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Vorwort Credit Suisse 7

Augusto Giacometti – ein zentraler Aussenseiter Einführung und Dank 9

Matthias Frehner

Biografie 17

Beat Stutzer

Farbvisionen 31 Beat Stutzer

»Mit einem Farbenkreis manipulieren«Augusto Giacomettis Abstraktion 45 Daniel Spanke

Der »Faden einer Wahrheit«Augusto Giacomettis Vortrag Die Farbe und ich 63

Julia Burckhardt

Das Geheimnis der Farbwirkung von Augusto Giacomettis Glasgemälden 75 Deborah Favre

Augusto Giacometti im Kontext europäischer Farbmalerei 85

Daniel Spanke

Raimer Jochims zu Augusto Giacometti 87

Bibliografie 88

Tafeln 95

Katalog 214

Manuskript Die Farbe und ich von Augusto Giacometti, 1933 225

Zentralbibliothek Zürich, Ms_Oprecht_15_1

Ausstellungsverzeichnis 258

Hannah Rocchi Verzeichnis der Wandgemälde und Glasfenster 262

Beat Stutzer Bildnachweis 263

Impressum 264

Inhalt

111 Selbstbildnis, 1922, Öl auf Leinwand, 41,5 x 35,7 cm

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Innerhalb der modernen Schweizer Kunst und auch in der Entwicklung der internationalen Abstraktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts nimmt Augusto Giacometti (1877–1947) eine zentrale Aussenseiterposition ein. Er war von Anbe-ginn seiner Laufbahn ein eminent unabhängiger Geist. Im Unterschied zu fast allen seinen Schweizer Künstlerkolle-gen hatte er sich von Fremdeinflüssen schnell befreit und seinen ureigenen Ausdruck gefunden. Der dekorative Stil seines Lehrers Eugène Grasset blockierte ihn nicht, sondern war ihm das Tor zur freien Entwicklung unabhängiger Ab-straktionskonzepte, während sich Giovanni Giacometti und Cuno Amiet jahrelang abmühten, aus dem übermächtigen Bannkreis ihrer Vorbilder Giovanni Segantini respektive Ferdinand Hodler zu treten. Nie hat sich Augusto Giacometti bekenntnishaft einer internationalen Avantgardebewegung angeschlossen wie Amiet und Giovanni Giacometti der Brü-cke oder Paul Klee und Jean-Bloé Niestlé dem Blauen Rei-ter. Dies hinderte ihn indes nicht, primär aus persönlicher Sympathie zu Künstlerkollegen, vorübergehend Gruppierun-gen beizutreten. Seine Mitgliedschaft bei der spätexpressi-onistischen Künstlergruppe Das Neue Leben (1918–1920), die der Basler Fritz Baumann gegründet hatte, war ebenso ein Akt spontaner Solidarität mit jüngeren Künstlern wie seine »Teilnahme« an der 8. Dada- Soirée vom 9. April 1919 im Saal des Kaufleuten in Zürich, wo er zusammen mit Alice Bailly in einem gemeinsam dekorierten Goldblatt-Transpa-rent Tristan Tzara huldigte.1 Für den vielseitig unabhängigen Künstler waren diese gleichzeitigen Engagements kein Widerspruch. Ein Entweder-oder gab es weder in seinem Leben noch in seiner Kunst. Es fiel ihm deshalb auch nicht schwer, gleichzeitig Zugang zu den bürgerlichen Kreisen in Zürich zu finden, die seine delikaten, realistischen Pastelle und Gemälde schätzten und sammelten und damit dazu beitrugen, dass er ab den 1920er-Jahren zusammen mit Amiet zum offiziell gefeierten Künstler der Schweiz aufstieg. Grosse, viel beachtete Ausstellungen fanden 1924 in der Kunsthalle Bern und 1927 im Kunsthaus Zürich statt. Aber auch im Ausland stiess er auf Erfolg, als er 1920 und 1932 die Schweiz an der Biennale in Venedig vertrat und 1930 und 1933 in der renommierten Pariser Galerie Bernheim-Jeune

ausstellte. Zahlreiche Aufträge für Wandmalereien sowie für Glasgemälde in Kirchen und öffentlichen Gebäuden spiegeln seine allgemeine Wertschätzung, die 1934 mit der Wahl in die Eidgenössische Kunstkommission ihren offiziellen Ausdruck fand. Da er in den 1930er-Jahren und während der Kriegszeit seine moderne Farbmalerei auch zur Darstellung arkadisch schöner Schweizer Landschaften einsetzte – wie beispiels-weise beim Gemälde Stampa von 1945 (Kat. 128) – wurde er bei seinem Tod 1947 als einer der führenden Künstler des Landes verehrt. Dieser Ruf hat die Rezeption seines Werkes lange Zeit dominiert.

Es ist ein Ziel unserer Ausstellung, bewusst zu machen, dass Augusto Giacometti nicht einfach ein Gelegen-heitsabstrakter war, als der er in der Kunstgeschichte mehr-heitlich dargestellt worden ist, sondern eine Pionier figur des frühen 20. Jahrhunderts. Innovation muss immer am einzelnen Werk ermittelt werden. Seine frühen Abstraktionen als Zufallsfunde und Einmalleistungen zu bezeichnen, weil er später hauptsächlich wieder gegenständlich malte, sollte spätestens seit dem Everything-goes der Postmoderne obsolet geworden sein. Augusto Giacometti hatte seine Gründe, zwischen den Stilen zu pendeln. Es sind dieselben Beweggründe, die nicht nur Amiet und Giovanni Giacometti, sondern fast alle Schweizer Künstlerinnen und Künstler der frühen Klassischen Moderne von Alice Bailly bis Otto Morach, von Gustave Buchet bis Louis Moilliet nach einer kurzen Zeit der Experimente in ihrer Jugend spätestens in den 1920er-Jahren zu einer Rückkehr zum Realismus veranlasst haben. Denn ihre Schweizer Sammlerinnen und Sammler waren nicht bereit, abstrakte Werke zu kaufen. Tonangebende Figuren wie Richard Bühler und Hedy Hahnloser in Winter-thur, wie Richard Kissling in Zürich, Josef Müller und Gertrud Dübi-Müller in Solothurn waren zwar offen für die moderne französische Kunst vom Impressionismus bis hin zum hefti-gen Kolorismus der Fauves und der Brücke-Künstler, sie be-harrten jedoch auf der Erkennbarkeit gegenständlicher Bild-motive. Wer in der Abstraktion über Paul Cézanne und Vincent van Gogh hinausging, wurde unzimperlich zurückgepfiffen. War die »gegenständliche Anschauung« vernachlässigt, so liess selbst ein so aufgeschlossener Kunstkenner wie

Augusto Giacometti – ein zentraler Aussenseiter

Einführung und DankMatthias Frehner

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FarbvisionenBeat Stutzer

In seiner Rede zum Begräbnis von Augusto Giacometti stellte Erwin Poeschel fest, dass sein Werk aus »einer ein-heitlichen, von allem Anfang an ihm eingewurzelten Grund-anschauung heraus« gewachsen sei, an der Giacometti »unbeirrt von allem Wechsel der zeitgemässen künstleri-schen Auffassungen festgehalten« habe. Um mit der Kunst »über den Trübungen des Alltags eine andere, strahlende Welt des schönen Scheines aufzurichten«, habe er mit dem Primat der Farbe, die »stets im Zentrum seines Schaffens stand«,1 das Mittel dazu gefunden.

Bezeichnend für die Kontinuität der lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Farbe sind die kleinen, abstrakten Pastelle. Die ersten entstanden bereits 1899, doch Giacometti hielt stets an ihnen fest und schuf sie parallel zu seinen übrigen Arbeiten im Verlauf der Jahrzehnte, um sich immer wieder bestimmter Farbkom-binationen und -wirkungen zu vergewissern. Die kleinen Blätter – »Sie sind der Kern«, notierte Giacometti einmal in ein Skizzenbuch2 (siehe S. 51, Abb. 6) – fungieren inner-halb des vielfältigen Œuvres wie eine Klammer, unabhän-gig von den momentanen bildnerischen Problemen, mit denen sich der Künstler gerade beschäftigte, und enthoben von formalen und inhaltlichen Ansprüchen: »So denkt der Künstler immer in Farbe«.3 Unter dem Aspekt des Farb-primats erweist sich Giacomettis Gesamtschaffen deshalb von frappanter Folgerichtigkeit, auch wenn diese durch die zeitbedingten stil istischen und gattungsspezifischen Wand-lungen mitunter verschleiert wird.

Wenn von Widersprüchlichkeiten, Stilbrüchen oder Diskontinuität die Rede ist und Giacometti deshalb als ei-nes der »seltsamsten Phänomene«,4 das die Schweizer Kunst hervorgebracht habe, bezeichnet wurde, betrifft dies rezeptionsgeschichtliche Perspektiven. Es hat zu tun mit der Karriere eines Künstlers, der vom Jugendstil über den Symbolismus zur Abstraktion gelangte, sich vom Avantgar-disten zu einem anerkannten, »offiziellen« Künstler wan-delte und der zudem als Erneuerer der Glasmalerei, be-deutender Wandmaler und Plakatgestalter von sich reden machte. Vor dem Hintergrund des Abstrakten Expressio-nismus der 1950er-Jahre wurde Giacometti unvermittelt

postum als »Pionier der abstrakten Malerei«5 reklamiert. Tatsächlich hat die informelle Kunst der 1950er-Jahre den Blick für Giacomettis Malerei wieder geschärft und gleich-sam freigelegt. Mit der neuen Wertschätzung richtete sich das Interesse primär auf die nicht figurativen Werke, vor allem auf die »chromatischen Phantasien«, während im Ge-genzug das spätere Schaffen insofern Missbilligung erfuhr, als man vom »Konfitüren-Giacometti«6 sprach und ihm Zugeständnisse an den Publikumsgeschmack sowie einen Hang zur Harmlosigkeit, ja sogar zum Kitsch vorwarf.7

Erwin Poeschels Urteil über die Homogenität des Œuvres unter dem Blickwinkel der Farbe wird auch heute noch bekräftigt – »Die Suche nach den Gesetzen der farbi-gen Welt ist die Grundfrage in Giacomettis Arbeit«8 – und erfährt durch die Ausstellung im Kunstmuseum Bern, die sich ganz auf die Farbe bei Giacometti fokussiert, eine eindrucksvolle Bestätigung. Der weite Bogen, der sich vom Symbolismus über die farbenprächtigen Blumen-bilder und Dorfansichten von Stampa, die »chromatischen Phantasien« und kosmischen Visionen bis hin zu den Stillleben und Landschaften der späten Jahre spannt, bringt des Künstlers virtuosen Umgang mit der Farbe anschaulich zum Ausdruck.

Bei der Auseinandersetzung mit der Farbe in Giacomettis Werk erweist es sich als ergiebig, auf ältere Schriften zurückzugreifen, denen aufgrund späterer ent-wicklungsgeschichtlicher Kriterien und rezeptionsge-schichtlicher Aspekte kaum mehr gebührende Aufmerk-samkeit geschenkt wurde. Die schon in der Kindheit erweckte Faszination des Künstlers für die Farbe kommt in Giacomettis Lebenserinnerungen – die ersten autobiografi-schen Aufzeichnungen datieren vom März 1926 und wurden im Hinblick auf Arnaldo M. Zendrallis italienischsprachige Monografie von 1928 verfasst9 – wiederholt zum Ausdruck, meist anekdotisch, aber retrospektiv stets erhellend. Dazu nur eine beispielhafte Passage: »Tante Maddelena hat-te mir eine kleine, längliche Aquarellschachtel geschenkt. [...] Es waren kleine, ganz harte, runde Farbstücke darin. Man musste lange reiben, bis sich überhaupt ein wenig Farbe löste. Aber ich war selig. Auch ein Stück Zinnoberrot

Abb. 1 Skizze aus dem Unterricht bei Grasset, Paris 10. Dezember 1897, SIK-ISEA, Schweizerisches Kunstarchiv, Zürich, HNA 13.1.3.2

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leuchtenden, kosmischen Farbnebeln verdichten, zum anderen auf einer derart differenzierten Verteilung der glühenden Farbe vor dunklem Grund, dass die Komposition eine Dynamisierung und Bewegtheit erlangt, wie sie in früheren Werken nicht vorzufinden sind. Der Dadaist Hans Arp erinnerte sich später: »Giacometti malte in jener Epo-che Sternblumen, kosmische Feuerbrände, Flammenbün-del, lodernde Tiefen. Diese Malereien sind den unseren verwandt, da sie ebenfalls unmittelbare Gestaltung von Farben und Formen sind.«73

Der einst als radikal eingestufte Stilwechsel ist aber bloss ein scheinbarer, da sich die Beobachtung nur auf Äusserlichkeiten richtete. Der Wandel basiert einzig darauf, dass nun die Farbtöne in fliessender Manier dünner auf-getragen werden und zumeist vor dunklen Gründen über-gangslos ineinanderfliessen, sodass das zuvor bildkonstitu-ierende Weiss der Leinwand konsequent überblendet wird. Mit schwebend-wolkigen Gebilden, die in einem unauslot-baren Raum und in einem magischen Licht aufglühen, wird eine Verbildlichung psychischer Befindlichkeiten und mys-teriöser Erlebnisse heraufbeschworen. Unverbindliche Be-titelungen wie Gestaltung I (Kat. 94), Werden (Kat. 96) oder Bild (Kat. 105) schüren die entsprechenden Assoziationen. So bringt Poeschel bei der Sommernacht das Braungelb mit dem »Geruch des reifenden Kornes« und das Orange mit der »Fruchtbarkeit des Lebens« in Übereinstimmung, wäh-rend dazwischen weisslich graue Sternennebel schwebten und »eine rote oder eine violettsamtne Blüte« den »schwe-ren schwülen Duft« der Gärten atme.74

Bei Bild spricht Poeschel von einem »Gewölk von Gletschergrün und Blau« vor »einem bräunlichschwarzen Grund«, aus dem »eine blutrote Flamme« aus »aufgeris-senem Spalt«75 schlage, während beim Werden die Seele in Farben denke:76 Diese »kosmische Vision in Farben« zeige »auf der Nacht eines braunschwarzen Grundes eine feurige Scheibe, flüssige Lava, Zustand vor der Gestalt« sowie »Protuberanzen von gedämpftem Rot und Lila als Ausstrah-lungen dieses Kraftkernes«.77

Einmal mehr zwingt Giacometti bei anderen, zeitglei-chen Werken die unergründlich luziden Farbenschleier in

ein geometrisches Ordnungsgefüge von neun Feldern, wie er es bei den pastellenen Farbabstraktionen häufig erprobt hat und wie es ebenso bei der Phantasie über eine Kartoffel-blüte (Kat. 90) vage durchscheint. Während bei der Gestal-tung I der Titel alles offen lässt, verweist er beim Bildnis Felix Moeschlin (Kat. 104) – einer ungegenständlichen Farb-komposition – unmissverständlich und forsch auf die An-schaulichkeit eines konkreten Bildnisses. Dabei hat allein der Klang der Farben die physische und psychische Prä-senz des Porträtierten zu erwecken: »Im Kern von Blau zu Grün spielende Töne, der Schein der Augen, und um sie he-rum ein Gewölk von rötlichem Gelb und Braun. […] Das ist alles, was mir von dir geblieben«, schreibt Erwin Poeschel über den Schweizer Schriftsteller, »nicht die Züge, nicht die Form deines Gesichtes, nur dieser mir neue Klang, dieses Farbenspiel deines gelben Germanenkopfes.«78

Späte WerkeDem Zeitgeist der überall einsetzenden restaurativen Ten-denzen entsprechend wandte sich Giacometti im Laufe der 1920er-Jahre wieder vermehrt dem Abbildhaften zu und schuf farbenprächtige Stillleben, heitere Landschaften, lichtdurchwirkte Reiseimpressionen und Städtebilder, bei denen die Dinge in einer schwelgerischen Farbigkeit und in »exotischer Buntheit«79 erscheinen. Exemplarisch dafür stehen die grossen Gemälde wie Sidi-Bou-Saïd (Kat. 121), der Ausbruch des Ätna (Kat. 119) oder Die Bar Olympia (Kat. 117) – »ins Tafelbild geflüchtete Wandmalereien von heimlicher Monumentalität«.80 Während es sich beim spek-takulären Vulkanausbruch um »ein wahrhaft bengalisches Feuerwerk farblicher Reize«81 handelt, glühen beim Pariser Interieur vor einem dunkelgrünen Grund schwere Violett- und Rottöne auf, die sich zu leuchtendem Orange und blendendem Gelb steigern. Das freie Fliessen der Farben voller sinnlicher und schwülstiger Präsenz schildert zwar das mondäne Lokal, über die Raumverhältnisse bleibt man aber deshalb im Ungewissen, weil die grossen Spiegel die Grenzen wirksam verwischen.

Giacomettis damalige Vorliebe für »das Prunkvolle, das Magische und Märchenhafte«, auch für »das Rauschhafte«,82

Farbvisionen

Abb. 11 Augusto Giacometti, Selbstbildnis, 1908, Öl auf Leinwand, Ø 51 cm, Privatbesitz

Abb. 10 Otto Meyer-Amden, Vorbereitung, um 1920, Öl, 31,5 x 42,5 cm, Kunstmuseum St. Gal-len, Depositum der Gottfried Keller-Stiftung

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und Vollständigkeit«,14 mit der die Naturwissenschaft-ler das Leben von Flora und Fauna untersuchen, ohne dabei Forderungen aufzustellen. Als Künstler sieht er sich von einem ähnlichen Interesse geleitet bei dem Ver-such, sich der Farben auf einer wissenschaftlichen Ebe-ne anzunähern. So wie die Naturwissenschaftler das Recht hätten, über die Bedingungen und das Verhalten der Naturgeschöpfe zu reflektieren, möchte er von seinen Überlegungen zur Farbe berichten. Der Wunsch, als Wis-senschaftler zu gelten, erstaunt nicht, beanspruchen die farbtheoretischen Überlegungen doch bereits seit Johann Wolfgang von Goethes Farbenlehre15 wissenschaftlichen Charakter. Goethe war in Wissenschaftskreisen, unter Künstlern und in der breiten Öffentlichkeit seit Erscheinen seiner umfassenden, dreibändigen Abhandlung 1810 sehr bekannt.16 Dies vor allem auch aufgrund der deutlichen Abgrenzung gegenüber dem englischen Physiker Isaac Newton und dessen farbtheoretischer Schrift Opticks.1 7

Farbeindrücke in der Kindheit »Von jeher hat die Farbe und alles Farbige auf mich einen grossen Eindruck gemacht.«18 Mit dieser bedeutsamen Aus-sage formuliert Giacometti auf den ersten Seiten seiner Schrift die lebenslange Auseinandersetzung mit der Farbe. Bereits in seiner Kindheit gab es viele prägende Momen-te. Seine erste Farberfahrung, an die er sich erinnern kann, machte er als etwa dreijähriges Kind, als er in einem gelben Kinderstuhl sass, an dem an einem Holzstab ein glänzender Messingnagel angebracht war. Die Wirkung des Zusammen-spiels von Gelb und Gold hat sich so stark in sein Gedächtnis eingeprägt, dass er sich beim Anblick dieser Farbtöne, sei es in einem Mosaik des Markusdoms in Venedig, sei es beim Gelb des Wüstensandes oder bei der goldenen Sonne in Nordafrika, stets an seinen Kinderstuhl in Stampa erinnert fühlte.19 Zu weiteren Farbeindrücken gelangte er durch das Betrachten von farbigen Glasstücken, die – nahe ans Auge gerückt – die Umgebung in einer fremden Farbigkeit zeigen. Beim Blick durch eine grüne Glasscherbe stellte er sich bei-spielsweise vor, dass die Welt so bei ihrem Untergang aus-sehen müsste, wenn das Jüngste Gericht abgehalten würde.

Diese frühen Farberlebnisse sind aus der Rückschau ei-nes erfolgreichen Künstlers verfasst, der die innere Beru-fung zur Farbe aus seiner frühesten Kindheit herleitet, was in der Kunstliteratur nicht unüblich ist. 1913 beginnt auch Wassily Kandinsky (1866–1944) seine Rückblicke20 mit prä-genden Farberfahrungen aus seiner Kindheit: »Die ersten Farben, die einen starken Eindruck auf mich gemacht ha-ben, waren hell-saftig-grün, weiss, karminrot, schwarz, ockergelb. Diese Erinnerungen gehen bis ins dritte Lebens-jahr zurück.«21 Darauf folgt bei Kandinsky eine ähnliche Beschreibung von der als bedrohlich empfundenen Macht der Farben in Kindheitstagen.22 Die Übereinstimmungen sind nicht zuletzt vor dem Hintergrund verblüffend, dass sowohl Giacometti als auch Kandinsky zeitlebens autobio-grafische Schriften verfasst haben. Bei beiden Künstlern bergen diese rückblickenden Erinnerungen an Kindertage die Gefahr, verklärend und beschönigend auszufallen.

Künstlerische Grundlagen durch GrassetGiacomettis Suche nach Strukturen und Gesetzmässig-keiten in der Malerei findet ihre Grundlage in den Aus-bildungsjahren in Paris. Mehrere Skizzenbücher geben Auskunft über die Ausbildung, die er bei Eugène Grasset genossen hatte.23 Die Lehrzeit war sehr prägend. Alles Bisherige wurde als »wertlos« angesehen und »über Bord geworfen«.24 Grasset, aus Lausanne stammend und seit 1871 in Paris, hatte sich einen bedeutenden Namen als Maler, Architekt, Illustrator, freier Grafiker, Kunsttheore-tiker und Typograf gemacht.25 Giacomettis Begeisterung für den Unterricht war gross: »Alles war fest gebaut, war logisch und konsequent.« Es war so, als ob »man mir plötzlich die Augen geöffnet hätte. Eine neue Welt war im Entstehen begriffen. […] Man war wie eine Art Gott und konnte in analoger Weise wie der liebe Gott mit der Natur verfahren und vorgehen«.26

Bereits im Frühling 1898 tritt die Farbe zum ersten Mal im Lehrplan auf.27 Ihre Vermittlung fusst auf Grassets Überlegungen, die er 1905 in seiner theoretischen Schrift Méthode de composition ornementale28 veröffentlichen sollte.29 Die fundamentale Bedeutung der Ausbildung bei Grasset

Der »Faden einer Wahrheit«. Augusto Giacomettis Vortrag Die Farbe und ich

Abb. 3 Seite aus einem Notizheft Augusto Giacomettis, Bleistift, 1928, HNA 13.1.3.21, 4, 5, 6 alle SIK-ISEA, alle Schweizerisches Kunstarchiv, Zürich

Abb. 2 Augusto Giacometti im Atelier von Eugène Grasset in Paris, 1899; auf der Staffelei: Detail mit der Frauenfigur aus dem Entwurf zum Bild Musik, 1898, Privatbesitz

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29 Narziss, 1905, Tempera auf Holz, 66 x 197 cm

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82 Piz Duan, um 1915, Aquarell auf Papier, 30,6 x 39 cm

53 Blaue Berge, um 1910 /14, Aquarell auf Papier, 28 x 45 cm

47 Birken im Herbst, um 1910, Aquarell auf Papier, 22,3 x 26 cm 50 Piz Duan, um 1910, Aquarell auf Papier, 25 x 34 cm

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90 Phantasie über eine Kartoffelblüte, 1917, Öl auf Leinwand, 132 x 135 cm 71 Chromatische Phantasie, 1914, Öl auf Leinwand, 100 x 100 cm