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Fridas Weg Das Stück: Frida, eine Kunststudentin mit Handicap, baut mit ihrem Freund Jannis ihre erste Ausstellung auf. Nicht nur Provokationen ihrer jüngeren Schwester Karla und die unerwartete Entdeckung mit der Verstrickung ihres Großvaters in die Kindereuthanasie der NS-Zeit lassen sie an ihrem Vorhaben zweifeln. Auch Janis ambivalente Haltung zur modernen Reproduktionsmedizin stiftet Verwirrung. Schmerzlich realisiert Frida, dass die gegenwärtige gesellschaftliche Realität mit einigen unsichtbaren Barrieren aufwartet, die schwierig zu überwinden sind. Die Inszenierung will zur aktuellen Dis- kussion über Inklusion und Wert und Verwertbarkeit von Leben beitragen. Regie: Dorothea Derben Text: Thea Brende Schauspiel: Eva Maria Balkenhol, Mosa Anna Esse, Thomas Hof Dramaturgie/ Organisation/ Theaterpädagogik: Petra Bensaid Regieassistenz/ Organisation/ Technik: Thomas Heppel Bühnenbild: Lilly Stehling und Theaterwerkstatt Göttingen Design Plakat/Flyer/Programm: Anke Dominik-Unruh Skulpturen: Tobi Schnaubelt, Anna Möllenkamp Zeichnungen von Annegret: Elisa Heppel Coaching Darstellung Handicap Frida/ Annegret: Beate Kühnhold Musik: Alexander Derben Wir bedanken uns herzlich bei unseren Förderern und allen, die zur Umsetzung der Produktion „Fridas Weg“ beigetragen haben. Besonderen Dank gilt Birgit Moritz und Wolfgang Gieße (Friedhofsverwaltung Stadt Göttingen), Göttinger Verschönerungsverein e.V., Katharina Bauer (Künstlerin), Erhard Meyer (Alsklepios Fachklinik, Krankenhausmuseum), Gerda Engelbracht (Kulturwisschenschaftlerin), Christian Eichler (Lichttechnik), DOMINO e.V. (Lichttechnik, Organisation, Logistik), Frauke Klinge (Geschichtwerkstatt Göttingen), Agnieszka Zimowska (DGB- Jugend), Maike Gallwitz (Tanzpädagogin), Gerhard Wittkugel, Kathrin Muhs-Braun, Sigrid Städtler, Manuela Angerstein und den Schüler/innen der 10. Klasse (Paul-Gerhard-Schule Dassel), Sebastian Bidlingmaier, Iva Vodickova, Lore von Rappard, Dagmar Schulz (GDA Wohnstift Göt- tingen), DT, Bühnenmeisterei, Brunhilde Neumann, Christoph Buchfink, Cristiane Müller-Schulte, Marc Wischnowsky, Annabell Leip, musa Göttingen, Tina Fibiger, Sabine Weippert, Steffi Deinert, Clemens Riedel, fab e.V, Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter, Kassel, Anja Faust, Ralph Schumann (möbelino).Gedankt sei all denjenigen, die in den vergangenen Jahren zur Aufarbeitung der Kindereuthanasie beigetragen haben, so dass uns umfangreiches Material zur Verfügung stand.Bei Freund/innen, Kolleg/innen und Fachleuten wollen wir uns für die Ermutigung bedanken, uns den historischen Tatsachen immer wieder zu stellen. Theaterwerkstatt Göttingen – ein Freies Theater Die Theaterwerkstatt Göttingen ist ein Freies Theater, das seit seiner Gründung 1998 als professionelles Schauspielensemble mobiles Kinder- und Jugendtheater erschafft und aufführt. Ihre Stücke sind eine sensible, gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit der Welt von Kindern und Jugendlichen. Sie erzählen von Autonomiestreben und Anpas- sungsdruck, von Kollision mit der erwachsenen Generation und Sehnsucht nach Zu- gehörigkeit. Die Sicht der jungen Protagonisten spiegelnd, geben sie ihren existentiellen Fragen, Zweifeln und Träumen Sprache und Bühne. Die Inszenierungen basieren auf der intensiven Recherche eines Themas und auf der Improvisation der Ideen aller Beteiligten, wobei das Experiment mit unterschiedlichen Formaten und Spielweisen wichtig ist. Nachbesprechungen mit theaterpädagogischer Begleitung sind fester Bestandteil des Aufführungsangebots. Impressum V.S.d.P.: Theaterwerkstatt Göttingen, Am Feuerschanzengraben 20, 37083 Göttingen www.theaterwerkstatt-goettingen.de Gestaltung: www.designconcept-kiel.de, Fotos: D. Derben Föderer::

Das Stück : Frida, eine Kunststudentin mit Handicap, baut ... · F r i d a s W e g Das Stück: Frida, eine Kunststudentin mit Handicap, baut mit ihrem Freund Jannis ihre erste Ausstellung

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Fridas WegDas Stück: Frida, eine Kunststudentin mit Handicap, baut mit ihrem Freund Jannis ihreerste Ausstellung auf. Nicht nur Provokationen ihrer jüngeren Schwester Karla und dieunerwartete Entdeckung mit der Verstrickung ihres Großvaters in die Kindereuthanasieder NS-Zeit lassen sie an ihrem Vorhaben zweifeln. Auch Janis ambivalente Haltungzur modernen Reproduktionsmedizin stiftet Verwirrung. Schmerzlich realisiert Frida,dass die gegenwärtige gesellschaftliche Realität mit einigen unsichtbaren Barrierenaufwartet, die schwierig zu überwinden sind. Die Inszenierung will zur aktuellen Dis-kussion über Inklusion und Wert und Verwertbarkeit von Leben beitragen.

Regie: Dorothea DerbenText: Thea BrendeSchauspiel: Eva Maria Balkenhol, Mosa Anna Esse, Thomas Hof Dramaturgie/ Organisation/ Theaterpädagogik: Petra BensaidRegieassistenz/ Organisation/ Technik: Thomas HeppelBühnenbild: Lilly Stehling und Theaterwerkstatt Göttingen Design Plakat/Flyer/Programm: Anke Dominik-UnruhSkulpturen: Tobi Schnaubelt, Anna Möllenkamp Zeichnungen von Annegret: Elisa HeppelCoaching Darstellung Handicap Frida/ Annegret: Beate KühnholdMusik: Alexander Derben

Wir bedanken uns herzlich bei unseren Förderern und allen, die zur Umsetzung der Produktion „Fridas Weg“ beigetragen haben. BesonderenDank gilt Birgit Moritz und Wolfgang Gieße (Friedhofsverwaltung Stadt Göttingen), Göttinger Verschönerungsverein e.V., Katharina Bauer(Künstlerin), Erhard Meyer (Alsklepios Fachklinik, Krankenhausmuseum), Gerda Engelbracht (Kulturwisschenschaftlerin), Christian Eichler(Lichttechnik), DOMINO e.V. (Lichttechnik, Organisation, Logistik), Frauke Klinge (Geschichtwerkstatt Göttingen), Agnieszka Zimowska (DGB-Jugend), Maike Gallwitz (Tanzpädagogin), Gerhard Wittkugel, Kathrin Muhs-Braun, Sigrid Städtler, Manuela Angerstein und den Schüler/innender 10. Klasse (Paul-Gerhard-Schule Dassel), Sebastian Bidlingmaier, Iva Vodickova, Lore von Rappard, Dagmar Schulz (GDA Wohnstift Göt-tingen), DT, Bühnenmeisterei, Brunhilde Neumann, Christoph Buchfink, Cristiane Müller-Schulte, Marc Wischnowsky, Annabell Leip, musaGöttingen, Tina Fibiger, Sabine Weippert, Steffi Deinert, Clemens Riedel, fab e.V, Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter, Kassel,Anja Faust, Ralph Schumann (möbelino).Gedankt sei all denjenigen, die in den vergangenen Jahren zur Aufarbeitung der Kindereuthanasiebeigetragen haben, so dass uns umfangreiches Material zur Verfügung stand.Bei Freund/innen, Kolleg/innen und Fachleuten wollen wir unsfür die Ermutigung bedanken, uns den historischen Tatsachen immer wieder zu stellen.

Theaterwerkstatt Göttingen – ein Freies Theater Die Theaterwerkstatt Göttingen ist ein Freies Theater, das seit seiner Gründung 1998als professionelles Schauspielensemble mobiles Kinder- und Jugendtheater erschafftund aufführt.Ihre Stücke sind eine sensible, gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit derWelt von Kindern und Jugendlichen. Sie erzählen von Autonomiestreben und Anpas-sungsdruck, von Kollision mit der erwachsenen Generation und Sehnsucht nach Zu-gehörigkeit. Die Sicht der jungen Protagonisten spiegelnd, geben sie ihrenexistentiellen Fragen, Zweifeln und Träumen Sprache und Bühne.Die Inszenierungen basieren auf der intensiven Recherche eines Themas und auf derImprovisation der Ideen aller Beteiligten, wobei das Experiment mit unterschiedlichenFormaten und Spielweisen wichtig ist. Nachbesprechungen mit theaterpädagogischerBegleitung sind fester Bestandteil des Aufführungsangebots.

Impressum

V.S.d.P.: Theaterwerkstatt Göttingen, Am Feuerschanzengraben 20, 37083 Göttingenwww.theaterwerkstatt-goettingen.de

Gestaltung: www.designconcept-kiel.de, Fotos: D. Derben

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Fridas Weg

„Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst.“Jean Baudrillar (1929-2007)Einen wichtigen Impuls für die Stückidee zu 'Fridas Weg' gab der Besuch der in Pots-dam präsentierte Ausstellung „Im Gedenken der Kinder - Die Kinderärzte und die Ver-brechen an Kindern in der NS-Zeit“. Die Recherche zu den Themen Behinderung undEuthanasie begann im Januar 2011 mit der Beschäftigung mit wissenschaftlicher Literatur, Biographien und weiteren Ausstellungen. Einige Veröffentlichungen legenoffen, wie tief und nachhaltig der NS-Staat in das Leben der betroffenen Familien ein-griff und Bindungen zerstörte. Andere untersuchten das System der heimlichen Ver-nichtung behinderter Menschen und das dichte Netz der Täter. Die Vielzahl jüngerenVeröffentlichungen macht deutlich, dass das Thema Kindereuthanasie nach fast 70Jahren endlich in den Fokus auch der medizinhistorischen Forschung und der Medienrückt. Gespräche mit Menschen, die sich mit der Situation von behinderten Menschenim Visier neuester medizinischer Forschung und über die Ethik des Machbaren beruf-lich oder persönlich auseinandersetzen, eröffneten die Perspektive auf die Gegenwart.

'Fridas Weg' – eine SpurensucheKurze Hintergrundinformationen und einige Fakten Kindereuthanasie in der NS-Zeit

Tausendfacher Mord an Kindern und JugendlichenWährend des Zweiten Weltkrieges (1939-1945) starben mehr als 200.000 psychischkranke, sozial auffällige und geistig behinderte Frauen, Männer, Jugendliche und Kin-der eines gewaltsamen Todes in Gaskammern, durch Medikamente oder Nahrungs-entzug. Hintergrund dieser Verbrechen waren seit Jahrzehnten öffentlich undwissenschaftlich geführte Diskussionen über die Förderung der „Erbgesunden“ unddie Beseitigung der als vermeintlich erbkrank und lebensunwert diffamierten Men-schen. Durch die Nationalsozialisten wurden diese rassenhygienischen Vorstellungenin die Tat umgesetzt und der Massenmord unter der verharmlosenden und irrefüh-renden Bezeichnung „Euthanasie“ (schöner Tod) vollzogen.Mindestens 5000 Kinder fielen der Vernichtung zum Opfer. Die meisten von ihnen star-ben in eigens eingerichteten 31 „Kinderfachabteilungen“ aber auch in den Gaskam-mern der Erwachsenen-„Euthanasie“, sowie in Heimen und Krankenhäusern – dielokalen Gesichter der Vernichtung waren vielfältig.

Erfassung zur VernichtungFormaler Auftakt der Kinder-„Euthanasie“ war der strengvertrauliche Runderlass desReichsministers des Innern vom 18. August 1939. Darin wurden Ärzte und Hebammenzur Meldung von behinderten Kindern bis zu drei Jahren (später wurde das Alter bisauf 16 Jahre angehoben) an das Gesundheitsamt verpflichtet. Das organisatorischeZentrum der nationalsozialistischen Kindermordaktion lag damit bei den Gesundheits-ämtern, wesentlich unterstützt durch Kinderärzte und Hebammen, welche die Ämtermit den benötigten Informationen versorgten.Engelbracht, Gerda (Kuratorin): Ausstellung "entwertet – ausgegrenzt – getötet" "Euthanasie"-Verbrechen an Bremer Kindern im Nationalsozialismus.

Glossar zu Frida(Anmerkungen: Dieses Glossar kann nur sehr oberflächliche Begriffserklärungen bieten)

Enhancement: Mit Enhancement ist im Zusammenhang mit der Reproduktionsmedizindie Verbesserung des Erbgutes gemeint. Zuerst das Vermeiden genetischer Defektedas Ziel. Weiter gedacht geht es auch um Wunscheigenschaften, die über Gesundheithinausgehen.

Euthanasie: Mit diesem Begriff („der gute Tod“) wird allgemein aktive Sterbehilfe be-zeichnet. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde mit diesem Begriff die Tötung be-hinderter oder kranker Menschen bezeichnet.

Inklusion: Hier ist der pädagogische Ansatz gemeint, Kinder mit Behinderung mit nichtbehinderten Kindern zusammen zu unterrichten. In Deutschland wird zur Zeit damitbegonnen, Kinder mit Behinderungen nicht mehr in Förderschulen sondern in Regel-schulen zu unterrichten. Damit wird europäisches Recht umgesetzt.

In-vitro-Fertilisation: Bei der In-vitro-Fertilisation handelt es sich um die künstlicheBefruchtung einer Eizelle mit einem Spermium außerhalb des Mutterleibes.

in vivo heißt hier „im Mutterleib“.

PID: Bei der Präimplantationsdiagnostik werden Zellen eines durch künstliche Be-fruchtung außerhalb des Mutterleibes entstandenem Embryos auf genetische Defekte(„Erbschäden“) untersucht. Diese Untersuchung kann Grundlage der Entscheidungsein, ob ein Embryo eingepflanzt wird oder nicht.

perinatal = um die Geburt herum / während der Geburt (Zeitraum von der 28. Schwan-gerschaftswoche bis zum 7. Lebenstag)

pränatal = vor der Geburt

Begriffe aus den Rückblenden:

Entmarkungsencephalomyelitis: Die Erkrankung ist heute bekannt als Multiple Skle-rose (MS). Es ist eine andauernde entzündliche Erkrankung des zentralen Nerven-systems.

Idiotie: Früher gebräuchlicher Begriff für schwere geistige Behinderung.

Luminal: Früher häufig verwendetes Schlafmittel, das auch zur Epilepsie-Behandlungund Narkose-Vorbereitung verwendet wurde.

parainfektiös: Erkrankung, die in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Infektionentsteht, aber nicht direkt durch die Infektionserreger verursacht wird.

Parotitis: Entzündung der Ohrspeicheldrüse. Parotitis epidemica ist Mumps.

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Aus den Ergebnissen ihrer Studie, so das Fazit der Historiker, lasse sich in jedem FallHandlungsbedarf ablesen. Kühl verdeutlicht dies anhand eines weiteren Beispiels: „Esgibt bei einem Teil der Studenten die Vorstellung, dass der NS-Medizin und ihren men-schenverachtenden Versuchen bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse zu ver-danken seien. Das ist nicht nur historisch-faktisch Unsinn, mulmig wird einem auchimmer wieder bei Äußerungen, wie damit umzugehen sei. Eminent wichtig sei es näm-lich, diese vermeintlich wichtigen Erkenntnisse heute nutzen zu dürfen. Sätze wie ‚Opferentschädigen – Forschungsergebnisse nutzen‘ fanden sich nicht selten auf unsereFrage, was für die Medizin die Konsequenzen aus der NS-Zeit sein sollten.”Pete Smith: Ärzte Zeitung, 05.02.2010.

Ehthisch moralische Bedenken gegenüber den Fortschritten in der Reproduktionsmedizin heuteBehindertenbeauftragter kritisiert PID-RegelungDer Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, HubertHüppe, hat die gesetzliche Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) durch denDeutschen Bundestag gerügt. In einer Pressemitteilung des Behindertenbeauftragtenheißt es, die neue PID-Regelung werde zu einer massiven Ausweitung der Selektionmenschlichen Lebens führen. Sie gehe davon aus, dass Embryonen aussortiert wer-den dürfen, wenn bei mindestens einem Elternteil eine genetische Disposition vor-handen ist und für deren Nachkommen eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine„schwerwiegende Erbkrankheit“ bestehe. „Wer glaubt, die neue Regelung werde auf wenige Fälle zu beschränken sein, solltesich die Entwicklung bei der Pränataldiagnostik anschauen, die vor 40 Jahren für ex-treme Ausnahmefälle eingeführt wurde und heute eine Regeluntersuchung gewordenist“, betonte Hüppe, der auch Schirmherr von „Stoppt PID“ ist. Die neue PID-Regelungsortiere nach „lebensunwertem und lebenswertem menschlichen Leben“. Es stehedie Vermeidbarkeit von menschlichem Leben mit Krankheiten und Behinderungen imVordergrund. Der gesellschaftliche Druck auf Paare mit Behinderung, PID zu nutzen, werde steigen.„Spätestens mit der UN-Behindertenrechtskonvention gehört die mit der Regelungzum Ausdruck kommende diskriminierende Sichtweise eigentlich nicht mehr zum ge-sellschaftlich akzeptablen Bild von Menschen mit Behinderungen“, kritisierte der Be-hindertenbeauftragte. Hüppe äußerte die Hoffnung, „dass die Unterstützer der neuenRegelung, die ihre Entscheidung davon abhängig gemacht haben, dass sich PID aufwenige Fälle beschränken lasse, den Mut haben, ihre Entscheidung zu korrigieren,“wenn sich – wie abzusehen – schon bald das Gegenteil herausstellen werde.

www.stoppt-pid-und-klonen.de/beitraege/behindertenbeauftragter_kritisiert_pid-regelung (Juli 2011 - Abruf: 16.1.2013)

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Ärzte als Täter im System

Das System war angewiesen auf die freiwillige ZuarbeitMan muss sich klarmachen, dass die „Euthanasie“ auf eine solche freiwillige Zuarbeitaus den Reihen der Ärzteschaft angewiesen war. Ein dichtes Netzwerk kollegialerKontakte lieferte Hinweise auf Säuglinge, Kinder und Jugendliche, die dann in die„Kinderfachabteilungen“ verlegt wurden. Ohne die mittelbare Beteiligung einer Viel-zahl von Ärzten hätte der Vernichtungsapparat längst nicht so effektiv arbeiten kön-nen. Die Frage nach den Motiven für diesen vorauseilenden Gehorsam ist nicht leichtzu beantworten. Politischer Druck, ängstliche Anpassung, beruflicher Ehrgeiz, ideo-logische Indoktrinierung – das alles mag in dem einen oder anderen Fall eine Rollegespielt haben. Entscheidend war es sicher nicht. Dazu sind die Quellen, die bei denan der NS-„Euthanasie“ mittelbar oder unmittelbar beteiligten Ärzten auf ein hohesMaß an Zustimmung, ja Begeisterung hindeuten, zu zahlreich.Marc Burlon: Die „Euthanasie“ an Kindern während des Nationalsozialismus in den zwei Hamburger Kinderfachab-teilungen, Dissertation, Hamburg, 2010.

Die Herkunftsfamilien der „Reichsauschusskinder“Aus dem vermutlich letzten Erlass des Reichsausschuss vom 20.9.1941:„Die Volksgemeinschaft hat das größte Interesse daran, dass Kinder mit schwerenMissbildungen oder schweren geistigen Schädigungen alsbald einer erfolgverspre-chenden Behandlung oder einer Asylierung zugeführt werden. Über die Notwendig-keit einer Behandlung ist nichts weiter zu sagen, da dies selbstverständlich ist.“Suggeriert werden weitere Vorteile für die Restfamilie, wie die Vermeidung von „Ver-nachlässigung etwa in der Familie vorhandener gesunder Kinder zugunsten des kran-ken Kindes“ und dass ihnen „eine wirtschaftliche und seelisch Last abgenommen“werde. Den Eltern solle auch die Sorge vor weiteren Nachkommen genommen wer-den, in dem eine „fachärztliche Untersuchung [es] gestattet, die Erblichkeit des Lei-dens zu klären und diesen Eltern gegebenenfalls von weiterem Nachwuchs abzuratenoder sie zur Zeugung weiterer Kinder zu ermutigen“. Hier kommt neben einer epide-miologischen Intention des „Reichsausschusses“ auch eine „bevölkerungspoliti-sche“, die Steigerung der Geburtenrate, hinzu. (...)Marc Burlon: Die „Euthanasie“ an Kindern während des Nationalsozialismus in den zwei Hamburger Kinderfachab-teilungen, Dissertation, Hamburg, 2010.

„Das Perfide war, dass man die Eltern indirekt zu Komplizen gemacht hat”, sagt er. Inder Hoffnung auf neue Behandlungsmethoden hätten viele ihre Kinder in die Fachab-teilung geschickt. Wer sich weigerte, dem wurde mit Sorgerechtsentzug gedroht.Doch auch aus Überzeugung seien Kinder weggegeben worden. „Das rassenhygie-nische Denken war auch in der Bevölkerung tief verwurzelt”, sagt Tischer.Dokumentiert wird dies durch Briefe von Eltern. „Höflichst” bittet darin ein Vater denArzt seiner Tochter um Auskunft, wie sie „von ihren Leiden erlöst” werden könne. Anna Grass: NS-Kindereuthanasie. Von vergessenen Opfern, Die Morde an behinderten Kindern aus Bremen während des Nationalsozialismus deckt eine Ausstellung im Krankenhausmuseum im Klinikum-Ost auf, taz 7.2.2010.

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Die Forschung an den KindernNeben diesen Ärzten des Gutachterkreises, die sich die Kinder aus Forschungsinte-resse zuwiesen, konnten auch andere Ärzte vom „Reichsausschuss“ profitieren. Dazuerwähnt Wentzler Lothar Löffler, der erbbiologische Fragen klären wollte, sowie Oster-tag, der intra-uterine Schädigungen anhand von Sektionsmaterial bearbeiten wollte.Hinzu kamen noch die Testungen des Scharlachimpfstoffes durch Heinze und die Tu-berkulose-Immunisierung durch Bessau-Hefter.Zusätzlich forderten die Gutachter eine Ausweitung der Zahl der Pathologen, um das„Reichsausschussmaterial“ auswerten zu können. Berühmtester Neuropathologedieser Zeit war Hallervorden (Berlin-Buch), der im großen Stil von der Zuweisung vonKinderhirnen aus Görden profitierte. Die Gehirnschnitte wurden bis 1987 als „Samm-lung Hallervorden“ in dem Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung aufbe-wahrt und genutzt. An der Universität Heidelberg forschte Schneider mit denKindergehirnen aus Kaufbeuren und Eichberg zu pathologisch-anatomischen Frage-stellungen. Er ließ sich aus den umliegenden Anstalten die interessanten Fälle meldenund ließ die Kinder in der Anstalt Eichberg töten, um die Gehirne zu sezieren.Marc Burlon: Die „Euthanasie“ an Kindern während des Nationalsozialismus in den zwei Hamburger Kinderfachab-teilungen, Dissertation, Hamburg, 2010.

Strafrechtliche Konsequenzen: Zum Beispiel Dr. Willi Baumert und Dr. Max Bräuner(...)Etwa siebenhundert Kinder wurden hier (in der Kinderfachabteilung Lüneburg ) auf-genommen, beobachtet und begutachtet, über vierhundert starben, etwa dreihundertvon ihnen wurden getötet. Als ärztlicher Direktor stand Dr. Max Bräuner der Landes-heilanstalt vor, die Leitung der „Kinderfachabteilung“ oblag seit 1941 Dr. Willi Baumert.(...) Obwohl der SS-Mann Willi Baumert an den hundertfachen Kindestötungen maß-geblich beteiligt war, konnte ihm das in den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungender Jahre 1948/49 nicht nachgewiesen werden. 1958 erfolgte seine Ernennung zumDirektor des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Königslutter. Im gleichen Jahrstieg Baumert erst zum Medizinaldirektor auf, dann zum Vorsitzenden des Verbandesder niedersächsischen Anstaltsärzte und Psychiater.Gegen Max Bräuner wurde das nach Kriegsende eröffnete Verfahren wegen „Eutha-nasie-Maßnahmen“ 1949 wieder eingestellt. Mitte der 1960er Jahre gab der Arzt dieTötung von Kindern in der „Kinderfachabteilung“ zu. Ein Beschluss des Landgerichtsin Lüneburg setzte ihn 1966 außer Verfolgung, da er als „dauernd verhandlungsunfä-hig“ galt.In keinem der nach Kriegsende durchgeführten Ermittlungsverfahren wurde daswahre Ausmaß der NS-„Euthanasie“ erfasst.

Aktuelles zur Aufarbeitung der Verbrechen

Die Bitte um Vergebung kam erst 65 Jahre späterObwohl also schon kurz nach Kriegsende bekannt war, welche Verbrechen an überzehntausend Kindern und Jugendlichen von Ärzten während des Nationalsozialismusbegangen wurden, dauerte es ganze 65 Jahre, bis sich die Deutsche Gesellschaft fürKinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ) zur „geistigen Miturheberschaft und aktivemMittun von Kinderärztinnen und Kinderärzten an diesen Verbrechen“ bekannte. In derErklärung vom 18. September 2010 heißt es: „Wir beklagen darüber hinaus jede Formvon Mitläufertum und Meinungskonformismus, ohne die das Regime nicht hätte funk-tionieren können und die es den Tätern erst möglich machten, ihre Verbrechen durch-zuführen.“ Die Erklärung schließt mit der Bitte um Vergebung bei den Opfern undderen Angehörigen. (...)die kirche/ ev. Wochenzeitung 33/2012.

Bestattung von Opfern der "Kinder-Euthanasie": Samstag, 15. September, 11 Uhr, Ohlsdorfer Friedhof, Kapelle 13

Spätes BegräbnisIm Hamburger Uni-Krankenhaus lagerten bis vor kurzem Teile von Gehirnen behin-derter Kinder, die von den Nazis ermordet wurden. Jetzt werden die Opfer in einerAusstellung gewürdigt und endlich beerdigt .(...) Am heutigen Samstag findet auf demFriedhof Ohlsdorf eine Art Beerdigung statt. Eine "Art" deshalb, weil nicht ganze Körperbestattet werden, sondern Präparate von fünf Kindern, die seinerzeit in Rothenburgs -ort und Langenhorn ermordet wurden. Danach sezierte man sie und nutzte Teile ihresGehirns in der Neuropathologie als Anschauungsmaterial für Medizinstudenten – bis2006.Frank Keil: Das taz Print-Archiv, 15.09.2012.

Erkenntnisse der Medizingeschichte und Medizinstudium heuteNS-Zeit: Eklatante Wissenslücken bei Medizinstudenten. Eine Befragung zeigt: Vielen angehenden Ärzten fehlt das Bewusstsein für die Verbrechen ihrer Berufs-kollegen.Was wissen angehende Ärzte von den Verbrechen ihrer Berufskollegen im National-sozialismus? Was denken sie über Zwangssterilisierung, Menschenversuche und diespäte Entschädigung der Opfer? Diesen Fragen sind Medizinhistoriker der UniversitätAachen nachgegangen und haben in ihrer Befragung zum Teil eklatante Wissenslü-cken aufgedeckt. (...)Über die Verstrickung der Ärzte in das Unrechtssystem der Nazis wissen Medizinstu-denten, folgt man der aktuellen Studie, zu wenig. „Nur knapp 14 Prozent aller Befrag-ten wussten, dass Ärzte mit mehr als 45 Prozent die akademische Berufsgruppe mitdem höchsten nationalsozialistischen Organisationsgrad war”, fasst Richard Kühleines der Ergebnisse zusammen. „Etwa 22 Prozent gingen von einem überproportio-nalen Organisationsgrad aus.”4 5