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DAS PROBLEM DER PRINZIPIENFORSCHUNG UND DIE ARISTOTELISCHE PHYSIK*) von Wolfgang Wieland, Heidelberg Die Physik ist unter den Hauptwerken des Aristoteles das weitaus un- bekannteste. Die philologische und philosophiegeschichtliche Forschung beschäftigt sich wohl sehr intensiv mit den Aristotelischen Schriften zur Logik, zur Psychologie, zur Politik, vor allem auch zu Metaphysik und Ethik. Die Physik ist dagegen heute noch fast terra incognita. Das beruht schwerlich auf einem Zufall, sondern es wirkt hier eine unbedacht über- nommene Haltung des 19. Jahrhunderts nach. Sehr instruktiv ist in dieser Hinsicht das Kapitel „Weltanschauung und Wissenschaft" aus dem Schlußteil von Jaegers Aristotelesbuch 1 ). Jaeger versucht hier, die Ergebnisse seiner Einzelanalysen unter einem zusammen- fassenden Gesichtspunkt darzustellen, indem er die Philosophie des Ari- stoteles als Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung interpretiert. Nun ist es für Jaeger charakteristisch, daß er die Physik zu den nicht „im engeren Sinne philosophischen Arbeiten" 2 ) zählt. Diese in der Kapitel- überschrift „Weltanschauung und Wissenschaft" zum Ausdruck kommende Unterscheidung zwischen einer als Ausdruck einer Weltanschauung ver- standenen Philosophie auf der einen Seite und der in diesem Sinne aller- dings nicht zur Philosophie gehörenden Naturforschung auf der anderen Seite ist ein Reflexionsprodukt des 19. Jahrhunderts und war erst in einer Situation möglich, in der die Philosophie ihren Anspruch, eine umfassende Theorie der Wirklichkeit zu liefern, zugunsten der sich immer mehr in die Breite entwickelnden Naturwissenschaften aufgegeben hatte und ihre Hauptaufgabe in der Beschäftigung mit den Entwürfen sah, mittels derer der Mensch diese Wirklichkeit auf sein Ich zurückbezog. Nun kann,man kaum bestreiten, daß sich manches von dem, was in der Geschichte als" Arostotelismus aufgetreten ist, zwanglos unter jenem „weltanschaulichen" Aspekt interpretieren läßt. Doch das gilt nicht im gleichen Sinne für Aristoteles selbst: gerade seine Physik ist, wie mir scheint, die schönste Bestätigung dafür, daß das Anliegen seines Philosophierens verfehlt wird, wenn man es aus dem Gegensatz von Weltanschauung v und Wissenschaft zu begreifen versudit. Die Physik ist bei Aristoteles so wenig naturwis- *) Überarbeiteter Text eines auf der Hamburger Aristotelestagung des Engereu Kreises der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutsdüand am 28.10. 1959 gehaltenen Vertrages. * *) W. Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung. 2. Aufl., Berlin 1955; vgl. S. 402 ff. *) Jaeger, op. cit. S. 308. 206 Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefeller Libra Authenticated | 172.16.1.226 Download Date | 5/25/12 3:06 PM

DAS PROBLEM DER PRINZIPIENFORSCHUNG UND DIE ARISTOTELISCHE PHYSIK

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DAS PROBLEM DER PRINZIPIENFORSCHUNG

UND DIE ARISTOTELISCHE PHYSIK*)

von Wolfgang Wieland, Heidelberg

Die Physik ist unter den Hauptwerken des Aristoteles das weitaus un-bekannteste. Die philologische und philosophiegeschichtliche Forschungbeschäftigt sich wohl sehr intensiv mit den Aristotelischen Schriften zurLogik, zur Psychologie, zur Politik, vor allem auch zu Metaphysik undEthik. Die Physik ist dagegen heute noch fast terra incognita. Das beruhtschwerlich auf einem Zufall, sondern es wirkt hier eine unbedacht über-nommene Haltung des 19. Jahrhunderts nach.

Sehr instruktiv ist in dieser Hinsicht das Kapitel „Weltanschauung undWissenschaft" aus dem Schlußteil von Jaegers Aristotelesbuch1). Jaegerversucht hier, die Ergebnisse seiner Einzelanalysen unter einem zusammen-fassenden Gesichtspunkt darzustellen, indem er die Philosophie des Ari-stoteles als Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung interpretiert. Nunist es für Jaeger charakteristisch, daß er die Physik zu den nicht „imengeren Sinne philosophischen Arbeiten" 2) zählt. Diese in der Kapitel-überschrift „Weltanschauung und Wissenschaft" zum Ausdruck kommendeUnterscheidung zwischen einer als Ausdruck einer Weltanschauung ver-standenen Philosophie auf der einen Seite und der in diesem Sinne aller-dings nicht zur Philosophie gehörenden Naturforschung auf der anderenSeite ist ein Reflexionsprodukt des 19. Jahrhunderts und war erst in einerSituation möglich, in der die Philosophie ihren Anspruch, eine umfassendeTheorie der Wirklichkeit zu liefern, zugunsten der sich immer mehr in dieBreite entwickelnden Naturwissenschaften aufgegeben hatte und ihreHauptaufgabe in der Beschäftigung mit den Entwürfen sah, mittels dererder Mensch diese Wirklichkeit auf sein Ich zurückbezog. Nun kann,mankaum bestreiten, daß sich manches von dem, was in der Geschichte als"Arostotelismus aufgetreten ist, zwanglos unter jenem „weltanschaulichen"Aspekt interpretieren läßt. Doch das gilt nicht im gleichen Sinne fürAristoteles selbst: gerade seine Physik ist, wie mir scheint, die schönsteBestätigung dafür, daß das Anliegen seines Philosophierens verfehlt wird,wenn man es aus dem Gegensatz von Weltanschauung vund Wissenschaftzu begreifen versudit. Die Physik ist bei Aristoteles so wenig naturwis-

*) Überarbeiteter Text eines auf der Hamburger Aristotelestagung des EngereuKreises der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutsdüand am 28.10.1959 gehaltenen Vertrages. *

*) W. Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung.2. Aufl., Berlin 1955; vgl. S. 402 ff.

*) Jaeger, op. cit. S. 308.

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sensdiaftliche Einzelforschung wie die Metaphysik bloß Ausdruck einerWeltanschauung ist. Die Unterscheidung von Metaphysik und Physik istselbst überhaupt keine Voraussetzung, sondern ein Ergebnis der Reflexionauf die Prinzipien der Dinge, die Aristoteles durchführt. Es ist jedoch vor-erst keineswegs selbstverständlich, was Aristoteles überhaupt unter einemPrinzip verstanden wissen wollte, und nach welchem Leitfaden die Prin-zipienforsdiung vorgeht. Gerade die Physik scheint mir zur Lösung diesesProblems einen nicht zu unterschätzenden Beitrag liefern zu können, dahier wesentliche Motive des Aristotelischen Denkens sichtbar werden, diein anderen Aristotelesschriften eine mehr untergründige Wirkung aus-üben und an einigen Stellen zu einer Revision der geläufigen Auffassungvon der theoretischen Philosophie des Aristoteles zwingen.

Aristoteles hat selbst in den zweiten Analytiken .als Erster eine detail-lierte Wissensdiaftstheorie und Methodenlehre entwickelt, und es ist leichtzu verstehen, daß man schon sehr frühzeitig glaubte, die hier exponierteMethodik auch in den Lehrschriften ihres Urhebers wiederfinden zu kön-nen. Die griechischen Kommentatoren bieten hierfür eine Fülle von Bei-spielen. Der beginnenden Neuzeit gilt Aristoteles als der Ahnherr einerTradition, die alle philosophischen Probleme auf deduktivem Wege, näm-lich mittels der syllogistischen Methode durch Ableitung aus einigenwenigen, intuitiv einsichtigen Prinzipien lösen will. In diesem Sinne wirdder Aristotelismus vor allem von Galilei und Descartes bekämpft.

Die Ansicht, daß Aristoteles in .seinen philosophischen Werken diesyllogistische Methodik „anwendet11, um so zu einem großartigen, in sichkonsistenten System zu gelangen, ist auch heute noch herrschend — un-geachtet der Tatsache, daß es bis heute noch nicht gelungen ist, aus denAristotelischen Schriften eine nennenswerte Anzahl von im Sinne der Syllo-gistik folgerichtigen Schlüssen herauszupräparieren; ungeachtet auch dervielen Widersprüche, die sich bei Aristoteles finden und die es schon vonsich her schwer machen, die Aristotelische Philosophie als deduktives„System" zu betrachten. Ein soldies System will aber Aristoteles gar nichtgeben, und wenn man durchaus die Methodenlehre der Analytiken mitseinen übrigen Hauptschriften in Zusammenhang bringen will, so müßteman sagen, daß es in ihnen allen einzig und allein um diejenigen Prä-missen und Grundbegriffe geht, die in jedem deduktiven System bereitsvorausgesetzt sind. Es bedarf aber eines langen und mühevollen Weges,um zu diesen Prinzipien zu gelangen, und Aristoteles beruft sich niemals— wie die Mehrzahl seiner Nachfolger — auf die bloße und unmittelbareIntuition zur Legitimierung seiner Prinzipienlehre. Die Lehre von derintuitiven Erkenntnis „evidenter" Prinzipien ist der Sache nach ein ge-naues Korrelat zur Auffassung vom streng syllogistischen Aufbau derWissenschaft. Doch das eine ist so wenig genuin aristotelisch wie dasandere. Welchen Weg begeht nun aber Aristoteles in concreto, um zuseinen Prinzipien zu gelangen?

IIAristoteles, der so viel über Methodenprobleme nachgedacht hat, hat

auf die in seinen eigenen philosophischen Schriften angewendete „Me-thode" nicht ausdrücklich reflektiert. Ihm blieb ebenso wia jedem anderen

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gro en und urspr nglichen Denker das Gesetz des eigenen Denkens ver-borgen, Offenbar ist jede Methodenreflexion mit einem Verzicht auf einunmittelbares Interesse an den Sachen selbst, die mit dieser Methode er-kannt werden sollen, verbunden und umgekehrt. Die Methoden, die Ari-stoteles -ausf hrlich beschrieben und begr ndet hat, wendet er nicht aufsachliche Inhalte an, und wenn er eine auf die Sache gerichtete Unter-suchung durchf hrt, so hat er kein ausdr ckliches Wissen von derenMethode. Es gibt nur einige wenige Stellen, an denen sich Aristoteles berden Weg der Prinzipienforschung u ert, und auch hier beschr nkt er sichauf Andeutungen.

Das erste Kapitel des ersten Physikbuches geh rt zu jenen wenigenTexten, in denen sich Aristoteles von seinem eigenen Weg kurz Rechen-schaft zu geben versucht. Aristoteles sagt hier, nachdem er klargestellt hat,da jede wirkliche Erkenntnis einer Sache immer eine Erkenntnis ausPrinzipien ist:πέφυκε δε εκ των γνωριμωτέρον ήμϊν ή οδός καΐ σαφέστερων επί τα σαφέστερα τηφύσει και γνωριμώτερα · ου γαρ ταύτα ήμΐν τε γνώριμα καΐ απλώς, διόπερ ανάγκη τοντρόπον τούτον προάγειν εκ των ασαφέστερων μεν τη φύσει ήμιν δε σαφέστερων επί τασαφέστερα τη φύσει καΐ γνωριμώτερα (184 a 16 ff.).Dies ist eine Unterscheidung, die Aristoteles auch sonst h ufig anwendet.Was bedeutet sie f r die Prinzipienforschung?

Wir gehen immer von demjenigen, was uns bekannter ist, aus, um zudem zu gelangen, das „an sich" oder der Natur nach bekannter ist. Das-jenige, was von Natur aus bekannter ist, ist uns das Unbekanntere. ImZusammenhang mit der Prinzipienforschung besagt dies: Wir gehen ausvon der Sache, die uns schon bekannt ist, die wir aber aus ihren Prin-zipien erkennen wollen. Nach den Prinzipien ist gefragt; sie sind das vonNatur aus Deutlichere, das uns aber zun chst noch verborgen ist. Bei derUnterscheidung von γνωριμωτέρον ήμΐν und τη φύσει handelt es sich keines-wegs um die Unterscheidung einer subjektiven von einer objektivenSph re oder einer Seinsordnung von einer Erkenntnisordnung: in denbeiden F llen handelt es sich vielmehr nur um verschiedene Wissens-formen, d.h. Weisen des Bekanntseins einer Sache, aber nicht um eineGegen berstellung von Wissen und Gewu tem oder um einen ontologi-schen Dualismus. berhaupt hat jene Unterscheidung keine Bedeutung,die ber den jeweiligen konkreten Problemzusammenhang hinausweisenw rde.

Man kann sich dieses Verh ltnis am besten am Beispiel der Argumen-tationsstruktur klarmachen: argumentiert man zugunsten einer bestimmtenThese, so hat man zwei verschiedene Weisen von Bekanntheit. Die zu-n chst aufgestellte These ist dasjenige, was f r uns bekannter ist; dieArgumente jedoch, mit denen ich sie plausibel zu machen suche, m ssenebenfalls bekannt und plausibel sein, aber doch in einer anderen Weiseals die These selbst. Ganz hnlich ist es hier bei der Prinzipienforschung:dasjenige, was uns zun chst bekannt ist, wird als solches durch etwasanderes begr ndet — nicht umgekehrt. Gerade deshalb wird dem Begr n-denden — den Prinzipien — ein noch h herer Grad von Bekanntheit, wennauch anderer Art, zugesprochen.

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Was an dem Erkenntnisweg vom uns Bekannteren zu dem von Naturaus Bekannteren, den Aristoteles hier skizziert, besonders auff llt, ist dieTatsache, da es gerade kein Weg vom Nichtwissen zum Wissen ist, son-dern eine Bewegung innerhalb verschiedener Wissensformen. Das bedeutetaber, da keine Erkenntnis schlechthin von vorne anfangen kann, auch diePrinzipienforschung nicht. Jede Einsicht mu vielmehr immer schon an et-was Bekanntes ankn pfen k nnen, d. h. jede Erkenntnis setzt etwas voraus,hinter das sie nicht zur ckfragen kann. Wir nennen dies mit einem Aus-druck unserer Tage das Vorverst ndnis. In einem ganz hnlichen Sinne hei tes zu Beginn der zweiten Analytiken: πασά διδασκαλία καΐ πάσα μάϋησιςδιανοητική εκ προϋπαρχούσης γίνεται γνώσεως (An. post. A 1, 71 a.l). Und inder ber hmten Platonkritik Met. A 9 ist das Faktum eines bei jeder Er-kenntnis schon vorausgesetzten und niemals zu berspringenden Vor-wissens ein wichtiges Argument gegen die Platonische Konzeption einerUniversalwissenschaft (992 b 29 ff.). Wissen und Einsicht ist nach Aristo-teles gerade im Gegenteil nur in dieser seiner Beschr nkung m glich. Nacheinem „an sich" Bekannteren zu fragen hat erst auf dieser Grundlage Sinn.

Man kann sich nun fragen, wie die merkw rdige und vielleicht sogaretwas irref hrende Bezeichnung des „an sich" oder „von Natur aus" Be-kannteren eigentlich zustande kommt. Eine wichtige Rolle d rfte in diesemZusammenhang der αργός λόγος der Spphistik spielen, der aus der Tat-sache, da man das, wonach man fragt, immer schon gewisserma en ken-nen mu , den Schlu zieht, da es gar kein wirkliches Erkennen gebenkann. Platons Anamnesislehre war ein erster Versuch einer Entgegnungauf diese Lehre. Aristoteles lehnt zwar Platons Anamnesislehre als nurmythische Erkl rung ab, aber er bleibt in der Tat Platon darin verpflichtet,da er den Erkenntnisproze als einen Weg innerhalb des Wissens, wennauch als Weg von einem latenten und unausdr cklichen zu einem aus-dr cklichen Wissen auffa t — und damit dem sophistischen Argument in-sofern relative Berechtigung zuerkennt, als er selbst, wie auch Platon, aufdie Auffassung des Erkennens als eines Weges vom puren Nichtwissenzum vollen Wissen verzichtet.

Immerhin, die Schwierigkeit der Prinzipienforschung wird durch denEuphemismus des „von Natur aus" Bekannteren zun chst einmal verdeckt.Und das ist um so weniger ein Zufall, als es sich hier um ein urspr ng-lich protreptiscfaes Motiv handelt. Die Unterscheidung der beiden Bekannt-heitsweisen wird bereits im Aristotelischen Protreptikos vorbereitet (vgl.Frg. 5 ROSS). Es ist eine feste Regel der Protreptik, nach der sie das jenige,wozu sie ermahnt, als leicht erreichbar hinstellt; diese Regel ist jedenfallsbefolgt, wenn man den Gegenstand der schwierigsten philosophischen Un-tersuchungen als das von Natur aus Bekannteste ausgibt. Gut pa t indiesen Zusammenhang auch das der Protreptik noch sehr nahestehendeKapitel Met α l, wo Aristoteles gerade aus dem Faktum des Vorverst nd-nisses („jeder wei irgend etwas ber die Natur der Dinge zu sagen41,vgl. 993 b l ff.) die Leichtigkeit der Wahrheitsforsdmng begr ndet.

Das „von Natur aus11 Bekanntere, zu dem die Prinzipienforschungschlie lich hinf hrt, umfa t nun aber oft sehr triviale und einfache Dinge— insofern scheint die angebliche Leichtigkeit von der Wanrheitsforsdiung

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auf den ersten Blick zu Redit behauptet zu werden. Doch es handelt sichhier meist um Dinge, die uns zu selbstverst ndlich sind, als da wir unsber sie in der Regel berhaupt Rechenschaft geben w rden. ber die-

jenigen unserer Voraussetzungen, die uns am selbstverst ndlichsten sind,wissen wir ausdr cklich zun chst und zumeist gar nichts. Auch hier wiederbietet die Diskussionspraxis das anschaulichste Beispiel: Die Gr nde f reine These m ssen einleuchtender sein als diese These selbst. Der Gegnersoll jedoch von diesen Gr nden vorher noch kein reflektiertes Wissenhaben..

Wie ist nun aber der Ausgangspunkt des Erkennens, das f r uns Be-kanntere beschaffen? Aristoteles formuliert: %<w δ* ήμΐν το πρώτον δήλα καΐσαφή τα συγκεχυμένα μάλλον · ύστερον δ' εκ τούτων γίνεται γνώριμα τα στοιχεία καιαϊ άρχαΐ διαιροΰσι ταύτα. (184 a 21-23). Wir m ssen von einem „Zusammen-gegossenen" und Undifferenzierten ausgehen; zur Erkenntnis gelangenwir nicht, indem wir dieses undifferenzierte Vorwissen blo bersteigen,sondern dadurch, da wir es in seine Momente und Bestandteile auf-gliedern. Aristoteles bezeichnet diesen Ausgangspunkt auch als καθόλου(184 a 23), von dem aus man zu den Momenten, den καθ' Εκαστα zu gehenhabe, καθόλου bezeichnet hier nat rlich kein Allgemeines im Sinne einerGattung, 'sondern ein Allgemeines im Sinne des Unbestimmten, das nochnicht in seine Momente differenziert ist. Die beiden Aristotelischen Bei-spiele zeigen das deutlich. Aristoteles nennt zuerst den Kreis, von demwir, wenn wir ber ihn eine beliebige Aussage machen, schon immer einegewisse Kenntnis haben. Aber erst wenn wir seine Definition angeben undihn damit in seine logischen Bestandteile zergliedern, haben wir ein aus-dr ckliches Wissen von dem, was wir meinen, wenn wir von einem Kreissprechen. In der gew hnlichen Aussage nehmen wir die W rter immer nurin einem ungef hren und undifferenzierten Verst ndnis auf. Die wissen-schaftliche Erkenntnis will nur dasjenige, weis unreflektiert sdion immervorliegt, in die Ausdr cklichkeit heben. — Das zweite — brigens ur-spr nglich protreptische (vgl. Frg. 17 ROSS) — Beispiel nennt die Kinder,die zuerst alle M nner „Vater11 und edle Frauen „Mutter" nennen und erstsp ter diese zun chst noch unbestimmten Vorstellungen zu differenzierenlernen. —

Man kann diese Methode der Prinzipienerkenntnis eine induktive Me-thode nennen — wenn man sich bewu t bleibt, da Induktion nicht nur einAnsammeln und Abstrahieren von Einzelfakten bedeutet. Die Induktionkann vielmehr von einem einzelnen Beispiel ausgehen, an dem sie dieAllgemeinheitsibestimmungen abliest. Doch der Unterschied zwischen All-gemeinem und Einzelnem ist .selbst bereits ein Produkt der Reflexion,Jenes Unbestimmt-Allgemeine, von dem die Piinzipienuntersuchung aus-geht, von dem die Erkenntnis ausgehen mu , tr gt noch beide M glich-keiten in sich8). Die Begrifflichkeit von δύναμις und ενέργεια bietet — ahn-

*) Eine interessante Parallele hierzu ist das καθόλου in der Dichtung. F r Ari-stoteles ist die Dichtung deswegen philosophischer als die Historie, weil sie imGegensatz zu dieser mehr auf das Allgemeine geht, vgl. Poet. 9, 1451 a 20. Diesesκαθόλου ist ebenfalls ean sch nes Beispiel f r eine Allgemeinheit, die nicht nur Gat-tungsallgemeinheit ist. Denn die Dichtung stellt ja zun chst enmal ganz indivi-duelle F lle, oft sogar von h chst extremer Natur dar. Da es individuelle Be-

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,lich wie in manchen anderen Fällen — auch hier die eleganteste Lösung:Die Erkenntnis bezieht 'sich zwar der Möglichkeit nach ( ) immer aufetwas Allgemeines, der Wirklichkeit nach ( ) ist sie aber immerauf etwas Konkretes und Bestimmtes bezogen (Met. M 10, 1087 a 15 ff.).

Die Prinzipienforschung des ersten Physikbuches führt das im Ein-leitungskapitel skizzierte Programm durch. In der Tat unternimmt Aristo-teles in diesem Zusammenhang nichts anderes als eine Untersuchung des-sen, was wir schon immer vorausgesetzt haben, wenn wir von natürlichenDingen und Geschehnissen sprechen. Dieses Vorverständnis hat zwei ver-schiedene Quellen: zunächst gehört alles dasjenige dazu, was über den inFrage stehenden Gegenstand schon von anderen gesagt worden ist; dannaber gehören dazu auch diejenigen Strukturen, die wir schon dadurchübernehmen, daß wir in einer bestimmten Sprache reden.

Von hier (aus wird deutlich, warum in der Aristotelischen Philosophie derBericht über die Lehren der Vorgänger und die Auseinandersetzung mitihnen »einen so breiten Raum einnimmt. Diese Kritik ist nicht nur von pro-pädeutischem oder, historischem Interesse, sondern sie gehört schon zursachlichen Untersuchung selbst. Für Aristoteles sind die Vorgänger nichtnur Gegenstand der Forschung, sondern' zugleich auch Partner einer Aus-einandersetzung. Nun ist es bezeichnend, daß Aristoteles seine Vorgängergerade nicht mit einer eigenen bereits ausgebildeten philosophischen Posi-tion konfrontiert. Den Maßstab für ihre Beurteilung bildet einzig und alleinihr eigener Anspruch. Geprüft wird bei dem jeweiligen Vorgänger, obseine Lehre das -erreicht, was sie von sich aus zu erreichen beansprucht.Hier läßt sich bereits eine hinsichtlich des Prinzipienproblems wichtige Be-obachtung machen: den Vorgängern wird nämlich, wenn sie kritisiert wer-den, in der Regel nicht vorgeworfen, daß sie falsche Prinzipien angenom-men hätten, sondern nur, daß sie von ihren Prinzipien keinen, bzw. keinenangemessenen, Gebrauch machen. Das bedeutet aber, daß sich ein Prinzipallein danach beurteilen läßt, was es faktisch leistet, wenn man mit ihm einenSachverhalt zu begründen versucht. In eine ähnliche Richtung zielt derVorwurf, der gegen einige Vorgänger erhoben wird, sie hätten selbstnicht eigentlich gewußt, was sie sagten (vgl. z.B. Met. A4, 985a 16, K5,1062 a 35). Daran wird die Eigenart der Stellung, die Aristoteles der philo-sophischen Tradition gegenüber hat, deutlich: er will dasjenige in die Aus-drücklichkeit heben, was in der Tradition schon latent vorhanden undwirksam ist. So stellt er den Prinzipien, die seine Vorgänger angenommenhaben, nicht einfach neue und andere Prinzipien entgegen, sondern erfragt im Blick auf die Lehren der Vorgänger nach dem Sinn, in dem manüberhaupt von Prinzipien sprechen kann.

Die Lehren der Vorgänger sind die eine Grundlage der AristotelischenPrinzipienforschung, die Analyse der Sprachfunktionen die andere. Geradegebnisse sind, hat die Historie mit der Poesie gemeinsam. Was die Poesiegegenüber der Historie auszeichnet, ist allein die Tatsache, daß sie die indivi-duellen Begebnisse von vornherein zugleich als Repräsentationen, allgemeingül-tiger Wahrheiten auffaßt.

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in unserer allt glichen Sprache ben tzen wir ja immer schon eine F lle vonkategorialen Strukturen. Auch sie geh ren zu dem Vorverst ndnis, dasman in jeder sad ialtigen Untersuchung voraussetzen mu . Die Aufgabeder Prinzipienforschung ist es nun, dieses unausdr ckliche Wissen um diesprachlichen Strukturen, die uns zun chst immer viel zu selbstverst ndlichsind, als da wir von ihnen ein gegenst ndliches Wissen haben k nnten,in die Ausdr cklichkeit zu heben und begrifflich zu fixieren. Aristotelesf hrt im ersten Physikbudi in dem zentralen 7. Kapitel diese Untersuchungdurch, nachdem die Pr fung der Lehren der Vorl ufer abgeschlossen ist.Man ist zun chst geneigt, zu vermuten, Aristoteles lese hier gewisse sach-liche Strukturen an entsprechenden sprachlichen Strukturen ab. Doch es istzun chst berraschend, wenn man feststellt, da ein solches Entsprechungs-gef ge zwischen sprachlicher und sachlicher Sph re bei Aristoteles garnicht vorliegt. In der ganzen Untersuchung verl t er niemals den Bereichder Analyse sprachlicher Ausdrucksformen*). Man mag das als edn un-kritisches Vorgehen verurteilen, aber man mu doch daran denken, da esf r Aristoteles einen sprachfreien Sachbereich berhaupt nicht gibt5), iW re es anders, so lie e sich kaum erkl ren, da Aristoteles (wie auch ]Platon) keiner im engeren Sinn erkeiuitnistheoretischen Fundierung seiner UPhilosophie bedarf: Nicht -die Frage nach der M glichkeit der Wahrheit,sondern die Frage nach der M glichkeit des Irrtums steht f r Aristoteleswie f r Platon im Mittelpunkt des Interesses.

Die Untersuchung der Prinzipien der bewegten Welt in Phys. A 7 gehtnun so vor sich, da Aristoteles die verschiedenen Weisen, in denen manvom Werden spricht6), nebeneinanderstellt und vergleicht. Es sind nurganz wenige Beispiele, die die Untersuchung benutzt: Man kann sagen, -einNichtgebildeter werde ein Gebildeter; ein nichtgebildeter Mensch werdeein gebildeter Mensch; ein Mensch werde gebildet. Au erdem kann mansagen, aus einem Nichtgebildeten (Menschen) werde ein Gebildeter(Mensch), aber nicht, aus einem Menschen werde ein Gebildeter; umge-kehrt kann man sagen, aus Erz werde eine Statue; aber nicht, das Erzwerde -eine Statue. Wir haben also zwei Formen, in denen wir vom Wer-den sprechen: etwas wird etwas anderes, und: etwas wird aus etwasanderem. Dazu kommt noch eine dritte Form; in ihr sprechen wir voneinem Werden schlechthin, d. h. ohne n here Bestimmung (γίγνεσθαι απλώςim Deutschen »am besten mit „entstehen" wiederzugeben): es entsteht einMensch, es entsteht eine Statue. Was sich bei der vergleichenden Analysedieser Sprachstrukturen, der wir hier nicht in den Einzelheiten nachgehen

4) Vgl. hierzu auch die vor allem im Methodischen wegweisende Arbeit vonC. Arpe, Das τί ην είναι bei Aristoteles, Hamburg 1938, wo der Verfasser S. 54als den Sinn der Aristotelischen Philosophie herausstellt: „dar ber denken, wiedie Dinge sein k nnten, um sie dann sein zu lassen, wie wir sie uns denken".

*) Man kann dies an dem st ndig wiederkehrenden λέγομεν sehen, mit dessenAnalyse Aristoteles die inhaltlichen Untersuchungen gerne beginnt. Dieser Bereichdes λόγος ist dem Bereich des είναι nicht etwa entgegengesetzt: είναι undλέγεσθαι sind weitgehend Wechselbegriffe; auch mit dem είναι ist eine sprachlicheStruktur ausgesprochen, wie neben vielen anderen besonders deutlich die StellenPhys. A 3, 186 a 28 ff.; E 5f 229 a 16 ff. zeigen.e) Vgl. 190 a 14:... εάν τις επίβλεψη ώσπερ λέγομεν»

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-wollen, am Ende ergibt, ist nichts .anderes als die bekannte Prinzipien-dreiheit von ύλη, μορφή (bzw. είδος) und στέρησις mit der sich alle Beispieleinterpretieren lassen7).

Wie sehr die ganze Prinzipienlehre der Physik den Gegebenheiten dernat rlichen Sprache verpflichtet bleibt, zeigt sich auch darin, da sie amProblem des Werdens von konkreten Dingen orientiert bleibt; sie ist nurunter der Voraussetzung verst ndlich, da es immer ein Ding ist, das(oder aus dem) ein anderes Ding wird. Die Annahme eines Substrates, dassich dadurch ver ndert, da an ihm nur die Bestimmungen wechseln, magin manchen F llen eine n tzliche Abstraktion sein. Sie ist aber nicht aristo-telisch, und das in der Sprache liegende Vorverst ndnis, das immer einWerden von Dingen im Auge hat, kann durch diese Abstraktion nicht gutexpliziert werden8).

. , IVWas folgt aus dem Gesagten f r das Wesen der Aristotelischen Prin-

zipien, und was ist berhaupt der Sinn der Prinzipienforschung? Die Prin-zipienforschung hat zun chst einmal nicht den Sinn, zu einer Position zuf hren, von der aus sich alles Konkrete einfach ableiten lie e. So sicheres ist, da jede wirkliche Erkenntnis einer Sache Erkenntnis aus Prin-zipien ist, so sicher ist es auch, da die allgemeine Prinzipienforschung,wie sie beispielsweise im ersten Physikbuch durchgef hrt wird, noch nichtausreicht, wenn man von einer bestimmten Sache wissenschaftliche Er-kenntnis, d. h. Erkenntnis aus Prinzipien erlangen will. Dies h ngt damitzusammen, da die Prinzipien, wie es Aristoteles im Binleitungskapitelvon de anima einmal begr ndet, nicht berall dieselben sind; der Weg zuihnen sei in jedem Fall immer wieder aufs neue zu suchen (402 a 13 f.).

Im zweiten Kapitel des ersten Physikbuches formuliert Aristoteles ein-mal im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit dem eleatischen Mo-nismus den Grundsatz, da jedes Prinzip notwendigerweise ein Prinzipvon etwas ist: η ϊ«ρ αρχή τινός ή τινών (185 a 4). Dies bedeutet, da diePrinzipien f r Aristoteles niemals etwas Selbst ndiges sind, sondern alssolche immer schon auf das Prinzipiierte verweisen, dessen Momente siedarstellen. Die Platonkritik, die sidi durch das gesamte Werk des Aristo-teles zieht, beruht zu einem guten Teil auf dem Gedanken, da die Ideen

7) Hierbei ist es lehrreich zu sehen, wie der Begriff δλη erst allm hlich imLaufe dieser Untersuchung zum philosophischen Fachterminus gepr gt wird; zu-n chst ist ύλη nur ein besonders n tzliches Beispiel f r eines der Prinzipien, dieAristoteles beschreiben will.8) Die sprachliche Grundlage der Prinzipienanalyse macht auch verst ndlich,warum Aristoteles die Bereiche von φύσις und τέχνη gegenseitig auseinander er-kl ren kann: Da sich die τέχνη am Leitfaden der φύσις erkl ren l t, folgt nichtaus irgendwelchen geheimnisvollen und verborgenen Eigenschaften der Natur,sondern zun chst einmal nur aus der Tatsache, da die Sprache, wenn sie vomWerden von Dingen redet, grunds tzlich keinen Unterschied zwischen dem Werdenvon Artefakten — die f r die nat rliche Einstellung im Vordergrund stehen —und dem Werden nat rlicher Dinge macht Das vielverhandelte und oft ange-feindete Teleologieprinzip der Aristotelischen Physik verliert unter diesem Aspektden Hintersinn, den man blicherweise mit ihm verbindet. In der Naturphilosophiehat das Teleologieprinzip bei Aristoteles kaum einen gr eren Anwendungs-bereich als bei Kant.

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Platons die von ihnen verlangte Begriindungsfunktion schon deshalb nichtleisten k nnen, weil sie gar keine echten Prinzipien mehr sind, sondernselbst wieder zu selbst ndigen Dingen hypostasiert werden; zwar zuDingen, die auf einer h heren Seinsstufe stehen als diejenigen, f r die siedie Grundlage bieten sollen, aber gleichwohl doch Dinge bleiben, die ihrer-seits selbst wieder einer Prinzipienanalyse bed rften.

Dies wird durch die Tatsache verst ndlich, da es in der AristotelischenPhilosophie darum geht, ein gegebenes Konkretum in seine Prinzipien zuanalysieren und nicht darum, aus gegebenen Prinzipien ein Konkretumaufzubauen. Die Prinzipien stehen am Ende, nicht am Anfang der Unter-suchung. Der Sinn der Forschung liegt in der Aufdeckung von Voraus-setzungen, die man zwar gemacht hat, um die man aber nicht ausdr cklichwei , und nicht in der formalen Ableitung aus gegebenen Vorausset-zungen9). Damit h ngt es auch zusammen, da Aristoteles eine Vielheitvon Prinzipiensystemen kennt, die unverbunden nebeneinanderstehen 10)und nicht noch einmal auf ein gemeinsames Uberprinzip zur ckgef hrtwerden k nnen (man denke an ύλη — είδος — στέρησις; δύναμις — ενέργεια;die Kategorieneinteilung, die Vierursachenlehre). So best tigt sich hier,was man schon aus Aristoteles' Vorg ngerkritik ersehen kann: das eigent-liche Kriterium f r die Berechtigung, ein bestimmtes Prinzip anzunehmen,liegt nur darin, ob (das Prinzip die von ihm verlangte Begr ndung auchwirklich leistet: Nur aus den Konsequenzen l t sich ersehen, ob die Vor-aussetzungen richtig waren, wie es in der Topik (Θ 14, 163b9) hei t.

Was bedeutet es -aber dann, wenn Aristoteles betont, da die Prinzipiennur durch sich selbst erkennbar sind? Damit'will er keiner unmittelbar-intuitiven Prinzipienerkenntnis dias Wort reden, sondern zun chst nur ein-mal sagen, da die Prinzipien nicht selbst wieder (wie.die Dinge, derenPrinzipien sie sind), aus etwas anderem erkannt, werden. Es gibt keinPrinzip der Prinzipien. Man kann wohl zu den Prinzipien hinf hren, mankann sie aber niemals ableiten. Sie sind „evident11 h chstens in dem Sinne,da gegen sie, wenn sie einmal entdeckt sind, kein Widerspruch mehr ge-funden werden kann. Trotzdem ist es in der Regel ein beschwerlicher Weg,der zu ihrer Auffindung f hrt. Sie werden durch sich selbst erkannt, weilsie als solche schon immer auf dasjenige verweisen, dessen Prinzipien siesind, wie es eine sch ne Formulierung in den zweiten Analytiken nahe-legt ").

Die allgemeine Prinzipienforschung, die die Aufgabe der Philosophieist, kann indes immer nur ein Repertoire von Gesichtspunkten an die Hand

e) Dies ist f r den Bereich der formalen Logik bereits gezeigt worden vonE. Kapp: Greek Foundations of Traditional Logic. New York 1942;"Ders.: Art Syllogistik in Pauly-Wissowa REIVA (Sp. 1046-1067).

10) Dies zeigt sich auch daran, da die Prinzipiensysteme miteinander kombi-niert werden k nnen. Das eindrucksvollste Bespiel hierf r findet sich Phys. B 3(195 a 23 ff,), wo dadurch, da f nf solcher Systeme kaschiert werden, insgesamt64 Einteilungsgesichtspunkte m glich werden.u) Wir sprechen immer dann im Hinblick auf eine Sache von Wissen, wennwir ihre Ursache zu kennen glauben (όταν την τ* αιτίαν οΐώμεθα γινώσκειν δι' ην τοπράγμα εστίν) ; doch dies allein gen gt nicht: man mu zugleich wissen, da essich um die Ursache des in Frage stehenden Gegenstandes handelt (ότι εκείνουαίτια εστί 71 b 10 f.).

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geben, die dm konkreten Fall die jeweils vorliegenden Prinzipien auf-finden helfen. Wir nennen solche Gesichtspunkte mit einem neuzeitlichenAusdruck Reflexionsbegriffe12); die Aristotelische Philosophie läßt sich inder Tat als ein solches System von Reflexionsbegriffen widerspruchsfreideuten. So gibt es beispielsweise bei Aristoteles weder „die" Materie,noch „die" Form; beide Begriffe sind nur Hilfsmittel, im einzelnen Fall diejeweils sachhaltig noch näher zu bestimmenden entsprechenden Momenteeiner Sache zu unterscheiden. Die Einheit der Prinzipien ist immer nureine Einheit der Analogie — wie es die Kapitel 4 und 5 des zwölftenMetaphysikbudies ausführlich begründen.

Der Unterschied zwischen dem Aristotelischen Ansatz und dem seinerVorgänger besteht nicht so sehr in inhaltlichen Differenzen, sondern darin,daß Aristoteles das Prinzipienproblem dadurch auf eine neue Ebene stellt,daß er die Prinzipien nicht mehr wie selbständige Entitäten oder Wesens-mächte, sondern wie Reflexionsbegriffe behandelt, durch die man der Auf-gabe der konkreten Forschung im Einzelfall niemals enthoben wird. Die Prin-zipienforsdmng ist daher nicht mehr in dem Sinne Selbstzweck, in dem siees noch bei den Vorgängern war. Die Konsequenz aus diesem Faktum istbekannt: seit Aristoteles besteht eine Aufgabentrennung zwischen Wissen-schaft und Philosophie, die zwar aufeinander angewiesen bleiben, jedochgleichwohl relativ selbständig gegeneinander sind. Daß die Wissenschaftnur die Aufgabe habe, aus den von der Philosophie gefundenen oberstenGrundsätzen logische Konsequenzen zu ziehen, ist ein Mißverständnis, dassich in der Aristotelestradition wohl bald verbreitet hat, für das aberschwerlich Aristoteles selbst verantwortlich gemacht werden kann.

Die Tatsache, daß Aristoteles mehrere Prinzipiensysteme nebeneinanderverwendet, ist ebenso eine Bestätigung für ihren Charakter als Reflexions-begriffe, wie die Tatsache, daß es bei Aristoteles niemals ein, einzelnesPrinzip gibt: Prinzipien treten bei ihm immer in der Mehrzahl, meist paar-weise und immer in einer wechselseitigen Zuordnung auf. Sie haben somitmanches gemein mit den der rhetorisch-dialektischen Praxis: auchdiese sind nur formale Gesichtspunkte der Unterscheidung; sie sindselbst noch keine Argumente, sondern nur Hilfsmittel, in der konkretenSituation das treffende Argument zu finden. Die Beziehungen zwischender rhetorisch-dialektischen Praxis und der theoretischen Philosophie desAristoteles sind bislang noch unerforscht; doch gerade hier würde sicheine Möglichkeit bieten, die entwicklungsgeschichtliche und inhaltlicheBetrachtung der Aristotelischen Philosophie in einen sachlichen Zusam-menhang mit den biographischen Fakten zu bringen13)*.

Am deutlichsten vielleicht läßt sich das Gesagte am Begriff der Ma-terie ( ) verdeutlichen14). Dieser Begriff kommt bei Aristoteles in ganz

12) Reflexionsbegriffe gehen nicht auf Gegenstände selbst, sondern sind nurBedingungen, unter denen wir zu solchen Begriffen gelangen können. Vgl. KantKr.d.r.V. B 316.w) Vgl. hierzu meine Aufsätze: Aristoteles als Rhetoriker und das Problemder exoterisciien Schriften; Hermes Bd. 86 (1958), S. 323-346; Zur Problemgesdiiciiteder formalen Logik, Philosophische Rundschau Bd. 6 (1957), S. 70-93.

14) Zu diesem Problem vgl. jetzt insbesondere die Arbeit von G. Patzig: Be-merkungen über den Begriff der Form; Archiv für Philosophie IX (I960), S. 93-111,bes. 102 f.

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verschiedenartigen Bedeutungen vor, und es ist aussichtslos, zu einer ein-deutigen Auffassung der aristotelischen #λη zu kommen, wenn man in ihrmehr sehen will als einen Reflexionsbegriff. Da „die" Materie keine selb-st ndige Entit t ist, zeigt schon die Iterierbarkeit der ύλη — είδος -Rela-tion: was in der einen Hinsicht Material einer Form ist, kann in einer,anderen Hinsicht seinerseits wieder als Formung eines noch tiefer stehendenMaterials verstanden werden. Nun ist aber δλη nicht nur die Materie im Ge-gensatz zur Form: auch die Gattung (γένος) wird von Aristoteles gelegentlichals ύλη bezeichnet; diese Analogie ist m glich, weil ύλη (i.e. S.) wie auchγένος dasselbe Korrelat haben: n mlich das είδος, das f r beide (wennauch in verschiedener Hinsicht) die spezifische Bestimmtheit darstellt. Dieerste bzw. letzte Materie (πρώτη bzw. εσχάτη ΰλη)? also diejenige Materie,die selbst nicht mehr als Formung eines anderen Materials verstandenwerden darf, ist f r Aristoteles nur ein konsequent gedachter Grenzbegriff,der in seiner Philosophie keine wesentliche Rolle spielt (um so mehr aller-dings in der Aristotelestradition). berhaupt ist ja Aristoteles an den„h chsten" und „letzten" Prinzipien einer Sache wenig interessiert; worumes ihm vornehmlich geht, ist immer nur die jeweils n chste Ursache (vgl.Met. H 4; 1044 b 1) — was unverst ndlich w re, wenn seine Prinzipienmehr als Reflexionsbegriffe w ren.

Aristoteles kennt ferner noch eine nur gedankliche Materie (ύλη νοητή),,die es bei den Gegenst nden der Mathematik gibt. Schlie lich kann derMateriebegriff auch noch nach der Kategorieneinteilung differenziert wer-den: so haben beispielsweise die Gestirne nur Ortsmaterie (ύλη τοπική)rweil die Ortsbewegung die einzige Art der Ver nderung ist, der sie unter«worfen sind. Unter diesen Voraussetzungen ist es auch kein Zufall, daAristoteles ber die Materie niemals eine Aussage macht, die ber dashinausginge, was sich aus ihrem Charakter als Reflexionsbegriff ableitenl t. So kommen der Materie als solcher keine anderen Eigenschaften zuals diejenigen, die sich aus dem Faktum ergeben, da sie Materie vonetwas ist; vor allem kommt der Materie als solcher bei Aristoteles keinewie auch immer beschaffene Kraft zu, ebensowenig ein auf die Form ge-richtetes „Streben". Derartige Annahmen haben ihren Ursprung erst inder hellenistischen Philosophie. Materie (ύλη) ist immer nur Material eines,bestimmten einzelnen Dings; „die" Materie im Sinne einer Weltmaterie,eines allgemeinen beharrenden Substrates aller Ver nderungen findet sidibei Aristoteles nirgends.

VWenn Aristoteles bei der allgemeinen Prinzipienanalyse das in der

nat rlichen Sprache liegende Vorverst ndnis analysiert, so geht es ihmniemals um Inhaltliches, sondern immer nur um allgemeine formale undfunktionale Beziehungen. Am Wort ist Aristoteles, der nur selten Etymo-logie treibt, kaum interessiert15); um so mehr allerdings an den syntak-tischen Strukturen. Weil er diejenigen Sprachfunktionen analysiert, die

15) Vernachl ssigt man die Aussagestruktur zugunsten des isolierten Wortes,,wird die Sprache zur Fehlerquelle. Das sophistische κατ' ονόματα διώκειν beruhtauf dieser M glichkeit. Das neunte Buch der Topik (die sog. sophistischen Wider-legungen) bietet eine F lle von Bespielen hierf r.

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sowohl jeder wahren wie auch jeder falschen Aussage zugrunde liegen,bleibt die Frage nach der inhaltlichen Wahrheit im Rahmen der Prinzipien-analy.se unbeantwortet. Nun ist es f r das Verst ndnis der AristotelischenPhilosophie sehr lehrreich, zu sehen, wie die Mehrzahl seiner Grund-begriffe keine inhaltliche Bedeutung hat, sondern auf funktionale Ele-mente der Sprache zur ckgeht oder zumindest durch sie definiert wird.Die Thematisierung der Funktionalbegrifie ist eine f r Aristoteles inhohem Ma e eigent mliche Methode.

B. Snell hat in seinem Aufsatz Die naturwissenschaftliche Begritfsbil-dung im Griechischen16) gezeigt, wie die Abstraktionsleistung, die wesent-lich zu jeder Wissenschaft geh rt, bei den Griechen vor allem durch dieExistenz des bestimmten Artikels in der griechischen Sprache erm glicht ist,der es erlaubt, auch Eigenschaftsbegriffe (z. B. το αγαθόν, το δίκαιον, το θείον)zu vergegenst ndlichen. Die philosophische Entwicklung von den An-f ngen bis zu Platori zeigt ja auch eine immer st rkere Thematisierungder Eigenschaftsbegriffe. Auf diesem Wege der Abstraktion (den Snellnur bis zu Platon verfolgt hat) geht Aristoteles nun aber konsequenteinen weiteren Schritt, indem er nicht mehr nur Eigenschaftsbegriffe, son-dern auch (was vor ihm nicht in nennenswertem Umfang geschehen war)Funktionalbegriffe: «adverbiale, pronominale, pr positionale, konjunktionaleBildungen thematisiert.

Das sch nste Beispiel hierf r ist -wohl der Aristotelische Ausdruckτο τί ην είναι, der die Wesensbestimmung einer Sache bezeichnet. DieserAusdruck geht, wie Arpe glaubhaft gezeigt hat17), auf die Definitionsfragezur ck (z. B. τί ην άνθρώπφ άνθρώπω είναι; was bedeutet es f r den Men-schen, ein Mensch zu sein?). Aristoteles kommt nun auf eine sehr einfacheWeise zu seinem Prinzipienbegriff: er nimmt die formale Struktur derFrage unter Verzicht auf ihre nachhaltige Bestimmung und setzt davorden Artikel.

Die Frage nach dem Prinzipienbegriff beantwortet er also nicht inhalt-lich: an Stelle einer inhaltlichen Antwort l t er es bei der Thematisierungder auf sie gerichteten Fragestruktur bewenden. Ganz hnlich verh lt essich bei den durch Thematisierung von Interrogativpronomina ent-standenen Kategorialbegriffen το ποσόν, ποιόν, προς τι, που usw. Auch adver-biale, konjunktionale oder pr positionale Funktionen kann Aristotelesvergegenst ndlichen: es sei nur an die Unterscheidung von το δτι undτο διότι (vgl. An. post. B 1; 89 b 24) erinnert, an den merkw rdigen Ok-kasionalbegriff το τόδε τι, oder an die Bestimmung des Zweckes alsτο ου ?νεκα. Auch der Begriff des Prinzips selbst wird funktional erkl rt:πασών μεν ουν κοινόν των άρχων το πρώτον είναι όθεν ή 2στιν ή γίγνεται ή γιγνώσκεται(Met. Δ 1, 1013 a 17). Worauf es hier ankommt, ist weniger die Dreiheitvon Sein, Werden und Erkennen, sondern die Tatsache, da es eine inallen diesen Bereichen -analoge tormale Struktur des „ersten Woher" (toπρώτων δθεν) gibt, durch die der Prinzipienbegriff bestimmt ist. Die wich-tige Rolle, die die πολλαχώς λεγόμενα im Denken des Aristoteles spielen,ist gerade daraus zu verstehen, da durch die Einheit einer Formalstruktur

1β) In: Die Entdeckung des Geistes, 3. Aufl. Hamburg 1955, S. 299-319.17J Vgl. die in Anm. 4 zitierte Arbeit.

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eine Mehrzahl homonymer spekulativer Begriffe zusammengehalten wird,·so kommen beispielsweise die vier Ursachen darin überein, daß ihnenallen die formale Fragestruktur des zugrunde liegt. .

Die Eigenart von Stil und Sprache des Aristoteles wird von hier ausverständlich: Aristoteles kommt mit einem verhältnismäßig geringenWortschatz aus und verwendet nur sehr sparsam Metaphern. Sein Stilwird sehr zu Unrecht gelegentlich als schlechtes Griechisch deklariert. Eshandelt sich hier freilich nicht um ein Griechisch der Umgangssprache oderder gehobenen poetischen Sprache. Und doch finden sich in der Sprachedes Aristoteles keine Elemente, die nicht auch im Bereich der Umgangs-sprache vorkommen könnten. Aristoteles entdeckt nur eine neue extremeund kaum wiederholbare Möglichkeit, die im Griechischen schon angelegtist, wenn er versucht, den strukturalen Gehalt jener Umgangssprache zuanalysieren, thematisch zu machen und damit dasjenige, was bei allemSprechen sonst immer unausdrücklich bleibt, in die Ausdrüddichkeit zuheben. *

VIUnsere Deutung der Aristotelischen Prinzipienlehre als Analyse der in

Überlieferung und Sprache liegenden Voraussetzungen, die ein gleichsamempirisches Apriori alles Erkennens darstellen und in jeder sachhaltigenAussage schon vorausgesetzt sind, impliziert nicht, daß die AristotelischePhilosophie in ihrem Kern Sprachphilosophie wäre. Denn die Sprache ist beiAristoteles nicht .einfach ein beliebiger Gegenstand, über den ebenso wie überandere Gegenstände Untersuchungen angestellt werden könnten. Wenn Ari-stoteles Sprachstrukturen analysiert, dann muß er sie nicht noch in Beziehungsetzen zu ontologischen Strukturen der realen Welt. Aristoteles treibtkeine Grammatik wie die alte Stoa, weil er die Sprache als solche nochnicht verdinglicht: eine Sprachanalyse ist unmittelbar und als solche zu-gleich -eine Analyse 'allgemeinster gegenständlicher Strukturen, die fürkonkrete Untersuchungen nur einen Leitfaden abgeben können.

Die Prinzipien haben so freilich bei Aristoteles ihren archaischen Glanzverloren, und wer von der Philosophie eine Letztbegründung alles Wis-sens verlangt, wird bei Aristoteles wenig Hilfe finden können: nicht des-wegen, weil Aristoteles die Frage nach der Letztbegründung einfachversäumt hätte, sondern weil sie unter den Voraussetzungen und bei derFragestellung einer der Analyse von Reflexionsbegriffen zugewandtenPrinzipienforschung (anders als beim syllogistischen System) gar nichtauftauchen kann. Reflexionsbegriffe bedürfen keiner Letztbegründung.

Der Vorwurf der Trivialität, mit dem man die Aristotelische Philo-sophie gerne glaubt angreifen zu können, stößt dann allerdings ins Leere.Denn diese Trivialitäten, an denen in der Tat die Aristotelischen Lehr-schriften so reich sind, beruhen keineswegs auf einem Zufall. Die Analyseder Voraussetzungen alles Forschens zwingt ja gerade dazu, alle die-jenigen Trivialitäten einmal zur Sprache zu bringen, die in jeder konkretenErörterung vorausgesetzt werden, deren wir uns aber in der Regel garnicht ausdrücklich bewußt sind. Sie erscheinen trivial, sobald sie einmalausgesprochen sind; doch das Auffinden von Trivialitäten ist ein rechtwenig triviales Unternehmen.

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Es mag merkwürdig erscheinen, daß gerade der angebliche „Realist"Aristoteles wie kaum ein anderer Denker ein Philosoph des Logos ist.Doch zum „Realisten" wurde Aristoteles erst in der sich auf ihn berufen-den Tradition, die seine ursprüngliche Fragerichtun/g umkehrte, damit zu-gleich die Prinzipien, aus denen das Seiende nun „aufgebaut41 werdensollte, zu realen, wenngleich unselbständigen Entitäten vergegenständ-lichte und dort metaphysischen Tiefsinn zu sehen vermeinte, wo Aristo-teles selbst nur den Inhalt der natürlichen Erfahrung auf Begriffe brachte.Doch es scheint mir eine gerade auch im Hinblick auf die philosophischenFragen unserer Gegenwart dringliche Aufgabe der Forschung zu sein, denhistorischen Aristoteles hinter den Vorurteilen seiner Tradition (die tieferreichen, als man gewöhnlich zugeben mag) wieder sichtbar zu machen.

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