temporale als gestalterische und funktionale Herausforderung zu‐künftiger Stadtentwicklungsprozesse zu qualifizieren“; zu diesem Thema gilt es „gerade in Berlin“ zu experi‐mentieren (Braum 2009, 166). Als begriffliches Kon‐zept für die Rolle einer IBA als Testlabor erscheint der Diversität‐Differenz‐Mischungs‐Ansatz damit vielver‐sprechend zu sein. Und ein solcher Ansatz könnte wiederum an die Erfahrungen der IBA 1987 anschlie‐ßen: Elemente des Konzepts der Selbsthilfe, Eigenbe‐teiligung von Mietern an baulichen Maßnahmen, Ent‐scheidungsmehrheit für die Stadtteilbewohner_innen in Gremien der Stadtentwicklung: All das lässt sich mit einem an den Anfang gesetzten Differenzbegriff be‐gründen und befruchten. Im Konzept des PRAE‐IBA‐Teams finden sich bereits einige solcher Ansätze (sie‐he oben) und könnten mit einem Differenz‐Denken weiter ausgearbeitet werden.
„Living closer together” (3) Die Analyse von Hartmut Häußermann zur Renais‐sance der Stadt hat überzeugend gezeigt, dass die viel gepriesene Wiederbelebung der Innenstädte nicht so sehr auf der Erfüllung einer Urbanitätssehnsucht, son‐dern in erster Linie auf ziemlich pragmatischen öko‐nomischen Beweggründen beruht (vgl. Kapitel 2). Die Renaissance der Innenstadt ist aus dieser Perspektive weniger eine romantische Angelegenheit, sondern eine Notwendigkeit und Folge von sozial prekären Verhältnissen. Folgt man dieser Analyse, dann gerät nicht eine Floridasche Stadtpolitik in den Blick, die Stadtentwicklung als vermarktungsfähiges Event prä‐sentieren und damit die Wirtschaft ankurbeln möch‐te, sondern die Frage nach den Lebensbedingungen in verdichteten städtischen Strukturen. Und an diesem Punkt kann tatsächlich auf die Ergebnisse der Anwen‐dungsforschung der 1990er Jahre zur Nutzungsmi‐schung im Städtebau zurückgegriffen werden. Dort wird etwa erklärt: „Diejenigen, die in eher gemischten Quartieren wohnen, nutzen die Angebote im Quar‐tier. Dies allein ist Grund genug, derartige Strukturen zu erhalten und, sofern möglich, zu fördern“ (BBR 1999b, 5). Wenn die ökonomische Entwicklung also –
und das scheint in einigen Berliner Quartieren zu beobachten zu sein – dazu führt, dass die Stadt dich‐ter und gemischter wird, dann entsteht dabei ein Aufgabengebiet auch für städtebauliche Maßnahmen. Und diese konzentrierte und vorhandene Mischung lässt sich mit dem Instrumentenkoffer des ökologi‐schen Städtebaus verbessern: etwa bei der Umgestal‐tung des autogerechten Straßenraums, bei der Ver‐besserung des wohnungsnahen Stadtgrüns oder bei der Konzeption von neuen Fahrradverbindungen.
Bei der Konzentrierung von verschiedenen städtischen Funktionen auf begrenztem Raum neh‐men potenziell die Konflikte zwischen diesen Funktio‐nen zu. Gerade für den öffentlichen (im Sinne von öffentlich zugänglichen) Raum stellt sich in einer dich‐ter werdenden Stadt damit auch verstärkt die Frage der Zuteilung von Flächen, etwa ob es gerecht und gerechtfertigt ist, den größten Teils des öffentlichen Straßenraums für den ruhenden und den fahrenden motorisierten Verkehr zu reservieren. Bei dieser genu‐in städtebaulichen Frage lassen sich ökologische und soziale Aspekte miteinander verknüpfen. Eine Umver‐teilung der Flächenanteile vom motorisierten Verkehr zugunsten von Flächen für Fußgänger und Fahrradfah‐rer ist aus dieser Perspektive durchaus auch eine Fra‐ge der „Urbanen Mischung“ und zudem im Zugriffsbe‐reich der städtebaulichen Planung. Eine solche Erpro‐bung von neuen Mischungsverhältnissen im öffen‐tlichen Straßenraum, bei der etwa auf Beispiele an‐derer europäischer Städte (Kopenhagen, Amsterdam) zurückgegriffen werden könnte, ist eine ganz andere Lesart von „Urbaner Mischung“ und ein naheliegen‐der Aufgabenbereich einer IBA, die dieses Motto inhaltlich füllen möchte.
Allerdings, und das lässt sich nicht voneinander trennen, sind es genau jene Gebiete, in denen sich die neue Konzentration realisiert, die auch im Mittelpunkt der Gentrifizierungsprozesse stehen. Städtebauliche Aufwertungsmaßnahmen geraten in diesen Bereichen daher immer in Gefahr, eine Verdrängung der Be‐wohner_innen zu beschleunigen. Eine IBA, die sich dem Thema der neuen Verdichtung und Mischung annehmen möchte, muss sich daher zwingend auch mit dem komplexen Spiel von Ursache und Wirkung auseinandersetzen, als dessen Ergebnis die Gentrifi‐zierung ganzer Quartiere stehen kann. Das IBA‐Ziel der „Sozialen Mischung“ (respektive „Diversität/Diffe‐renz“) sollte hier dazu verpflichten, städtebauliche Aufwertungsmaßnahmen in ihrem Gesamtzusammen‐hang zu denken und mit kreativen Ideen gegen die Verdrängung der Bewohner_innen zu verknüpfen. Der Zustand einer demokratischen Stadtgesellschaft misst sich auch daran, inwieweit die Interessen der weniger privilegierten Bevölkerungsgruppen einbezogen wer‐
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Ein‐ und Ausblicke
den. Dass eine Verknüpfung von städtebaulichen Pro‐jekten und einer sozialen Stadtpolitik nicht unmöglich ist, zeigt wiederum nicht zuletzt die Geschichte der IBA 1987 und auch hier lässt sich an deren Erfahrun‐gen anschließen. So könnten etwa innovative Konzep‐te, die den Berliner Sozialwohnungsbau nicht an in‐ternationale Investoren veräußern, sondern in die Verantwortung der Bewohner_innen übergeben, dazu beitragen, den schwierigen Spagat zwischen Aufwer‐tung und Verdrängung zu bewältigen. Das vom Berli‐ner Senat initiierte „Bündnis für soziale Wohnungspo‐litik und bezahlbare Mieten“ mit den städtischen Wohnungsunternehmen ist möglicherweise ein Schritt in die Richtung einer Stadtpolitik, die sich ei‐nen sozialen Ausgleich zum Ziel setzt; mit der IBA 2020 könnten und sollten weitere solcher dringend benötigten Schritte folgen.
Neuer Sozialer Wohnungsbau (4) In aktuellen sozialwissenschaftlichen Studien über Stadt‐ und Wohnungspolitik wird oftmals die Abnah‐me von Steuerungsmöglichkeiten beklagt. Durch die zunehmende Privatisierung des Wohnungsbestandes bestände kaum mehr Handlungsfähigkeit (Münch 2010, 399) und auch ganz allgemein würden die Steu‐erungsansprüche bzw. ‐möglichkeiten der Stadtpolitik im Zuge eines neuen Staatsverständnisses kontinuier‐lich abnehmen (Häußermann/Läpple/Siebel 2008, 196). Diese sicherlich zutreffende Analyse zeigt zum einen noch einmal, dass das so schwierig zu errei‐chende Ziel der Nutzungsmischung im Städtebau nicht nur mit der zunehmenden Komplexität der diskursi‐ven und materiellen städtischen Bedingungen zu käm‐pfen hat, sondern auch mit abnehmenden Möglich‐keiten, überhaupt Stadtentwicklung zu steuern (die in Berlin beim Beispiel der Privatisierung von kommuna‐len Wohnungen jedoch hausgemacht sind).
Die einzige Möglichkeit, das wurde schon wei‐ter vorne betont, Mischung wirklich herzustellen, liegt vermutlich im kommunalen Wohnungsbau; hier lässt sich (potenziell) Nutzungsmischung errichten, und hier lässt sich durch die Standortwahl bezahlbarer Wohnungsbau in Lagen realisieren, in denen sich sonst nur eine kleine Klientel Wohnraum leisten kön‐nen würde. Schon aus dem Grunde, dass es in Berlin lange Zeit keinen kommunalen und keinen sozialen Wohnungsbau mehr gegeben hat, wäre eine neue Initiative auf diesem Gebiet ein überaus spannendes Projekt. Und hier könnte von Erfahrungen profitiert werden, die an anderen Orten mit kommunalem Wohnungsbau auch neueren Datums vorliegen. Eine Konzentration der IBA 2020 auf die intelligente Neu‐auflage von sozialem Wohnungsbau in Berlin wäre somit im Grunde die einzig erfolgversprechende Stra‐
tegie für die Umsetzung zentraler Elemente des klas‐sischen Mischungsleitbildes. Dass Berlin an diesem Punkt im nationalen Vergleich eher „hinten dran“ ist und aufpassen muss, nicht den Anschluss zu verlieren, zeigen die vielen Fallbeispiele, die in der aktuellen Wüstenrot‐Studie aufgeführt werden (vgl. z.B. Har‐lander/Kuhn 2012d, S. 392f.).
Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt spielt dabei jedoch das Leitbild der „Urbanen Mischung“ selbst keine so große Rolle. Da es wenig wahrscheinlich ist, dass durch eine IBA kommunaler Wohnungsbau in der Dimension eines Märkischen Viertels oder von Mar‐zahn/Hellerdorf entstehen wird, ist die Feinkörnigkeit (und damit das strukturelle Haupterfordernis von Mi‐schung) gewissermaßen schon im Ansatz erfüllt. Der Forderung nach der „Sozialen Mischung“ wäre vor allem dadurch zu entsprechen, dass der neue Woh‐nungsbau nicht in solchen Bereichen realisiert wird, in denen tendenziell die sozial schwach gestellten Be‐wohner_innen ohnehin verdrängt werden. Falls es wirklich gelingen sollte, zu einer Neuauflage von so‐zialem Wohnungsbau in Berlin zu gelangen, wäre schließlich darauf zu achten, dass nicht wie in den 1980er Jahren die Nichtförderungsmöglichkeiten von gewerblichen Flächen dazu führen, dass Läden in den Erdgeschoßzonen verhindert werden. Bevor diese Punkte jedoch konkret angegangen werden können, steht die Frage, wie ein solcher sozialer Wohnungsbau politisch überhaupt durchgesetzt werden kann. Die Frage nach der (anderen) Mischung hängt immer von den tatsächlichen Gegebenheiten ab und lässt sich an diesem Punkt daher auch erst dann konkreter bear‐beiten, wenn auch das Projekt eines neuen sozialen Wohnungsbaus eine konkretere Form angenommen hat.
Ein weiteres Instrument, das möglicherweise auch für die IBA 2020 eine Rolle spielen könnte, ist die Einführung einer Förderquote für sozialen Woh‐nungsbau bei Neubauprojekten. Dieses seit langem in München erfolgreich erprobte und inzwischen auch in Heidelberg, Regensburg, Nürnberg, Freiburg und Aachen angewandte Instrument (vgl. Fallstudie 2 im Anhang) ist gerade zum jetzigen Zeitpunkt, an dem der private Wohnungsbau in Berlin wieder Fahrt auf‐nimmt, ein unbedingt überlegenswertes Instrument der Wohnungspolitik. Bei der Ausgestaltung des För‐deranteils könnte die IBA 2020 ein Laboratorium wer‐den, das bei der konkreten Durchführung von Woh‐nungsbauprojekten Hilfestellung anbietet.
Zu vermerken ist an diesem Punkt jedoch ge‐nerell, dass sämtliche hier nur kurz skizzierten Mög‐lichkeiten einer Neuauflage des sozialen Wohnungs‐baus das klassische Ziel der „Sozialen Mischung“ nicht benötigen. Sozialer Wohnungsbau lässt sich auch
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Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
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anders (und überzeugender) begründen als mit dem „dubiosen Ziel“ von der Sozialen Mischung. Soziale Stadtpolitik, die gegen die zunehmende Polarisierung der Stadtbevölkerung intervenieren möchte, ist auf dessen problematische Semantik nicht angewiesen.
Randgebiete aufwerten (5) Die Gentrifizierung in den innenstadtnahen Bereichen führt zu einer Verdrängung von sozial schwächer gestellten Bevölkerungsgruppen an die Ränder der Städte. In den Beständen der Großsiedlungen aus den 1970er Jahren sammeln sich die Menschen, die sich das Wohnen in den Innenstadt‐ und Gründerzeitvier‐teln nicht leisten können beziehungsweise dort kei‐nen bezahlbaren Wohnraum mehr finden. Für die Ausrichtung der IBA 2020 auf die Großsiedlungen gibt es gute Gründe. Auch wenn Art und Weise einer fi‐nanziellen Ausstattung der IBA heute noch kaum zu bemessen sind – eine IBA bewegt immer auch Geld und lenkt Investitionen in den ein oder in den ande‐ren Bereich. Daher ist auch unter dem Gesichtspunkt der „Urbanen Mischung“ gut zu überlegen, welche Schwerpunktbereiche für eine IBA ausgewählt wer‐den. Die Großsiedlungen in den städtischen Randge‐bieten in den Fokus einer IBA und ihrer Investitio‐nen/Interventionen zu stellen, wäre ein Ansatz, der einer sozialen Stadtentwicklung verpflichtet ist. Damit könnte im Rahmen einer IBA auch versucht werden, einem weiteren strukturellen Mangel der gegenwärti‐gen Städtebauförderungspraxis entgegen zu wirken. Denn hier, darauf wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung hingewiesen, hat der partizipativ ausge‐richtete Ansatz inzwischen dazu geführt, dass Städte‐bauförderungsmittel oft dorthin fließen, wo sich am stärksten dafür eingesetzt wird. Und das bevorzugt häufig die gut ausgebildeten und durchsetzungsstar‐ken Mittelschichten und deren Projektideen. Mit einer IBA könnte versucht werden, Beteiligung und
Teilhabe gezielt dort zu fördern, wo ein solch aus‐drucksstarkes Milieu weniger vertreten ist.
Ziel einer in dieser Weise ausgerichteten IBA sollte es jedoch nicht sein, ein traditionelles Urbani‐tätsbild und einen „Zwang zur Mischung“ in die Groß‐siedlungen zu importieren. Aus Marzahn lässt sich kein Prenzlauer Berg machen und Strategien, welche mit einem undifferenzierten Nachverdichtungs‐ oder Mischungsideal und der Urbanität der „europäischen Stadt“ punkten wollen, ignorieren tendenziell die Lebenswirklichkeit der Großsiedlungen und auch die dort durchaus vorhandenen Qualitäten. Denn die Lebenswirklichkeit wird letztlich nicht durch Planung hergestellt, sondern durch die alltäglichen Aneig‐nungspraxen ihrer Bewohner_innen. Interventionen einer IBA sollten nicht gegen solche Praxen arbeiten, sondern mit ihnen. Und das funktioniert wiederum am besten, wenn möglichst große Bereiche der Kon‐zeption, Planung und Durchführung solcher Projekte selbst gemacht sind, also im Verantwortungsbereich der Bewohner_innen liegen. Es ist ein großer Unter‐schied, ob in einer Großsiedlung nachverdichtet wird, weil die Planung sich davon eine Nachrüstung von Urbanität verspricht, oder ob – unabhängig, ob dabei eine Nachverdichtung stattfindet oder nicht – Projek‐te in Angriff genommen werden, die sich aus den konkreten Ideen der Bewohner_innen entwickelt haben. Auch bei der Aufgabe, die Randgebiete aufzu‐werten, besteht der Ansatz eines anders gedachten Leitbildes der „Urbanen Mischung“ also vor allem aus einem Verstehen der vorhandenen Mischung und der Initiierung/Ermöglichung eines Mitmischens. Das Prinzip, Planung weitestgehend in die Hände der Be‐planten selbst zu legen, ist das eigentliche Erfolgsre‐zept der IBA 1987 gewesen (zumindest der IBA‐alt). Es wäre eine spannende Herausforderung, mit einer IBA 2020 dieses Prinzip in den randständigen Bereichen der Stadt zu erproben.
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Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
ANHANG
Anhang: Steckbriefe
Steckbrief 1: Zuzugssperre für Ausländer in West‐Berlin
Am 1.1.1975 wurde vom Berliner Senat eine Zuzugssperre für Ausländer in die Bezirke Kreuzberg, Wedding und Tiergarten beschlossen. Ziel der Maßnahme war die sogenannte "Entballung", mit der bestehenden „Ghettoisierungstendenzen“ in Viertel mit einem „erheblichen Auslän‐derbesatz“ entgegen gewirkt werden sollte (Reg. Bürgermeister 1980a, 12). Mit der Zuzugssperre sollte also eine bessere soziale und ethnische Mischung hergestellt werden, und zwar dadurch, dass Ausländern die polizeiliche Anmeldung in den „belasteten Gebieten“ untersagt wurde. Begründet wurde diese Zielstellung, dass auf die „stadtplanerischen und kommunalpolitischen Probleme“ in den „Ballungsgebieten in Berlin (West)“ reagiert werden müsse, die sich „infolge der wachsenden Zahl auslän‐discher Arbeitnehmer und ihrer Familien einstellten“ (ebd.). Die Zuzugssperre wurde erst im Jahre 1990 aufge‐hoben, und zwar nicht wegen ihres diskriminierenden Ansatzes, sondern weil festgestellt wurde, dass sie nicht ausreichend wirksam gewesen sei.
In einem Gutachten der Freien Planungsgruppe Berlin aus dem Jahre 1980 wird das Instrument Zuzugssperre vehement kritisiert. Insgesamt werde, so wird hier formuliert, die soziale Benachteiligung der Ausländer, die letztlich ihren Ursprung in deren ökonomischen Situation und dem daraus folgenden Status innerhalb der so‐
zialen Schichtung habe, durch weitere Benachteiligungen im Bereich der Wohn‐ und Infrastrukturversorgung verstärkt fort‐gesetzt (ebd. 62). Restriktiven staatlichen Maßnahmen wie Zu‐zugssperre und ähnliche die Ausländer diskriminierende Verbote würden nicht helfen, die Problematik wirklich zu lösen. In diesem Gutachten wird auch die Frage der „freiwilligen“ bzw. der „un‐freiwilligen Segregation“ diskutiert und die „widersprüchlichen Positionen zur Frage sozial gemischter oder homogener Wohn‐quartiere“ herausgearbeitet (ebd. 156). Das Ziel einer geplanten (erzwungenen) räumlichen Integration, d.h. gleichmäßigen Vertei‐lung der Ausländer über das Stadtgebiet, wird dabei insgesamt ab‐gelehnt (ebd. 160). Das Problem der schlechten Wohnraumver‐sorgung und der „Ballung der Ausländer“ sei nicht durch einen rechtlichen Zuzugsstop, sondern vielmehr durch eine Aufhebung
der „faktischen und psychologischen Zuzugssperre“ in die übrigen Bezirke durch Bereitstellung entsprechender Wohnungsangebote zu lösen (1980b, 22). Das Ziel der „Entballung“ selbst wird im Gutachten der FPB allerdings nicht in Frage gestellt.
Das Instrument Zuzugssperre zeigt die Implikation des Ziels der „Sozialen Mischung“ und die Wirkung von de‐terministischen begrifflichen Verräumlichungen wie „Bal‐lung“/ “Entballung“, „Auslän‐derbesatz“ oder „Tragfähig‐keiten“. Auch wenn eine Zu‐zugssperre in der aktuellen politischen Stimmungslage kaum mehr vorstellbar ist, ist bei der Diskussion des Leitbildes der "Urbanen Mischung" darauf hinzuwie‐sen, dass bei jeglichen restrik‐tiven Mischungsversuchen zentrale Selbstbestimmungs‐rechte der Betroffenen verletzt werden.
Was? Wer? Ziel? Wann?
Zuzugssperre für drei Berliner Bezirke Berliner Senat Soziale/Ethnische Mischung, „Entballung“ 1975‐1990
Gutachten, Freie Planungsgruppe Berlin und Prognos, 1980
„Die 1975 verhängte Zuzugssperre für die drei Bezirke Wedding, Tiergarten und Kreuzberg hat, wenn überhaupt nur eine geringfügige Entlastung für die jeweiligen Problemgebiete gebracht. Aber abgesehen davon, dass diese in der Tendenz die Ausländer diskriminierende Maßnahme nur bedingt greift, da ein Großteil der Ausländerzuzüge in diese Gebiete infolge der Familienzusammenführung davon auszu‐nehmen sind, ist u. E. diese Maßnahme der Problemstellung nicht adäquat.“ (Freie Planungsgruppe Berlin 1980, 22).
Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
Steckbrief 2: Soziale Bodenordnung, München
Die „Sozialgerechte Bodennutzung“ SoBoN ist ein im Jahre 1994 vom Münchner Stadtrat beschlossenes Regelwerk für den Abschluss pla‐nungsbegleitender städtebaulicher Verträge und Vereinbarungen. Da‐nach sind Planungen mit Werterhöhungen für die betroffenen Grund‐stücke nur dann durchzuführen, wenn die Begünstigten die ursächlichen Kosten und Lasten der Planung tragen. Sie müssen die „Förderquote“ von heute 30 Prozent (ehemals 40 Prozent) vertraglich übernehmen, was bedeutet, 30 Prozent der neu geschaffenen Wohnbauflächen für Personen mit besonderem Wohnraumversorgungsbedarf herzustellen (bei städtischen Grundstücken beträgt die Förderquote sogar 50 Prozent). Zudem werden die Investoren für den Ausbau der Erschließungsstraßen und örtlichen Grünflächen, die soziale Infrastruktur (in der Regel in Form eines Finanzierungsbeitrags und durch Grundstücksbereitstellung), den Ausgleich für Eingriffe in Natur und Landschaft und Planungskosten sowie die zügige Verwirklichung der Planungen (Baupflicht) verpflichtet.
Die SoBoN wird dadurch begründet, dass wünschenswerte und erforderliche städtebauliche Planungen in der Regel mit großen wirtschaftlichen Belastungen für Städte und Gemeinden verbunden seien, die aus den allge‐meinen Haushaltsmitteln nicht vollständig finanziert werden könnten. Daher sollen die Planungsbegünstigten,
denen primär die Vorteile in Form von planungsbedingten Grundstückswertsteigerungen zufließen, zur Finanzierung der Voraussetzungen und Folgen solcher Planungen herangezogen werden. Dafür werden bestimmte Planungsziele vertraglich ver‐ankert. Ein "angemessener Teil" des planungsbedingten Wert‐zuwachses soll bei den Planungsbegünstigten verbleiben, damit ein Investitionsanreiz besteht und die individuellen Kosten gedeckt werden können. Mit dem Instrument SoBoN soll für Transparenz der Verhandlungen, Kalkulierbarkeit der Kosten und Bindungen für die Investorenseite und die Stadt sowie für eine Gleichbehandlung
der Vertragspartnerinnen und ‐partner gesorgt werden. (Landeshauptstadt München 2009).
Die Sozialgerechte Bodenordnung in München ist (unter anderem) ein Mischungsinstrument, das jedoch nicht bei der restriktiven Mischung von Bevölkerung ansetzt, sondern bei Restriktionen für die privaten Bauherren. Gemischt werden soll mit der SoBoN die soziale Zusammensetzung in Neubaugebieten, eingegriffen wird dafür in die Verwertungspotentiale von Investoren. Mit der Erweiterung der bestehenden planungsrechtlichen Rege‐lungen um das politische Ziel eines bestimmten Anteils von geförderten und unteren/mittleren Einkommensgruppen zugänglichen Wohnungen soll Soziale Mischung hergestellt werden. Die Höhe der Förderquote und die Definition von "preiswerten Wohnraum" ist dabei Verhandlungsmasse der stadtpolitischen Zielsetzung (und diese Themen werden in der Münchner Stadtpolitik auch immer wieder diskutiert). Der Pla‐nungsansatz zeigt, wie die Steuerung einer "Sozialen Mischung" mit den zu Verfügung stehenden planungsrechtlichen Instrumenten (insbesondere mit städtebaulichen Verträgen) prinzipiell möglich und erfolgreich sein kann. Mit der Aus‐richtung des Münchner Instruments auf Neubauplanungen (und nicht auf Bestandssituationen) wird zudem deutlich, dass die Steuerungsmöglichkeiten von sozialer Mischung vor allem in diesem Bereich zu finden sind. Das Instrument SoBoN wurde mit etlichen Preisen (z.B. im Jahre 2005 im Rahmen des Forschungsprogramms ExWoSt als „Gutes Beispiel“ des Gender Mainstreaming) ausgezeichnet und wurde in einigen deutschen Städten zur Grundlage der Stadtplanung gemacht.
„Inzwischen ist nicht nur die Münchner Stadt‐verwaltung, sondern die gesamte Münchner Fachwelt einschließlich derer, die in Grundstü‐cke investieren, fest davon überzeugt, ein Mo‐dell erarbeitet zu haben, das auch für viele Städte im In‐ und Ausland Vorbildcharakter hat.“ (Landeshauptstadt München 2009, 1).
Was? Wer? Ziel? Wann?
Sozialgerechte Bodenordnung Stadt München Soziale Mischung, Zugänglichkeit mitt‐lerer Einkommensgruppen Seit 1994
Landeshauptstadt München (2009).
Anhang: Steckbriefe
Steckbrief 3: Kirchsteigfeld, Potsdam
Das Kirchsteigfeld hat eine Größe von ca. 60 ha und befindet sich am Rande des Stadtgebietes im Südosten Potsdams. Das Kirchsteigfeld war nach 1989 das einzige größere Areal in der Stadt, das kurzfristig für eine Siedlungsergänzung zur Verfügung stand. Bereits in DDR‐Zeiten war hier Wohnungsbau geplant gewesen. Das Gebiet wurde analog des in den 1990er Jahren dominanten Leitbildes der Nutzungsmischung entwickelt und der Versuch unternommen, städtische Funktionen wie Wohnen und Arbeiten, Einkaufen und Erholen miteinander zu vereinen. Das Quartier wurde von einem privaten Investor entwickelt und ist somit als Planung aus einer Hand zu bezeichnen. Bei der städtebaulichen Planung wurde versucht, mit Elementen wie Blockrandbebauung, zur Straße hin orientierten Fassadenentwicklung, Gebäude‐höhen und Platzgestaltungen das Bild einer traditionellen europäischen Stadt nachzuempfinden.
Was?
Das Kirchsteigfeld wurde in das ExWoSt‐Forschungsprogramm „Nutzungsmischung im Städtebau“ aufgenom‐men und dabei ausführlich untersucht. Im Endbericht der Untersuchung wird festgestellt, dass die gewerbli‐chen Nutzungen auf den hierfür vorgesehenen Bauflächen nicht umgesetzt worden sind. Nutzungsmischung bedeutet im Kirchsteigfeld in erster Linie Mischung von Wohnungsbau mit den sozialen und kommerziellen
Wohnfolgeeinrichtungen (Gemeinbedarf, Handel). Vor diesem Hintergrund, so lautet das Ergebnis der Begleitforschung, könnten Aussagen zum Thema 'Nutzungsmischung im Städtebau' nur be‐grenzte Aussagekraft zugestanden werden. Die Erwartungen, die die meisten Bewohner mit dem Leben im Kirchsteigfeld verknüpfen, würden allerdings weitgehend erfüllt: Als Zuzugs‐gründe für die Wahl dieses Wohnortes wurden hauptsächlich die angenehme Atmosphäre, das Grün und die Ruhe genannt. Weiter wird resümiert, dass die „Voraussetzung zur Herstellung einer sozial gemischten Bevölkerungsstruktur in einem Neubaugebiet ein
breitgefächertes Wohnungsangebot“ sei, das neben den unterschiedlichen Bedürfnissen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen auch die unterschiedlichen finanziellen Verhältnisse berücksichtigt (FPB 1999, 121). Durch das Fehlen der "richtigen" Nutzungsmischung (Wohnen und Gewerbe) im Kirchsteigfeld könnten zu der These, dass nutzungsgemischte Gebiete Vorteile insbesondere für benachteiligte Sozialgruppen bringen, nur eingeschränkt Aussagen getroffen werden. Die Annahmen, dass diese Vorteile in einer stärkeren sozialen Ge‐borgenheit, kürzeren Wegen, günstigeren Versorgungsmöglichkeiten einfacher herstellbaren sozialen Kontak‐ten liegen, konnten nicht empirisch belegt werden (ebd. 118).
Die Geschichte des Kirchsteigfelds zeigt symptomatisch, dass das Ziel eines lebendigen, durchmischten und pulsierenden Stadtviertels, das so vielen aktuellen Stadtplanungsprojekten zugrunde gelegt wird, bei soge‐nannten top‐down‐Planungsansätzen schon vom Ansatz her zum Scheitern verurteilt ist. Der Bau von städtisch anmutenden Blockrandstrukturen führt keineswegs automatisch zu der gewünschten „Urbanität“. Weiterhin wird offensichtlich, dass einer verordneten Nutzungsmischung deutliche Grenzen gesetzt sind, selbst wenn das Ziel von allen Planungsbeteiligten geteilt wird. Die festgestellte hohe Wohnzufriedenheit im Kirchsteigfeld zeigt aber schließlich auch, dass von den Bewohner_innen selbst häufig ganz andere Prioritäten gesetzt werden.
Wer? Ziel? Wann? Größe?
Quartiersentwicklung Stadt Potsdam, Investor Nutzungsmischung, Urbane Mischung Seit 1993 60 ha
„Die kleinräumliche Mischung aus Wohnen, Arbeiten und sozialer Infrastruktur, wie sie als Beispiel der alten europäischen Stadt immer wieder diskutiert wird, lässt sich unter heutigen Marktbedingungen nicht (mehr) herstellen, wird aber auch von vielen potentiellen Nutzern gar nicht nachgefragt.“ (Gerd Unger 1998, 268).
Fotos: (1): Groth‐Gruppe, (2): Potsdam‐Kirchsteigfeld, Am Hirtengraben, L. Schulz, 2005
Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
Steckbrief 4: Südstadt, Tübingen
Als im Jahre 1991 das französische Militär aus Tübingen abgezogen wurde, begannen die Planungen für das ehemalige Kasernengelände in der Südstadt zu einem lebendigen und durchmischten Stadtquartier. In einem städtebaulichen Wettbewerb und der darauf aufbauenden Rah‐menplanung entwickelte die Stadt eine Konzeption für den neuen Stadtteil, in der von Anfang an eine gemischte, kleinteilige und lebendige Mischung das klar formulierte Ziel gewesen ist. Das rechtliche Instru‐ment für die Realisierung wurde die Städtebauliche Entwicklungsmaß‐nahme angewandt, mit der auch der eigentumsrechtliche Zugriff auf das Gebiet sichergestellt worden ist. Bis heute sind in der Südstadt Wohnungen und Gewerbeflächen für ca. 6.500 neue Bewohner und ca. 2.000 neue Arbeitsplätze entstanden.
Bei der Ausgestaltung des Mischungsziels wurde in Tübingen immer betont, dass die gemischte Stadt insbe‐sondere dadurch herzustellen sei, indem Offenheit gegenüber neuen und unterschiedlichen Lebensstilen er‐möglicht wird. Weitere Schwerpunkte der Planung waren Kooperation im Stadtteil zwischen Wirtschaft, Me‐dien, Wissenschaft und kulturellen Einrichtungen sowie die Wiederherstellung der öffentlichen Räume als An‐gebot für das alltägliche Zusammenleben. Hinzugefügt wurde dem Leitbild der gemischten Stadt damit das
Leitbild der solidarischen Stadt und damit der Fokus erweitert: Es ging von Anfang an nicht nur um die Frage der gerechten Vertei‐lung von Wohnstandorten, sondern um die Frage des Zugehörig‐keitsgefühls der verschiedenen Gruppen zum Stadtquartier in einer „zusammengewürfelten Gesellschaft“ (Feldkeller 1998, 278). Als Maßstab wurden dabei die Kinder und Jugendliche gesetzt und er‐kundet, was „gerade diese Gruppen mit unseren Plänen“ anfangen können. Insgesamt, so lautet das mit großer Überzeugung vertrete‐ne Credo in Tübingen, bräuchte die gemischte Stadt Strukturen, die integrationsfähig, robust, konfliktfähig, weitgehend selbstregu‐lierend, gestaltbar und veränderbar sind“ (ebd.).
Die Interpretation des Mischungsbegriffs fällt bei der Tübinger Südstadt entscheidend anders aus, als bei den meisten anderen Mischungsprojekten aus den 1990er Jahren: Der Schwerpunkt wird weniger auf das „Mischen“, sondern auf ein „Mit‐Mischen“ gelegt. Das (bauliche) Herstellen von Mischung tritt bei diesem wohl als
erfolgreichstes Beispiel wahrgenommenen Projekts eines gemischten Städtebaus in Deutschland stark in den Hintergrund, fokussiert wird dagegen auf Begriffe wie „Offen lassen“, „Ermöglichen“ und „Anbieten“ sowie auf die Bereitstellung von öffentlichen Räumen (baulich‐räumlichen aber auch diskursiv‐organisatorischen). Deut‐lich wird in Tübingen allerdings auch, dass eine solche Form von Mit‐Mischen nur unter ganz bestimmten Be‐dingungen möglich ist. Voraussetzungen für den Erfolg in Tübingen waren unter anderem das Vorhandensein leerstehender Gebäude, die Verfügungsgewalt über die Grundstücke, der Einsatz von erheblichen finanziellen Mitteln, der starke Wille und die Fähigkeit, gegen bestehende planungsrechtlichen Restriktionen zu arbeiten, die Einbindung vielfältiger Akteure und nicht zuletzt eine Verwaltung, die gewillt und in der Lage war, sich in den Planungsprozessen an bestimmten Punk‐ten immer wieder zu‐rückzunehmen.
Tübinger Südstadt, Französisches Viertel, Foto: Ramessos, 2007
Was? Wer? Ziel? Wann? Größe?
Quartiersentwicklung Stadt Tübingen Nutzungsmischung, Urbane Mischung Seit 1991 60 ha
„Das wesentliche Merkmal städtischer Struktu‐ren ist Vielfalt: Vielfalt an Nutzungen, Vielfalt an Wohnformen, Vielfalt an Gebäudetypen und Vielfalt an sozialen Gruppen. In der Südstadt entsteht ein Stadtteil, der Kontakte und soziale Netze ermöglicht, ein breites Spektrum an Räumen anbietet und für unterschiedliche Generationen, soziale oder kulturelle Gruppen attraktiv ist. Die Südstadt‐Entwicklung versteht sich als Angebot: viele Bewohner profitieren von einer vereinfachten Alltagsorganisation in einer "Stadt der kurzen Wege" und von der hohen Dichte an sozialen Einrichtungen und Angeboten.“ (www.tuebingen‐suedstadt.de).
Anhang: Steckbriefe
Steckbrief 5: Möckernkiez, Berlin
Die Möckernkiez Genossenschaft für selbstverwaltetes, soziales und ökologisches Wohnen eG wurde im Mai 2009 gegründet. Die Ge‐nossenschaft hat die Aufgabe, das Baufeld Möckernkiez zu beplanen, zu bebauen und schließlich die Wohnungen, Gewerbeeinheiten und das Gelände zu verwalten und zu bewirtschaften. Sinn und Zweck ist laut Satzung die Förderung ihrer Mitglieder vorrangig durch eine gute, sich‐ere und sozial verantwortbare Wohnungsversorgung. Insbesondere för‐dert die Genossenschaft gemeinschaftliches, ökologisches, barrierefrei‐es, Generationen verbindendes, interkulturelles und selbst bestimmtes Wohnen in dauerhaft gesicherten Verhältnissen.
Ziel der Genossenschaft ist die Errichtung eines Modellprojekts. Konkret wird darunter die partizipative Errich‐tung eines „autofreien“ Stadtquartiers im Sinne einer nachhaltigen Stadtentwicklung verstanden. Dabei sollen neben qualitativ hochwertigem Wohnraum auch Räume für gemeinschaftliches und Generationen verbinden‐des Wohnen sowie ein Gewerberiegel entstehen. Das Quartier soll für breite Bevölkerungs‐ und Einkommens‐schichten erschwinglichen Wohnraum bieten. Das am südöstlichen Rand des neuen Gleisdreieck‐Parks gelege‐ne, 30.000 m² große Quartier Möckernkiez umfasst 430 Wohnungen, ein Hotel sowie 2.500 m² Gewerbeflächen
zur wohnungsnahen Versorgung der Bewohner. Das städtebauliche Konzept wurde in einem partizipativen Prozess unter Beteiligung der zukünftigen Bewohner entwickelt. Seit Bestehen der Initiative wurde an der sozialen Vision des Projekts gearbeitet. Im Möckern‐kiez soll im Sinne gelebter Nachbarschaft ein „Wohn‐ und Lebens‐raum“ entstehen, in dem sich alle gegenseitig nach ihren Möglich‐keiten unterstützen, Jüngere und Ältere, Familien und Alleinste‐hende, Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, mit und ohne Migrationshintergrund. Alle Gruppen und Personen sollen gemein‐sam Aktivitäten gestalten, sich gegenseitig helfen, voneinander lernen und dabei erleben, dass jeder und jede wichtig ist.
Das Projekt Möckernkiez ist eine Quartiersentwicklung von unten, die nicht aufgrund eines kommunalen Entwicklungsplans oder aus den Planungen eines verwertungsorientier‐ten Investors entstanden ist, sondern aus dem Zusammenschluss einiger Anwohner_innen des Gebietes an der Grenze zwischen Kreuzberg und Schöneberg. Das Mit‐Mischen ist beim Möckernkiez der konstitutive Faktor, dessen Auswirkungen im bisherigen Projektverlauf direkt ablesbar sind. Die Ziele Nutzungsmischung und Sozia‐le Mischung, die beim Projekt Möckernkiez ebenfalls einen hohen Stellenwert haben, sind jedoch – trotz des fundamental‐partizipativen Ansatzes – keine Selbstläufer und müssen in aufwändigen und oft auch mühsamen Prozessen lokaler Demokratie ständig erneuert werden. Die relativ homogene sozialen Herkünfte der Ge‐noss_innen, die gleichzeitige Errichtung des Quartiers und der einheitliche übergreifende Genossenschaftsge‐danke stellen die projektierten Mischungsabsichten vor permanente Herausforderungen und unterlaufen häu‐fig das Ziel der „Urbanen Mischung“ (vgl. Häußermann 1996). Dennoch scheinen sich beim Möckernkiez die Erfahrungen aus der Tübinger Südstadt zu bestätigen: Je höher der Grad an Eigeninitiative ist, desto eher ist so etwas wie eine geplante und hergestellte „Urbane Mischung“ tatsächlich erreichbar. Der Baubeginn für das Projekt, das inzwischen mit einer Begleit‐forschung im Rahmen des ExWoSt‐Pro‐gramms ausgestattet ist, soll im Jahre 2013 erfolgen.
„Wenn ältere Menschen Kinder betreuen, einen Mittagstisch organisieren, wenn gemeinsam gefeiert wird, wenn Hobbys gemeinsam ge‐pflegt werden, wenn Menschen bei Krankhei‐ten oder in anderen Belastungszeiten unter‐stützt werden, entsteht ein Umfeld, in dem soziales Miteinander erlebt und gestärkt wird. Dabei setzen wir auf das Prinzip Geben und Nehmen – jeder wie er kann/jede wie sie kann.“ www.moeckernkiez.de
Was? Wer? Ziel? Wann? Größe?
Quartiersentwicklung Genossenschaft Möckernkiez, Berlin Nutzungsmischung, Soziale Mischung Seit 2009 3 ha
Visualisierung Möckernkiez, Loomilux, 2012
Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
Steckbrief 6: Ørestad, Kopenhagen
Ørestad ist ein neuer Stadtteil in Kopenhagen, der seit dem Jahre 1993 auf einem früheren Militärgelände entwickelt wird. Die in den 1970er Jahren entwickelten Pläne für eine S‐Bahn‐erschlossene Trabantenstadt für 25.000 EW waren aufgrund wirtschaftlicher Stagnation nicht um‐gesetzt worden. Im Zusammenhang mit dem Bau der Øresundbrücke wurden die Stadterweiterungsplanungen in den 1990er Jahren reak‐tiviert. Eine im städtischen Besitz befindliche, marktwirtschaftlich orga‐nisierte Gesellschaft entwickelte die Infrastruktur des neuen Stadtteils, die mit dem Erlös des neu erschlossenen Baulandes finanziert werden sollte. „Urbane Mischung“ findet sich beim Ørestadprojektes kaum als postuliertes Ziel. Die Implementierung eines größeren Wohnanteils des anfangs vor allem als Bürostandort geplanten Projektes ist vor allem ein Er‐gebnis der Kritik, die die Planungen in der stadtpolitischen Diskussion in Kopenhagen hervorgerufen haben.
Das Ørestad‐Projekt ist ein Beispiel für die besonders in den 1990er Jahren aufkommenden Stadtentwicklungs‐projekte der „Urban Regeneration“, mit der in vielen europäischen Städten eine marktförmige Form von Stadt‐planung durchgesetzt worden ist (vgl. Arthur 2007). Diese Form der Stadtentwicklung ist inzwischen vor allem von sozialwissenschaftlicher Seite aus kritisiert worden. Solche regelmäßig unter „Ausschluss der Öffentlich‐
keitsbeteiligung“ (Priebs 2000, 216) geplanten Projekte sind stark abhängig vom Vermarktungs‐ und Erfolgsdruck der Entwicklungs‐gesellschaft, die trotz der über die jeweiligen Aufsichtsgremien möglichen politischen Kontrolle stets ein starkes Eigenleben ent‐faltet, das durch den angestrebten wirtschaftlichen Erfolg der Ge‐schäftsführung motiviert ist (ebd. 218). Der Blick auf das Ørestad‐projekt zeigt, dass das Ziel der „Urbanen Mischung“ im europä‐
ischen Vergleichskontext deutlich weniger im Vordergrund steht, als dass das in Deutschland der Fall ist (vgl. BBR 1999a, 32). Zudem wird der Blick auf die marktförmig organisierten städtebaulichen Großprojekte gelenkt.
Großprojekte wie Ørestad stehen für große Veränderungen innerhalb der Stadtplanung und sind inzwischen integraler Bestandteil einer neoliberal orientierten Stadtpolitik, welche die eher traditionellen Umverteilungs‐ansätze weitgehend ersetzt hat (Swyngedouw et al. 2002, 576f). Das Streben nach Wachstum und wettbe‐werbsorientierter Entwicklung ist zum führenden Ziel der New‐Urban‐Policy geworden. Tatsächlich haben sol‐che städtischen Großprojekte eine wachsende physische und soziale Fragmentierung in der Stadt bewirkt und Lücken für eine Stärkung des Mittelklassewohnungs‐ und Konsumptionsmarktes geschlossen, aber nicht für andere, sozial schwächere und/oder Immigrantengruppen der städtischen Bevölkerung. Während der Immobi‐lienmarkt bedient wurde, wurden mit den Großprojekten oft größere soziale Ungleichheit und sozial‐räumlich Fragmentierung hergestellt. Die Etablierung der neuen Strukturen beinhaltet regelmäßig massive Umver‐teilungen von politischer Macht, Kompetenz und Verantwortlichkeit, und zwar weg von den lokalen Re‐gierungen hin zu exklusiven Partnerschaften. Dieser Prozess kann als „Privatisierung der Stadtpolitik“ beschrie‐ben werden (ebd.). Der Trend zum netzwerkorientierten Ansatz der Urban‐Regeneration‐Projekte wird oftmals als bottom‐up‐Planung mit partizipatorischen Dynamiken dargestellt. Eine solche Art von Partizipation ist aller‐dings auf ausgewählte Experten begrenzt (Architekten, Planer, Ökonomen, Ingenieure), die an Einfluss gewin‐nen, während nicht ‐professionelle und weniger machtvolle Gruppen ausgeschlossen bleiben (ebd.).
Was? Wer? Ziel? Wann? Größe?
Quartiersentwicklung Ørestad Urban Regeneration Seit 1995 310 ha
„Befürchtet wird insbesondere, dass der Ver‐marktungsdruck zu einer Aufweichung der auf eine Mischung von Wohn‐ und Dienstleistungs‐funktionen abzielenden Konzeption führen wer‐de.“, Axel Priebs 2000, 218
Ørestad, Fotos: N. Roskamm, 2012