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23 Der Alltag Die afghanische Misere. Can Merey Copyright © 2008 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim ISBN 978-3-527-50408-4

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Der Alltag

Die afghanische Misere. Can MereyCopyright © 2008 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, WeinheimISBN 978-3-527-50408-4

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»Das grenzt an Erpressung« – Demokratisierungsversuche

Afghanistans Nationalsport heißt Buskaschi, übersetzt bedeutet das»Pack die Ziege«, und damit sind die Regeln im weitesten Sinne schonerklärt. Wilde Männer auf Pferden kämpfen um einen Kadaver; wennkeine Ziege zur Hand ist, darf es auch ein Kalb sein. Das geköpfte Tierwird zuvor in kaltes Wasser gelegt, damit es beim Spiel nicht zerfetztwird. Die Reiter heißen Chapandas, und sie gehen miteinander nur we-nig glimpflicher als mit der Ziege um. Früher, so erzählen afghanischeFans des Spieles, sei es vorgekommen, dass Chapandas bei den Spielenvon ihren Gegnern umgebracht worden seien. Noch heute seien Kno-chenbrüche für einen Buskaschi-Reiter kaum ein Grund, aus einem

Wahlkampf in Afghanistan

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Wettkampf auszuscheiden. Die in zwei Mannschaften eingeteiltenChapandas müssen versuchen, vom Pferd aus die tote Ziege auf demBoden an sich zu reißen, mit ihr um einen entfernten Pfosten und wie-der zurück zu reiten und den Kadaver dann in einem markierten Kreisfallen zu lassen. Die Chapandas haben Lederstiefel und Umhänge an,manche tragen Fellmützen, andere haben Panzerfahrerhauben aufdem Kopf, die vermutlich einst zur Ausrüstung sowjetischer Soldatengehörten. Pferde bäumen sich auf, bärtige Männer schlagen mit Peit-schen aufeinander ein. Wenn die Reiter mit grimmigem Blick, der kur-zen Peitsche zwischen den Zähnen und der toten Ziege unter dem Armim Galopp versuchen, ihren Verfolgern zu entkommen, sehen sie auswie Krieger aus vergangenen Zeiten.

In dieser martialisch geprägten Kultur beginnt die InternationaleGemeinschaft nach dem Sturz der Taliban mit dem Versuch, westlicheWerte zu vermitteln und eine Demokratie zu verankern. Eine interna-tionale Afghanistan-Konferenz kommt Ende 2001 auf Einladung derVereinten Nationen auf dem Petersberg bei Bonn zusammen, um denFahrplan für die Übergangszeit in Afghanistan zu beschließen.Deutschland ist Gastgeber. Repräsentanten der verschiedenen Volks-gruppen Afghanistans nehmen teil, die Taliban sind nicht eingeladen.Am stärksten vertreten sind auf dem Petersberg Delegierte der Nordal-lianz und Exilafghanen, besonders solche, die dem früheren König Mo-hammed Sahir Schah nahe stehen. Im Petersberger Abkommen vom5. Dezember bekennen sich die Teilnehmer an den UN-Gesprächen zudem festen Willen, »einen dauerhaften Frieden, Stabilität und die Ach-tung der Menschenrechte im Lande zu fördern«. Sie erkennen dasRecht des afghanischen Volkes an, »seine politische Zukunft im Ein-klang mit den Grundsätzen des Islam, der Demokratie, des Plura-lismus und der sozialen Gerechtigkeit in Freiheit selbst zu bestim-men«. Der paschtunische Ex-König Sahir Schah lehnt ab, eine Über-gangsregierung zu führen. Die Konferenz einigt sich schließlich aufden von den USA gestützten Kandidaten Hamid Karsai als Interims-präsident einer Zentralregierung. Zentralregierungen in Afghanistansind in der Vergangenheit von verschiedenen ethnischen Gruppen im-mer wieder bekämpft worden und haben sich als schwach erwiesen.Die Regierung Karsais wird keine Ausnahme bilden.

Fast alle der nach Schätzungen rund 30 Millionen Afghanen sindMuslime, etwa 80 Prozent sind Sunniten und 20 Prozent Schiiten.

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Doch bis auf Staatsangehörigkeit und Religion eint die verschiede-nen Ethnien in Afghanistan nicht sehr viel. Neben den wichtigstenSprachen Dari, dem in Afghanistan gesprochenen Persisch, undPaschtu gibt es mehr als 30 andere. Die Volksstämme haben ihre Kon-flikte in der Vergangenheit häufig gewaltsam ausgetragen. Etwa 42Prozent der Bevölkerung gehören den im Süden und Osten lebendenPaschtunen an, Tadschiken stellen mit 27 Prozent den zweitgrößtenAnteil. Hasara und Usbeken folgen mit je neun Prozent, den Rest ma-chen kleinere Minderheiten aus. Über die Jahre hinweg haben sichunter den verschiedenen Ethnien und ihren Anführern wechselndeBündnisse ergeben – und wechselnde Feindschaften.

Die Taliban sind aus den Paschtunen hervorgegangen. Das Volklebt nicht nur in Afghanistan, sondern überwiegend im südlich undöstlich angrenzenden Pakistan. Die Paschtunen in Afghanistan kön-nen auf Unterstützung aus dem Nachbarland rechnen. Ohne Pakis-tan wäre das Taliban-Regime nicht überlebensfähig gewesen, die Re-gierung in Islamabad hat zu den wenigen gehört, die die RegierungMullah Omars überhaupt anerkannt haben. Als die Taliban 1996 dievon den Kämpfen der Warlords weitgehend zerstörte Hauptstadt Ka-bul erobern, begraben die Kriegsherren ihre Rivalitäten, um gegenden neuen gemeinsamen Feind aus dem Süden vorzugehen – derimmer weiter vordringt. In der Nordallianz finden vor allem Tadschi-ken, Usbeken und Hasara zusammen.

Der militärische Anführer der Allianz, Ahmed Schah Massud, istTadschike. Er bekommt im Kampf gegen die Taliban Hilfe vom Iranund aus Tadschikistan, aber auch aus Russland und Indien, dem Erz-feind des Taliban-Förderers Pakistan. General Abdul Raschid Dos-tum, einst auf Seiten der Kommunisten, führt die Usbeken, er kannauf Unterstützung vor allem aus dem nördlichen Usbekistan bauen.Die Hasara stellen den bedeutendsten Anteil der Schiiten in Afgha-nistan und haben dadurch im schiitisch dominierten NachbarlandIran einen natürlichen Partner. An der Spitze der Hasara in der Nord-allianz steht unter anderem Hadschi Mohammad Mohakek. Im Nor-den spielt außerdem der Tadschike Mohammad Atta eine wichtigeRolle. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001, in dem an-schließenden Krieg, stoßen Dostum, Mohakek und Atta geeint ineinem Zweckbündnis gegen die Taliban vor.

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Das höchste beschlussfassende Gremium, in dem die verschiede-nen Volksgruppen die Geschicke der Nation bestimmen, ist die LojaDschirga, die Große Ratsversammlung. Die Delegierten bei einer Lo-ja Dschirga sollen die Afghanen möglichst repräsentativ vertreten.Das einzigartige Forum kommt erstmals im Jahr 1747 zusammen,unmittelbar nach der Gründung des Staates Afghanistan. Damals be-nennen die Abgesandten, traditionell sind es Stammesälteste, denPaschtunen Ahmed Schah Durrani zum ersten König. Im Juni 2002,ein halbes Jahr nach der Petersberger Konferenz, beschließt eine sol-che Große Ratsversammlung, Karsai solle das Amt des Übergangs-präsidenten bis zu einer demokratischen Wahl weiterführen.

Im Dezember 2003 treffen sich erneut rund 500 Abgesandte – da-runter 90 Frauen – aus dem ganzen Land in Kabul, die meisten da-von sind vom Volk gewählt, 50 Abgesandte hat Karsai bestimmt. DreiWochen lang debattiert die Loja Dschirga über eine neue Verfassung,die sie am 4. Januar 2004 schließlich verabschiedet. Das Gesetzes-werk ist das Ergebnis zäher Kompromisse. Die Staatengemeinschafthat ihre Vorstellungen von Menschenrechten und Demokratie in Tei-len durchgesetzt. In anderen Artikeln schaffen es die Hardliner, derVerfassung einen islamistischen Anstrich zu geben – was im Westenvor lauter Begeisterung über die Verabschiedung aber kaum Beach-tung findet. US-Präsident George W. Bush erklärt am Tag danach, eindemokratisches Afghanistan werde dazu beitragen, »dass der Terro-rismus keinen Unterschlupf mehr in diesem stolzen Land findet«.Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) beglückwünscht dasafghanische Volk »zu diesem ermutigenden Erfolg«. Die Delegiertenhätten eine Verfassung erarbeitet, »die einen bedeutenden Beitrag fürDemokratie und Schutz der Menschenrechte in Afghanistan dar-stellt«. Zwar sind die Menschenrechte tatsächlich in der Verfassungverankert – doch das Gleiche gilt für die »Bestimmungen der heiligenReligion des Islam«.

Dass die Verfassung problematisch ist, wird einer breiten Öffent-lichkeit im Westen erst mehr als zwei Jahre nach der Verabschiedungbewusst. Der Fall Abdul Rahman sendet im März 2006 internationalSchockwellen aus – und er fördert den Konflikt der Kulturen offen zu-tage. Der gebürtige Muslim Abdul Rahman ist um 1990 herum zumChristentum konvertiert, als er für eine Hilfsorganisation in Pakistangearbeitet hat. Später hat der Afghane neun Jahre lang in Deutsch-

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land gelebt. Er kehrt Mitte 2005 aus Deutschland in seine Heimat zu-rück, um das Sorgerecht für seine beiden Töchter einzufordern, diebei den Großeltern leben. Im Streit um die Kinder zeigt die Familieden Christen wegen des Glaubenswechsels an. Der 40-Jährige wirdim Februar 2006 festgenommen. Am 20. März sagt der zuständigeRichter Ansarullah Mavlawisada in Kabul: »Ich habe ihn aufgefordert,zum Islam zurückzukehren, aber er hat leider abgelehnt.« Sollte Rah-man dabei bleiben, habe das Gericht keine andere Wahl, als ihn zumTode zu verurteilen. Der Angeklagte hat wenige Tage zuvor vor Ge-richt gesagt: »Ich bin Christ und glaube an Jesus Christus.« Er wei-gert sich, von seinem Glauben abzukehren. Staatsanwalt Abdul Wasifordert das Gericht zu einer harten Strafe auf. Die Bild-Zeitung drucktkurz darauf ein Foto Rahmans, auf dem er von Polizisten flankiert ist,und titelt: »Er soll sterben, weil er Christ ist«. In Deutschland und inzahlreichen anderen westlichen Staaten kocht Empörung hoch.Grundlage für das drohende Todesurteil aber ist die afghanische Ver-fassung.

So heißt es in Artikel 2, dass die Religion der Islamischen RepublikAfghanistans »die heilige Religion des Islam« ist, Anhänger andererReligionen sind frei, ihrem Glauben zu folgen. Artikel 3 schreibt vor,dass in Afghanistan »kein Gesetz dem Glauben und den Bestim-mungen der heiligen Religion des Islam widersprechen« darf. Im Ar-tikel 119 schließlich ist festgelegt, dass Richter des Obersten Ge-richtshofs schwören müssen, Recht und Gerechtigkeit auch »gemäßden Bestimmungen der heiligen Religion des Islam« zu wahren. DieScharia, die islamische Rechtsordnung, ist eindeutig: Wer sich vomIslam abwendet, wird zum »Murtad«, zum Abtrünnigen, und mussdafür mit dem Tode bestraft werden. Zugleich heißt es aber in Artikel7: »Der Staat achtet die Charta der Vereinten Nationen, die interna-tionalen Verträge und Konventionen, denen Afghanistan beigetretenist, sowie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.« Das Aus-wärtige Amt verweist im Fall Rahman darauf, dass Afghanistan Men-schenrechtskonventionen unterzeichnet habe, in denen Religions-freiheit ausdrücklich garantiert werde. Das Land müsse nun zeigen,dass es zu seinen internationalen Verpflichtungen stehe.

Folgt man den Menschenrechten, müsste der Konvertit Rahmanfrei in seiner Entscheidung sein, sich vom Islam ab- und zum Chris-tentum hinzuwenden. Nach der Scharia dagegen müsste er dafür ge-

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tötet werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schaltet sichpersönlich in die Bemühungen um die Rettung Rahmans ein und te-lefoniert mit Karsai. Auch andere Geberländer, von denen die meis-ten christlich sind, üben wachsenden Druck auf die afghanische Re-gierung aus. Selbst der aus Deutschland stammende Papst BenediktXVI. bittet um die Begnadigung Rahmans. Karsai steht vor einem Di-lemma, denn wie in einer richtigen Demokratie – und wie vom Wes-ten einst gewünscht – sieht die Verfassung in Afghanistan Gewalten-teilung vor. Nach Artikel 116 ist die Justiz »ein unabhängiger Pfeiler«,unabhängig auch von der Einflussnahme des Präsidenten. Karsaisteht vor der Wahl, diesen Grundsatz zu missachten, um seinen west-lichen Unterstützern entgegenzukommen und die Menschenrechtezu wahren. Dann müsste er aber die Islamisten, die in Afghanistanimmer mehr an Einfluss gewinnen, vor den Kopf stoßen und die Frei-lassung Rahmans erwirken. Oder aber er könnte die Unabhängigkeitder Justiz respektieren und ein von den Fundamentalisten geforder-tes Todesurteil riskieren, dessen Vollstreckung er als Präsident selberanordnen müsste.

Westliche Politiker fordern in der Debatte um Rahman eine Ände-rung der Gesetze, was die Verfassung aber ausschließt. In Artikel 149heißt es: »Die Bestimmungen, nach denen die Grundzüge der heili-gen Religion des Islam und die Ordnung der Islamischen Republikbefolgt werden müssen, können nicht geändert werden.« In Deutsch-land entbrennt eine Debatte über mögliche Konsequenzen aus demFall. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) warnt vor vorei-ligen Sanktionsdrohungen. Der sicherheitspolitische Sprecher derGrünen-Fraktion, Winfried Nachtwei, sagt dagegen: »Wenn es zu ei-ner Verurteilung käme, müssten einzelne Aspekte der deutschenUnterstützung überprüft werden.« FDP-Chef Guido Westerwellespricht im Falle eines Todesurteils von »dramatischen Konsequenzenin der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit« und sagt: »Wir sendenkeine Soldaten nach Afghanistan, um ein solches Unrecht zu si-chern.« Der afghanische Wirtschaftsminister Amin Farhang, der lan-ge in Deutschland gelebt hat und sich als einer der wenigen in der Ka-buler Regierung überhaupt öffentlich zu dem Fall äußert, weist dieKritik empört zurück. »Das grenzt an Erpressung«, meint Farhang.Der zuständige Richter Maulawisada sagt: »Wir werden unserer Ver-fassung folgen, die auf der islamischen Scharia basiert.« Jeder Ein-

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mischungsversuch werde »als Einflussnahme auf die Unabhängig-keit des Justizsystems in Afghanistan« gewertet werden.

Am Ende kommt Rahman frei, ohne dass ihm der Prozess gemachtwird. Am Abend des 27. März 2006 wird er im Schutz der Dunkelheitheimlich aus dem berüchtigten Kabuler HochsicherheitsgefängnisPul-i-Charki geschleust. Am Tag darauf sagt Vize-Generalstaatsan-walt Mohammed Eschak Aloko, niemand habe versucht, Richter undStaatsanwälte zu beeinflussen. Ein Karsai-Sprecher will Rahmansneu gewonnene Freiheit aus lauter Respekt vor der »Unabhängigkeitder afghanischen Justiz« erst gar nicht kommentieren. Doch einRichter des Verfassungsgerichts in Kabul, der nicht namentlich ge-nannt werden will, sagt, Karsai persönlich habe Rahmans Haftentlas-sung in einem Schreiben an das Gericht und an den Generalstaats-anwalt angeordnet. Bei der Staatsanwaltschaft heißt es, unter demDruck sei dem Generalstaatsanwalt nichts anderes übrig geblieben,als der Anordnung zu folgen. Offiziell sagt der Vize-Generalstaatsan-walt, Rahman sei »krank« und mithin unzurechnungsfähig gewesen.Der Konvertit wird Stunden nach seiner Freilassung nach Italien aus-geflogen, die Regierung in Rom hat ihm Asyl angeboten. Das Dilem-ma der Verfassung, die aus kaum miteinander zu vereinbarendenVorstellungen des Westens und der Islamisten hervorgegangen ist,bleibt.

Der Konflikt zwischen westlichen Prinzipien und muslimischemFundamentalismus tritt in Afghanistan immer wieder zutage. Für dievom Westen propagierte Meinungsfreiheit, die laut Artikel 34 der af-ghanischen Verfassung unverletzlich ist, steht beispielhaft ArmanFM. Den privaten Radiosender haben drei afghanischstämmige Brü-der aus Australien aufgebaut. Das Radio ist das wichtigste Medium inAfghanistan, die meisten Afghanen sind Analphabeten, Fernsehersind für viele Menschen auf dem Land kaum erschwinglich. Unterden Taliban ist verprügelt und eingesperrt worden, wer dabei ertapptworden ist, Musik zu hören. Im Jahr 2005 strahlt Arman FM jedenFreitag – dem muslimischen Feiertag – eine Hitparade aus, die erstedes Landes. Bei der Ermittlung der Top 40 wird improvisiert, Mitar-beiter des Senders ziehen in Kabul durch die zahlreichen Musiklädenund fragen dort nach, welche Kassetten sich am besten verkaufen. Istder beliebteste Sänger gefunden, entscheiden die Redakteure darü-ber, welches seiner Lieder gespielt wird. Das sichert zumindest etwas

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Abwechslung, denn zwischen Sendebeginn der Hitparade 2004 undMai 2005 hat sich auf dem Spitzenplatz der jungen Popwelle, als dieArman FM sich sieht, nichts bewegt. Als bestplatzierter westlicherInterpret hat es Jennifer Lopez in dieser Woche auf Platz 39 geschafft.Der afghanische Sänger Ahmed Sahir, der Liedzeilen wie »Wenn Duheute Nacht zu mir kommst, werde ich Blumen regnen lassen« ver-fasst hat, steht unangefochten auf Platz eins – auch wenn er schonseit mehr als einem Vierteljahrhundert tot ist. Arman-Manager Mas-sud Sandscher Ghayur nennt den Barden, dessen schmachtendenLiebeslieder fast jeder Afghane kennt, »den afghanischen Elvis«.

Nicht nur die Hitparade hat Arman FM populär gemacht. Hörer,die bei dem Sender anrufen, werden live ins Programm geschaltet,Musikwünsche werden erfüllt, und es gibt Gewinnspiele. Nicht zu-letzt sendet Arman FM unabhängige Nachrichten, bei Eilmeldungenunterbricht der Sender sogar das laufende Programm. Jeden Tag be-kommt die Redaktion im Mai 2005 rund 2 500 Anrufe, Mails undBriefe, manche der Schreiben sind mit Herzchen versehen. Ghayoorsagt, der Sender brauche keine Hilfsgelder, sondern mache durch ver-kaufte Werbezeit sogar Gewinne. »Arman hat seinen Platz in der af-ghanischen Gesellschaft gefunden.« Der 26-jährige Manager desSenders, der Anzug trägt, hat sich mit Freuden den neuen Zeiten an-gepasst. In seinem früheren Leben hat Ghayur die englischsprachi-gen Nachrichten im Taliban-Sender, der »Stimme der Scharia«, verle-sen. Ein Foto aus dieser Zeit trägt er noch im Geldbeutel, es zeigt ei-nen ernsten jungen Mann mit einem Turban, wie ihn die Taliban ge-tragen haben. »Sie können sich gar nicht vorstellen«, sagt Ghayurlächelnd, »was das für ein Unterschied ist.«

Doch während Arman FM und der zum selben Konzern gehören-de private Fernsehsender Tolo TV boomen, versuchen Islamisten im-mer wieder, die Meinungsfreiheit einzuschränken. So wird im Janu-ar 2008 der Student und Journalist Sayed Parwes Kambaksch von ei-nem Gericht in Masar-i-Scharif, nur wenige Kilometer vom deutschgeführten Regionalkommando der ISAF entfernt, zum Tode verur-teilt. Der 23-Jährige soll einen »blasphemischen« Bericht über Frau-enrechte aus dem Internet heruntergeladen und dann in der Univer-sität als Grundlage für Diskussionen verbreitet haben. In diesem Be-richt soll es heißen, die Ansicht, der Koran rechtfertige die Unter-drückung von Frauen, sei eine Missinterpretation der Aussagen des

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Propheten Mohammed. Zwei Tage nach dem Todesurteil teilt der am-tierende UN-Sondergesandte, Bo Asplund, mit, man sei besorgt überdie Entwicklungen in dem Fall des jungen Reporters. Es habe Druckgegeben, Kambaksch zu bestrafen, der Angeklagte habe keinenRechtsbeistand gehabt und der Fall sei nicht öffentlich verhandeltworden. All das deute auf einen »möglichen Missbrauch des Justiz-systems« hin. »Wir dringen auf eine ordentliche und vollständigeÜberprüfung dieses Falles, während er durch den Berufungsprozessgeht.«

Der Einfluss der Islamisten zeigt sich auch wenige Tage später. ImMärz 2008 gehen an einem Wochenende in der westafghanischenStadt Herat und in Dschalalabad im Osten nach Polizeiangaben ins-gesamt mehr als 10000 Afghanen auf die Straße. Sie protestieren ge-gen die erneute Veröffentlichung von Karikaturen des Propheten Mo-hammed in Dänemark und gegen die geplante Veröffentlichung ei-nes Films des islamfeindlichen niederländischen Abgeordneten Ge-ert Wilders über den Koran. Gut zwei Jahre zuvor sind bei tagelangenProtesten gegen die Mohammed-Karikaturen zahlreiche Menschenin Afghanistan ums Leben gekommen. Im Frühjahr 2008 bleiben dieDemonstrationen zwar friedlich. Teilnehmer fordern in Sprechchö-ren aber »Tod für Dänemark« und »Tod den Niederlanden«, sie ver-brennen Flaggen der zwei Länder, die beide Soldaten in Afghanistanstationiert haben. Augenzeugen in Dschalalabad berichten, Demon-stranten hätten »Lang leben die Taliban« und »Lang lebe El Kaida«skandiert. Ein westlicher Diplomat in Kabul sagt bereits im Sommer2006: »Die langsame, aber systematische Islamisierung erschrecktmich.« Im Laufe der Jahre wachsen die Zweifel, ob eine westlich ge-prägte Demokratie in Afghanistan zukunftsfähig ist.

Wie sehr die Gegensätze aufeinanderprallen, zeigt sich auch beider Parlamentswahl, die verspätet am 18. September 2005 stattfindet.Auf der Straße nach Kabul, rund eine Stunde Fahrt von der StadtGhasni entfernt, verkaufen Händler Obst, Gemüse und Getränke, ei-ner von ihnen heißt Nasim. Der 24-Jährige sagt wenige Tage vor derWahl: »Die Demokratie ist gut, sie hat uns Freiheit gebracht.« Dochdann fügt er unter ernstem Nicken der umstehenden Männer hinzu:»Nicht gut ist, dass die Regierung auch den Frauen Freiheiten gege-ben hat.« Das sei unter den Taliban besser gewesen. Frauen sind aufder Straße in dem kleinen Dorf im Distrikt Salar keine zu sehen.

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Nach Ansicht Nasims gehören sie da auch nicht hin, und ins Parla-ment erst recht nicht, »sonst verfallen sie dem Luxus«. Dass die Tali-ban Frauen grausam behandelt hätten, weist Nasim entrüstet vonsich. In der Stadt Ghasni meint der Melonenverkäufer Abdul Rahmanzwar, es sei das Recht der Frauen, ins Parlament zu ziehen, wo 68 der249 Sitze für sie reserviert sind. »Auch meine eigene Frau dürfte insParlament«, sagt der 35-Jährige. »Aber natürlich nur, wenn sie dort ei-ne Burka tragen würde.« Eigentlich, fügt Rahman dann hinzu, wün-sche er sich die Taliban zurück. Unter ihnen sei er Schuster gewesen,nun finde er als solcher keine Arbeit mehr und müsse Melonen ver-kaufen. Dafür sei der sonnige Platz vor der Moschee, auf dem er steht,aber nicht gut geeignet. Rahman weiß, was er vom neuen Parlamenterwartet: »Sie werden mir einen Platz geben, wo ich meine Melonenbesser verkaufen kann.«

Noch vor ihrem Parlament haben die Afghanen im Herbst 2004erstmals demokratisch einen Präsidenten gewählt. Wenige Wochenvor der Präsidentschaftswahl verlässt eine amerikanische Patrouilledas Feldlager am Flugplatz Kandahar in Südafghanistan. Auf ihremWeg durch die Stadt passieren die »Humvees«, die Fahrzeuge der US-Truppen, Kamelkarawanen und Lastwagen, sie fahren an Obststän-den, kleinen Läden und Moscheen vorbei. Hinter der Stadtgrenzesteht eine zerschossene Fabrik. Am Ufer eines ausgetrockneten Flus-ses handeln Afghanen auf einem Viehmarkt Schafe. Am Checkpointder Miliz eines Warlords, einem armseligen Lehmbau mit einerschief aufgehängten afghanischen Flagge auf dem Dach, kauern einpaar Männer. Neben ihnen liegen alte Panzerfäuste, auf dem Bodensteht ein Maschinengewehr. Die Milizionäre bieten den Soldatenbeim kurzen Zwischenstopp Weintrauben an. In einem Dorf einigeKilometer weiter lässt der Zugführer die Patrouille anhalten, seineSoldaten steigen aus und legen die Gewehre an. Die Afghanen, denender Besuch gilt, können es kaum ahnen, aber die Fremden kommennicht in feindlicher Absicht.

Der Dorfälteste wird herbeizitiert, er heißt Hadschi Ahmad, er bit-tet die Soldaten in seine Lehmhütte. Einige Amerikaner beziehen vordem Eingang Stellung. Nach einem Gespräch über die Nöte und Sor-gen der Bewohner fragt der Patrouillenführer den Dorfältesten, ob erwisse, dass bald Präsidentschaftswahl sei. Natürlich, antwortet Ah-mad, und ungefragt fügt er hinzu, dass das Dorf selbstverständlich

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geschlossen für Übergangspräsident Karsai stimmen werde. Die Sol-daten versuchen, Ahmad zu erklären, dass er ihnen über das Wahl-verhalten des Dorfes keinerlei Auskunft schuldig sei, dass die Men-schen wählen könnten, wen sie wollten, und dass die Abstimmungzudem geheim sei. Ahmad blickt skeptisch, seine Erfahrungen unterfrüheren Regimen dürften ihn gelehrt haben, dass es lebensgefähr-lich sein kann, die jeweiligen Machthaber öffentlich infrage zu stel-len. Er scheint der neuen Freiheit noch nicht zu trauen.

Die Präsidentschaftswahl im Oktober 2004 ist der bis dahin größ-te Erfolg im Demokratisierungsprozess Afghanistans. Karsai nenntdie Abstimmung »den wichtigsten Meilenstein auf unserer Reise«.Der Dorfältere Mohammad Naim ist von der Provinz Logar rund 30Kilometer entfernt zur großen Wahlkampfveranstaltung ins KabulerStadion gekommen, gleich wird Junus Kanuni, der vor der Präsident-schaftswahl als chancenreichster Herausforderer Karsais gilt, seineAbschlusskundgebung abhalten. Naim ist mit einer Delegation vonden Familien seines Dorfes mit dem Auftrag in die Hauptstadt ge-schickt worden, Informationen über die Kandidaten zu sammeln undzurückzubringen. Die meisten Afghanen können weder lesen undschreiben, besonders auf dem Land informieren sich viele aus demRadio, vor allem aber zählt für sie die Meinung ihrer Dorfälteren.»Wir sind hierhingekommen, um zu erfahren, was Kanuni will«, sagtNaim. »Das heißt aber nicht, dass wir für ihn stimmen werden.« Der55-Jährige weiß um die Rechte der Wähler. Auch als Autoritätspersonwill er keinen Einfluss darauf nehmen, wie die Familien, die ihn ent-sandten, abstimmen werden. »Wir werden nur erklären, was Kanunigesagt hat. Es liegt dann an den Menschen selber, darüber zu ent-scheiden, wen sie wählen.« Aufmerksam lauscht Naim später denAusführungen Kanunis. In westlicher Kleidung und mit gestutztemBart tritt der Kandidat auf die Bühne. Er schimpft über die »Mario-nettenregierung« Karsais. Den Menschen im Stadion ruft er zu: »Die-ses Mal werdet Ihr Euren eigenen Anführer wählen.«

Der Wahlkampf verläuft nach westlichen Maßstäben schleppend,die Taliban wollen die Abstimmung verhindern, auch aus Angst vorAnschlägen sind Kundgebungen wie die Kanunis Mangelware. Vieleder Karsai-Herausforderer haben inhaltlich allerdings auch kaum et-was zu verkünden. Sie zählen auf die Stimmen ihrer Volksgruppenoder hoffen auf mögliche Deals: etwa, dass ihnen ein Posten in der

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nächsten Regierung angeboten wird, wenn sie ihre Kandidatur zu-rückziehen. »Politik wird hier mit Menschen gemacht, nicht mitSachfragen«, sagt ein westlicher Diplomat. Ohnehin rechnet nie-mand ernsthaft damit, dass einer der Herausforderer dem vom Wes-ten unterstützten Karsai den Rang ablaufen kann.

Trotz des lahmen Wahlkampfs und des bereits vorab relativ sicherfeststehenden Gewinners findet sich zumindest in der Hauptstadtkaum jemand, der nicht die Chance nutzen will, erstmals seine Stim-me für einen neuen Präsidenten abzugeben. Gegen die These, diePräsidentschaftswahl sei eine Pflichtübung, die den Afghanen vomWesten aufgezwungen worden sei, sprechen die langen Schlangen,die sich am Wahltag in Kabul schon im Morgengrauen vor der Öff-nung der Wahllokale bilden. Eines davon ist in einer Moschee imViertel Wasir Akbar Chan untergebracht. Nervöse Wahlhelfer sinddort mit letzten Vorbereitungen beschäftigt, sie präsentieren denJournalisten die versiegelten Wahlurnen. Hinter einem rosa-blauenVorhang können Wähler wenige Minuten später ihr Kreuz machen,den Tisch in der Kabine ziert eine Blümchendecke. Latifa gehört zujenen, die in der Moschee in der Stadtmitte wählen gehen. Die 37-Jäh-rige ist geschminkt und hat sich für den besonderen Tag herausge-putzt, ihre Haare werden nur von einem schwarzen Kopftuch be-deckt. Die Burka gehört für die Ärztin ebenso der Vergangenheit anwie das Berufsverbot für Frauen. An ihrer Hand hält Latifa ihre Toch-ter, der sie eine bessere Zukunft wünscht, als sie ihrer Generation inAfghanistan beschert gewesen ist. »Ich bin sehr froh, dass ich erst-mals einen Regierungschef wählen darf«, sagt die Ärztin. Besondersfür die jahrelang unterdrückten Frauen bedeute die neue Freiheit viel.

Nicht nur Frauen gehen mit Stolz an diesem denkwürdigen 9. Ok-tober 2004 an die Wahlurne. Auch viele Männer sind enthusiastisch,etwa der 48 Jahre alte Gul Mohammad aus dem Grenzgebiet zu Paki-stan, der sich gerade in Kabul aufhält. »Erstmals in unserer Ge-schichte können wir einen Präsidenten wählen«, sagt der Paschtune.»Das ist ein froher Tag nicht nur für mich, sondern für alle Afghanen,die ihre Stimme abgeben.« Zufrieden fügt Mohammad hinzu: »Ichhabe gerade gewählt, und niemand weiß, für wen ich gestimmt ha-be.« Die Stimmung an der zum Wahllokal umfunktionierten Mo-schee ist freudig – dann kippt sie plötzlich. Aus Euphorie wird Wut.Die Heftigkeit des Stimmungsumschwungs zeigt, wie ernst die Men-

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schen die Wahl nehmen. Nicht die Taliban, sondern Aufruhr und Är-ger um Tinte stürzen die Wahl ins Chaos.

Monatelang hat die Wahlbehörde JEMB auf die erste Präsident-schaftswahl des Landes hingearbeitet und ungeahnte logistischeSchwierigkeiten bewältigt. Auch die abgelegensten Orte – das höchs-te Wahllokal liegt auf 5 500 Metern Höhe – sind mit Urnen undStimmzetteln beliefert worden, neben Lastwagen, Flugzeugen undHubschraubern sind mehrere hundert Esel als Transportmittel einge-setzt worden. Mithilfe ausländischer Experten hat die Wahlbehörde,deren Leiter Faruk Wardak selber noch nie gewählt hat, alles minuti-ös vorbereitet. Doch dann unterläuft der JEMB eine Panne. Mit roterSpezialtinte aus Indien sollen Daumennägel der Wähler markiertwerden. Kurz nach dem Auftakt der Wahl stellt sich aber heraus, dassdie Markierung, die eigentlich tagelang nicht abwaschbar sein soll, inmanchen Fällen mit ein wenig Spucke und etwas Reiben leicht abzu-wischen ist. Dabei soll die Tinte als letzte Sicherungsmaßnahme einemehrfache Stimmabgabe verhindern – denn die ausgegebenen Wahlausweise, die im Wahllokal gelocht werden, sind kaum ein ge-eignetes Mittel gegen Betrug.

Nicht nur die Logistik, auch die Wählerregistrierung hat Schwie-rigkeiten bereitet. Verlässliche Bevölkerungsdaten gibt es nicht, Aus-weispapiere hat fast niemand, und ihr Alter schätzen Afghanen in derRegel. Jeder erhält einen Wahlausweis, der glaubhaft versichernkann, er sei Afghane und mindestens 18 Jahre alt. Schnell machenGerüchte die Runde, Wähler ließen sich in verschiedenen Registrie-rungsstellen mehrfach registrieren. Manche Afghanen zeigen vor derWahl stolz ein ganzes Bündel an eigenen Wahlausweisen vor. In Me-dienberichten ist davon die Rede, Wahlausweise – und damit Wäh-lerstimmen – würden gegen Geld gehandelt.

Karsai reagiert gelassen auf die Sorgen. »Wenn Afghanen zweiWahlausweise haben, weil sie zwei Mal wählen wollen, dann sind siewillkommen«, scherzt der Favorit vor der Abstimmung. Letztlichmüsse man sich darüber keine Gedanken machen. »Wenn jemandwählen geht, wird sein Finger mit Tinte markiert, und die Markie-rung wird drei, vier Tage dort sein.« Doch eben dieser Sicherungs-mechanismus versagt – zum Ärger jener Wähler, die auf eine faireAbstimmung gehofft haben. »Die Tinte hält ein paar Sekunden, nichtein paar Tage«, wettert Mudschahid Dschawad am Wahllokal in der

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Moschee in Kabul. »Das ist ein Riesenproblem. In den Provinzen ha-ben manche Leute 15, 16 Wahlausweise, die werden jetzt eine Stimmenach der anderen abgeben.« Auch Sayed Muhammad Musa Sadadvergeht das eben noch stolze Lächeln, als er über seinen Daumenreibt. »Ich will meine Stimme zurücknehmen«, schreit er die Wahl-helfer an. »Das ist ja alles Schwindel hier.«

Dass die maßgeblich von Experten der Internationalen Gemein-schaft organisierte Wahl an so einem profanen Punkt zu scheiterndroht, ruft ungläubiges Kopfschütteln hervor. Den chancenlosenHerausforderern Karsais bietet die Panne eine Steilvorlage, sie for-dern eine Wiederholung der Abstimmung. Zeitweise scheint dieWahl am seidenen Faden zu hängen. Die Internationale Gemein-schaft mobilisiert alle verfügbare Schützenhilfe, um die Glaubwür-digkeit der Wahl zu retten. Überraschend tritt der Leiter der OSZE-Wahlbeobachtermission, Robert Barry, vor die Presse. Zuvor hat dieOSZE noch mitgeteilt, sie werde den Wahlverlauf auf keinen Fallkommentieren, weil sich mit nur 40 Beobachtern im ganzen Landkeine verlässlichen Aussagen treffen ließen. Trotzdem betont Barryam Tag nach der Abstimmung, »im Großen und Ganzen« sei dieWahl trotz der Unregelmäßigkeiten ordentlich verlaufen. Mit eini-gem Taktieren hinter den Kulissen gelingt es der Internationalen Ge-meinschaft, ein Scheitern der Abstimmung abzuwenden und Forde-rungen nach einer logistisch, technisch und finanziell kaum mach-baren Wiederholung zum Verstummen zu bringen.

Nach der Auszählung der Stimmen steht der Gewinner bereits imersten Wahlgang fest: Wie erwartet hat Hamid Karsai die absoluteMehrheit der Stimmen auf sich vereinen können. Die größten Wahl-verlierer sind nicht seine Herausforderer, sondern die Taliban. DenRebellen ist es entgegen ihrer Drohungen nicht gelungen, den Wahl-tag in ein Blutbad zu verwandeln oder die Abstimmung gar ganz zuverhindern. Mehr als acht Millionen Afghanen haben sich von Mord-drohungen nicht einschüchtern lassen und ihre Stimme abgegeben.Den Aufständischen haben sie damit eine schallende Ohrfeige ver-setzt. »Der Krieg ist nicht vorbei, aber diese Schlacht war ein großerErfolg für das afghanische Volk«, sagt der US-Kommandeur in Af-ghanistan, General David Barno. Er nennt die Wahl eine »gewaltigeNiederlage« der Taliban und des Terrornetzes El Kaida.

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Doch die Demütigung durch die Wahl schwächt die Taliban nichtdauerhaft, und auch die Hoffnung, Afghanistan sei nach der Abstim-mung auf dem richtigen Wege, weicht bald der Ernüchterung. Von»Good Governance«, dem modernen Schlagwort der »Guten Regie-rungsführung«, kann auch unter dem nun demokratisch legitimier-ten Präsidenten Karsai kaum die Rede sein. Karsai scheut den Kon-flikt. Er hat vor der Wahl versprochen, in seiner neuen Regierung hät-ten Warlords keinen Platz. Sein Versprechen hält er nicht. Karsai ver-sorgt Kriegsherren, die zu seinen schärfsten Rivalen gehören, mitPosten, um sie einzubinden. Der Usbeken-General Dostum etwa, dernicht nur für seine Brutalität, sondern auch für seinen Hang zumVerrat bekannt ist, wird militärischer Berater. Ismail Chan, der mäch-tige Gouverneur der westafghanischen Provinz Herat, hat die Regionan der iranischen Grenze zwar zum Wohlstand geführt, sich aber im-mer wieder gegen Karsais Zentralregierung aufgelehnt. Er wird vondiesem Amt enthoben, was in Herat-Stadt zu schweren Unruhen mitToten führt. Doch bald darauf versüßt ihm der neue Präsident denVerlust – und setzt ihn als Energieminister ein. Karsais Personalwahlist nicht nur wegen der mangelhaften Fachkenntnis umstritten, diemanchen Ministern vorgeworfen wird. So wird beispielsweise derfrühere Sicherheitschef der Provinz Kundus, Mohammad Daud, Vi-ze-Innenminister mit dem besonderen Aufgabenbereich Drogenbe-kämpfung. In Dauds früherer Position ist ihm nachgesagt worden,vom Schmuggel des Rauschgifts durch die Provinz in Richtung derGUS-Staaten persönlich zu profitieren. Im Jahr 2006 setzt der Präsi-dent gegen den Widerstand der Internationalen Gemeinschaft Ama-nullah Gusar als Polizeichef Kabuls ein; Hauptstadtbewohner be-zeichnen Gusar als »Kopf der Diebe«. Karsais im Volk zunehmendunbeliebter Regierung mangelt es nicht nur an Transparenz, sondernauch an Durchsetzungskraft in den Provinzen. Ihr gelingt es selbstmithilfe Zehntausender ausländischer Soldaten nicht, die Sicher-heitslage zu verbessern. Die Korruption nimmt überhand und wirdzu einem der großen Probleme der jungen Demokratie. Flüchtlinge,die aus dem Ausland zurückkehren, fühlen sich betrogen, weil für sieweder ausreichend Wohnraum noch Arbeit geschaffen worden ist.Viele Afghanen sind vom Wiederaufbau enttäuscht, den ihnen dieStaatengemeinschaft und ihre neu gewählte Regierung versprochenhaben.

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»Wir verlieren unsere Glaubwürdigkeit« – der Wiederaufbau

Abdul Malik ist ganz unten angekommen, und das will etwas heißenin Urusgan, einer der unterentwickeltsten Provinzen in einem derärmsten Länder der Welt. Der 30-Jährige sitzt im Gefängnis in Urus-gans Hauptstadt Tarin Kowt. An der südafghanischen Provinz ist dermilliardenschwere Wiederaufbau der Internationalen Gemeinschaftin den ersten sechs Jahren nach dem Sturz der Taliban fast gänzlichvorübergegangen, das Gefängnis in Tarin Kowt hat er nicht einmal

Kabul City Centre

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gestreift. Ein alter Polizeijeep russischer Bauart steht auf der Straßevor den Lehmmauern, die das Ende der freien Welt bedeuten. 25 Män-ner hausen im Mai 2007 in dem Knast, der den Namen Justizvoll-zugsanstalt nicht verdient, und selbst hausen ist vielleicht noch zuviel gesagt. Der juristische Berater beim niederländischen Wieder-aufbauteam der Internationalen Schutztruppe ISAF in Urusgan, GijsScholtens, nennt das Gefängnis »sogar nach afghanischen Maßstä-ben unmenschlich«.

Ein rostiges Vorhängeschloss sichert die einzige Tür, die durch sta-cheldrahtbewehrte Mauern führt. Auf der Mauer hocken Wärter mitKalaschnikows unter selbstgebauten Sonnendächern auf Pritschen,einer der Männer, der seine Waffe locker im Arm hält, hat seine dunk-len Augen mit schwarzem Kajal umrandet. Der Oberste RichterUrusgans, Mohammad Dschan, hat die beiden deutschen Journalis-ten, die zu Besuch in Tarin Kowt sind, zum Gefängnis begleitet. Mithinein in den Innenhof, in dem sich die Gefangenen aufhalten, willMohammad Dschan nicht, er wartet lieber draußen in dem dunklenfensterlosen Raum, in dem die Wärter Tee trinken und ein alter Ven-tilator die Hitze lindert. Die Häftlinge, so ist zu vermuten, wärennicht gut auf den Richter zu sprechen – schon alleine deswegen, weilsie behaupten, allesamt nie ein Verfahren bekommen zu haben. Mo-hammad Dschan nennt den Vorwurf eine Lüge, die Prozessaktenkönne man einsehen, sagt er. Als die deutschen Reporter das tatsäch-lich gerne tun wollen, schränkt er sein Angebot schnell ein. Die Ak-ten lägen beim Staatsanwalt, sagt Mohammad Dschan, der sei aberleider gerade verreist. Er selber, beteuert der Oberste Richter, habekeinen Zugang zu den Akten. Der niederländische Jurist Scholtensmeint, die Wahrheit liege vermutlich irgendwo zwischen den Aussa-gen des Richters und denen der Gefangenen – ein Teil der Häftlingesei wohl verurteilt, ein Teil nicht.

Abdul Malik sagt, Taliban-Kämpfer seien nicht unter seinen Mit-häftlingen. Auf die Frage nach dem Grund seiner Gefangenschaft an-wortet der 30-Jährige vage, wegen Familienstreitigkeiten sei er einge-sperrt worden, näher will er das nicht erläutern. Ein Dreivierteljahrsei er bereits im Gefängnis, sagt er, wann er freikomme, wisse ernicht. Dem großen dünnen Mann mit dem Vollbart und den schwar-zen Haaren sind Ärmel und Hosenbeine seiner sackartigen grauenKleidung viel zu kurz, er trägt schwarze Badelatschen, während er die

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seltenen Besucher durch sein Gefängnis führt. Im Innenhof verbrin-gen die Häftlinge die meiste Zeit, wer ihn an den Mauern abschreitenwürde, benötigte dafür keine drei Minuten. In einer Ecke liegt ein Ge-betsteppich, in der Mitte haben die Gefangenen ein paar rote und wei-ße Blumen gepflanzt, Farbtupfer in dem Einheitsbraun des Lehms,aus dem die Mauern und der Boden sind.

Wenn es dunkel wird, geht Abdul Malik in den Untergrund. Er undandere Häftlinge – einer von ihnen, ein Mörder, ist bereits seit fünfJahren in dem Gefängnis eingesperrt – schlafen in einem Erdloch,das sie selber in den Lehmboden gegraben haben. An den Stirnseitensind zwei Öffnungen, die etwas Luft hineinlassen. Nachts liegen hier13 Mann auf einer Fläche von vielleicht 25 Quadratmetern auf dünnenMatten dicht nebeneinander. Holzbalken sollen die gut zwei Meterhohe Decke vor dem Einsturz bewahren, an ihnen und an der Wandhaben die Gefangenen mangels Platz ihre wenigen Habseligkeitenaufgehängt. Über der Erde ist die Unterbringung kaum weniger trost-los. Die anderen zwölf Gefangenen übernachten in kargen Zimmernin einem Lehmbau am anderen Ende des Innenhofs, mehr Platz alsihre Leidensgenossen im Erdloch haben sie für ihre Schlafmattendort auch nicht. Die Zimmerwände haben die Gefangenen bunt an-gemalt, einer von ihnen hat eine Kalaschnikow als Motiv gewählt.

Auch die einzige Toilette haben die Gefangenen in den Boden ge-graben, sie ist ein Loch in einem unterirdischen Raum, Stufen führenin die Dunkelheit und den Gestank. Die Küche, in der die HäftlingeEssen zubereiten, ist nicht mehr als eine offene Feuerstelle, neben derleere Kanister und anderer Unrat liegen. Alle Gefangenen hätten Ma-genprobleme, sagt Abdul Malik, er deutet auf die einzige Wasserquel-le der Häftlinge – ein Rohr, aus dem sich Wasser zweifelhafter Her-kunft in eine Vertiefung im Boden ergießt. Das Wasser aus dem Rohrtrinken die Männer. Mit dem Brackwasser, das sich in der Grube sam-melt, waschen sie sich selber und ihre Kleidung, einer der Häftlingebadet gerade seine Füße darin.

Die meisten der Gefangenen – der jüngste ist erst 13 Jahre alt –kauern neben dem Wasserbecken im Schatten einer Mauer, sie su-chen Schutz vor der gleißenden Maisonne. Der Vizedirektor des Ge-fängnisses, Abdul Wali, kommt in den Hof und hockt sich zu den Ge-fangenen in den Schatten. Seit einem halben Jahr hätten er und sei-ne Kollegen kein Gehalt mehr bekommen, sagt Wali. Selbst wenn er

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Lohn erhält, ist das Geld zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig:40 Dollar verdiene er, sagt der Vizechef des Gefängnisses. Ein Rich-ter in Urusgan bekommt etwa 60 Dollar im Monat. Ein Cappuccinoin einem der von Ausländern frequentierten Hotels in Kabul kostetfünf Dollar. Wenn Wali neben den Gefangenen kauert, ist auf den ers-ten Blick kaum zu unterscheiden, wer auf welcher Seite der Mauernlebt. Wali sagt, ihn verbinde »Freundschaft« mit den Häftlingen.

Bis auf den Mörder mit den irren Augen, der nie eine Mine ver-zieht, haben die anderen Gefangenen trotz allen Elends das Lachennicht verlernt. Einer der Männer antwortet auf die entsprechende Fra-ge eines der deutschen Reporter, er möge Präsident Karsai, schließ-lich leiste dessen Regierung Wiederaufbauarbeit. Woher er das dennwissen wolle, ruft ein Mitgefangener dazwischen, er habe die Weltdraußen doch schon viel zu lange nicht mehr gesehen. Die beidenHäftlinge schauen sich kurz an und brechen in schallendes Gelächteraus, die anderen Männer stimmen ein. Der zweite deutsche Journa-list hat eine Digitalkamera dabei, die Männer feixen vor der Linse, ei-ner der Gefangenen küsst einen Mithäftling lachend auf die Wange.Abends, im Militärcamp der Niederländer, druckt der Journalist dieBilder auf Papier aus. Am nächsten Tag bringt er die Abzüge ins Ge-fängnis nach Tarin Kowt. Er sagt, den Männern – sonst allesamt hartim Nehmen – seien fast die Tränen gekommen.

Die Niederländer im zivil-militärischen Wiederaufbauteam derISAF am Stadtrand von Tarin Kowt wissen um die beklagenswertenZustände in dem Gefängnis, und sie würden sie gerne ändern. Dochdie Liste der noch dringenderen Wiederaufbauprojekte in Urusganist lang. Die der Schwierigkeiten ebenso. Urusgan ist ein Beispiel fürFehleinschätzungen des Westens – und für die Behäbigkeit der Staa-tengemeinschaft.

Die internationale Intervention soll Afghanistan stabilisieren unddamit global handelnden Terroristen den Rückzugsraum nehmen,doch sie soll nicht nur der Sicherheit des Westens dienen. Die Staa-tengemeinschaft hat sich auch zum Ziel gesetzt, Afghanistan zu de-mokratisieren, den Menschenrechten nach den Jahren des Schre-ckensregimes der Taliban Geltung zu verschaffen und den Afghanenein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Sie sollen mit auslän-discher Hilfe den Weg aus der verheerenden Armut schaffen, in dieKrieg und Bürgerkrieg sie gestürzt haben.

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Bevor die niederländischen Truppen mit der ISAF-Kommando-übernahme in Südafghanistan am 31. Juli 2006 die Verantwortungfür Urusgan übernehmen, ist die Provinz für die Internationale Ge-meinschaft ein weitgehend weißer Fleck auf der Landkarte. Die fastausschließlich paschtunische Bevölkerung ist erzkonservativ, Frauensieht man kaum auf der Straße. Entwicklung hat es hier fast nie ge-geben, die meisten Menschen leben von der Landwirtschaft – und im-mer mehr vom Drogenanbau. Urusgan verzeichnet 2007 unter denafghanischen Provinzen die fünftgrößte Anbaufläche von Schlaf-mohn. In der Provinz gibt es kaum eine geteerte Straße, selbst dieLandebahn am Militärlager ist nicht mehr als eine Piste. Die Provinz-hauptstadt Tarin Kowt ist ein staubiges Nest mit einer einzigen grö-ßeren Kreuzung in der Mitte. Mit dem gesamten umliegenden Dis-trikt zusammen kommt sie auf keine 100000 Einwohner. Viele derNiederländer in der Provinz fühlen sich nicht nur wegen der afghani-schen Zeitrechnung, die im Mai 2007 das Jahr 1386 schreibt, ansMittelalter erinnert.

Als die ISAF nach Urusgan kommt, ist die Provinz zwar nicht un-gefährlich, aber doch ruhiger als die angrenzenden SüdprovinzenKandahar und Helmand. Die Schutztruppe, so ist das Konzept, solldie Gegend stabilisieren und damit die Arbeit der Hilfsorgani-sationen ermöglichen. Die Stabilisierung Urusgans gelingt den rund1 350 niederländischen und 350 australischen Soldaten über viele Mo-nate nach Beginn des Einsatzes, doch der Plan geht zunächst trotz-dem nicht auf. Ausländische Hilfswerke trauen dem brüchigen Frie-den nicht oder haben ihren Projektschwerpunkt anderswo, auf jedenFall aber kommen die allermeisten von ihnen nicht nach Urusgan.Noch im Frühjahr 2007 ist nur eine Handvoll Helfer in der Provinzaktiv, kaum einer von ihnen arbeitet für eine internationale Organisa-tion. Die Truppen selber haben nur begrenzte Möglichkeiten. Zwarbilden etwa die australischen Soldaten in dem niederländisch geführ-ten Kamp Holland junge Afghanen als Schreiner aus, doch das reichtnicht. Für die Truppen wird das Fehlen eines großangelegten sicht-baren Wiederaufbaus zu einem immer schwerwiegenderen Problem.

Man habe sich nach Kräften bemüht, die Region so gut wie mög-lich zu stabilisieren, sagt der niederländische Kommandeur der TaskForce Urusgan in der ISAF, Oberst Hans van Griensven, im Mai2007. Es gebe auch genug Gegenden, die ausreichend sicher für zivi-

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le Wiederaufbauarbeiten wären. Allerdings, fügt der Oberst hinzu,»eines unserer Probleme ist, dass wir hier nicht genügend Hilfsorga-nisationen haben. Wir machen jetzt die Arbeit, die sie tun sollten.«Fremde Truppen aber lehnen viele der stolzen Paschtunen als Besat-zer ab, auch wenn die Soldaten eigentlich Gutes im Schilde führen.»Sie betrachten uns als Ungläubige, wir sind Militärs, und wir sindAusländer«, sagt von Griensven. »Sie sind nicht sehr erpicht darauf,uns hier zu haben. Das macht das Leben nicht sehr leicht.«

Kaum einer der Afghanen in Tarin Kowt äußert sich bei einem Be-such in der Stadt positiv über die ISAF, in den Aussagen der meistenEinheimischen schwingen unverhohlene Sympathien für die Talibanmit. Viele Afghanen in Tarin Kowt fühlen sich von der Internationa-len Gemeinschaft betrogen. Ihnen ist gesagt worden, zwar kämenausländische Soldaten, im Schlepptau hätten die Militärs aber die zi-vilen Aufbauhelfer.

Hayatullah besitzt einen kleinen Gemischtwarenladen, der inSichtweite des Gouverneurssitzes in Tarin Kowt liegt. Zunächst willer nicht offen reden, er fragt den Übersetzer vorsichtig, ob die beidendeutschen Reporter vielleicht doch Soldaten in Zivil seien. Als ihmversichert wird, sie seien weder Militärs noch Niederländer oder garAmerikaner, ereifert sich Hayatullah. »Es ist allen klar, dass die Un-gläubigen nach Afghanistan gekommen sind und unser Land be-schlagnahmt haben«, sagt der 32-Jährige. »Die Afghanen sind Skla-ven für sie. Aber die Afghanen nehmen das nicht hin.« Er wünschtsich zivile Wiederaufbauhelfer und keine Soldaten. Auch Entwick-lungshelfer in Uniform seien nicht akzeptabel, meint Hayatullah – sieseien immer noch Militärs. »Wenn sie Zivilisten wären, wäre jederzufrieden.« Ohnehin habe er noch keinen Wiederaufbau durch dieISAF gesehen. Einer seiner Freunde im Laden stimmt in die Kritikein. »Die Niederländer sagen, sie seien für den Wiederaufbau ge-kommen«, sagt er. »Aber von den Niederländern ist nichts für denWiederaufbau unternommen worden.« Das Urteil mag ungerechtsein. Verbreitet ist die Meinung trotzdem. Selbst der StammesältereMohammad Junus, der nach seiner Aussage einen Polizeicheckpointbefehligt und damit auf der Seite der Schutztruppe stehen müsste,sagt: »Wenn die Ungläubigen Wiederaufbau betreiben würden, wärejeder zufrieden.« Der Wiederaufbau reiche aber nicht aus.

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Wenige Meter die Ladenstraße aufwärts bildet sich vor einem an-deren Geschäft eine ganze Traube an Afghanen um die beiden deut-schen Reporter, auch hier nehmen die Einheimischen kein Blatt vorden Mund, nachdem geklärt worden ist, dass die Journalisten keineVerbindung zu den Militärs haben. Die Menschen wollten Wieder-aufbau, sagt einer der Männer, den sehe man aber nicht, und ohnehinwerde man niemals ungläubige Soldaten in Afghanistan akzeptieren.Die Taliban leisteten in ihrem Kampf gegen die ausländischen Streit-kräfte gute Arbeit, sagt ein anderer aus der Gruppe. Ob die Männer inder Runde ernsthaft glaubten, die Militärs würden von den Talibanbesiegt werden? »Inshallah«, sagt einer der Afghanen, so Gott will,die Aussage kommt von ganzem Herzen. Die Umstehenden nickenbedächtig.

Den Mut, schwer bewaffneten ISAF-Soldaten mit Stahlhelm undSplitterschutzweste ins Gesicht zu sagen, dass man ihnen eineschmähliche Niederlage wünscht, dürfte kaum einer der einfachenAfghanen haben – selbst wenn er die Gelegenheit dazu hätte. Dahermag auch die Verblüffung rühren, die bei manchen Offizieren derSchutztruppe zu beobachten ist, erzählt man ihnen von solchen Sze-nen wie in der Geschäftsstraße in Tarin Kowt. Schließlich porträtiertsich die ISAF selber vorzugsweise als beliebter, zumindest aber als ge-duldeter Gast im Land.

Oberst van Griensven sagt, man versuche, das Vertrauen der Be-völkerung zu gewinnen. Die Internationale Gemeinschaft steht dabeiauch in Urusgan im Wettstreit mit den Taliban. Den Rebellen spültder Drogenanbau Geld in die Kasse, und sie haben der Bevölkerungin den Jahren ihres Regimes bereits bewiesen, dass sie Sicherheitdurchsetzen können – dass sie dabei unmenschliche Methoden ein-setzten, dürfte ihnen in der archaischen Gesellschaft Urusgans vieleher als im Westen verziehen worden sein. Etwa die Hälfte der Bevöl-kerung in der Provinz rechnet der Oberst im Mai 2007 den Unent-schlossenen zu, die sich künftig entweder auf die Seite der Regierungin Kabul oder aber auf die der Taliban schlagen werden. Um Letztereszu verhindern, müsse den meist bitterarmen Paschtunen eine Zu-kunft geboten werden, sagt van Griensven. »Sie unterstützen jeden,der ihnen das Überleben sichert.« Eine militärische Lösung hält erfür unrealistisch. »Es ist nicht möglich, die Taliban zu besiegen«, sagter. »Man kann nicht alle Taliban töten. Man muss sie irrelevant ma-

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chen.« Der Schlüssel dazu liegt nicht nur nach van Griensvens Mei-nung im Wiederaufbau.

Als die nichtstaatlichen Hilfsorganisationen in Urusgan ausblei-ben, kommen die Niederländer im Frühjahr 2007 auf eine Idee. Diestaatliche deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit(GTZ), die dem Bundesentwicklungsministerium untersteht, genießteinen hervorragenden Ruf in Afghanistan, sie hat im Süden bereitsWiederaufbauarbeit geleistet und ist eine der großen Hilfsorganisat-ionen am Hindukusch. Den Niederländern selber fehlt eine staatlicheOrganisation dieser Größe, die vergleichbare Arbeit leisten könnte.Die GTZ hat einen kommerziellen Arm, GTZ-International Services,der nicht aus deutschen Hilfsgeldern, sondern durch Drittmittel vonexternen Auftraggebern bezahlt wird. Die Regierung in Den Haag er-bittet bei Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul(SPD) einen langfristigen Einsatz der GTZ-IS in Urusgan. Aus Sichtder Niederländer würden dabei alle gewinnen: Die Afghanen sähenendlich den versprochenen Wiederaufbau und könnten die Früchteernten. Die Niederländer bekämen eine bedeutende internationaleHilfsorganisation nach Urusgan, die schnell mit der Arbeit beginnenkönnte und in deren Windschatten möglicherweise auch andere Hilfs-werke in die verlassene Provinz zögen. Die Bundesregierung, die im-mer wieder unter Druck gesetzt wird, sich militärisch im Süden zu en-gagieren, könnte immerhin auf den massiven Ausbau der zivilen deut-schen Hilfe in der Krisenregion verweisen – ohne selber dafür zahlenzu müssen. Rund 20 Millionen Euro planen die Niederländer für dieGTZ und die Arbeiten ein. Die deutsche Organisation soll dafür eineStraße zwischen Tarin Kowt und dem etwa 40 Kilometer entferntenOrt Chora bauen, sie soll zudem die ländliche Entwicklung vorantrei-ben und die Verwaltungsstrukturen verbessern. Es wäre das umfang-reichste Engagement einer deutschen Hilfsorganisation in Südafgha-nistan seit dem Sturz der Taliban. Das bis dato größte fertiggestellteEinzelprojekt der GTZ in Südafghanistan ist der Bau einer Straße inder Provinz Kandahar gewesen – für eine Million Euro.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) lässt sichdem Vernehmen nach für das Projekt begeistern, er plant im Mai2007 sogar eine Reise nach Urusgan – es wäre das erste Mal, dass einBundesminister den Süden des Landes besucht. Nach dem tödlichenAnschlag auf die deutschen Soldaten am 19. Mai in Kundus wird die

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Route aber geändert, der Süden wird gestrichen, Steinmeier f liegt zurtrauernden Truppe in den Norden. Bei allem Enthusiasmus im Aus-wärtigen Amt über einen GTZ-Einsatz in Urusgan: Die Entschei-dungsgewalt liegt bei Wieczorek-Zeul. Im Mai 2007 rechnen norma-lerweise gut unterrichtete Kreise in Afghanistan mit einer raschenZusage der Ministerin für den GTZ-Einsatz. Diesmal irren sie sich.

Die Niederländer warten voller Ungeduld, die GTZ steht in denStartlöchern, die Zeit läuft davon. Die Sicherheitslage in Urusgan ver-schlechtert sich, die Zahl der Anschläge nimmt zu, die Niederländerhaben immer mehr Opfer zu beklagen. In der Provinz wachsen dieZweifel, ob die Deutschen überhaupt kommen werden. WestlicheEntwicklungshelfer meinen, Wieczorek-Zeul scheue möglicherweisedas Risiko: Die GTZ will trotz der immer instabileren Lage in Urus-gan auch ausländische Experten dort stationieren, und das außerhalbder sicheren ISAF-Camps, um den Afghanen die Trennung zwischenden Streitkräften und den zivilen Helfern unmissverständlich vor Au-gen zu führen. Andere Experten meinen, der Ministerin liege Afgha-nistan schlicht nicht, auch wenn es das wichtigste außenpolitischeProjekt der Bundesregierung sei. Ihr sei das internationale Engage-ment dort zu militärisch geprägt.

Wieczorek-Zeul teilt im Sommer 2007 zwar mit, dass sie dem Vor-haben im Prinzip zustimmt – doch sie knüpft eine Bedingung daran:Vor einer Zusage für die GTZ müssten die Niederlande entscheiden,sich militärisch über den Ablauf des Mandats im Jahr 2008 hinaus inUrusgan zu engagieren. Die Niederländer dürften sich das genau an-dersherum vorgestellt haben: Eine Verlängerung des Einsatzes wärein der Heimat leichter durchsetzbar, könnte man auf das schon vor-handene Engagement des Bündnispartners verweisen. Die abwarten-de Haltung Wieczorek-Zeuls sorgt für Misstimmung. Europäischeund UN-Diplomaten nennen die Verzögerung nicht nachvollziehbar,sie sprechen im November 2007 von einem »Skandal«. Privat werdenmanche in ihrer Verärgerung noch viel deutlicher. »Mich kotzt das al-les so dermaßen an«, sagt ein deutscher Entwicklungshelfer. »Unddann wird auf der anderen Seite immer beklagt, dass es im zivilen Be-reich in Afghanistan nur Rückschritte gibt.«

Am 30. November 2007 schließlich entscheidet das Kabinett inDen Haag, den Einsatz in Urusgan bis zum Jahr 2010 zu verlängern.Eine Woche danach geht ein Fax des Bundesentwicklungsministeri-

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ums in Bonn bei der GTZ in Eschborn ein, in dem »die Leitung desBMZ der Durchführung der oben genannten Drittgeschäfte« in dersüdafghanischen Provinz zustimmt. Die Hilfsorganisation beginntkurz darauf mit den Vorbereitungen für die Wiederaufbauarbeiten.Entwicklungsexperten meinen, der Druck aus der Bundesregierungauf das Entwicklungsministerium sei letztlich so groß geworden,dass Wieczorek-Zeul habe zustimmen müssen. Sie begrüßen die Ent-scheidung zwar, doch sie beklagen vor allem, dass durch das langeZögern der Ministerin acht wertvolle Monate verloren gegangenseien. Wenn man angesichts der immer schlechteren Sicherheitslagein Afghanistan eines nicht habe, sagen die Experten, sei es Zeit.

Denn ungenutzte Zeit ist besonders im Süden Afghanistans ver-strichen. Den Taliban kommt gelegen, dass die Region nach dem Sturzihres Regimes verglichen mit anderen Landesteilen beim Wiederauf-bau vernachlässigt worden ist. Die meisten Hilfsorganisationen habensich auf die ruhigeren, die weniger unsicheren Gebiete in Afghanistankonzentriert – das sind jene, in denen keine paschtunische Bevölke-rungsmehrheit lebt. Aus den Paschtunen aber rekrutieren sich die Ta-liban. Ausgerechnet da also, wo der viel zitierte »Kampf um die Her-zen und Köpfe« der Menschen eigentlich hätte geführt werden müs-sen, hat er zu wenig stattgefunden. Immer größere Teile der Bevölke-rung haben sich von der Internationalen Gemeinschaft abgewendet,und damit hat ein Teufelskreis begonnen. Die Enttäuschung über dasAusbleiben einer positiven Entwicklung, der sogenannten Friedens-dividende, treibt die Menschen den Taliban in die Arme. Je stärker dieRebellen werden, desto schlechter wird die Sicherheitslage. Je un-sicherer die Gegend wird, desto mehr Helfer ziehen ab.

Auch Helfer werden zunehmend zu Opfern von politisch moti-vierter oder auch krimineller Gewalt. Bei einem Anschlag im Juni2004 sterben im Nordwesten Afghanistans fünf Mitarbeiter von Ärz-te ohne Grenzen, eine Belgierin, ein Niederländer, ein Norweger undzwei Afghanen. Da der Mord ungeahndet bleibt, stellt die Hilfsorga-nisation ihre Arbeit in Afghanistan ein und zieht ab – nach 24 Jahrenam Hindukusch.

Der Mord an dem deutschen Entwicklungshelfer Dieter Rüblingund die Entführung der deutschen Helferin Christina Meier führen2007 auch in den Zentralen von Hilfsorganisationen in der Bundes-republik zu Debatten über einen möglichen Abzug. Deutsche Helfer

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in Afghanistan warnen davor. »Ein Abzug wäre ein fatales Signalgegenüber den Afghanen«, sagt etwa Caritas-Landesvertreter TimoChristians nach der gewaltsamen Befreiung von Christina Meier inKabul im August. »Wir stehen in der Verpflichtung zu zeigen, dasswir unser Mandat auch ernstnehmen und so lange bleiben wie nochgerade verantwortbar.« Zögen die Hilfsorganisationen ab, »würde vie-les in Afghanistan zusammenbrechen«. Helfer gehen davon aus, dassdie Taliban Hilfsorganisationen nicht zum »Primärziel« erklärt ha-ben. Möglicherweise, so heißt es, rechneten die Taliban so fest mit ih-rer Rückkehr an die Macht, dass sie es sich für die Zeit danach nichtmit den Hilfswerken verderben wollten. Deutsche Helfer betonenauch, längst nicht alle Landesteile seien so unsicher, dass man dort alsausländische Organisation keine sinnvolle Arbeit mehr leisten könne.Allerdings räumt ein langjähriger Mitarbeiter einer deutschen Hilfs-organisation in Afghanistan im August 2007 ein, insgesamt sei dieLage doch »sehr viel schlechter« geworden. Die zunehmende Gewalthabe die Arbeit erschwert und verlangsamt. Viele Überlandfahrtenwürden gestrichen, Projektbesuche würden verschoben. Es werde zu-dem immer schwerer, qualifiziertes Personal in Deutschland anzu-werben. »Ich habe die Sorge, dass der Punkt kommt, an dem manhier die Arbeit einstellen muss.«

Nic Lee, Direktor des Afghanistan NGO Safety Office (ANSO), einerOrganisation, die Hilfswerke in Afghanistan in Sicherheitsfragen be-rät, sagt Ende 2007: »Die Arbeit für Hilfsorganisationen ist in diesemJahr viel schwieriger geworden.« Viele hätten ihre Arbeit reduziert,ausländische Helfer in die Provinzhauptstädte zurückgezogen und dieBewegungsfreiheit ihrer Mitarbeiter eingeschränkt. »Die Sicherheits-lage hat einen starken Einfluss auf die Operationen der Hilfs-organisationen.« Für die Zunahme von Angriffen auf Helfer machtLee auch die Nähe von Truppen und Helfern verantwortlich. Kritik übter an dem unter anderem von der Bundesregierung propagierten Kon-zept der zivil-militärischen Wiederaufbauteams (PRT): »Das PRT-Kon-zept zeigt ein fundamentales Missverständnis der Unabhängigkeit vonHilfsorganisationen. Man hat damit sichergestellt, dass niemand mehrden Unterschied zwischen dem miltiärischen Kontingent und denHilfsorganisationen versteht«, sagt Lee. »Die ganze Dynamik hat nichtfunktioniert.« Inzwischen würden die Hilfswerke »einen oder zweiSchritte« von ihren Verbindungen zum Militär zurücktreten.

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Im Afghanistan-Bericht von UN-Generalsekretär Ban Ki Moonheißt es im März 2008: »Von besonderer Sorge ist die Zunahme derAnzahl von Angriffen gegen einheimische und internationale Helfergewesen.« 2007 seien mehr als 40 Konvois des Welternährungspro-gramms (WFP) angegriffen und geplündert worden. Bei über 130 An-griffen gegen Hilfsprojekte seien 40 Helfer getötet und 89 entführtworden. Sieben der Geiseln seien später ermordet worden. Wegen derSicherheitslage seien Fahrten von UN-Mitarbeitern in fast alle süd-afghanischen Distrikte seit mehreren Monaten ausgesetzt.

Experten meinen, das Wiedererstarken der Aufständischen hättemöglicherweise verhindert werden können, hätte man dem Südennach dem Sturz der Taliban – als die Rebellen noch schwach warenund kaum Widerstand leisten konnten – schnell und mit massiverHilfe auf die Beine geholfen. Zwar hat die Hilfe dort inzwischen deut-lich zugenommen – doch manche Helfer befürchten, das Engage-ment sei zu gering und komme zu spät. Sie warnen außerdem davor,nun andere, weniger unsichere Regionen zu benachteiligen und dortden fatalen Eindruck entstehen zu lassen, Gewalt ziehe internationa-le Hilfsmittel an.

Wie schwierig sich der Wiederaufbau im Süden inzwischen gestal-tet, zeigt besonders eines der größten und wichtigsten Projekte desLandes: Nach afghanischen Angaben verstreichen gut zwei Jahrenach dem Sturz der Taliban, bis die Arbeiten am Kadschaki-Damm inder südafghanischen Provinz Helmand langsam in Angriff genom-men werden. Die Sowjets haben den Staudamm am Helmand-Fluss1955 errichtet, die USA das 1975 in Betrieb genommene 33-Megawatt-Wasserkraftwerk. Bei dem US-geführten Angriff auf Afghanistan imHerbst 2001 werden Teile des Damms zerstört. Noch Anfang 2007läuft das Kraftwerk mit nur einer zuverlässigen Turbine, die zweite istreparaturbedürftig. Eine dritte 18,5-Megawatt-Turbine aus China sollneu geliefert werden – für den Transport des 26 Tonnen schwerenGeräts ist der Bau einer Straße mitten durchs Rebellengebiet not-wendig. Ingenieure sollen den Damm und das altersschwache Kraft-werk mit US-Mitteln wieder auf Vordermann bringen und die dritteTurbine installieren. Etliche Kilometer Überlandleitungen, dieschwer gegen Angriffe zu sichern sind, müssen repariert oder neu ge-baut werden. Die Kosten des Projekts werden langfristig auf bis zu500 Millionen Dollar geschätzt. Das Kraftwerk soll etwa 1,7 Millionen

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Menschen in Helmand und in der ebenso instabilen NachbarprovinzKandahar zuverlässig mit Strom versorgen. Tausende Arbeitsplätze inder Region sollen entstehen, die Trinkwasserversorgung der Bevölke-rung und die Bewässerung der Felder soll verbessert werden. DieNiederländer würden dafür bezahlen, auch eine Stromleitung in dienahe Provinz Urusgan zu legen.

Doch wegen der immer schlechteren Sicherheitslage müssen dieArbeiten der zivilen Aufbauhelfer in Kadschaki manchmal für Mona-te unterbrochen werden. Britische ISAF-Soldaten liefern sich zeit-weise täglich Gefechte mit den Taliban, Zivilisten fliehen vor denKämpfen aus ihren Häusern. Ziel der Schutztruppe ist es, eine siche-re Zone um den Damm herum zu schaffen, damit die wegen der Ge-walt abgezogenen Ingenieure zurückkehren können. Die ISAF mel-det, am 12. Februar 2007 hätten 300 britische Soldaten mit Unter-stützung afghanischer Sicherheitskräfte Rebellen aus einer Gegendin der Nähe des Dammes vertrieben. Bereits am nächsten Tag be-schießen die Taliban die ISAF-Truppen dort wieder mit Raketen. Am6. März 2007 beginnt die ISAF im Norden Helmands die Operation»Achilles«, ihre bis dahin größte gemeinsame Operation mit einhei-mischen Sicherheitskräften. Mehr als 4500 meist britische Soldatenziehen unterstützt von fast 1000 Afghanen in die Schlacht gegen dieTaliban. Ein strategisches Ziel dieser Offensive ist, die Fortsetzungdes Kadschaki-Projektes zu ermöglichen. ISAF-Sprecher Tom Collinsmerkt am selben Tag in Kabul zur Operation »Achilles« an, Afghanis-tans Zukunft sei voller Herausforderungen. »Mehr denn je zuvorbrauchen die afghanische Regierung und die ISAF jetzt die Unter-stützung des afghanischen Volkes.«

Die Taliban liefern sich im Distrikt Kadschaki auch in den Monatennach Beginn der Operation »Achilles« immer wieder Kämpfe mit derISAF. Die Aufständischen wissen, dass das Kraftwerk eines jener Vor-haben ist, mit denen die Internationale Gemeinschaft tatsächlich gro-ße Sympathien in der Bevölkerung gewinnen könnte – Strom undJobs können die Rebellen den Menschen nicht bieten. Etliche Taliban-Kämpfer sterben bei Gefechten in der Gegend, doch ihr Widerstandverzögert das Vorhaben dramatisch. Aus der afghanischen Regierungheißt es Anfang 2008, das Projekt mache wegen der unsicheren Lagein Kadschaki kaum Fortschritte. Trotz des massiven Militäreinsatzesund trotz aller Appelle der ISAF an Stammesälteste, die Taliban aus

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der Gegend fernzuhalten, hat sich die Situation in Kadschaki nichtmaßgeblich verbessert. »Es ist nicht klar, warum die ISAF die Gegendnicht kontrollieren kann«, sagt ein westlicher Wiederaufbauexpertein Afghanistan Anfang 2008. Ein Sicherheitskordon um den Stau-damm würde für die Arbeiten genügen, »wenn das Projekt hohe Prio-rität hätte«. Weiter sagt er: »Die Taliban wollten diese Region von An-fang an, in der Nähe gab es ein El-Kaida-Camp. Weil die Wiederauf-bau- und Stabilisierungsbemühungen in der Gegend so spät began-nen, waren die Aufständischen in der Lage, dort wieder eineHochburg aufzubauen.«

Nicht nur im umkämpften Südafghanistan mangelt es an Strom.Nach UN-Angaben vom März 2008 haben weiterhin 80 Prozent derBevölkerung keinen Zugang zu Elektrizität. Selbst in der HauptstadtKabul bekommen manche Viertel Ende 2007 nur vier StundenStrom, und das auch nur alle zwei Tage, im April 2008 sind esimmerhin bis zu acht Stunden jeden zweiten Tag. Wer länger zuver-lässig mit Elektrizität versorgt werden will, braucht einen eigenen Ge-nerator oder muss an den richtigen Stellen in den Behörden schmie-ren. Viele Hauptstadtbewohner empfinden die miserable Stromver-sorgung sechs Jahre nach dem Sturz der Taliban als Zumutung. Siefragen sich, wohin die milliardenschweren Zahlungen der Interna-tionalen Gemeinschaft eigentlich geflossen sind – und beantwortendas meist im selben Atemzug: in die Taschen korrupter Beamter, da-von sind die einfachen Menschen überzeugt.

Das stimmt natürlich längst nicht für alle Gelder, die seit demSturz der Taliban an den Hindukusch überwiesen worden sind. Dochin vielen Landesteilen ist offensichtlich, dass die Afghanen dort sichmehr vom versprochenen Wiederaufbau erhofft haben. Was be-sonders im Süden fehlt, da sind sich Experten einig, sind sogenannteLeuchtturmprojekte, also große Einzelvorhaben, die nach ihrer Ver-wirklichung einer Vielzahl von Menschen schnell eine deutliche Ver-besserung ihrer Lebensumstände bieten – wie der Kadschaki-Damm. Selbst im Jahr 2008 zählt zu diesen Leuchtturmprojekten imSüden vor allem die Straße von Kabul nach Kandahar, die den Schön-heitsfehler hat, dass die Taliban sie unsicher machen. Andere zu be-nennen, fällt selbst Landeskennern schwer.

Trotz dieses Mangels hat es in Afghanistan auch deutliche Fort-schritte gegeben, etwa im Bildungsbereich. »Als ich 2002 das erste

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Mal hierhinkam, ging niemand in die Schule«, sagt ISAF-Komman-deur Dan McNeill im Herbst 2007 der ISAF-Zeitung Sada-e-Azadi(»Stimme der Freiheit«). Inzwischen gebe es elf Universitäten, Milli-onen Kinder – darunter viele Mädchen – drückten wieder die Schul-bank, viele Schulen seien wieder aufgebaut worden. Dass besondersin Südafghanistan die Taliban etliche Mädchenschulen wieder nieder-gebrannt oder mit Morddrohungen zur Schließung gezwungen ha-ben, lässt der amerikanische General unerwähnt.

Präsident Karsai sagt in einer Ansprache zum Internationalen Frau-entag am 8. März 2006: »Aus Angst vor Terrorismus, aus Angst vorden Feinden Afghanistans gehen heute 100000 afghanische Kinder,die im letzten und vorletzten Jahr Schulen besucht haben, nicht mehrzur Schule.« Er fordert seine Landsleute auf, den Rebellen die Stirn zubieten. »Wenn sie eine Million Mal bedroht werden, dann schickt Eu-re Kinder eine Million Mal zurück zur Schule«, fordert Karsai. »WennSchulen eine Million Mal angezündet werden, dann baut sie eine Mil-lion Mal wieder auf, damit diese Nation frei von Angst und Horror seinkann.« Vier Monate nach Karsais Rede schreibt die Menschenrechts-organisation Human Rights Watch (HRW) in einer Studie mit dem Ti-tel »Terrorlektionen: Angriffe auf Bildung in Afghanistan« von einer»Menschenrechtskrise«. In knapp einem Drittel der Distrikte gebe eskeine Mädchenschule mehr, berichtet die Organisation mit Sitz inNew York. 94 Angriffe oder Angriffsversuche auf Lehrer, Schüler undSchulen seien im Gesamtjahr 2005 registriert worden, in der erstenHälfte des Jahres 2006 seien es 110 gewesen. Dabei würden viele Vor-fälle gar nicht erst bekannt. Die Menschenrechtler kritisieren im Juli2006: »Die Internationale Gemeinschaft, angeführt von den Vereinig-ten Staaten, hat durchweg dabei versagt, die wirtschaftliche, politischeund militärische Unterstützung zu liefern, die zur Sicherung derGrundrechte des afghanischen Volkes nötig wäre.«

Nach afghanischen Regierungsangaben brennen radikalislami-sche Rebellen im Jahr 2006 mehr als 180 Schulen nieder. Außerdemseien 61 Lehrer und Schüler von Aufständischen ermordet worden,sagt der afghanische Bildungsminister Mohammad Hanif Atmar imJanuar 2007. Wenige Tage später verkünden ausgerechnet die Talibaneine Art Bildungsoffensive. Auf ihrer Internetseite teilen sie den Be-schluss des »Führungsrates des Islamischen Emirats Afghanistan«mit, zunächst in zehn Distrikten in ihrem Einflussbereich erst Jun-

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gen-, dann aber auch Mädchenschulen zu eröffnen. Eine Million Dol-lar seien dafür zurückgelegt worden. Der Lehrplan solle Geschichteund Erdkunde, Physik und Chemie beinhalten – und natürlich »Isla-mische Studien«. Mit dem Druck Tausender Lehrbücher sei bereitsbegonnen worden, sagt Ahmadi damals der britischen BBC. Zur Be-gründung führen die Rebellen an, man wolle in allen Aspekten aufdie »Niederlage der Feinde« vorbereitet sein und »Schaden von derBildung der Kinder der Nation« abwenden. Keine einzige Schule hät-ten die Taliban im Jahr 2007 selber eröffnet, sagt ein Journalist ausdem Süden – das sei alles Propaganda gewesen.

UNICEF zeigt sich im Februar 2008 »besorgt« über die Angriffeauf Schulen. »Schulen sind natürlich ein sichtbares Zeichen vonWiederaufbau und Fortschritt, und es gibt jene Menschen, die vor ei-nem solchen Fortschritt vielleicht Angst haben.« Das Kinderhilfswerkberichtet von »massiven Herausforderungen« im Bildungsbereich.Weiterhin seien 71 Prozent aller Erwachsenen Analphabeten, unterden Frauen könnten 86 Prozent nicht schreiben und lesen. Fast jedesdritte Kind im Grundschulalter müsse arbeiten, um seine Familie zuunterstützen. Unterschiede zwischen der Bildung für Mädchen undJungen »bleiben ein Problem«. 32 Prozent der Jungen, aber nur 13Prozent der Mädchen schlössen die Grundschule ab. In die zwölfteund letzte Klasse geht im Februar 2008 nach Angaben des Bildungs-ministeriums nur etwas mehr als ein Prozent aller Schüler, und da-runter sind wiederum dreimal mehr Jungen als Mädchen.

Trotz aller Schwierigkeiten berichtet UNICEF auch von positivenEntwicklungen – besonders bei den Schülerzahlen insgesamt, diedarauf schließen lassen, dass das Bildungswesen in vielen Landestei-len für afghanische Verhältnisse tatsächlich eine Erfolgsgeschichteist. In dem am 22. März 2008 begonnenen Schuljahr besuchen nachAngaben des Bildungsministeriums rund 6,2 Millionen Kinder inAfghanistan die Schule, über eine halbe Million mehr als 2007 – undachtmal so viele wie im Jahr 2001. Damals haben nach einer Schät-zung der Weltbank gerade einmal 774 000 Kinder die Schulbank ge-drückt. Seit dem Sturz der Taliban sind nach Angaben der Bundesre-gierung vom Juni 2008 nicht nur 13 000 Kilometer Straße gebautund acht Millionen Minen geräumt, sondern auch 3 500 Schulen ge-baut oder wieder aufgebaut worden – viel mehr, als die Aufständi-schen zerstören haben können.

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Auch in anderen Bereichen sind Erfolge erzielt worden. Hilfsorga-nisationen haben Tausende Projekte im Land angestoßen und fertig-gestellt. Das Nationale Solidaritätsprojekt (NSP) der afghanischen Re-gierung hat laut Weltbank bis Anfang 2007 in mehr als 20 000 Dör-fern ländliche Entwicklung finanziert. Die Kindersterblichkeit istdank Impfungen deutlich zurückgegangen. Zwar liegt die durch-schnittliche Lebenserwartung noch im Jahr 2005 nach Angaben derWeltgesundheitsorganisation WHO nur bei 42 Jahren. Doch nachUN-und ISAF-Angaben vom Frühjahr 2008 haben mehr als 80 Pro-zent der Afghanen in 103 Krankenhäusern und 878 Gesundheitszen-tren Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung – unter denTaliban sind nur acht Prozent der Bevölkerung in diesen Genuss ge-kommen. In einer Studie der NATO mit dem Titel »Fortschritt in Af-ghanistan« zum Gipfel des Bündnisses im April 2008 in Bukarestheißt es, in den fünf Jahren zuvor seien 440 Bewässerungskanäle ge-baut worden. Die Ringstraße, Afghanistans rund durch das Land füh-render Hauptverkehrsweg, sei zu 73 Prozent asphaltiert. Zwar lebenlaut Vereinten Nationen Anfang 2008 immer noch zwischen 34 und42 Prozent der Afghanen unterhalb der Armutsgrenze, doch die Wirt-schaft wächst stark, wenn auch von einem sehr niedrigen Niveau aus:Sie hat nach UN-Angaben vom April 2008 in den vier Jahren zuvorein Wachstum von jeweils rund zwölf Prozent erreicht, die milliar-denschwere Drogenwirtschaft ist dabei herausgerechnet.

Kaum etwas symbolisiert den partiellen Aufwärtstrend besser alsdas Kabul City Centre im Zentrum der Hauptstadt. In dem neunstö-ckigen Klotz, der sich mit seinen dunkel verglasten Seiten über dieumliegenden Gebäude in den Himmel streckt, ist das erste Einkaufs-zentrum des Landes untergebracht. Im Herbst 2005 öffnet es seinePforten. An der staubigen Straße vor dem Kabul City Centre holen Af-ghanen mit Handpumpen Wasser aus der Erde. Im Einkaufszentrumbefördert die erste Rolltreppe am Hindukusch erstaunte Kunden zumShopping – wenn sie sich trauen. »Die Menschen haben Angst vorder Rolltreppe«, sagt Anwar Hussein, der Manager des Hotels, dasebenfalls in dem Gebäude untergebracht ist, kurz nach der Eröff-nung. »Sie sind erstaunt, dass sich etwas von selber bewegt.« Wemdie Rolltreppe zu gewagt erscheint, kann den verglasten Aufzug neh-men – in dem beruhigenden Wissen, dass keiner der ständigenStromausfälle in Kabul die Kabine steckenbleiben lässt: Das Kabul

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City Centre hat eigene Generatoren. Und nicht nur das bietet dieShopping-Mall. Möbelläden, Elektronikshops, Goldhändler, Mode-boutiquen und viele andere Geschäfte sind dort versammelt. An derChromtheke eines Cafés im Untergeschoss, das man eher in einemEinkaufszentrum im Westen vermuten würde, wird »Coffee to go«angeboten. Erste potenzielle Kunden staunen im Herbst 2005 überdie Säulen mit Hunderten Glühbirnen und die blitzsauberen Gänge,während sie aus unsichtbaren Lautsprechern mit afghanischem Popbeschallt werden. Die Musik wird nur für den Ruf des Muezzins zumGebet unterbrochen.

Viele Afghanen sind von dem Konsumtempel begeistert. »Das istechte Entwicklung«, sagt Abdul Fatah, der sich gerade als einer derersten Kunden eine silbrig glänzende Armbanduhr gekauft hat. »Ichwünschte, ganz Afghanistan wäre voll mit Einkaufszentren.« AbdulAsim ist einer der Mieter der neuen Läden. Die Frauenkleider in sei-nem Schaufenster sind aus der Türkei importiert, für afghanischeVerhältnisse haben sie gewagte Ausschnitte. Selbst wenn auf denStraßen Kabuls immer noch viele Frauen unter Burkas verhüllt sind,hofft Asim auf gute Geschäfte. Die Kundinnen, so sagt er, könntenseine Kleider schließlich zu Hause tragen. Asim baut auf das luxuri-öse Shopping-Gefühl. »Hier ist es angenehm einzukaufen, draußensind die Märkte staubig«, sagt er. Die Betreiber des Kabul City Centrewerben damit, dass ihre Shopping-Mall durchgängig klimatisiert sei.Im Winter könnten die Hauptstädter von ihren kleinen Öfen ins war-me Einkaufszentrum flüchten, im Sommer könnten Familien sichdort abkühlen. Direktor und Mitinhaber Habib Safi ist wenige Tagenach der Eröffnung zuversichtlich, dass Besucher nicht nur der un-wirtlichen Kabuler Witterung entfliehen werden, sondern auch Geldin den rund 90 Läden lassen werden. »Man muss Risiken eingehen«,sagt der Geschäftsmann. Das Risiko, so stellt sich später heraus, hatsich gelohnt. Im dritten Jahr seines Bestehens florieren die Geschäf-te im Kabul City Centre.

»Ich weiß, es hat Fortschritt gegeben, und der Fortschritt ist ausrei-chend«, sagt ISAF-Kommandeur McNeill im Herbst 2007. »Wir soll-ten alle optimistisch in die Zukunft blicken.« Das allerdings fälltStephan Kinnemann schwer. Der frühere Geschäftsführer der staat-lichen Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG)hält den Fortschritt nicht für ausreichend, und zahlreiche Experten tei-

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len seine Meinung. Kinnemann ist von 2002 bis 2006 Wirtschaftsbe-rater der Bundesregierung bei Karsai gewesen. Nach dem Ende der of-fiziellen Beratertätigkeit lässt Afghanistan den Experten nicht los. Ersetzt sich bei deutschen Politikern dafür ein, die »falsche Politik« derBundesregierung und der Internationalen Gemeinschaft in Afghanis-tan zu verändern – ohne großen Erfolg und daher mit wachsenderFrustration. Kinnemann sagt Anfang 2008, die überwiegendeMehrzahl der Afghanen hege keine Sympathien für die Taliban. DieMenschen wollten aber sehen, was mit den internationalen Hilfsmit-teln geschehe, von denen sie ihrer Ansicht nach zu wenig profitierten.»Wir müssen uns auf Leuchtturmprojekte konzentrieren und zeigen:Schaut her, es passiert was«, sagt Kinnemann. Die Staatengemein-schaft müsse große Infrastrukturprojekte wie den Bau von Straßenund Wasserversorgung deutlich stärker vorantreiben. In Kabul undden anderen Städten müsse dringend eine zuverlässige Strom-versorgung geschaffen werden. Die Hilfsmittel der InternationalenGemeinschaft müssten massiv erhöht werden. Zur Not, sagt Kinne-mann, müssten die Mehrausgaben für Afghanistan bei der Ent-wicklungshilfe für aufstrebende Länder wie China und Indien, die seit Jahren starkes Wirtschaftswachstum verzeichnen, eingespart werden.

Der frühere Karsai-Berater beklagt außerdem die »Asymmetrie«zwischen den Milliardenausgaben der Staatengemeinschaft für denmilitärischen Einsatz und den weit geringeren Mitteln, die sie für denzivilen Wiederaufbau zur Verfügung stellt. Die Bundesregierung ant-wortet am 26. September 2007 auf eine Große Anfrage der Grünen-Fraktion, der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan habe bislang1,9 Milliarden Euro gekostet. Für den zivilen Aufbau habe dieBundesregierung 550 Millionen Euro ausgegeben. In einer Studievon ACBAR, einem Dachverband von 94 nichtstaatlichen Hilfsorga-nisationen in Afghanistan, heißt es im März 2008, derzeit koste dermilitärische Einsatz alleine der amerikanischen Truppen in Afgha-nistan rund 100 Millionen Dollar am Tag. Die zivile Hilfe aller Ge-berländer zusammen seit 2001 belaufe sich im Schnitt auf siebenMillionen Dollar am Tag und sei damit »beklagenswert unzurei-chend«. Der Mangel an ziviler Hilfe werde auch im internationalenVergleich deutlich: So seien in den ersten zwei Jahren nach Beginnder internationalen Intervention für Afghanistan pro Kopf 57 Dollar

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geflossen. In Osttimor habe der Vergleichswert bei 233 Dollar gele-gen, in Bosnien sogar bei 679 Dollar.

»Wir müssen zu einer drastischen Veränderung des Ansatzes kom-men und das Tempo signifikant erhöhen«, sagt Kinnemann. DerWiederaufbau in Afghanistan sei nicht nur viel zu langsam, sondernauch zu zersplittert. Nach Ansicht von Experten koordinieren sichdie verschiedenen Akteure, die die Hilfe vergeben, viel zu wenig.Manche Provinzen profitieren massiv vom Wiederaufbau. Andere –besonders solche ohne bedeutende ausländische Präsenz – werdendagegen benachteiligt. Selbst innerhalb einzelner Projekte mangelt esmanchmal an Abstimmung – etwa im Herbst 2003 in Kundus, bevordort die Deutschen das Wiederaufbauteam von den Amerikanernübernehmen.

US-Hauptmann Tom Goodrich leitet damals in Kundus das US-Team, das den Hilfsbedarf in der Region feststellen soll, die staatlicheamerikanische Hilfsorganisation USAID hat Mittel zu vergeben. Andiesem Herbstmorgen besuchen die Soldaten das marode Kranken-haus in Kundus-Stadt, dem der Hauptmann zu neuen Generatorenverhelfen will. Bis das Krankenhaus, damals das einzige im Nordos-ten Afghanistans, durch einen geplanten Neubau ersetzt wird, kannder Generator in der Klinik nicht mehr warten. Er ist angesichts dermangelhaften Stromversorgung zwar lebensnotwendig für die Pa-tienten, aber schrottreif. Der Motor stammt aus einem alten russi-schen Bulldozer aus der sowjetischen Besatzungszeit, andere Teilesind aus einem Panzer der Roten Armee ausgebaut worden, den dieInvasoren zurückließen. Die Klinikmitarbeiter führen den Amerika-nern den Generator vor, die ungläubig auf das monströse Gerät star-ren. Als das Personal die Maschine anwirft, zucken die ausländischenBesucher bei den Fehlzündungen zusammen. Stichflammen schie-ßen aus dem Generator hervor.

»Es ist schon vorgekommen, dass Patienten bei Generatorausfällenmit offener Bauchdecke auf dem Operationstisch liegen gebliebensind, bis wir ein mobiles Gerät aufgetrieben haben«, sagt der Klinik-chef. Trotzdem will er eigentlich lieber eine neue Küche von den Ame-rikanern, schließlich, so sagt er, habe das Rote Kreuz ihm bereits zweiGeneratoren versprochen. Die Verhältnisse in der Küche sind nichtnur nach Krankenhausmaßstäben furchterregend. Doch Goodrich istentschlossen, an seinem Plan festzuhalten und der Klinik zwei neue

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Generatoren zukommen zu lassen, denn dafür haben die Amerika-ner das Geld vorgesehen. »Wir machen trotzdem weiter«, sagt derHauptmann nach dem Einwand des Klinikchefs. Später sagt der Of-fizier: »Im schlimmsten Fall haben sie vier Generatoren. « Dass diedann überflüssigen zwei Generatoren woanders dringend benötigtwürden, weiß der Soldat. Doch die Koordinierung mit den Hilfsorga-nisationen sei schwer, sagt er, weil diese mit den Militärs nichts zutun haben wollten. Goodrich versucht gar nicht erst, sich mit den Hel-fern abzusprechen.

Mehr als vier Jahre nach dieser Episode sagt Kinnemann, die inter-nationalen Akteure seien zu langsam und bürokratisch, und das habesich »in der letzten Zeit verschlechtert, nicht verbessert«. Kinnemannrät zu unkonventionellen – und unbequemen – Wegen. Er plädiert da-für, Teile der schwachen afghanischen Administration bei Hilfspro-jekten »nicht einzubeziehen, sondern mitlaufen zu lassen«. Daswiderspräche dem Prinzip Deutschlands und der Internationalen Ge-meinschaft, dem Wiederaufbau stärker ein »afghanisches Gesicht« zugeben, würde die Projekte aber beschleunigen. Um eine »deutliche Er-höhung der Schlagzahl« zu erreichen, schlägt Kinnemann außerdemvor, auf Ausschreibungen bei den Hilfsprojekten zu verzichten, für diejedes Mal Monate ins Land ziehen. Der Westen habe die Situation inAfghanistan kaum noch im Griff, sagt der Experte. Diese Erkenntnishabe sich aber bei vielen deutschen Abgeordneten, mit denen er ge-sprochen habe, noch nicht durchgesetzt. »Ich sehe nicht, dass die Po-litiker ein Gefühl der Dringlichkeit verspüren, einen inneren Druck,der in gezielte Aktivitäten einmündet.« Angesichts der immer be-drohlicheren Lage in Afghanistan sagt Kinnemann: »Die westlichenStaaten müssen sich in einem Kraftakt zusammenraufen.« Verlaufeder Wiederaufbau am Hindukusch weiterhin so langsam, »verlierenwir unsere Glaubwürdigkeit. Wir geraten auf eine schiefe Ebene. Wirdrohen, von Freunden zu Besatzern zu werden.«

ACBAR kritisiert, die Aussichten auf Frieden in Afghanistan wür-den unterlaufen, weil westliche Staaten ihre Versprechungen nichteinhielten und die Hilfe ineffektiv eingesetzt werde. Laut einer Ver-bandsstudie über die »Wirksamkeit von Hilfe in Afghanistan« vomMärz 2008 heißt es unter Berufung auf afghanische Regierungsan-gaben, von den rund 25 Milliarden Dollar, die die Staatengemein-schaft seit 2001 zugesagt habe, seien nur 15 Milliarden ausgezahlt

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worden. Aus den USA – dem mit Abstand größten Geberland – seilediglich die Hälfte der zugesagten 10,4 Milliarden Dollar geflossen.Von den 1,7 Milliarden Dollar, die die EU versprochen habe, seien nurknapp 1,1 Milliarden Dollar angekommen. Deutschland als drittgröß-ter einzelner Geberstaat habe 768 Millionen der zugesagten 1,2 Milli-arden Dollar ausbezahlt. Die Bundesregierung und die EU weisendas umgehend zurück. Eine Sprecherin der EU-Kommission wirftACBAR vor, sich verrechnet zu haben.

In dem ACBAR-Bericht heißt es, dass die zugesagten internatio-nalen Hilfsmittel nicht alle geflossen seien, liege auch an den schwie-rigen Rahmenbedingungen wie der Sicherheitslage und der Kor-ruption. ACBAR beklagt außerdem, dass nach Schätzungen 40 Pro-zent der gezahlten Hilfsmittel etwa durch Profite ausländischer Fir-men bei Wiederaufbauprojekten und hohe Gehälter für ausländischeAngestellte in Afghanistan wieder in die reichen Geberländer zu-rückflössen, was die Ausgaben in die Höhe treibe. So hätten die USAfür den Bau der Straße von der Stadtmitte in Kabul zum Flughafen2,3 Millionen Dollar pro Kilometer bezahlt – mindestens das Vier-fache der normalen Kosten für den Straßenbau in Afghanistan. Aus-ländische Berater von Privatfirmen schlügen bei ihrem Einsatz mitjährlich 250 000 bis 500 000 Dollar zu Buche.

»Zu viel Hilfe von reichen Staaten ist verschwendet, unwirksamoder unkoordiniert«, sagt der Autor der ACBAR-Studie, Matt Wald-man von der Hilfsorganisation Oxfam. Angesichts des nur langsa-men Fortschritts in Afghanistan und der Verbindungen zwischen Ar-mut und dem Konflikt müsse die Staatengemeinschaft dringendhandeln. »Die Priorität ist jetzt, das Ausmaß der Hilfe zu steigernund sicherzustellen, dass sie einen nachhaltigen Unterschied für dieärmsten Afghanen in ländlichen Gebieten macht.« Auch Anthony H.Cordesman vom Center for Strategic and International Studies (CSIS)in Washington hält den Wiederaufbau und die internationale Hilfelängst nicht für ausreichend. Die USA und die Staatengemeinschaft»unterschreiten das benötigte Niveau immer noch stark«, schreibtCordesman in seinem Afghanistan-Bericht an den Streitkräfteaus-schuss des US-Repräsentantenhauses im Januar 2008. »Eine der kla-ren Lektionen des Afghanistan-Krieges – wie im Irak-Krieg und je-dem ähnlichen Krieg davor – ist, dass Dollar mindestens so wichtigsind wie Kugeln.«

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»Es wird konstant weiter nach untengehen« – die Korruption

Am Checkpoint an der Straße kurz vor dem Flughafen Kabul lächeltder afghanische Polizist freundlich durch das Autofenster. Passagie-re sollen an der Kontrollstelle vor dem Parkplatz aussteigen und ihrGepäck durchleuchten lassen, das sie dafür über einen schlammi-gen Platz schleppen müssen. Oftmals funktioniert das Durchleuch-tungsgerät nicht. Manchmal verlangen die Beamten dann, einenBlick in den Koffer zu werfen. Selbst technisches Gerät zur Satelli-tenübertragung interessiert sie aber so gut wie nie, obwohl die Kabelund der Empfänger, der etwa die Maße eines Laptops, aber weder ei-ne Tastatur noch einen Bildschirm hat, eigentlich zur Nachfrage ein-

Kabul International Airport (KAIA)

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laden müssten. Oft tragen Reisende ihre Taschen einfach nur vomKofferraum in die Polizeikabine und wieder hinaus zum Wagen –ungeöffnet und ungescannt. Immer wieder bieten die Polizisten, diedie Wagen stoppen, an, gegen ein kleines Entgelt auf die Prozedurzu verzichten. Zehn Dollar, sagt der Beamte Anfang 2007, hätte ergerne dafür. Ob nicht ein Dollar angemessener sei, lautet die Frageeines Reisenden. Wie er einen Dollar mit seinen vier Kollegen teilenkönne, fragt der Polizist zurück – zehn geteilt durch fünf würde bes-ser aufgehen. Auch der Flughafenmitarbeiter, der den Koffer auf dasnächste Kontrollband hebt, fragt nach »Bakschisch«. Sein Kollege,der das Gepäck auf die Waage der Fluggesellschaft wuchtet, mur-melt das Wort ebenfalls. Polizisten nehmen westliche Ausländer un-gefragt am Arm, um sie an die Spitze der Schlangen an dem Schal-ter für die Ausreisesteuer oder an der Passkontrolle zu führen. EinPolizist, dem ein Reisender danach verstohlen einen Dollar in dieHand drückt, beschwert sich lautstark und für alle hörbar darüber,dass die illegale Gehaltsaufbesserung nicht großzügiger ausgefallenist.

Der Kabul International Airport – der offiziell mit KAIA und nichtmit dem eigentlich logischen KIA abgekürzt wird, weil Letzteres beiden Militärs für »killed in action« steht – ist keine Ausnahme im Kor-ruptionssumpf am Hindukusch. »Bakschisch« ist das Zauberwort,das einem immer wieder in Afghanistan begegnet, es kann Trinkgeldebenso wie Schmiergeld heißen. 2007, im sechsten Jahr der west-lichen Demokratisierungsbemühungen, landet Afghanistan auf demKorruptionsindex von Transparency International auf Platz 172. Bei180 untersuchten Staaten kann sich das Land im internationalen Ver-gleich kaum noch verschlechtern. Persönliche Bereicherung gilt nichtnur kleinen Beamten, sondern auch vielen afghanischen Machtha-bern als selbstverständlich. Die Korruption durchzieht fast alle Ebe-nen der Gesellschaft, und sie droht, Afghanistan zu zerfressen.Schmiergelder ermöglichen nicht zuletzt den schwungvollen Handelmit Drogen, der das Land immer weiter an den Rand des Abgrundstreibt. Der Direktor des UN-Büros für Drogen und Kriminalität (UNODC), Antonio Maria Costa, schreibt im Oktober 2007 in seinemjährlichen Afghanistan-Bericht, »Drogenmetastasen« hätten sich imLand verbreitet. »Korruption hat die allgemeine Geschäftemachereierleichtert.« Die Regierung toleriere Bestechlichkeit und untergrabe

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so die Bemühungen für eine bessere Zukunft. Costa warnt: »KeinLand hat Wohlstand jemals auf Kriminalität aufgebaut.«

Der NATO-Botschafter und ranghöchste zivile Vertreter des Bünd-nisses in Afghanistan, Daan Everts, spricht im November 2007 dip-lomatisch von Unzufriedenheit im Volk über die Regierung. Zurück-zuführen sei sie zum Teil auf zu große Erwartungshaltungen, sagt derBotschafter, »aber ebenso auf Inkompetenz und Korruption in derVerwaltung, und das auf jeder Ebene. Wir müssen eine viel bessereRegierungsführung in Afghanistan haben.« Die Regierung müsseauf der Seite der Menschen sein und dürfe nicht als korrupt wahr-genommen werden. »Die Internationale Gemeinschaft muss mehrunternehmen, um diese Regierungsversäumnisse anzugehen.«

Auch afghanische Regierungsvertreter warnen vor der Kultur derBestechlichkeit. »Die Korruption blüht in Afghanistan«, sagt etwaWirtschaftsminister Amin Farhang im Frühjahr 2005. »Das ist einesder größten Probleme hier.« Doch auch wenn sich die Regierung inKabul des Problems bewusst sein mag, sie geht es kaum an. Selbst ho-he Regierungsbeamte seien bestechlich und in Drogengeschäfte ver-wickelt, sagt ein deutscher Entwicklungshelfer in Kabul im Septem-ber 2006. Er gibt wieder, was ihm ein afghanischer Polizeigeneralfreimütig berichtet hat: Der Offizier habe gesagt, er hätte mit inter-nationalen Hilfsmitteln 2000 Funkgeräte kaufen sollen. Ein Ameri-kaner habe den Auftrag bekommen. Tatsächlich habe der Geschäfts-partner aus den Vereinigten Staaten aber nur 1000 Funkgeräte gelie-fert. Der Polizeigeneral selber habe den Erhalt von 2000 Gerätenquittiert und den Differenzbetrag mit dem Amerikaner geteilt.

In einer im Dezember 2007 veröffentlichten repräsentativen Um-frage der ARD, der britischen BBC und des US-Senders ABC nennen72 Prozent der Befragten Korruption unter Regierungsangestelltenein Problem. Wer an den richtigen Stellen sitzt, dem fällt es oft nichtschwer, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Immer mehr der aus-ländischen Hilfe f ließt direkt an die afghanische Regierung und sollvon dort aus weiter verteilt werden. Der oben genannte deutsche Ent-wicklungshelfer kritisiert im Herbst 2006 haarsträubende Zuständein der Wiederaufbau- und Entwicklungsbehörde (ARDS), die die Auf-träge vergibt und dem Wirtschaftsministerium unterstellt ist, sowiein weiten Teilen der Regierung. Viele Behörden und Ministerienseien mit »extrem inkompetenten Mitarbeitern« besetzt. Die Korrup-

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tion in den Ressorts, die ARDS vor einer Auftragsvergabe fachlich be-raten sollen, reiche teils bis in die Ebene direkt unterhalb der Minis-ter heran. »Der größte Verhinderer von Entwicklung hier ist die Re-gierung, das sind nicht die regierungsfeindlichen Kräfte.« Er selber,sagt der Deutsche, weigere sich, die nach seinen Worten üblichenfünf Prozent vom Auftragsvolumen als Schmiergeld zu zahlen. Des-wegen habe seine Organisation auch über ein Jahr lang keinen derlukrativen Wiederaufbau-Aufträge bekommen. Stattdessen habe erMorddrohungen erhalten – aus dem Umkreis eines ehemaligen Mi-nisters. In zwei Fällen sei ihm das Dokument gezeigt worden, wo-nach seine Organisation die Ausschreibung nach den Vergabekrite-rien gewonnen habe, sagt der Entwicklungshelfer. Diese Papiereseien später in den Ministerien abgeändert worden. Die afghanischeFührungsriege versuche, »so viel wie möglich für sich rauszuholen.Solange dieser Kreislauf nicht durchbrochen wird, können wir alsInternationale Gemeinschaft nichts machen. Es wird konstant weiternach unten gehen.«

Der plötzliche Wohlstand, der bei manchen der Mächtigen aus-bricht, ist kaum zu übersehen. Im Viertel Schirpur im Herzen Kabulshaben früher verarmte Afghanen gelebt, sie haben sich dort einfacheLehmhütten gebaut. Das Verteidigungsministerium, dem das Landgehört hat, hat das geduldet. Doch im Jahr 2004 vertreibt die Polizeidie Armen. Die Behördenvertreter, die in die Zwangsräumung Schir-purs involviert gewesen seien, hätten »auf eine sehr aggressiveWeise« die Bürgerrechte der dort lebenden Menschen verletzt und al-le nationalen wie internationalen Prinzipien missachtet, heißt es ineinem Bericht der unabhängigen Afghanischen Menschenrechtsko-mission (AIHRC). Der Rechtsweg sei ignoriert worden. Das Land seinach der Zwangsräumung an hochrangige Behördenvertreter und de-ren Verwandte verteilt worden. Außerdem hätten »die meisten Kabi-nettsmitglieder« Grundstücke erhalten. Ein afghanischer Journalistsagt, die Filetgrundstücke seien von der Regierung zu symbolischenPreisen an die neuen Landbesitzer verscherbelt worden, zu denenauch der Polizeichef Kabuls und frühere Warlords gehörten. Einigeder kitschigen Prunkbauten, die nach der Zwangsräumung im Zu-ckerbäckerstil hochgezogen worden sind, müssen mehr als eine Mil-lion Dollar gekostet haben – Geld, das durch legale Einkünfte inmanchem Fall schwer zu erklären sein dürfte. Hauptstadtbewohner

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verballhornen den Namen des Viertels, der übersetzt eigentlich»Sohn des Löwen« heißt, zu »Schir choor«, »geplündert durch denLöwen«. Andere nennen die Gegend angesichts der Luxushäuserspöttisch »Feraoun Abad«, was in etwa »durch den Pharao gebauteGegend« bedeutet. Westliche Sicherheitsexperten sprechen schlichtvon der »Drug Alley«, der Drogenallee.

Die Käuflichkeit von Beamten frustriert nicht nur die Bevölke-rung, sondern kommt – wie alles, was Afghanistan destabilisiert –den Taliban und anderen Regierungsgegnern entgegen. Ein Rebel-lenkommandeur namens Mullah Surch Nakibullah, der in der süd-afghanischen Provinz Helmand für Angriffe auf britische Truppenverantwortlich gewesen sein soll, sagt der britischen BBC im Januar2008, er sei bereits drei Mal von Sicherheitskräften gefangen genom-men, gegen Schmiergeld aber immer wieder freigelassen worden.Zuletzt sei das wenige Tage zuvor geschehen, nachdem er fünf Mo-nate im Gefängnis des afghanischen Geheimdienstes NDS in Kabuleingesessen habe. Ein Besucher sei gekommen und habe sich mitdem NDS-Mitarbeiter am Tor getroffen. »Er zahlte dem Offizier, dermich dann freigelassen hat, 15000 Dollar.« Nakibullah wird EndeMärz 2008 ein weiteres Mal gefasst – als er einen Taliban-Angriff aufeine Polizeipatrouille in Helmand anführt.

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»Karsai hat seine Versprechen nicht erfüllt« – die Verlierer

Außer einer Koransure ist das Hochglanzposter der einzige Schmuckan der Wand. Das Foto darauf zeigt ein stattliches Haus, davor er-streckt sich ein gepflegter Garten, in dem bunte Blumen wachsenund ein Springbrunnen plätschert. In einem solchen Haus wird Mo-hammad Sarwar mit seiner Ehefrau und den zehn Kindern zu seinenLebzeiten wohl kaum mehr wohnen. Der 64-Jährige hat den Ver-sprechen der Regierung und der Internationalen Gemeinschaft voneiner besseren Zukunft geglaubt, er hat eines der Flüchtlingslager impakistanischen Peshawar verlassen und ist zurückgekehrt in seineHeimat Kabul. »Ich hatte gehört, der Frieden sei da, und die Regie-rung bat Flüchtlinge zurückzukehren. Ich hoffte damals, ich würdeein Haus und eine Arbeit finden«, sagt Sarwar. Das ist kurz nach demSturz der Taliban gewesen, inzwischen schreibt man den August

Teppichweberei im Flüchtlingslager Khurasan in Peshawar

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2006. Seit mehr als viereinhalb Jahren hausen die Sarwars in einerKriegsruine, gemeinsam mit 25 weiteren Familien. Sie leben mittenin der Hauptstadt, die mehr als die meisten anderen Regionen desLandes vom Wiederaufbau profitiert. Trotzdem sind sie die Verlierernicht nur des alten, sondern auch des neuen Afghanistan.

In dem Gebäudekomplex, in dem die Familien Unterschlupf ge-funden haben, soll einst eine Behörde untergebracht gewesen sein,die Verwaltung des Ministeriums für Strom und Wasser. Heute gibtes hier weder Strom noch Wasser. Die Mauern sind von Einschusslö-chern aus dem Bürgerkrieg übersät. Granateneinschläge haben tiefeNarben an den Außenwänden hinterlassen. Ein Teil der Gebäude istunter dem Dauerbeschuss eingestürzt, manchen fehlt eine Wand, an-deren ein Stockwerk. Auf den schrägen und einsturzgefährdetenÜberresten der Dächer hängen Frauen Wäsche auf. Die durchsiebtenund inzwischen ausgeweideten Autowracks zeugen von der Wuchtder Kämpfe, die hier getobt haben, ebenso wie die Straßenlaternen:Ihre Masten sind so oft an denselben Stellen getroffen worden, dasssie irgendwann eingeknickt sind.

Zwischen den Ruinen inmitten der Hauptstadt kauern abwesendwirkende Alte auf dem staubigen Boden, sie starren ins Leere. Nebenihnen picken dürre Hühner. Ein kleines Kind in abgewetzter Klei-dung pinkelt auf den stinkenden Müllhaufen neben den Trümmern.Der Abwasserkanal und die Autowracks, manche von ihnen hat dieWucht der Explosionen auf die Seite geworfen, dienen als einzigerSpielplatz. Auf dem Trümmerfeld will ein Junge einen Drachen stei-gen lassen, unter den Taliban ist das verboten gewesen. Heute ist eserlaubt, doch es weht kein Wind. Immer wieder fällt der Drache nachein paar Metern Sprint des Jungen auf die Erde. In zusammenge-zimmerten Holzverschlägen neben der Straße verkaufen die Bewoh-ner der Ruinen ein paar Habseligkeiten.

Da es keinen Strom gibt, sind die nutzlosen Leitungen in den Häu-sern längst aus der Wand gerissen und für ein paar Afghani ver-scherbelt worden. Wasser kommt aus einer Handpumpe an der vielbefahrenen Straße. Die Pumpe neben dem faulig riechenden Abwas-serkanal reicht nur wenige Meter tief. In den Fensterrahmen der Ge-bäude hängen Planen oder Decken, um den im Winter eisigen Windaus den Bergen des Hindukusch notdürftig abzuhalten. Planen die-nen auch als Sichtschutz bei den behelfsmäßigen Toiletten, die Hilfs-

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organisationen zwischen die Ruinen gestellt haben. Unweit desTrümmerfelds glitzert die Glasfassade eines neuen Bürogebäudes.

Mohammad Sarwar hat keine Arbeit. »Ich habe versucht, einen Jobzu finden«, sagt der magere Mann mit dem weißen Bart, der sein ein-gefallenes Gesicht umrahmt. Nicht einmal als Wachmann sei er ge-nommen worden. Zu den Hilfsorganisationen, die gute Dollar zah-len, komme man ohnehin nur über Beziehungen. Staatliche Hilfe ge-be es nicht, das einzige Geld brächten die Kinder: Statt zur Schule zugehen, waschen sie Autos oder verkaufen Wasser. Dem Teufelskreisder Armut werden ohne Bildung auch sie kaum entkommen. Dabeigibt es selbst unter den Familienvätern in den Ruinen Männer mit Ar-beit. Doch ihr dürftiges Einkommen reicht nicht, um ihre Familie zuernähren und sich gleichzeitig eine der immer teureren Wohnung inKabul zu mieten – von einem Kauf ganz zu schweigen. »Sie sehenselber, wir versuchen hier nur zu überleben«, sagt Sarwar. Auf etwa20 Quadratmetern im Erdgeschoss einer der Ruinen, zu der eine Gas-se von der Straße am Müllhaufen vorbeiführt, haust seine zwölfköp-fige Familie. Auf dem Betonboden liegt ein roter Teppich, auf ihmwerden nachts die Schlafmatten ausgerollt. Als Küche dient eine of-fene Feuerstelle außerhalb des Zimmers. Zu essen, sagt Sarwar, gebees nur Brot und Kartoffeln. Außer ein paar Töpfen, etwas Kleidungund einigen wenigen Habseligkeiten hat die Familie nichts, ihr Hausist im Bürgerkrieg geplündert worden.

»Karsai hat seine Versprechen nicht erfüllt«, sagt Sarwar. »Er re-giert nur für die Reichen und kümmert sich nicht um die armen Men-schen.« Trotzdem sei die Regierung noch immer besser als die der Ta-liban. »Immerhin unterdrückt sie niemanden.« Seine Ehefrau fälltihm ins Wort. »Ich sage nicht, dass die Taliban gut waren. Aber wennSie sich die Preise für Lebensmittel anschauen, dann war es damalsbilliger. Und es gab keine Korruption.« Ihr Mann sagt, er wolle nichtfür immer arbeitslos bleiben und mit seiner Familie in den Ruinenhausen müssen. Einer der Umstehenden sagt: »Wir hoffen immernoch, dass Gott und die Regierung uns helfen werden.«

Andere haben nach leidvollen Erfahrungen in der Vergangenheitnie auf die Regierung vertraut. Sie sind in den Flüchtlingslagern imIran oder in Pakistan geblieben oder hoffen darauf, weiter im Westengeduldet zu werden. Zeitweise ist mehr als jeder vierte Afghane aufder Flucht gewesen. Zwar sind mithilfe des UN-Flüchtlingshilfswerks

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UNHCR in den Jahren nach dem Sturz der Taliban über fünf Millio-nen afghanische Flüchtlinge zurück in die Heimat gekommen. Doch2007 sind noch immer fast 3,1 Millionen afghanische Flüchtlinge imAusland – bei einer Bevölkerung von rund 30 Millionen Menschen.Die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge ist in Pakistan unterge-kommen, gefolgt vom Iran. Nach den beiden Nachbarländern Afgha-nistans und Großbritannien leben die meisten afghanischen Flücht-linge in Deutschland: Dort harren 2007 noch immer fast 22 000 vonihnen aus.

Aus keinem anderen Land sind mehr Menschen in der Welt auf derFlucht als aus Afghanistan. Und inzwischen hat sich ein neues Pro-blem ergeben: Wegen der zunehmenden Gewalt in Afghanistan ver-lassen immer mehr Menschen ihre Häuser und suchen innerhalb desLandes in ruhigeren Gegenden Zuflucht. Sie haben meist nicht dienötigen Mittel, um sich ins Ausland zu retten. Nach dem Sturz der Ta-liban ist die Zahl der »internen Vertriebenen« auf rund eine Milliongeschätzt worden, von denen die meisten später wieder in ihre Dörferzurückgekehrt sind. Nach Regierungsangaben sind 2007 wieder biszu 20000 Familien vor der Gewalt im Süden des Landes auf derFlucht. Zwar kehren immer noch viele Afghanen aus dem Exil imAusland nach Afghanistan zurück, doch ihre Zahl nimmt ab. Dieschlechte Sicherheitslage sei die größte Sorge unter denjenigen, diein der nahen Zukunft nicht zurückwollten, sagt UNHCR-SprecherinVivian Tan in Islamabad. Andere hätten als Grund die schlechte wirt-schaftliche Lage angegeben.

Nicht nur hält die wirtschaftliche Not viele Afghanen von der Rück-kehr in die Heimat ab. Inzwischen fliehen manche der Rückkehrerschon zum zweiten Mal. Sie gelten nicht als politische, sondern alsWirtschaftsflüchtlinge, daher werden sie in den UNHCR-Jahressta-tistiken nicht erfasst. Ein Sprecher des Flüchtlingshilfswerks sagt imOktober 2007 in Kabul, die meisten Menschen verließen Afghanistanaus ökonomischen Gründen. Ein afghanischer Mitarbeiter des Kin-derhilfswerks UNICEF meint: »Als einer der Einheimischen, der mitAfghanen redet, bekomme ich das Gefühl, dass die meisten Leute beider Frage nach der Zukunft des Landes zynisch werden und dass die-jenigen, die die Möglichkeiten dazu haben, gegangen sind.«

Einer der neuen Wirtschaftsflüchtlinge ist der Schreiner Sarif Ra-suli. Er gehört zu den Hunderten Afghanen, die jeden Tag vor der ira-

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nischen Botschaft in Kabul für ein Besuchervisum anstehen – ein Vi-sum, das keine Arbeitserlaubnis beinhalten wird, wenn er es denn auflegalem Wege überhaupt bekommt. Visa für den Iran sollen auch zukaufen sein, das sagt jedenfalls Mohammad Ali im September 2007in Masar-i-Scharif. 800 US-Dollar sei der Preis für den begehrtenStempel im Pass. Der 38-jährige Bauarbeiter ist arbeitslos und ver-treibt sich seine Zeit mit Freunden, die ebenfalls keinen Job haben,an der Blauen Moschee in der Stadtmitte. »Karsai hat keine fühlbarenAnstrengungen für die Wirtschaft unternommen«, sagt Ali. »DieMenschen kämpfen mit der Arbeitslosigkeit.« Deswegen würde auchAli gerne in den Iran. »Aber ich kann es mir nicht leisten.« Für dasJahr 2005 schätzt das CIA World Fact Book die Arbeitslosenquote inAfghanistan auf 40 Prozent. Aktuelle und vor allem verlässliche Zah-len gibt es nicht.

Fast alle, die vor der Botschaft in Kabul warten, hoffen auf eine Be-schäftigung als Schwarzarbeiter im Iran. Die meisten der Männersind schon früher als Flüchtlinge in dem Nachbarland gewesen. Siesind in ihre Heimat zurückgekehrt, um sie dann desillusioniert er-neut verlassen zu wollen – diesmal nicht wegen eines Bürgerkriegesoder wegen der Taliban. »Wenn ich genug Geld verdienen würde, umBrot für meine Familie kaufen zu können, dann würde ich bleiben«,sagt Rasuli im Sommer 2006 vor der Botschaft. »Das ist schließlichmein Land.« Doch Geld hat der 42-Jährige seit seiner Rückkehr ausdem Iran eineinhalb Jahre zuvor keines mehr verdient. Wie Rasulimacht auch der 24-jährige Fliesenleger Mohammad Eisa, der nebenihm in der Warteschlange vor der Botschaft steht, Karsai für die Mi-sere verantwortlich. »Wenn er uns weder Arbeit noch Unterkunft bie-ten kann, warum hat er uns dann gebeten zurückzukommen?«, fragtEisa. Er ist vor zwei Monaten aus dem Iran zurückkehrt und seitdemarbeitslos. »Ich bin maßlos enttäuscht.«

Andere haben die Flüchtlingslager etwa im nordwestpakistani-schen Peshawar auch nach dem Sturz der Taliban nicht verlassen.Dort schuften Männer, Frauen und auch Kinder von Sonnenaufgangbis Sonnenuntergang in den Teppichwebereien, um ihren Familiendas Überleben zu sichern. Für die afghanischen Flüchtlinge im pakis-tanischen Camp Khurasan ist Teppichweben im Sommer 2003 fastdie einzige Einkommensquelle. Je nach Geschicklichkeit verdienensie umgerechnet zwischen 1,50 und 3 Euro pro Tag, auf den Märkten

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in Europa und den USA wird mit der Ware ein gutes Geschäft ge-macht. Teppiche aus dem Flüchtlingscamp werden auch nachDeutschland exportiert.

Das Lager Khurasan ist 1981, zwei Jahre nach dem Einmarsch derSowjets in Afghanistan, als Notcamp in der Provinzhauptstadt Pe-schawar nahe der afghanischen Grenze gebaut worden. 2003 lebennoch rund 1 500 Familien in den Lehmhütten. Wasser gibt es auchhier nur an Handpumpen in den Gassen, dort waschen sich die Kin-der. Von offenen Müllhaufen wabert Gestank herüber. Als Toilettedient meist ein tiefes Loch im Vorhof der Hütten. Bewohner desCamps leiden wegen der hygienischen Bedingungen an Durchfaller-krankungen wie Typhus. Die einzigen Farbtupfer auf den staubigenWegen zwischen den braunen Hütten sind Frauen in blauen Burkas.Bunt wird es in den Hinterhöfen. Dort sind gelbe, rote, blaue Fädenan den Pfählen aufgewickelt, zwischen denen die Webstühle stehen.Von hier kommen viele der berühmten afghanischen Teppiche. Trotzallem Elend erscheint den Afghanen im Camp das Lagerleben immernoch besser als eine ungewisse Zukunft in ihrer früheren Heimat. El-tern aus Afghanistan schicken im Sommer 2003 sogar ihre Kinder indie Teppichwebereien Khurasans – wie die Brüder Abdul und Mu-hammad.

Die beiden Jungen kauern in ihren blauen Gewändern gemeinsamvor einem der Webstühle. Ihre Füße stehen auf den etwa 40 Zenti-meter Teppich, die die jungen Afghanen schon gewebt haben, ihredünnen Finger knüpfen aus den bunten Fäden geschickt eine Reihenach der anderen. Ein Ventilator kämpft gegen die drückende Au-gusthitze an. Hinter den Brüdern soll ein Radio die eintönige Arbeitauflockern. Eine Antwort auf die Frage nach ihrem Alter verhindertder Besitzer der Weberei, dem das Thema Kinderarbeit sichtlich un-angenehm ist. Abdul, der jüngere der beiden Brüder, wirkt nicht älterals zwölf. Bei Muhammad hat sich immerhin schon erster Flaumüber der Oberlippe gebildet. Seit einem Jahr arbeiten und schlafen siein der Weberei, einen Großteil ihres Hungerlohns schicken sie nachHause. »Wir vermissen unsere Eltern«, sagt Abdul noch – dann fährtder Webereibesitzer erneut dazwischen und beendet das Gespräch.

Zehn Jahre seien die jüngsten der Teppichknüpfer alt, sagenCampbewohner. Auch Abdul Satar hat in dem Alter begonnen, in-zwischen ist er 19. Von 5 Uhr morgens bis 18 Uhr abends sitzen er

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und die anderen Knüpfer in der Hocke und weben. Zehn Tage arbei-tet der geübte Knüpfer Satar an einem Meter Teppich, dafür bekommter rund 30 Euro – im Westen würde der Meter für mindestens dasSechsfache verkauft, sagt ein Teppichhändler in Peshawar. Dass vieleim Camp sich die eintönige Arbeit mit Opium erträglicher machen,wird hinter vorgehaltener Hand zugegeben. Beim Blick in mancheder meist jungen Gesichter ist es offensichtlich. Die Campbewohnersind einfache Afghanen und streng gläubig, Frauen knüpfen hinterverschlossenen Türen in den Hütten und getrennt von den MännernTeppiche, sie haben ihre kleinen Kinder bei sich. »Es ist üblich, dasssie den Säuglingen Opium geben«, sagt ein Camp-Verantwortlicher,der anonym bleiben will. »So können die Frauen ungestörter und ef-fizienter arbeiten.« Natürlich sei das ein Problem, sagt der Mann. Erfügt hinzu: »In anderen Flüchtlingscamps sterben Säuglinge anÜberdosierungen – aber das ist hier noch nicht passiert.«

Besser geht es meist jenen Afghanen, die in den Westen geflohensind. Der 15-jährige Mohammed muss nicht Teppiche weben, son-dern kann in Hamburg zur Schule gehen. Er weiß nicht, ob seine El-tern noch leben. Es ist noch die Zeit des Taliban-Regimes, Februar2001, seit mehr als einem Jahr hat Mohammed nichts mehr von sei-nen Eltern gehört. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder hätten ihnVater und Mutter fortgeschickt, um die Kinder vor der Schreckens-herrschaft zu schützen. Mohammed erinnert sich an die letzten Ab-schiedsworte seiner Eltern: »Dieser Mann bringt Euch in ein sicheresLand.« Dann hätten sie die Geschwister einem Schleuser übergeben.Er und sein Bruder seien zwei Monate zu Fuß und versteckt unterLastwagenladungen unterwegs gewesen. »Ich hatte viel Angst.« Anirgendeiner Straße in Deutschland habe sie der Schleuser abgesetzt,sagt der Junge. »Wir hatten nur ein paar Klamotten dabei, Geld hat-ten wir gar keins.« Auch nichts Persönliches, was ihn an zu Hause er-innert, nicht einmal Fotos der Eltern. Mohammed ist ins HamburgerSülau-Haus gebracht worden, ein Heim für junge Flüchtlinge. DerJunge will zunächst richtig Deutsch lernen, dann will er über einenBeruf nachdenken. Familienangehörige werden ihn dabei nicht bera-ten können, inzwischen ist auch sein Bruder verschwunden. Er istmithilfe eines Schleusers überstürzt in ein anderes Land gereist. »Ichweiß nicht einmal, wo er ist«, sagt Mohammed. Eines Tages hofft derJunge, seine ganze Familie wiederzusehen. »Ich kann nur jetzt nicht

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nach Afghanistan, sonst bringen die Taliban auch mich um«, sagt er.»Aber wenn eines Tages Frieden ist, gehe ich zurück. Und dann su-che ich meine Eltern.«

Wenn auch nicht zu einem echten Frieden, so kommt es doch zumSturz der Taliban. Im November 2004 beschließt die Innenminister-konferenz in Lübeck, den Abschiebestopp für afghanische Flüchtlin-ge aus Deutschland zum 30. April 2005 auslaufen zu lassen. Der Ap-pell des UNHCR-Vertreters in Deutschland, Stefan Berglund, den bisdato geduldeten Flüchtlingen wegen der schlechten Versorgungs-und Menschenrechtslage in Afghanistan einen gesicherten Aufent-halt in der Bundesrepublik zu ermöglichen, verhallt ungehört. BisMärz 2007 werden nach Angaben der Bundesländer etwas mehr als350 Afghanen in ihre Heimat abgeschoben. Darunter sind Straffälli-ge, aber vor allem alleinstehende Männer, die kürzer als sechs Jahrein Deutschland sind. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl kritisiertdie deutsche Praxis als eine »Abschiebungspolitik unter Ausblen-dung der großenteils dramatischen Situation im Lande«.

Adschmad Maliksada hat im Jahr 2000 in Stuttgart Zuflucht ge-sucht. Der junge Mann hat nicht warten wollen, bis auch er eines Ta-ges möglicherweise nicht mehr willkommen ist, und ist freiwillig inseine Heimat zurückgekehrt. Maliksada ist enttäuscht über das, waser in Kabul vorgefunden hat. Wie andere Rückkehrer hat auch er aufKarsai vertraut. Der Präsident habe einen Arbeitsplatz und ein StückLand für ein Haus versprochen, sagt der 30-Jährige im Mai 2005. »Ichfühle mich betrogen.« Seine vierköpfige Familie wohnt nun bei sei-nem Vater in Kabul, in dessen Eisdiele der Rückkehrer arbeitet. 100bis 150 Euro verdiene er im Monat, sagt Maliksada, in Stuttgart habeer mit Schwarzarbeit in einer Pizzeria rund das Zehnfache nach Hau-se gebracht. Der junge Afghane ist überzeugt: »Es war ein Fehler, zu-rückzukommen.«

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»Extrem riskant« – die Sicherheitslage

Bevor Gulob Toochi auf eine Reise geht und seine Tasche packt, musser vor allem darauf achten, was er alles nicht dabei haben sollte. DasZweithandy lässt der Journalist zu Hause, im ersten löscht er alleNummern aus dem Telefonbuch. Visitenkarten sind tabu, technischeGeräte ebenfalls. Toochi, der in Afghanistan unter diesem Pseudo-nym arbeitet und seinen wahren Namen aus Sorge um sein Leben

Die afghanische Misere. Can MereyCopyright © 2008 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, WeinheimISBN 978-3-527-50408-4

Chan Aga

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nicht einmal im fernen Europa veröffentlicht sehen will, reist dabeinicht besonders weit. Die Busfahrt dauert nur einige Stunden, und erpassiert keine internationale Grenze. Doch das heißt nicht, dass ernicht kontrolliert werden könnte – von den Taliban. Der 28-Jährigefährt im November 2007 zum wiederholten Male über den Highwayvon seiner Heimatstadt Kandahar nach Kabul und zurück, sein Be-gleiter ist die Angst. Den Internationalen Streitkräften gelingt esnicht, die Straße frei von den Aufständischen zu halten.

Dabei ist der Kabul-Kandahar-Highway nicht irgendeine Piste imunruhigen Hinterland, auf denen die Taliban sich im Süden ohnehinrelativ frei bewegen können, sondern eine der wichtigsten Verkehrs-adern Afghanistans, die die beiden größten Städte des Landes verbin-det. Zudem ist der Highway ein Vorzeigeprojekt ausländischer Ent-wicklungshilfe. Die im Bürgerkrieg weitgehend zerstörte und 482 Ki-lometer lange Straße ist durch US-Mittel und mit Geldern aus Japanneu asphaltiert worden. Offiziell wird das bis dato größte einzelneWiederaufbauprojekt im Dezember 2003 eröffnet, schon die Bauar-beiten sind von den Taliban torpediert worden. Die Fertigstellung derSchnellstraße können die Rebellen nicht verhindern. Dass Reisendeden Highway unbeschwert nutzen können, schon.

In der ersten Zeit nach der Fertigstellung des Highways fahren so-gar Ausländer mit gewöhnlichen Taxen von Kabul aus in die einstigeTaliban-Hochburg Kandahar, ohne allzu viel Furcht zu haben. Das istlange vorbei. Inzwischen, sagt Toochi, stünden die Aufständischenmit der Waffe im Anschlag auf der Straße – nicht immer, aber eskomme immer wieder vor. Die Rebellen eröffneten das Feuer aufFahrzeuge der Regierung oder der Sicherheitskräfte, Unbeteiligte ge-rieten dabei zwischen die Fronten. Vor kurzem, sagt Toochi, sei das ei-nem Freund von ihm passiert, der Zivilist sei zur falschen Zeit am fal-schen Ort unterwegs gewesen. Er sei bei einem Angriff der Talibanauf demselben Highway, der hinter Kandahar weiter in Richtung He-rat durch Rebellengebiet führt, ins Kreuzfeuer geraten und erschos-sen worden. Kurz vor Weihnachten 2007 erschießen die Taliban nachAngaben ihres Sprechers Sabiullah Mudschahid drei Polizisten, zweiSoldaten und zwei Lastwagenfahrer, die sie wenige Tage zuvor aufdem Kabul-Kandahar-Highway entführt haben. Die Polizei bestätigtden Fund von Leichen.

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Busfahrer würden von den Aufständischen gezwungen anzuhal-ten, sagt Toochi. »Die Taliban befehlen allen auszusteigen.« Diemännlichen Passagiere würden gefilzt und nach Ausweispapierendurchsucht, die Taliban gingen sogar so weit, auf der Suche nach denNummern von Regierungsvertretern die Telefonbücher in denHandys durchzublättern. Auch Visitenkarten mit der Berufsbezeich-nung Journalist könnten bei den Kontrollen problematisch werden.»Wenn sie mich damit fassen, kann ich sie natürlich bitten, dieTaliban-Sprecher anzurufen«, sagt Toochi. »Aber in diese Situationmöchte ich gar nicht erst kommen.« Zwar kennt der Paschtune, dersich mit seinem langen dunklen Bart und der einfachen afghanischenKleidung nicht von anderen Buspassagieren aus Kandahar unter-scheidet, die Sprecher der Aufständischen, schließlich telefoniert erin seinem Job regelmäßig mit ihnen. Möglicherweise, so befürchteter, würden die Taliban auf dem Highway aber nicht lange mit ihm dis-kutieren, bevor sie ihn abführten und dann hinrichteten. Denn dasgeschehe mit Buspassagieren, die den Taliban verdächtig seien. Unddafür genüge eben bereits, die falschen Nummern gespeichert oderzwei Handys bei sich zu haben, sagt Toochi.

Längst nicht immer muss der Verdacht begründet sein. Die einfa-chen Taliban-Kämpfer sind ungebildet und alles andere als weltge-wandt. Wegen der Ignoranz der Rebellen, die Argumenten kaum zu-gänglich sind, will Toochi auf dem Rückweg von einem Journalisten-seminar in Kabul in seine Heimatstadt auch keinesfalls den Rekordermitnehmen, den ein westlicher Radiosender ihm zu einem Kollegenin die Hauptstadt geschickt hat. Der Apparat des Senders, für denToochi arbeitet, ist schwarz und etwas größer als eine Zigarrenkiste,das digitale Profi-Aufnahmegerät braucht keine Kassetten – und sieht deswegen aber auch nicht mehr aus wie ein harmloser Kasset-tenrekorder. Die Maschine, sagt der junge Reporter, könnte sein To-desurteil sein, sollte er in einen der Taliban-Checkpoints geraten: DieAufständischen dort könnten den Apparat für ein Funkgerät halten.Toochi lässt das Gerät in Kabul zurück, bevor er wieder in den Busnach Kandahar steigt. Seine Familie kann ihn kurz darauf unversehrtwieder in die Arme schließen.

Chan Aga ist noch viel häufiger als Toochi auf der Strecke zwischenKabul und Kandahar unterwegs. Aga ist früher Taxi gefahren, inzwi-schen sitzt er hinter dem Steuer eines Lastwagens, einen anderen Be-

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ruf, als Kraftfahrzeuge zu lenken, hat er nie gelernt. Aga ist 37 Jahrealt, doch seine ernsten Gesichtszüge lassen ihn deutlich älter wirken.Seine verbliebenen Zähne sind braune Stummel. Sein Haaransatz,das ist trotz der weißen Gebetskappe zu erkennen, ist auf dem Rück-marsch, die dunklen Haare und der Bart sind von grauen Strähnendurchzogen. Der Mann mit den sorgenvollen Augen hat fünf Söhneund drei Töchter, zusammen mit anderen Verwandten sind insge-samt 13 Familienangehörige von seinem mageren Einkommen ab-hängig. Rund 140 Dollar im Monat zahle er in Kabul Miete, sagt Agaim Februar 2007, das ist ein großer Teil seines Gehalts. Er selber istselten zu Hause. Das ist weniger belastend als die ständige Unge-wissheit darüber, ob er seine Familie jemals wiedersieht, wenn er denDieselmotor des Mercedes-Lkw anlässt und aus Kabul heraussteuert.

»Kühltransporte Sebastian Beisl« steht auf dem weißen Anhängervon Agas Lkw, aus Oberdietfurt kommt die Firma, der rote Schriftzugmit dem Namen blättert langsam ab. Der Anhänger hat einen weitenWeg von der niederbayerischen Provinz bis nach Afghanistan zu-rückgelegt. In Oberdietfurt sind Kühltransporte nichts Brisantes, inAfghanistan können sie den Fahrer das Leben kosten. Kühltranspor-te sind teuer und für viele Afghanen unbezahlbar, sie fahren oft imAuftrag der ausländischen Truppen. Auch die Taliban können einensolchen Lastwagen mit seinem Aufbau und den Kühlaggregaten voneinem gewöhnlichen Lkw unterscheiden. Tanklastwagen sorgen fürden Nachschub an Brennstoff für die Truppen. Kühltransporte brin-gen Lebensmittel für die Soldaten.

Ohne Treibstoff sind die ausländischen Streitkräfte lahmgelegt, oh-ne Nahrung ebenso. Viele der Truppensteller in Afghanistan – auchdie Deutschen – haben die Versorgung mit Lebensmitteln an Privat-firmen ausgegliedert. Die Unternehmen erledigen alles von der Be-schaffung bis zur Essensausgabe und machen damit großen Umsatz.In Afghanistan bereiten nicht deutsche Soldaten Erbsensuppe in ein-fachen Feldküchen zu. Billige Arbeitskräfte meist aus Asien, viele vonihnen sind aus Nepal, stehen an den Töpfen oder der Essensausgabe.Brot wird frisch gebacken, zum Frühstück gibt es Wurst, Käse, Eier,Müsli und was Magen und Herz sonst begehren. Zum Mittag- undzum Abendessen haben die Soldaten die Wahl zwischen verschiede-nen Hauptgerichten und Beilagen, afghanische Küche sucht man ver-gebens, alles ist angepasst an den europäischen Geschmack. Wer es

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leichter mag, kann sich am Salatbüfett bedienen. Eifrige Südasiatenschwirren durch den Speisesaal und füllen Kaffeeautomaten undSaftspender auf, sie stellen sicher, dass noch genug Senf- und Ket-chuptütchen ausliegen. Manche Soldaten beklagen, dass sie im Ein-satz an Gewicht zulegen. Dafür, dass die Küche niemals kalt bleibt,sorgen Männer wie Aga. Sie sind das schwächste Glied in der Versor-gungskette.

Im März 2008 verwandeln zwei Zeitbomben den GrenzübergangTorkham zwischen Pakistan und Afghanistan in ein Flammenmeer.38 Tanklastwagen mit Treibstoff für die NATO, die auf die Einreisenach Afghanistan warten, werden zerstört. Rund 100 Menschen er-leiden Brandverletzungen. Die pakistanischen Behörden vermuten,dass ein Grenzbeamter den Aufständischen geholfen haben könnte.Tanklastwagen werden von den Taliban immer wieder in Brand ge-steckt. Auch Kühltransporter sind rollende Angriffsziele.

Aga gehört der Lkw, den er steuert, nicht selber. Angestellt ist derFahrer bei einer afghanischen Firma, die wiederum Subunternehmerfür einen der internationalen Konzerne ist, der die Truppen versorgt.Die Soldaten, für die seine Fracht bestimmt ist, sieht Aga nur an denEingangskontrollen der Camps. Lebensmittel fährt er für die Deut-schen im Norden ebenso wie für die Amerikaner oder andere NATO-Truppen im Süden. Seine nächste Fahrt führt ins Feldlager derBundeswehr in Masar-i-Scharif. »Die Strecke ist ruhig, da kann ichsogar anhalten und Tee trinken«, sagt Aga. Nach seiner Rückkehrgeht es dann in den Süden, nach Kandahar. Die Route durch dasPaschtunengebiet ist für Aga und seine Kollegen lebensgefährlich.

Von Kabul bis ins etwa 150 Kilometer entfernte Ghasni sei der Wegnoch unproblematisch, sagt Aga. »Danach fahre ich bis Kandaharweiter, ohne anzuhalten.« Das sind rund 330 Kilometer. Sein grün la-ckiertes Führerhaus hat der Trucker mit einem Strauß blauer Plastik-blumen geschmückt. Eine der Blüten ist abgerissen und liegt auf derLüftung. Aus der Decke hängen Kabel, Steinschlag hat an der Beifah-rerseite Sprünge an der Windschutzscheibe hinterlassen, die grünenSitzbezüge sind abgewetzt. Gepanzert ist das Führerhaus nicht. Agahat keine Waffe, von einer Eskorte ganz zu schweigen. Drei Kollegenaus seiner Firma sind im Kugelhagel der Taliban schon ums Lebengekommen. Auch zahlreiche andere Lastwagenfahrer, die Aga nichtpersönlich gekannt hat, sind in den vergangenen Jahren getötet wor-

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den. Unterhalb der Scheibenwischer, an den Spiegeln und hinten amLkw hat Aga blaue und rote Tücher angebracht, so wie es Paschtunenan ihren Autos gerne machen. Er hofft, die Taliban könnten auch ihnfür einen Paschtunen halten und ihn deswegen nicht stoppen. Dereinzige andere Schutz, den er hat, ist das Gebet.

Ende 2006 ist Agas Lkw auf der Todesroute zwischen Ghasni undKandahar unterwegs. Mehr als 100 Stundenkilometer zeigt der Tachodes Mercedes-Lkw auf dem Highway, hinter Aga fährt ein weitererLastwagen. Dann, sagt Aga, seien plötzlich Taliban-Kämpfer »wie Die-be« unter einer Brücke hervorgekommen und hätten ihm signali-siert, er solle anhalten. »Ich habe so getan, als würde ich stoppen.«Doch im letzten Moment gibt er Gas und zieht an den Rebellen vor-bei. Die Aufständischen eröffnen das Feuer. Zwei Reifen werden ge-troffen, zu Agas Glück sind es nicht die vorderen. Im Rückspiegelsieht er, dass der Lastwagen hinter ihm im Kugelhagel der RebellenFeuer fängt. Aga beschleunigt, anhalten, das weiß er, könnte sein To-desurteil bedeuten. »Ich bin weitergefahren«, sagt er und zieht an sei-ner Zigarette. Er habe gehört, der Fahrer hinter ihm habe überlebt, si-cher ist er sich nicht. In dem lebensgefährlichen Beruf ist nicht vielPlatz für Kollegialität.

Hilfe hat auch Aga wenige Monate zuvor nicht erfahren. Er ist inder westafghanischen Provinz Farah unterwegs und hat Nachschubfür die US-Truppen am Stützpunkt Schindand geladen, als sein Last-wagen Schwierigkeiten macht. Aga weiß, dass dies kein guter Platzzum Anhalten ist, er stoppt erst beim nächsten Checkpoint der Poli-zei. Doch die Beamten wollen den auffälligen Lkw und seinen Fahrernicht bei sich haben, der Kühltransporter ist ein potenzielles Ziel, beieinem Angriff der Taliban könnten die schlecht ausgerüsteten undunterbezahlten Beamten selber in Lebensgefahr geraten. »Niemandhilft einem bei Problemen«, weiß Aga aus langer Erfahrung. Die Po-lizisten hätten ihn aufgefordert weiterzufahren. Aga tut, wie ihm be-fohlen wird, er hofft, die US-Basis trotz allem noch zu erreichen.Dann sieht Aga im Rückspiegel sein wirkliches Problem: einen Prit-schenwagen, der ihm folgt. Die Taliban überholen und zwingen ihnzu stoppen. Aga muss aussteigen. Es ist gegen 9 Uhr morgens, amhelllichten Tage zünden die Aufständischen den Tank des Lastwagensan. Dass der Lkw in Flammen aufgeht, das sieht Aga noch, bevor ihmdie Taliban die Augen verbinden.

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Dann wird der Trucker an einen unbekannten Ort gebracht. »Sielegten mich auf den Boden, einer hielt meine Schultern, ein anderermeine Füße«, sagt Aga. »Ein Dritter schlug mit einem Eisenrohr aufmich ein.« Noch heute, ein halbes Jahr später, nehme er Medikamen-te gegen die Spätfolgen. Aus einer Tasche seines abgetragenen grau-en Anoraks holt er eine gelbe Schachtel mit Schmerzmitteln hervor.Die Taliban hätten ihn damals über Nacht festgehalten, sie hätten ihmsein Geld und sein Handy abgenommen. Dann hätten sie ihn mit im-mer noch verbundenen Augen am Straßenrand ausgesetzt. Die Auf-ständischen geben ihm eine Warnung mit auf den Weg: Fahre niewieder für die ausländischen Soldaten. Nach dem Angriff sei er einenMonat lang bettlägerig gewesen, sagt Aga. Dann habe er sich dochwieder an das Steuer eines Kühltransporters gesetzt. Seine Fracht:Nachschub für die internationalen Truppen.

Insgesamt drei Mal sei er im vergangenen Jahr angegriffen wor-den, sagt Aga. Neben den Attacken auf dem Weg nach Kandahar undin Farah sei er einmal in der ostafghanischen Unruheprovinz Kunarbeschossen worden. Die Kugeln hätten aber nicht getroffen. Aga istzwar davon überzeugt, dass die ausländischen Soldaten bleiben müs-sen, weil das Land sonst noch unsicherer werde, wie er sagt. Mit sei-ner Entscheidung, trotz der eindeutigen Warnung der Taliban undtrotz der Lebensgefahr weiterzumachen, will er aber kein tollkühnesZeichen setzen. »Ich habe keine Wahl«, sagt Aga. »Ich muss eine gro-ße Familie ernähren.« Der übliche Monatslohn für Lastwagenfahrerin Afghanistan liege bei etwa 100 Dollar, sagt Aga. Wer aber für dieausländischen Truppen fahre, verdiene im Schnitt das Dreifache. Wersich – wie er – freiwillig öfter für die Strecke in den Süden melde, be-komme sogar noch mehr. Aga sagt, er fahre die Strecke acht oderneun Mal im Monat. Seine Angehörigen wüssten um die Gefahr.»Aber sie wissen auch, dass ich arbeiten muss.« Wegen der guten Be-zahlung würde niemand seiner Kollegen daran denken, die Fahrtenfür die ausländischen Truppen abzulehnen, sagt Aga. »Jeder hatAngst, aber keiner will aufhören.«

Wie stark die Angst vor den Rebellen ist – und wie groß ihr Ein-fluss im Süden –, beweisen sie, als sie dort im Frühjahr 2008 eine derwichtigsten Errungenschaften der vergangenen Jahre zumindest teil-weise wieder außer Kraft setzen. Ende Februar verkündet Taliban-Sprecher Kari Jussif Ahmadi per Telefon ein Ultimatum an Mobil-

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funkanbieter, die Handynetze in den Rebellenhochburgen nachts ab-zuschalten – angeblich, weil die ausländischen Truppen die Auf-ständischen sonst orten könnten. Die Mobilfunkbranche ist der er-folgreichste legale Wirtschaftszweig in Afghanistan, jeder Afghane,der es sich leisten kann, hat ein Handy. Unter den Taliban ist es kaummöglich gewesen, eine Festnetzleitung zu bekommen. Nach Ablaufdes Ultimatums beginnen die Rebellen, Sendemasten zu sprengen.Mobilfunkfirmen beugen sich zumindest in manchen Regionen demDruck der Taliban, auch wenn sie das nicht offiziell bestätigen wollen.So sagt etwa der Polizeichef der Provinz Sabul, Mohammad JakoubSabuli, Mitte März 2008, die Netze seien tagsüber verfügbar, nachtsgebe es inzwischen aber kein Funksignal mehr. Auch aus anderenGegenden berichten Kunden verschiedener Anbieter, nachts sei ihrHandy ohne Empfang.

Der Journalist Toochi sagt, in Kandahar-Stadt könne er noch als Re-porter arbeiten. Außerhalb sei das aber wegen der schlechten Sicher-heitslage selbst für ihn als Einheimischen unmöglich geworden. Essei eine »peinliche Situation« für die internationalen Truppen, dasstrotz all der Offensiven die Zahl der Taliban in der Gegend nicht ab-,sondern zunehme. »Sechs Jahre nach ihrem Sturz schließen sichmehr und mehr Menschen den Taliban an.« Ein hochrangiger afgha-nischer Regierungsvertreter räumt im September 2007 in Kabul ein,im Vorjahr sei man kurz davor gewesen, Kandahar an die Taliban zuverlieren. Das hätte fatale Folgen gehabt, denn »wenn Sie Kandaharverlieren, verlieren Sie Afghanistan«. Inzwischen habe sich die Lageaber deutlich gebessert, meint der Politiker. Wenige Wochen nach die-ser Aussage rücken Kämpfe zwischen Taliban und ausländischenTruppen so nahe an Kandahar-Stadt heran, dass deren verängstigteBewohner das Geschützfeuer hören. Die Aufständischen werden vonder ISAF wieder aus der Gegend vertrieben. Besiegt aber sind sienicht.

In einem bis dahin beispiellosen koordinierten Angriff gelingt esden Taliban in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 2008, mit Kämpfernund Selbstmordattentätern das Gefängnis von Kandahar zu stürmen.Taliban-Sprecher Kari Jussif Ahmadi sagt, vor dem Gefängnistorseien 1 800 Kilogramm Sprengstoff in einem Lastwagen gezündetworden, dann hätten Aufständische alle Wärter getötet. »Die Talibanhaben uns mit Autos davongefahren«, sagt einer der befreiten Rebel-

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len am Tag nach dem Angriff per Telefon. »Alle von uns sind geflo-hen.« Nach afghanischen Militärangaben entkommen 892 der 1 059Gefangenen. Unter den Befreiten sind 389 Taliban-Kämpfer. Die Auf-ständischen überrennen danach mehrere Orte im Distrikt Arghan-dab, rund 20 Kilometer nördlich von Kandahar-Stadt. Die afghani-sche Armee und die ISAF beginnen kurz darauf die Operation »DoarBukhou« (Umkehr), um die Taliban aus Arghandab zu vertreiben.Dutzende Taliban werden getötet, die Aufständischen ziehen sich An-gaben der Militärs zufolge wieder aus Arghandab zurück, doch hun-derte Rebellen werden nach der Flucht aus dem Gefängnis nicht ge-fasst. Die ISAF sieht sich während der Operation dazu genötigt,gleich mehrfach zu versichern, dass Kandahar-Stadt weiter unter derKontrolle der Regierung ist.

Er glaube zwar nicht, dass Kandahar in absehbarer Zeit an die Tali-ban fallen werde, sagt Toochi. Das halten auch internationale Militärsfür ausgeschlossen. Aber, sagt der Journalist, »die Situation um dieStadt herum wird immer schlimmer«. Das gelte nicht nur für Kanda-har. Auch künftig rechne er nicht damit, dass sich die Sicherheitslageim Süden verbessern werde. »Sie wird weiter schlecht bleiben. Diegroßen Städte werden unter der Kontrolle der Regierung, die länd-lichen Gebiete unter der der Taliban sein.«

Ähnlich schätzen zivile westliche Sicherheitsexperten die Lage ein.Zwar glaubt niemand daran, dass sich die Situation kurzfristig dra-matisch verändern könnte – weder zum Guten noch zum Schlech-ten. Dass sich die Spirale aber seit Jahren langsam abwärts dreht, istim Büro einer internationalen Organisation in Kabul anschaulich dar-gestellt. Festgeklebt an einem Schrank und an der Wand hängen dortuntereinander Landkarten aus den Jahren nach dem Sturz der Tali-ban, die chronologisch geordnet den Vormarsch der Rebellen zeigen.Die gefährlichen Gebiete haben Mitarbeiter der Organisation rot ein-gefärbt. In den obersten, den frühesten Landkarten sind es nur Farb-flecken, je weiter man nach unten blickt und in den Jahren voran-schreitet, desto mehr dehnt sich die Signalfarbe in die Fläche aus. ImHerbst 2007 ist – bis auf einige weiße Inseln – alles unterhalb einergeschlängelten Linie, die vom pakistanischen Grenzgebiet im Nord-osten bis an die Landesgrenze zum Iran im Südwesten verläuft,leuchtend rot. Die Bedrohung ist auf manchen Seiten bereits kurz vorKabul angekommen. Nur im Norden der Hauptstadt erstreckt sich

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noch ein breiter weißer Korridor. In Kabul selber hat sich die Sicher-heitslage so sehr verschlechtert, dass 2008 alle deutschen Diploma-ten auf das Botschaftsgelände ziehen müssen – wie in Bagdad. Mittenin der schwer gesicherten afghanischen Hauptstadt gelingt es den Ta-liban am 27. April 2008, eine Militärparade anzugreifen, an derKarsai teilnimmt. Aus einem Hotelzimmer nur rund 300 Meter vonder Ehrentribüne entfernt eröffnen die Rebellen das Feuer, der An-griff wird live im Staatsfernsehen übertragen. Karsai wird in Sicher-heit gebracht, es ist nicht das erste Mal, dass er einem Anschlagunverletzt entgeht. Ein Taliban-Sprecher sagt nach dem Angriff, dieAufständischen hätten der Welt zeigen wollen, dass sie überall zu-schlagen können.

Die Taliban haben zwar längst nicht alle der auf den Afghanistan-Karten rot markierten Gebiete unter ihrer Kontrolle. Aber die Auf-ständischen sind in diesen Regionen zumindest stark genug, dass sieAngst und Unsicherheit verbreiten können. Mit ihren Anschlägensignalisieren sie der Bevölkerung, dass weder die Regierung noch dieausländischen Truppen in der Lage sind, sie zu schützen. Die Talibanwürden inzwischen wieder rund zehn Prozent des Landes kontrollie-ren, sagt der Koordinator der US-Geheimdienste, Mike McConnell,im Februar 2008 vor dem Streitkräfteausschuss des US-Senats. Dieafghanische Regierung übe über 30 Prozent des Landes Kontrolleaus, der Rest werde von örtlichen Stammesführern beherrscht – vondenen wiederum manche den Taliban nahestehen. Im März 2008schätzen die Vereinten Nationen 78 der 398 afghanischen Distrikteals »extrem riskant« ein. In diese Gegenden im Süden haben UN-Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen keinen Zugang mehr.

Zunehmende Sorge bereitet westlichen Diplomaten und Sicher-heitsexperten, wie im Süden die nächste Präsidentschaftswahl vorbe-reitet und abgehalten werden soll, die 2009 ansteht. Eine Wählerre-gistrierung dort wird bei der derzeitigen Lage kaum für möglich ge-halten. Die Taliban dürften alles versuchen, die Abstimmung in ihrenEinflussbereichen mit Gewalt zu verhindern, und Wahlhelfer, Wahl-beobachter und vor allem die Wähler selber mit dem Tode bedrohen.Mit einer Verschiebung der Abstimmung um einen überschaubarenZeitraum wie bereits im Jahr 2004 – oder einer Zusammenlegungder Präsidentschafts- mit der 2010 anstehenden Parlamentswahl –würde etwas Zeit gewonnen, um die Lage im Süden zu stabilisieren.

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Sollte die Wahl aber auf absehbare Zeit gar nicht stattfinden, dann»wäre das Konzept gescheitert«, sagt ein westlicher Diplomat bereitsEnde 2006. Er betont, sollte die Gewalt auf dem gleichen Niveau blei-ben, »dann können Sie die Wahl vergessen«. Seitdem hat die Gewaltzugenommen.

Je mehr die Aufständischen ihren Einfluss in den ländlichen Ge-bieten ausdehnen, desto schwerer fällt es der Regierung, aber auchden Hilfsorganisationen, außerhalb der Provinzhauptstädte zu agie-ren. Nic Lee von ANSO, jener Organisation, die Hilfswerke in Afgha-nistan in Sicherheitsfragen berät, sagt Ende 2007, man sei an einem»kritisch schlechten Punkt« angelangt. Dieser Punkt stelle aber wohlnoch nicht das Ende der Abwärtsspirale dar. »Ich habe nicht das Ge-fühl, dass es irgendwelche Indikatoren gibt, die in die richtige Rich-tung deuten.« Ohne einen grundlegenden internationalen Strategie-wechsel sei die optimistischste Annahme, dass es noch zwei, drei Jah-re dauern werde, bevor die Aufständischen die ersten Provinzhaupt-städte angreifen würden. Dass das Zeitfenster sich langsam schließt,befürchten auch andere ausländische Afghanistan-Experten. Ohne ei-ne deutliche Zunahme des internationalen Engagements rechnen sieim Herbst 2007 mit einem Scheitern in Afghanistan bereits in dennächsten drei Jahren. Ein solches Scheitern aber, warnt ein Diplomatin Kabul, hätte nicht nur verheerende Folgen für Afghanistan, son-dern »weltpolitische Konsequenzen«.

Unter der Hand räumen selbst NATO-Vertreter wachsende Zweifelan einem Erfolg am Hindukusch ein, auch wenn sich die internati-onalen Truppen nach außen hin bemühen, Optimismus zu verbrei-ten. »Sicher, im Süden und Osten gibt es ein paar ziemlich heftigeKämpfe, und es gibt einen Aufstand, und es gibt vermutlich Gegen-den, die Menschen umgehen müssen, wenn sie reisen«, verkündetISAF-Kommandeur Dan McNeill im Herbst 2007 in der ISAF-Zei-tung Stimme der Freiheit. »Trotzdem sehe ich immer noch Menschenauf der Straße. Ich sehe Bewegung. Ich sehe, dass Handel getriebenwird. Also ist meine Sicht der Sicherheitslage, dass sie sich nicht ver-schlechtert.«

Der Afghanistan-Bericht von UN-Generalsekretär Ban Ki Moonvom März 2008 lässt diese Einschätzung des ISAF-Kommandeursfragwürdig erscheinen. 2007 habe »der Grad von Aufständischen-und Rebellenaktivität verglichen mit dem Vorjahr scharf zugenom-

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men«, berichtet Ban dem Weltsicherheitsrat. Durchschnittlich seien566 »Vorfälle« pro Monat registriert worden – ein Drittel mehr als2006. Die Zahl der Selbstmordanschläge sei um 30 Prozent auf 160angestiegen. Auch die Zahl der Opfer lässt nicht auf eine Entspan-nung der Sicherheitslage schließen, im Gegenteil: Jedes Jahr verlie-ren mehr Menschen am Hindukusch ihr Leben. 2006 sterben dortnach Schätzungen rund 4 000 Menschen einen gewaltsamen Tod, et-wa ein Viertel davon sollen Zivilisten sein. Im Jahr darauf – dem bisdahin blutigsten – verdoppelt sich die Gesamtzahl der Opfer. NachAngaben der Vereinten Nationen werden 2007 mehr als 8 000 Men-schen in Afghanistan getötet, darunter etwa 1 500 Zivilisten. In BansBericht heißt es, das Land bleibe grob zwischen dem generell stabile-ren Norden und Westen sowie dem »von einem zunehmend koordi-nierten Aufstand geprägten« Süden und Osten geteilt. Zwar sei diemeiste Gewalt auf einen kleinen Teil Südafghanistans beschränkt.»Ein beunruhigender Trend ist jedoch das graduelle Auftauchen vonRebellenaktivität im äußersten Nordwesten des Landes gewesen, ei-ner Gegend, die ruhig war.« Ein westlicher Diplomat sagt, die Talibanseien 2007 »sehr erfolgreich« gewesen. Die regierungsfeindlichenKräfte seien auf dem Vormarsch, ihr Einfluss nehme zu. Als Konse-quenz drohe, dass die Aufständischen künftig immer stärker auch inden Norden eindringen könnten. Sie seien bereits dabei, vom Nord-westen her dorthin einzusickern. Der afghanische Verteidigungsmi-nister Abdul Rahim Wardak sagt im März 2008, die Taliban wolltenihren Aufstand in den Norden und Westen ausdehnen.

Eine veränderte Lage im Norden, wo die Bundeswehr stationiert ist,stellt der dortige ISAF-Regionalkommandeur Dieter Warnecke be-reits im September 2007 fest. Zwar sei die Zahl der Anschläge ver-glichen mit dem Vorjahr zurückgegangen, sagt der deutsche Briga-degeneral im Feldlager der Bundeswehr in Masar-i-Scharif. »Aber dieQualität der Anschläge hat sich deutlich verändert.« Die Taliban wür-den im Norden inzwischen »bedauerlicherweise noch hinterhältigerund mit viel mehr Effekt für die Medien und die Öffentlichkeit« zu-schlagen. »Wir haben viel, viel mehr spektakuläre Todesfälle jetzt.«Gegen Sprengfallen und Selbstmordanschläge könne man sich nursehr schwer schützen. Sorge bereiten westlichen Experten Berichteüber lokale Kommandeure im Norden, die Waffen anhäufen, weil sienicht darauf vertrauen, dass die afghanische Regierung oder die ISAF

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sie im Falle einer Rückkehr der Taliban schützen würden. Landes-kenner warnen Ende 2007 vor einer »unguten Dynamik« in der Re-gion. Die Menschen seien in »Wartestellung«. Die Deutschen dortkönnten zwar weiterhin auf Sympathie, aber nicht mehr auf aktiveUnterstützung bauen – offene Unterstützung der Ausländer sei in-zwischen selbst den Einheimischen im Norden angesichts der zu-nehmend unsicheren Lage im Land zu riskant. NATO-BotschafterDaan Everts sagt im November 2007, viele Afghanen zweifelten ander Zusage des Bündnisses, so lange wie nötig am Hindukusch zubleiben. »Sie sind deshalb vorsichtig und warten ab.«

ANSO-Direktor Lee hält es für nicht unwahrscheinlich, dass derNorden künftig »wachsende Sorge« hervorrufen wird. »Wenn Kun-dus die Basis für die Eskalation ist, werden die Deutschen an derFront stehen«, sagt er. »Ob die Deutschen sich dann als Kämpfer se-hen werden oder nicht, ist irrelevant« – denn für die Taliban seien dieBundeswehr-Soldaten ganz bestimmt feindliche Kombattanten. Leesagt, schon 2007 hätten die Taliban in Kundus durch ihre Anschlägeeine neue Front eröffnet. Ihnen sei es im selben Jahr zudem gelun-gen, die Regierung mit neuen Kampfschauplätzen in der nordwest-afghanischen Provinz Badghis – wo die Bundeswehr im Herbst 2007und im Frühjahr 2008 an Operationen gegen die Aufständischen teil-nimmt – und in der westafghanischen Provinz Farah unter Druck zusetzen. Deswegen teile er auch nicht die Ansicht der ISAF, die vonden Rebellen angekündigte Frühjahrsoffensive sei von den Sicher-heitskräften »im Keime erstickt« worden. »Ich argumentiere, dieFrühjahrsoffensive fand statt«, sagt Lee. Drei neue Fronten und einemehr als Verdreifachung der Zahl der Angriffe und Anschläge zwi-schen Februar und Juli 2007 seien dafür Beweis genug. »Wenn daskeine Offensive ist, dann weiß ich nicht, was eine sein soll«, sagt Lee.»Die Zahlen lügen nicht.«

Ende März 2008 kündigt Mullah-Omar-Stellvertreter Mullah Bra-der Akhund wieder eine Frühjahrsoffensive an. Er nennt sie »Ebrat«,Lektion. »Das Ziel dieser Operation«, so heißt es auf der Mitteilungdes Kommandeurs auf der Homepage der Taliban, »ist es, den Inva-soren eine Lektion zu erteilen.« So solle das Ende der »Besatzung«Afghanistans erzwungen werden. Der NATO-Sprecher in Kabul,Mark Laity, nennt die Ankündigung eine »Lektion in Lügen« und»dieselbe alte Geschichte, denselben alten Blödsinn«. Weil die Taliban

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nicht gegen die afghanischen Sicherheitskräfte und gegen die ISAFankämen, wichen sie auf Anschläge aus, sagt Laity am 26. März. We-nige Stunden später werden bei einem Anschlag in Nordafghanistandrei deutsche Soldaten verletzt, zwei davon schwer. Die Taliban be-kennen sich zu der Tat und verkünden im Internet, der Anschlag seiTeil ihrer Frühjahrsoffensive 2008.

Manche Statistiken scheinen auf den ersten Blick ein positiveresBild zu vermitteln, als die Schreckensmeldungen vom Hindukuscherwarten ließen – allerdings trübt sich dieses Bild bei genauerer Be-trachtung ein. In einer Anfang Dezember 2007 veröffentlichten re-präsentativen Umfrage der ARD, der britischen BBC und des US-Senders ABC sagen zwar immer noch 54 Prozent der Afghanen, ihrLand sei auf dem richtigen Wege. Doch das sind 23 Prozentpunkteweniger als bei einer ähnlichen Umfrage zwei Jahre zuvor. Zwarstimmt, was die ISAF nach Veröffentlichung der bis dato umfang-reichsten Umfrage seit dem Sturz der Taliban im Dezember 2007stolz verkündet: dass 72 Prozent der Befragten die Anwesenheit derKoalitionstruppen und 67 Prozent die Präsenz der Schutztruppe be-grüßen. ISAF-Sprecher Carlos Branco veranlasst das zu der Interpre-tation: »Diese Ergebnisse weisen deutlich darauf hin, dass die Talibandabei versagt haben, die Zivilbevölkerung in irgendeiner signifikan-ten Weise zu beeinflussen, trotz ihrer größten Anstrengungen bei derPropaganda und der Manipulation der Medien.« Branco sagt abernicht, dass beide Werte im Vergleich zu der Umfrage im Vorjahr umsechs Prozentpunkte bei der Koalition und sogar um elf Prozent-punkte bei der ISAF abgenommen haben. Der ISAF-Sprecher lässtauch unerwähnt, dass die Zustimmung zu Anschlägen gegen aus-ländische Truppen 2007 fast überall in Afghanistan zugenommenhat. Im Süden stößt Gewalt gegen US-Soldaten bei 26 Prozent der Be-fragten auf Zustimmung, 19 Prozentpunkte mehr als ein Jahr zuvor.Während im nordöstlichen Einsatzgebiet der Bundeswehr im Jahr2006 nur einer von hundert Befragten Sympathie für Gewalt gegendie ISAF zeigte, sind es im Jahr darauf bereits 18 Prozent. Im Südensagen 2007 noch 59 Prozent der Befragten, der Sturz der Taliban seiaus heutiger Sicht sehr oder überwiegend gut gewesen – im Jahr zu-vor sind es 78 Prozent gewesen. Im Osten sinkt dieser Wert binnenJahresfrist von 84 auf 64 Prozent. Landesweit glauben 44 Prozent derAfghanen im Jahr 2007, die Taliban seien in den zwölf Monaten vor

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der Umfrage stärker geworden. Nicht einmal jeder Vierte meint, dieAufständischen seien geschwächt worden.

Selbst wenn viele der Indikatoren nicht auf eine Verbesserung derLage in Afghanistan schließen lassen, so deutet die Studie doch auchdarauf hin, dass die viel beschworene »Irakisierung« des Landes(noch) nicht Wirklichkeit ist. Während im Jahr 2007 am Hindukuschjeder Zweite glaubt, seine Kinder würden es eines Tages besser haben,vertraut darauf in einer entsprechenden Umfrage im Irak nur nochein Drittel der dort Befragten. Auch die kurzfristigen Aussichten be-werten die Afghanen wesentlich besser: Die Hälfte von ihnen meint2007, ihre Gesamtsituation werde sich in einem Jahr verbessert ha-ben. Der Optimismus ist verglichen mit 2005, als noch 67 Prozentder Afghanen daran glaubten, zwar gebremst – aber immer noch ver-breiteter als im Irak, wo nur 29 Prozent eine bessere Zukunft binnenJahresfrist erwarten.

Dass die Lage in Afghanistan im Jahr 2007 nicht so schlecht wie imIrak ist, kann allerdings kaum als Zeichen der Entwarnung gedeutetwerden. Der junge Journalist Toochi kennt die Statistiken nicht, ersagt, er selber könne keine Zahlen dazu nennen, wie viele der Afgha-nen in seiner Heimatregion die Taliban gerne zurück an der Machthätten. »Aber es ist leicht zu sagen, was alle wollen: Frieden und Si-cherheit.« Die Internationale Gemeinschaft biete das den Afghanenbesonders im Süden bislang nicht, meint Toochi Ende 2007. »Und esist doch offensichtlich: Wenn die Menschen sehen, dass die eine Sei-te keine Sicherheit herstellen kann, dann wenden sie sich der ande-ren Seite zu.«

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