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Der Raeuber Isegrim

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IN JEDES HAUS GEHÖRT DIESES WERK das ist das überzeugende Urteil von Presse und Rundfunk über die große, spannend geschriebene Weltgeschichte „Bild der Jahrhunderte" des Münchner Historikers Otto Zierer. Von ungeheurer Dramatik sind die Bände dieses neuartigen, erregenden Geschichtswerkes erfüllt. Hier sind nicht, wie in Lehrbüchern alter Art, die historischen Ereignisse mit trockener Sachlichkeit aneinandergereiht: die Vergangenheit wird vor dem Auge des Lesers in kulturgeschichtlichen Bildern zu neuem Leben erweckt. Menschen wie Du und ich schreiten über die wechselnde Bühne der Geschichte und lassen den Ablauf der Jahrhunderte, das Schauspiel vom Schicksal der Menschheit, ergriffen miterleben. Zierers „Bild der Jahrhunderte" ist ein Werk für die Menschen unserer Zeit, für die Erwachsenen wie für die Jugend.

DER KAUF L E I C H T G E M A C H T . . . „Schüler, deren Eltern das Bild der Jahrhunderte zu Hause haben, sind die besten Geschichtskenner in meinen Klassen", schreibt ein bekannter Erzieher. Der Verlag hat die Beschaffung der Bücherreihe leicht gemacht. Um jeder Familie den Kauf dieses prächtig ausgestatteten Standardwerkes zu ermöglichen, werden günstige Zahlungserleichterungen eingeräumt. Das „Bild der Jahrhunderte" kann auf Wunsch bei sofortiger Lieferung ohne Anzahlung gegen folgende Monatsraten erworben werden: DM 10,90 für die Rotleinen-Ausgabe, DM 13,75 für die Lux-Luxus-Ausgabe. Das Werk besteht aus zwanzig Doppelbänden, dem Band 41/44 und dem Historischen Lexikon; es umfaßt rund 8000 Seiten. 189 ausgewählte Kunstdrucktafeln, 500 Lexikonbilder und 124 historische Karten ergänzen den Text. Jeder Band enthält Anmerkungen, ausführliche Begriffserklärungen und Zeittafeln.

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V E R L A G S E B A S T I A N LUX MURNAU • MÖNCHEN • INNSBRUCK • ÖLTEN (SCHWEIZ)

K L E I N E B I B L I O T H E K DES W I S S E N S

LUX-LESEBOGEN NATUR- UND K U L T U R K U N D L I C H E H E F T E

VERLAG SEBASTIAN LUX M U R N A U • MÜNCHEN • I N N S B R U C K • ÖLTEN

Naturgeschichte des Wolfes und Wolfsgeschichten

er Wolf hat etwa die Gestalt eines großen, hochbeinigen, dürren Hundes, der den Schwanz hängen läßt. Der Leib ist hager, der Bauch eingezogen; die Läufe sind klapperdürr und schmalpfotig; die langhaarige Lunte hängt bis auf die Fersen herab. Die

Schnauze erscheint im Verhältnis zu dem dicken Kopfe gestreckt und spitzig. Die breite Stirn fällt schief ab; die Seher stehen schief, die Lauscher immer aufrecht. Der Pelz ändert sich nach dem Klima der Länder, die der Wolf bewohnt. In den nördlichen Ländern ist die Behaarung lang, rauh und dicht, am längsten am Unterleibe und an den Schenkeln, buschig am Schwänze, dicht und aufrechtstehend am Halse und an den Seiten, in südlichen Gegenden im allgemeinen kürzer und rauher. Die Färbung ist gewöhnlich fahlgraugelb mit schwärzlicher Mischung, die der Unterseite lichter, oft weißlichgrau. Im Sommer spielt die Gesamtfärbung mehr ins Rötliche, im Winter mehr ins Gelbliche, in nördlichen Ländern mehr ins Weiße, in südlichen mehr ins Schwärzliche.

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Der Wolf wird zwar allmählich mehr und mehr zurückgedrängt, doch ist der letzte Tag seines Auftretens im zivilisierten Europa anscheinend noch fern. Er bewohnt einsame, stille Gegenden und Wildnisse, namentlich dichte, düstere Wälder, Brüche mit morastigen und trockenen Stellen und im Süden die Steppen. Er haust auch in Waldungen aller Höhengürtel, selbst in nicht allzu großen Busch-dickichten, auf Kaupen in Brüchen und Sümpfen, in Rohrwäldern, Maisfeldern, in Spanien sogar in Getreidefeldern, oft in großer Nähe der Ortschaften. Diese meidet er überhaupt weniger, als man gewöhnlich annimmt, hütet sich nur, solange der Hunger es irgendwie gestattet, sich sehr bemerklich zu machen. Wenn er nicht gerade durch seine Jungen an eine Gegend gebunden wird, hält er sich selten längere Zeit an einem und demselben Orte auf, schweift vielmehr weit umher, verläßt eine Gegend tage- und wochenlang und kehrt dann wieder nach dem früheren Aufenthaltsorte zurück. In dichtbevölkerten Gegenden zeigt er sich ausnahmsweise vor Einbruch der Dämmerung; in einsamen Wäldern dagegen wird er schon in den Nachmittagsstunden rege, schleicht und lungert umher und sieht, ob nichts für seinen ewig bellenden Magen abfalle. Während des Frühjahrs und Sommers lebt er einzeln, zu zweien, zu dreien,

im Herbst in Familien, im Winter in mehr oder minder zahlreichen Meuten, je nachdem die Gegend ein Zusammenscharen größerer Rudel begünstigt oder nicht. Trifft man ihn zu zweien an, so hat man es in der Regel, im Frühjahr fast ausnahmslos mit einem Paar zu tun; bei größeren Trupps pflegen männliche Wölfe zu überwiegen. Erwiesenermaßen durchmißt er bei seinen Jagd- und Wanderzügen Strecken von sechs bis zehn Meilen in einer einzigen Nacht. Nicht selten, im Winter bei tiefem Schnee ziemlich regelmäßig, bilden Wolfsgesellschaften lange Rotten, indem die einzelnen Tiere, wie die Indianer auf ihrem Kriegspfade, dicht hintereinander herlaufen und möglichst in die gleiche Spur treten, so daß es selbst für den Kundigen schwer wird zu erkennen, aus wieviel Stück die eine Meute bestand.

Bei seinen Jagden verfährt der Wolf mit der List und Schlauheit des Fuchses, von dessen Eigenschaften er gelegentlich auch noch eine andere, die Frechheit, an den Tag legt. Er nähert sich einer ausersehenen Beute mit äußerster Vorsicht, unter sorgfältiger Beob-achtung aller Jagdregeln, schleicht lautlos bis in möglichste Nähe an das Opfer heran, springt ihm mit einem geschickten Satze an die Kehle und reißt es nieder. An Wechseln lauert er stundenlang auf das Wild, gleichviel, ob es ein Hirsch oder Reh oder in den Steppen ein in den Bau geschlüpftes Murmeltier ist; einer Fährte folgt er mit untrüglicher Sicherheit. Bei gemeinschaftlichen Jagden handelt er im Einverständnis mit der übrigen Meute, indem ein Teil die Beute verfolgt, die andere ihr den Weg abzuschneiden und zu verlegen sucht.

Es ist kein Wunder, wenn die gefährlichen Tiere, zumal wo sie in Scharen auftreten, nicht bloß unter den Menschen, sondern auch unter den Tieren Angst und Schrecken hervorrufen. Die Pferde werden in hohem Grade unruhig, sobald sie einen Wolf wittern; die übrigen Haustiere, mit Ausnahme der Hunde, ergreifen die Flucht, wenn sie nur die geringste Wahrnehmung von ihrem Hauptfeinde gemacht haben. Für gute Hunde aber scheint es kein größeres Vergnügen zu geben als die Wolfsjagd. Ein scharfer Hund, der auf eine Wolfsfährte gesetzt wird, vergißt alles, gerät in die namenloseste Wut und ruht nicht eher, als bis er seinen Feind am Kragen hat. Dann achtet er keine Verwundung, nicht einmal den Tod seiner Gefährten. Noch sterbend sucht er sich an dem Wolfe festzubeißen. Doch nehmen keineswegs alle Hunde eine Wolfsfährte auf; viele kehren im Gegenteil sofort um, wenn sie den verhaßten Wolf wittern. Die Größe der Rüden kommt weniger in Betracht als die Rasse oder Abstammung und die Schule, die sie durchgemacht haben.

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Kleine Kläffer sind nicht selten viel erbittertere Gegner des Raubtieres als große, nicht von dem nötigen Mute beseelte Beißer . . .

Auch andere Haustiere wissen sich gegen den Wolf zu verteidigen. In mißliche Lage gerät Isegrim, wenn er versucht, sich in den Waldungen Spaniens oder Kroatiens einen Schweinebraten zu holen. Ein vereinzeltes Schwein fällt ihm vielleicht zur Beute, eine größere geschlossene Herde dagegen bleibt regelmäßig von den Wölfen verschont, wird von diesen sogar ängstlich gemieden. Die tapferen Borstenträger stehen mutig ein für das Wohl der Gesamtheit, alle für einen, und bearbeiten den bösen Wolf, der sich erfrechen sollte, unter ihnen einzufallen, mit den Hauzähnen so wacker, daß er alle Räubergelüste vergißt und nur daran denkt, sein bedrohtes Leben in Sicherheit zu bringen. Versäumt er den rechten Augenblick, so wird er von den erbosten Schweinen niedergemacht und dann mit demselben Behagen verzehrt, das ein Schweinebraten bei ihm erwecken mag. Selbst einzelne Schweine kämpfen auf Leben und Tod, ehe sie sich dem Wolfe ergeben. Nur die Schafe fügen sich mit der ihnen eigenen Ergebung widerstandslos in das Unvermeidliche. Hat der Wolf bemerkt, daß Schäfer und Hunde nicht zur Hand sind, so packt er das beste Schaf und reißt es nieder. Die übrigen fliehen zwei- bis dreihundert Schritte weit, drängen sich dicht zusammen und gaffen mit den dümmsten Augen der Welt nach dem Wolfe hin, bis er kommt und sich noch eins holt. Nun reißen sie wieder einige hundert Schritte aus und erwarten ihn abermals. An die Rindviehherden wagt sich gewöhnlich kein Wolf, weil sich die ganze Herde gleich über ihn hermacht und ihn mit den Hörnern zu spießen sucht. Er trachtet nur danach, abgesonderte Kälber oder auch erwachsene Rinder zu erlegen, und springt diesen ebenso an die Kehle wie dem Pferde.

Der Wolf besitzt alle Begabungen und Eigenschaften des Haushundes, dieselbe Kraft und Ausdauer, dieselbe Sinnessdiärfe und denselben Verstand. Aber sein Mut steht in gar keinem Verhältnis zu seiner Kraft. Solange er nicht Hunger fühlt, ist er eins der feigsten und furchtsamsten Tiere, die es gibt. Er flieht dann nicht nur vor Menschen und Hunden, vor einer Kuh oder einem Ziegenbock, sondern auch vor einer Herde Schafe, sobald sich die Tiere zusammenrotten und ihre Köpfe gegen ihn richten. Hörnerklang und anderes Geräusch, das Klirren einer Kette, lautes Schreien vertreiben ihn regelmäßig. In der Tierfabel wird er als tölpelhafter, täppischer Gesell dargestellt, der sich von Vetter Reineke fortwährend überlisten und betrügen läßt; dieses Bild entspricht der Wirklichkeit jedoch durchaus nidit, Der Wolf gibt dem Fuchs an Schlauheit,

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List, Verschlagenheit und Vorsicht nicht das geringste nach, übertrifft ihn womöglich in allen diesen Stücken. In der Regel benimmt er sich den Umständen angemessen, überlegt, bevor er handelt und weiß auch in bedrängter Lage noch den rechten Ausweg zu finden. Eine Beute beschleicht er mit ebensoviel Vorsicht wie List,; selbst gejagt, kommt er äußerst bedachtsam herangetrabt. Seine Sinne sind ebenso scharf wie die des zahmen Hundes, Geruch, Gehör und Gesicht gleich vortrefflich. Seine elende Feigheit, seine List und die Sdiärfe seiner Sinne zeigt sidi bei seinen Überfällen. Er ist dabei überaus vorsichtig und behutsam, um ja seine Freiheit und sein Leben nicht aufs Spiel zu setzen. Niemals verläßt er seinen Hinterhalt, ohne vorher genau ausgespürt zu haben, daß er auch sicher sei. Mit größter Vorsicht vermeidet er jedes Geräusch bei seinem Zuge. Sein Argwohn sieht in jedem Strick, jeder Öffnung, in jedem unbekannten Gegenstand eine Schlinge, eine Falle oder einen Hinterhalt. Deshalb vermeidet er es immer, durch ein offenes Tor in einen Hof einzudringen, falls er irgendwie über die Einfriedigung springen kann. Angebundene Tiere greift er ebenfalls nur im äußersten Notfalle an, jedenfalls weil er glaubt, daß sie als Köder für ihn hingestellt worden sind. Sieht er ein, daß ihm der Rückzug verschlossen ist, so kauert er sich selbst im Schafstalle feige in eine Ecke, ohne dem Vieh etwas zuleide zu tun, und wartet angsterfüllt der Dinge, die da kommen sollen. Ganz ebenso ist sein Gebaren in anderen unangenehmen Lagen seines Lebens, beispielsweise in Fallgruben, die seinen eifrigen Jagden ein jähes Ende bereiten. Er denkt hier nicht an Raub und Mord, vielmehr einzig und allein an Rettung.

Anders benimmt sich der Wolf, wenn ihn der quälende Hunger zur Jagd treibt. Hunger verändert das Betrachten und läßt ihn Vor-sidit und List ganz vergessen, stachelt aber audr seinen Mut an. Der hungrige Wolf ist geradezu tollkühn und fürchtet sich vor nichts mehr; es gibt für ihn kein Schreckmittel.

Die Jungen bleiben auffallend lange blind, wachsen anfänglich langsam, später sehr rasch, betragen sich ganz nadi Art junger Hunde, spielen lustig miteinander und katzbalgen zuweilen unter lautem, weithin hörbarem Geheul und Gekläff. Sie wachsen bis ins dritte Jahr und werden dann fortpflanzungsfähig. Das Alter der Wölfe dürfte sich auf zwölf bis fünfzehn Jahre belaufen. Viele mögen dem Hungertode erliegen, andere sterben an einer der vielen Krankheiten, denen die Hunde überhaupt ausgesetzt sind. ...

(A. E. Brehm) 5

Wolf- der Wolffresser „Die Wölfe hat Loki, der Erzböse, er-

zeugt" — „Alte Hexen sind ihre Mütter" — „Söhne des Teufels sind sie, nach seinem Gefallen geschaffen" — „Aus Unrat er-zeugte Satan den Wolf". (Alter Volks-glaube.)

n seinem Buch „Aus Ungarn" erzählt N. Kisban folgendes vom Wolf: Es war Winter. Hoch lag der Schnee auf den Bergen und Tälern Siebenbürgens, stülpte den pilzförmigen rumänischen Bauernhütten große Mützen auf — zu großen, weißen Pilzen wurden die schwärzlichen Schwämmchen —, legte leichte Verbrämung über Berghänge, übergoß den Wald mit Schimmer und Glanz, verhüllte Kot und gefrorene Schollen und verwandelte das Tal des Maros in ein blendend weißes Meer.

Klar und rein war alles, unbeschreiblich weiß . . . Im Gebirge brachen die Wölfe auf, strebten hinunter, den Ge-

birgsdörfern zu. Jedem Dorfe, jedem Gehöft nahten sie. Anfangs bloß einzeln oder zu zweien, später — als der Winter strenger und der Schnee höher geworden — in immer größerer Zahl, in immer stärkeren Rudeln.

Im abendlichen Grau und in der Nacht zogen sie umher. An den Säumen der Wälder strebten sie in gemächlichem, gleichmäßigem Trab dahin, ohne Laut, einer hinter dem anderen. Mit herabhängenden Köpfen, stumm. Gefährliche Raubtiere von unansehnlichem Äußeren. Beim ersten Anblick mochte man glauben, es seien graue, schmutzige Köter. Am Saume der Wälder hockten sie zuweilen nieder, steif, nach Hundeart, und warteten: mit gefahrdrohender Geduld warteten sie, bis der düstere Abend hereinbrach.

Nur nächtlings griffen sie an. Doch auch dann gab es kaum größeren Lärm, obgleich am Morgen mitunter halbe Schafherden fehlten. Nichts blieb von den Schafen übrig, aber große, rote Blutlachen färbten den Schnee. Überall verübten die Wölfe Räubereien, doch immer des Nachts im Dunkel, meuchlerisch, wie feige Raubmörder. Ohne Erfolg wurden die Gehöfte, die Herden bewacht, vergebens band man die starken, furchtlosen Hunde los. Die Hüter wurden zuerst zerrissen. Nur zuweilen tönte ein Schrei durch die Nacht. Der Kammergespan hatte zwei Silberzwanziger auf jeden Wolfskopf ausgesetzt. Ein schönes Stück Geld war dies zu jener Zeit, und doch wurde nicht mit dem rechten Eifer gejagt, wiewohl man es im ganzen Schneegebirge kund und zu wissen getan.

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Auf dem Grat des großen Humplerberges, der sich gegen Muncsel-maro zieht, trabten sieben Wölfe hintereinander her. Voran lief der große Werwolf, die Schnauze am Boden, den Schweif eingezogen. Manchmal blieb er stehen, und dann hielten auch die anderen still. Er horchte und witterte. Dann ging er wieder weiter. Leise und ohne Lärm liefen sie dahin, nur sehr selten knirschte der Schnee unter ihren Füßen leise auf. Manchmal schaute sich der große Werwolf um. Und bald ging es wieder weiter im gleichmäßigen Trab . . .

Vom Hauptgipfel des Berges klang leises Heulen hinüber, einmal, zweimal. Die Wölfe hielten an. Doch nun war es wieder still. Nein, jetzt ertönt es wieder! — Der Werwolf setzt den Weg fort, die andern folgen ihm. Doch sie traben mit Vorsicht, noch vorsichtiger denn ehedem, zwischeneinander große Zwischenräume lassend. Und wieder erscholl das Geheul oben auf dem Berggipfel, doch nun schon näher. Doch so, als sei dies kein echtes Wolfsgeheul . . . Der Werwolf verlangsamt seinen Lauf . . . faßt Verdacht . . . Sollte dies in Wirklichkeit der Ruf eines Genossen sein?

Jetzt langen die Wölfe bei einer Lichtung an. Der große Werwolf bleibt am Saum des Dickichts stehen und äugt zwischen den hinabhängenden Ästen der Fichten aus dem düsteren, schwarzen Walde hervor auf die Lichtung. Draußen war es so hell! Der Schnee gleißte gleichmäßig und unberührt rein in dem blauen Dämmerlicht. Keine verdächtige Spur unterbrach die weiße Fläche. Der Wolf trat einige Schritte vor, ins Freie hinaus.

Ein Schuß ratterte. Um den Bruchteil eines Momentes bemerkte der Wolf die Jäger zu früh.

Schon zu spät, um dem Schuß ganz zu entgehen, aber nodi rechtzeitig, um sein Leben zu retten, umzukehren und auch die anderen sechs Wölfe im Dickicht drinnen umkehren zu lassen.

Auf den Schuß schnappte der große Werwolf zähnefletschend nach dem Hinterbein und folgte dann den Gefährten. Auf dem Pfad, den sie gekommen, rannten sie zurück und verschwanden in der Wildnis, alle sieben. -Dann trabten sie weiter, so wie früher, nur daß jetzt auf der Spur des letzten, des Werwolfs, ab und zu ein Blutstropfen den Schnee färbte, ein purpurroter, kleiner Bluts-tropfen. Aber trotzdem ging es weiter und weiter ... im gleichmäßigen Trab . . .

Sieben Wölfe trabten den Hang hinab. Sechs in gleichen Zwischenräumen, der siebente blieb ein wenig zurück. Die Spur des siebenten wurde von kleinen Blutstropfen gerötet. Sie langten am Saum der Waldung an, und weil es noch zu licht sein mochte, drangen sie

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nicht weiter vor. Sie kauerten sich nieder, fast in Reih und Glied, schnupperten mit vorgestreckten, langen Schnauzen in der noch kälter werdenden Abendluft, kratzten sich und fingen Flöhe. Die Wölfe gehören eben nicht zu den eleganten Raubtieren.

Der verwundete alte Werwolf legte sich abseits von den anderen auf den Boden. Er keuchte schwer, und es war ihm anzumerken, daß ihn der Weg, den die anderen kaum verspürten, ermattet hatte. Oft leckte er die Wunde.

Plötzlich richtete sich einer der Wölfe auf und ging zu ihm, beschnupperte ihn. Der Werwolf knurrte, doch der andere rührte sich nicht vom Fleck, sondern schaute starren Blickes auf den Verwundeten. Da kamen noch zwei Wölfe näher, steif und lautlos. Nun schauten schon drei grünlich glänzende Augenpaare mit unbeweglicher Härte auf den Werwolf.

Langsam brach der Abend herein. In dem sich schwärzenden Grau des Abends glänzten immer entschiedener die Wolfsblicke. Vier, fünf, sechs Paar Augen. Der große Werwolf legte den Kopf zwischen die Vorderpfoten, knurrte leise, und zuweilen, plötzlich wie ein Blitz, blinkte sein mächtiges, weißes Gebiß auf. Die anderen erwiderten das Knurren nicht, hefteten bloß regungslos die hungrigen, grünen, stechenden Blicke auf ihn . . .

Es war Abend geworden . . . S e c h s Wölfe schlichen ins Tal hinab, den Gehöften, den Schafherden zu.

In einer Reihe trabten sie, einer in der Spur des andern. Wie die Schatten großer Köter glitten sie über den Schnee dahin. Zeitweise hielten sie an, lauschten und witterten, dann ging es weiter, weiter, weiter . . .

Am Hang, wo sie des Abends gesessen, blieb eine große Blutlache in dem zerstampften Schnee. Hier und dort lag ein Büschel Haare auf der weißen Fläche. Wolfshaare. Einige Schritte tiefer, wohin ihn sein Gewicht hatte gleiten lassen, lag ein riesiger, abgerissener Wolfsschädel. Der Unterkiefer hatte sich in den Schnee gebohrt, das mächtige Maul stand offen, als wollte es auch jetzt noch beißen. Die verglasten Wolfsaugen blickten schroff und ausdruckslos in die Mondnacht . . .

* *

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Nimmersatt und Nimmerrast Unstet ist das Leben des Wolfes. Von den

Menschen gehetzt oder von der eigenen, hetzenden Unrast getrieben, verläßt er, allein oder in Rudeln, oft plötzlich die gewohnten Jagdgründe und fällt irgendwo in der Ferne in fremde Behausungen ein. Aber auch in einer einzigen Nacht wechselt er oft auf stundenlangen Wegen in ferne Reviere hinüber, um übersatt an

Beute am Morgen zum alten Geheck zu-

rückzukehren, och nie war in den französischen Bergen ein so unheimlich kalter und langer Winter gewesen. Seit

Wochen stand die Luft klar, spröde und kalt. Bei Tage lagen die großen, schiefen Schneefelder mattweiß und endlos unter dem grellblauen Himmel, nachts ging klar und klein der Mond über sie hinweg, ein grimmiger Frostmond von gelbem Glanz, dessen starkes Licht auf dem Schnee blau und dumpf wurde und wie der leibhaftige Frost aussah. Die Menschen mieden alle Wege und namentlich die Höhen, sie saßen träge und schimpfend in den Dorfhütten, deren rote Fenster nachts neben dem blauen Mondlicht rauchig trüb erschienen und bald erloschen.

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Das war eine schwere Zeit für die Tiere der Gegend. Die kleineren erfroren in Menge, auch Vögel erlagen dem Frost, und die hageren Leichname fielen den Habichten und Wölfen zur Beute. Aber auch diese litten furchtbar an Frost und Hunger. Es lebten nur wenige Wolfsfamilien dort, und die Not trieb sie zu festerem Verband. Tagsüber gingen sie einzeln aus. Da und dort strich einer einzeln über den Schnee, mager, hungrig und wachsam, lautlos und scheu wie ein Gespenst. Sein schmaler Schatten glitt neben ihm über die Schneeflächen. Spürend reckte er die spitze Schnauze in den Wind und ließ zuweilen ein trockenes, gequältes Geheul vernehmen. Abends aber zogen sie vollzählig aus und drängten sich mit heiserem Heulen um die Dörfer. Dort war Vieh und Geflügel wohl verwahrt, und hinter festen Fensterläden lagen Flinten angelegt. Nur selten fiel eine kleine Beute, etwa ein Hund, ihnen zu, und zwei aus der Schar waren schon erschossen worden.

Der Frost hielt immer noch an. Oft lagen die Wölfe still und brütend beisammen, einer am andern sich wärmend, und lauschten beklommen in die tote Öde hinaus, bis einer, von den grausamen Qualen des Hungers gefoltert, plötzlich mit schauerlichem Gebrüll aufsprang. Dann wandten alle anderen ihm die Schnauze zu, zitter-

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ten und brachen miteinander in ein furchtbares, drohendes und klagendes Heulen aus.

Endlich entschloß sich der kleinere Teil der Schar zu wandern. Früh am Tage verließen sie ihre Löcher, sammelten sich und schnoberten erregt und angstvoll in die frostklare Luft. Dann trabten sie rasch und gleichmäßig davon. Die Zurückgebliebenen sahen ihnen mit weiten, glasigen Augen nach, trabten ein paar Dutzend Schritte hinterher, blieben unschlüssig und ratlos stehen und kehrten langsam in ihre leeren Höhlen zurück.

Die Auswanderer trennten sich am Mittag voneinander. Drei von ihnen wandten sich östlich dem Schweizer Jura zu, die anderen zogen südlich weiter. Die drei waren schöne, starke Tiere, aber entsetzlich abgemagert. Der eingezogene, helle Bauch war schmal wie ein Riemen, auf der Brust standen die Rippen jämmerlich heraus, die Mäuler waren trocken und die Augen weit und verzweifelt. Zu dreien kamen sie weit in den Jura hinein, erbeuteten am zweiten Tag einen Hammel, am dritten einen Hund und ein Füllen und wurden von allen Seiten her wütend vom Landvolk verfolgt. In der Gegend, welche reich an Dörfern und Städten ist, verbreitete sich Schrecken und Scheu vor den ungewohnten Eindringlingen. Die Postschlitten wurden bewaffnet, ohne Schießgewehr ging niemand von einem Dorf zum andern. In der fremden Gegend, nach so guter Beut". fühlten sich die drei Tiere zugleich scheu und wohl; sie wurden tollkühner als je zu Hause und brachen am hellen Tage in den Stall eines Meierhofes. Gebrüll von Kühen, Geknatter splitternder Holzschranken, Hufgetrampel und heißer, lechzender Atem erfüllten den engen, warmen Baum. Aber diesmal kamen Menschen dazwischen. Es war ein Preis auf die Wölfe gesetzt, das verdoppelte den Mut der Bauern. Und sie erlegten zwei von ihnen, dem einen ging ein Flintenschuß durch den Hals, der andere wurde mit einem Beil erschlagen. Der dritte entkam und rannte so lange, bis er halbtot auf den Schnee fiel. Er war der jüngste und schönste von den Wölfen, ein stolzes, herrisches Tier von mächtiger Kraft und ge-lenken Formen. Lange blieb er keuchend liegen. Blutig rote Kreise j wirbelten vor seinen Augen, und zuweilen stieß er ein pfeifendes, ' schmerzliches Stöhnen aus. Ein Beilwurf hatte ihm den Rücken ge- 1 troffen. Doch erholte er sich und konnte sich wieder erheben. Erst * jetzt sah er, wie weit er gelaufen war. Nirgends waren Menschen I oder Häuser zu sehen. Dicht vor ihm lag ein verschneiter, mächtiger I Berg. Es war der Chasseral. Er beschloß, ihn zu umgehen. Da ihn der Durst quälte, fraß er kleine Bissen von der geforenen, harten Kruste der Schneefläche.

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Jenseits der Berge traf er sogleich auf ein Dorf. Es ging gegen Abend. Er wartete in einem dichten Tannenforst. Dann schlich er vorsichtig um die Gartenzäune, dem Geruch warmer Ställe folgend. Niemand war auf der Straße. Scheu und lüstern blinzelte er zwischen den Häusern hindurch. Da fiel ein Schuß. Er warf den Kopf in die Höhe und griff zum Laufen aus, als schon ein zweiter Schuß knallte. Er war getroffen. Sein weißlicher Unterleib war an der Seite mit Blut befleckt, das in dicken Tropfen jäh herabrieselte. Dennoch gelang es ihm, mit großen Sätzen zu entkommen und den jenseitigen Bergwald zu erreichen. Dort wartete er horchend einen Augenblick und hörte von zwei Seiten Stimmen und Schritte. Angstvoll blickte er am Berg empor. Er war steil, bewaldet und mühselig zu ersteigen. Doch blieb ihm keine Wahl. Mit keuchendem Atem klomm er die steile Bergwand hinan, während unten ein Gewirr von Flüchen, Befehlen und Laternenlichtern sich den Berg entlangzog; zitternd kletterte der verwundete Wolf durch den halbdunklen Tannenwald, während aus seiner Seite langsam das braune Blut hinabrann.

Die Kälte hatte nachgelassen. Der westliche Himmel war dunstig und schien Schneefall zu versprechen.

Endlich hatte das erschöpfte Tier die Höhe erreicht. Es stand nun auf einem leicht geneigten, großen Schneefelde, nahe bei Mont Crosin, hoch über dem Dorfe, dem er entronnen. Hunger fühlte er nicht, aber einen trüben, klammernden Schmerz von der Wunde. Ein leises, krankes Gebell kam aus seinem hängenden Maul, sein Herz schlug schwer und schmerzhaft und fühlte die Hand des Todes wie eine unsäglich schwere Last auf sich drücken. Eine einzeln stehende breitästige Tanne lockte ihn; dort setzte er sich und starrte trübe in die graue Schneenacht. Eine halbe Stunde verging. Nun fiel mattrotes Licht auf den Schnee, sonderbar und weich. Der Wolf erhob sich stöhnend und wandte den feinen Kopf dem Lichte entgegen. Es war der Mond, der im Südwest riesig und blutrot sich erhob und langsam am trüben Himmel höher stieg. Seit vielen Wochen war er nie so rot und groß gewesen. Traurig hing das Auge des sterbenden Tieres an der matten Mondscheibe, und wieder röchelte ein schwaches Heulen schmerzlich und tonlos in die Nacht.

Da kamen Lichter und Schritte näher. Bauern in dicken Mänteln, Jäger und junge Burschen in Pelzmützen und mit plumpen Gamaschen stampften durch den Schnee. Gejauchze erscholl: Man hatte den verendenden Wolf entdeckt, zwei Schüsse wurden auf ihn abgedrückt und beide fehlten. Dann sahen sie, daß er schon im

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Sterben lag und fielen mit Stöcken und Knütteln über ihn her. Er fühlte es nicht mehr.

Mit zerbrochenen Gliedern schleppten sie ihn nach St. Immer hinab. Sie lachten, sie prahlten, sie freuten sich auf Schnaps und Kaffee, sie sangen, sie fluchten. Keiner sah die Schönheit des verschneiten Forstes, noch den Glanz der Hochebene- noch den roten Mond, der über dem Chasseral hing und dessen schwaches Licht in ihren Flintenläufen, in den Schneekristallen und in den gebrochenen Augen des erschlagenen Wolfes sich brach.

(Hermann Hesse in „Am Wege")

Wegelagerer und Strauchritter „Wolfszeit ist Beilzeit" heißt es in der Edda.

Verwüstende Kriege brachten einst mit den bleichen Schrecken der Pest und des Hungers auch die Plage wilder Wolfsrudel. Die Wölfe folgten gespenstig dem Morden der Schlachten, und lange noch, wenn der Krieg zu Ende, lauerten die reißenden Wegelagerer an den Reisewegen und um die Gehöfte.

A us einem Brief der Liselotte von der Pfalz, die lange nach dem Ende

des 30jährigen Krieges in Frankreich lebte: „Die Wölff hausen abscheulich hier. Den Kurier von Allan'on haben sie samt

seinem Pferd gefressen, und vor der Stadt Dumont haben 2 Wölff einen Kaufmann attackiert. Einer sprang ihm auf die Brust und fing schon an sein Wams zu zerreißen. Er schrie. Zwei Dragoner, so vor der Stadt spazierten, kamen dem Kaufmann zu Hülf. Einer zog den Degen und stieß den Wolf damit durch und durch. Der Wolf läßt den Kaufmann und springt dem Dragoner an den Hals. Der Kamerad konnte nicht geschwind genug dazu kommen. Er brachte den Wolf zwar um, allein das grausame Tie hatte den Dragoner schon erwürgt. Der zweite Wolf kam von hin ten, warf den Dragoner zu Boden und biß ihm die Gurgel ab, ehe man ihm aus der Stadt zu Hülf konnte kommen. Wie die Hülf kam, fand man einen Wolf und die zwei Dragoner tot, der zweite Wolf aber hatte sich aus dem Staub gemacht."

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Locken und Lauern Der Tücke und Verschlagenheit des

grauen Räubers haben die Hirten, Jäger und Bauern von jeher ihre List entgegen-gesetzt. Zur Vernichtung des Wolfes waren alle Mittel recht: Gift und Schlinge,. Pul-ver und Blei, Fallgrube und Wolfsgarten. Lockruf und Lauerhütte. Wie der Wolf gelockt und belauert wird, davon erzählt

F. Skrowronnek in seinem Buch „Mit Büchse und Angel". ls ich noch ein Knabe war, berichtet er, lebte in meinem Heimatdörfchen ein alter Waldwart, ein Sonderling, der sich allein sein Essen kochte und mit niemand Umgang pflog. Er

hieß allgemein „de Baiescheeter", denn er hatte als junger Mann mit Meister Petz, dem Bär, manchen harten Strauß ausgefochten. Im Jahre 1870, als die jüngeren Grünröcke alle nach Frankreich ausrückten, war er zur Aushilfe eingestellt und später beibehalten worden. Er kannte noch die jetzt ausgestorbene Kunst, den Wolf anz u h e u l e n . Damals kam es noch nicht so selten vor, daß ein Paar der Räuber sidi zur Sommerszeit in den masurischen Wäldern ansiedelte und dort wölfte.

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Niemand vermochte das Geheck der Wölfe ausfindig zu machen, als der „Barescheeter". Unermüdlich strolchte er umher und ließ von Zeit zu Zeit das eigentümlich halblaute Geheul erschallen, mit dem die alten Räuber ihre Jungen locken, wenn sie von erfolgreicher Streife mit Atzung heimkehren. Arglos antworteten die Jungen. Dann war ihr Geschick besiegelt, denn dann fing sie der Graubart mit Hilfe seines Hundes lebendig, um sie an Liebhaber zu verkaufen.

Im Winter, wenn Mondschein war und Schnee die Erde deckte, war er keine Nacht zu Hause. Dann saß er im großen Torfbruch irgendwo auf der Lauer. Es war die Ranzzeit, in der bald hier, bald dort ein Wolf seine Stimme zu einem sdiauerlich sehnsüchtigen Geheul erhob. Mit dem richtigen Ton antwortete ihm der Barescheeter . . .

Ich werde es nie vergessen, wie mich der Alte, der mich gut leiden mochte, zum erstenmal mit hinausnahm in die mondhelle Winternacht. Wir saßen in einem nicht sehr großen, dichten Gestrüpp. Eine Stunde oder länger regte sich nichts. Es ist etwas Sonderbares um das lautlose Sdiweigen in der Natur. Es drückt auf das Gemüt, stärker als der laute Aufruhr der Elemente.

Ich schrak plötzlich zusammen, denn mein alter Freund ließ ganz 13

unerwartet ein schreckliches Geheul ertönen. Nie hätte ich es für möglich gehalten, daß solche Töne aus einer menschlichen Kehle kommen können. Nach einer kleinen Pause kam aus weiter Ferne die Antwort. Nun entspann sich ein Duett, das nicht viele Menschen gehört haben dürften! Immer näher kam der Wolf und umkreiste das Dickicht, in dem wir saßen. Mißtrauisch blieb er außer Schußweite stehen, denn die Stimme, die ihm so deutlich der Minne Sold verheißen hatte, war verstummt. Doch endlich siegte das Verlangen über die Vorsicht: Er kam geradeswegs auf uns zugeschnürt. Lange schon hatte der Barescheeter das Gewehr an der Backe. Jetzt krachte der Schuß mit unfehlbarem Erfolg.

Dann kam die Nacht, in der mir auch das Weidmannsheil beschie-den war, meinen ersten Wolf zu erlegen. Ich hatte mich vergeblich damit abgemüht, dem Alten seine Kunst abzulauschen, meine Kehle reichte dazu nicht aus. So mußte als Lockmittel denn ein Pferdekadaver dienen, der auf'einer kleinen Waldwiese ausgelegt wurde. Nicht weit davon stand ein mächtiger Haufen Streu, als Attrappe für die Lauerhütte, die sich darin befand: ein einfaches Lattengerüst, das mit Waldstreu bedeckt war. Eine trichterförmige Schießscharte gewährte freien Ausblick auf den Kadaver. Auf der Rückseite war der Zugang durch ein mannshohes Strohbündel geschlossen . . .

Wie manche Nacht habe ich in der Lauerhütte über Cicero und Thukydides zugebracht. Eine feuersichere Laterne spendete Licht, die Schießscharte war mit einer Decke verhängt, der Boden mit Streu und einer alten Decke belegt. Von Zeit zu Zeit blickte man vorsichtig hinaus. In jener Nacht hatte ich in der zwölften Stunde meinen Vater abgelöst. Wir wußten, daß Wölfe im Revier waren, denn es waren schon mehrere Rehe gerissen, aber die Räuber waren stets weitergezogen . . . Der Mond stand schon nicht mehr hoch über der niedrigen Tannenschonung am gegenüberliegenden Saum der Wiese. An dem hartgefrorenen Kadaver bemühten sich schon stundenlang zwei Füchse, zerrten, nagten und knurrten sich an, i wenn einer dem anderen ins Gehege kam.

Ich hatte die Laterne gelöscht und saß im Anschlag. Noch eine I halbe Stunde, dann war das Licht weg . . . Da verhoffen die Füchse, I im nächsten Augenblick sind sie wie der Blitz verschwunden. Ich spähe hinaus . . . Da sitzt dreißig Schritte vom Kadaver der Wolf wie ein Hund auf den Hinterkeulen und wiegt den Körper hin und I her: Endlich erhebt er sich und kommt näher. Eine Minute noch mußte ich meine Geduld zügeln, bis er mir die Breitseite bot. Dann machte ich den Finger krumm. Mit einigen Sätzen springt der Wolf

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davon. Hab' ich ihn gar in der Aufregung gefehlt? Doch nein, jetzt fängt er an zu wanken, noch zehn Schritte, dann wirft er um ...

Die Wölfin „Die Wölfin . . . beleckt und reinigt ihre

Jungen, schafft reichliche, dem jeweiligen Stande des Wachstums entsprechende Nahrung für sie herbei, ist fortwährend ängstlich bestrebt, sie nicht zu verraten, und trägt sie, wenn ihr Mißtrauen erregt wurde oder Gefahr droht, im Maule nach

einem anderen, ihr sicher dünkenden Orte." (A. E. Brehm)

otglasig sinkt die Sonne hinter schütterem Birkenwalde. Auf der Blöße, wo Beilschlag und Sägekreischen vor Jahren den Wald gelichtet

haben, weidet ein rothaariger Enaksjunge sein liebes Vieh: die bunte Kuh, das Pferdchen mit dem Fohlen, die Mutterschafe und ein paar Hammelchen. Zwei struppige, große Hunde mit buschigem Kragen und breitbürstigen Ruten schlafen zu seinen Füßen. Plötzlich spitzt die Hündin die Lauscher, richtet den Kopf auf, knurrt, sträubt den Kragen, und im nächsten Augenblick saust sie mit dem auf jaulenden Rüden davon. Der Bube sieht im Hintergrund einen Wolf vor den Hunden wegflüchten.

R

Na, so was, solch ein Frechhund! Noch vor Nacht hier angreifen zu wollen! Na warte! Die Hunde werden dich!

„Uljulju! Uljulju! Uljulju! Faß ihn, den Sohn des Schwarzen, faß ihn! Uljulju!"

Neugierig läuft er den Hunden nach und springt auf einen Stein. Da, plötzlich hinter ihm wildes Durcheinander, Schnaufen und angstvolles Rennen. Die Stute beschützt keilend ihr Fohlen. Da ist der Wolf eingesprungen und schleppt einen Hammel davon.

Solches Spitzbubenpack! Erst die Hunde fortzulocken und dann hintenrum zu kommen! Ach Gott, das Unglück! Herr erbarm' dich, erbarm' dich!

Aber was hilft dem Jungen alles Jammern und Schimpfen, er mag dem Himmel danken, daß er selbst mit heiler Haut davon gekommen ist! In später Nacht kommen die Köter hedielnd und abgehetzt zurück. Von den Wölfen tags darauf keine Spur zu linden.---------------

Zwischen den schwarzen Blöcken im Steingeröll an der Stromschnelle haben sie den Hammel zerrissen. Immer weiter müssen sie ihre Räuberfahrten ausdehnen, um nicht in der Nähe der Jun-

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gen reißen zu müssen. Doch als die Wölfin heute voll von Fraß zurückkehrt und das Wasser aus dem Pelze schüttelt, kommen ihr nicht wie sonst fünf Welpen entgegen. Eins fehlt. Die Alte schnüffelt am Lager herum. Da stinkt es nach Zweibein. Sie beschnüffelt die Welpen. Die stinken auch; einer von der Karelenbrut hat sie angefaßt. Sie bricht den Welpen den Fraß vor und beleckt einen nach dem anderen. Da wird ihr klar: Einer der beiden Jung-rüden fehlt! Gestohlen, geraubt, kein Zweifel!

Da gibt es kein langes Besinnen. Noch in dieser Nacht müssen alle viere fortgebracht werden. Mit einem im Fange rinnt sie sofort durch den See, schnürt über wildes Steingeröll und durch dunkles Bruch, über den Moosmorast und die Hahnenbalzen bis zu dem schwimmenden Venn in der Bucht des Elchsees. Einige letzte Blanke sind hier mit ein paar zehnpfündigen Karauschen darin. Das Wasser stirbt. Das haben die grünen Algen gemacht, die überlebt darin niedersanken, Schicht auf Schicht, immer stärker von Jahr zu Jahr, bis ihre verwesten Leichen anderen Wasserpflanzen Nahrung boten und das Wurzelnetz schließlich angeflogenen Boden und erste Sauergräser trug. Schwamp von vertorftem Gesenke, Birkenanflug darauf in vermaserten Stämmchen, Weidenwerften und Seggen, an den Rändern Sumpfporst und Rauschbeere. Ein paar flach-wurzelnde Krüppelfichten, vom Wirbelwind aus dem weichen Boden gerissen und dazwischen überall das tückische Grün, das jeden lautlos verschwinden läßt, der sich nicht auskennt in diesem Wirrsal von lauernden Gefahren.

Huuauh! Das ist ein Platz so recht nach dem Herzen der Wölfin. Hier inmitten von Seggenbülten und Mooskaupen birgt sie den Welpen und schnürt unverwandt zurück, um auch die übrigen zu holen. Ehe der junge Mond versinkt, ist das letzte gerettet.

Am Ladissee aber, in Stjernsunds Hütte, hält ein blondes Karelen- mädchen den geraubten Welpen auf dem Schöße. Sie will sich aus schütten vor Lachen über den närrischen Kerl, der anfangs so wild um sich schnappte und kratzte und doch nun schon gierig das Fläschchefl mit Ziegenmilch annimmt. Wie lieb er gucken kann; kein Hündchen kann treuherziger sein! Und hat doch auch solch ein Räuber werden wollen wie die andern! ^^~

Draußen Gestapf von Schritten. Stjernsund kehrt heim mit dem Hütebuben, der den Welpen aus dem Neste genommen hat. Ihr Weg war vergeblich: Sie haben die anderen vier nicht mehr gefunden. Gott mag wissen, wohin die Wölfin die geschleppt hat!

(Erzählt von Fritz Bley in den „Lebensbildern aus der Tierwelt")

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Das Ende der Wolfskinder „Die Wölfin behandelt ihre Jungen mit

alier Zärtlichkeit einer guten Hunde mutter." (A. E. Brehm) pätsommernacht und weicher Glanz des jungen Mondes. Bleich

schimmern die Seggenbülten wie große Buketts, vom Teufel ins Moor gepflanzt. Auf trügerischem Teppichgrün des Wassermooses der tausendköpfige Chor von Fröschen. Braune Padden mit dunk ler Kehlstimme, darüber grüne Jäger als Tenöre. Ab und zu brummt eine Dommel im Baß dazwischen, und die Erpel auf den Blanken melden mit hellem Paak, Paak. Dazwischen das biesende Singen dichter Säulen von Mücken. Millionen ihrer Larven haben dem jungen Flugwild zur Nahrung gedient, und doch sind Aber millionen ausgekommen und verfinstern, sobald die Prellsonne hinter dem Walde verschwunden ist, morgens wie abends und jetzt in der hellen Mondnacht die Luft.

S

Plötzlich, horch, wie langgezogene tiefe Töne; wauhuh — huuh! Ist es die alte Wölfin? Hat sie am Nordufer des Sees ein paar Wildganter ergriffen, die bei dieser Trockenheit leicht zu beschleich en sind?

Gierend antworten ihr die Jungwölfe in einem langen Tone mit belferndem und knurrendem Abgesang: Huuh! Wa, ba, wa!

„Wauhau—huu!" Näher kommt sie geschlichen. Hört, wie sie quatscht auf dem Moore. Lustig wedelnd schleichen die Kleinen ihr entgegen.

Da, was ist das? Das ist nicht Mutter! Das sind fremde Gestalten! Auf Schneeschuhen kommt Stjernsund mit zwei Karelenjungen über das

trügerische Moor herüber. Er ist es, der die Jungen mit der Stimme ihrer Mutter betrog. Aber wie Wiesel sind die Jungwölfe hinter ihren Büschen verschwunden. Doch sobald die Moorgänger festen Grund unter den Füßen fühlen, lassen sie die struppigen Finnhunde los, die sie im Arme über die Moorsuppe getragen haben. Die machen kurzen Prozeß. Bald ist der letzte von den Welpen ergriffen und zerrissen bis auf einen, den Stjernsund vor den Hunden gerettet und in einen Sack gesteckt hat. Schnell werden die Erschlagenen mit den Laufstöcken ins Moor gedrückt, wo es am weichsten und tiefsten ist. Der Sack aber mit dem darinsitzenden Jungwolf wird an einem Werftbusch aufgehängt, neben dem Stjernsund den Ansitz bezieht.

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Freilich ein bißchen naß von unten! Macht nichts! Dem langen Schweden lacht das Herz im Leibe bei der Aussicht auf gute Jagd.

Hübsch klar scheint noch immer der Mond. Nur zuweilen huschen ein paar weiße Wölkchen an seiner hellen Sichel vorüber. Allzulange wird die Wölfin nicht auf sich warten lassen.

Dem Gefangenen wird es langweilig in seinem Sack. Man wird hübsch aufpassen müssen, daß er sich nicht herausschneidet. Einstweilen kratzt und strampelt er nur, und jetzt — recht so mein Jungchen! —, jetzt fängt er an: Huuh, Wa, ba, wa. Dann nach einem Weilchen greinend: Huuh! Ho, ho, wa! Wieder Kratzen und Strampeln und schließlich in höchster Wut: Huuh! Aeeho, rrr!

Drüben lärmen die tauchenden Erpel, und eine Kronenschnepfe jagt auf. Stjernsund lacht. Richtig, ein Plunschen im Röhricht und dann, näher schon, ein leises Brechen. Dann wieder Stille. Wieder klagt der Jungwolf im Sack am Weidenbusch. Da zeigt sich, vom Mondlicht voll beschienen, die Gestalt der Wölfin.

Am Boden wittert sie die Spur des Feindes. Aber dann ist Stjernsund durch Wasser gegangen, das die Fährte verhehlt. Der Werftbusch scheint der Wölfin verdächtig. In weitem Bogen will sie sich Wind davon holen. Aber nicht umsonst hat der Jäger sich an das Wasser gesetzt. So läuft sie ihn geradewegs an. Zwei Blitze und nur ein Knall. Eine Wolke stinkenden Qualms in der feuchten Luft. Fünf Schritte weit vom Anschuß liegt die alte Räuberin verendet. Mit Jubelgebrüll umtanzt von den ausgelassenen Karelenjungen. Schmunzelnd hebt der lange Schwede die gute Beute in die Höhe. Zwei Arschin und vier, fünf Werscliock (260 cm) mißt sie von der Nase bis zur Rutenspitze. Und ein Gewicht hat sie, wie ein guter Rüde! Wird nicht viel an zwei Pud fehlen (etwa 120 Pfund). Dabei hat sie nach dem Schuß den ganzen Fraß herausgewürgt; eine nette Bescherung von Federgewöll und Fleischfetzen!

Sofort, ehe die Todesstarre eintritt, wird die Alte aus der Haut geschlagen. Das Haar ist schon vollständig gewechselt, aber freilich noch kurz und stichelig. Schade drum: im Winter hätte der Balg einen prächtigen Pelz gegeben. Aber sicher ist dies die Urheberin alle der Schandtaten an Mensch und Vieh. Recht ist ihr geschehen!

Lachend stülpt Stjernsund dem ältesten Jungen die Wolfshaut, an der der Schädel geblieben ist, auf den Kopf und gibt ihm die I Vorderläufe in die Hände, damit er, wie ein Scheitan herausgeputzt, im Triumph dem Zuge vorantanzen kann.

Das abgehäutete Aas wird in den Sack gesteckt und dem anderen Jungen aufgepackt. Stjernsund selbst nimmt den geknebelten Jungwolf unter den Arm und einen Finnhund auf den Rücken, und so

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wird der Heimweg angetreten. Auf Schneeschuhen über das Venn, solange es weich und durchlässig ist, und dann „zu Fuß" durch die Kiefernheide der Luderhütte zu, wo das Aas der Wölfin leicht verscharrt wird. Der Mond steht im ersten Viertel; just die rechte Zeit. Da soll das Luder gute Kirre geben für den Altwolf. Warte nur, Meister Varg!

Vom Elchsee-Venn her aber tönt nun Nacht für Nacht noch schauriger als zuvor das drohend klagende Geheul des Altwolfes: Wuuhuhaah! Wuuhaahoahoh!

(Erzählt von Fritz Bley in den „Lebensbildern aus der Tierwelt")

Von Wölfen belagert „Wenn der Wolf hungert — immer giert er, ist

er doch der Nimmersatt unter den Tieren —, dann Gnade allem Getier und dem Menschen, der sich schwach zeigt. Instinktsicher erlaßt der Grauhund die Schwäche seines Opfers. Kein Tier ist dann von solch verbissen lauernder Ge-duld wie er. Lautlos oder mit furchtbarem Geheul, aus gelben Lichtern die Beute anstarrend, die Lauscher aufgereckt, belagert er das Opfer, bis das Umzingelte sich preisgibt. Von solcher Not, in die ein Mensch gekommen war, erzählt der Dichter Peter Rosegger in der „Waldheimat".

ast du noch nie darüber nachgedacht", sagte mein Vater einmal, „warum die Sterne am Himmel stehen?"

„Nein", antwortete ich. „Wir denken nicht daran", sprach mein Vater weiter, „weil wir das schon so

gewöhnt sind." „Es wird wohl eine Zeit kommen, Vater", sagte ich einmal, „in welcher kein

Stern mehr am Himmel steht; in jeder Nacht fallen so viele herab." „Die da herabfallen, mein Kind", sprach der Vater, „das sind

Menschensterne. Stirbt auf der Erde ein Mensch, so fällt vom Himmel so eine Sternreispe auf die Erde. Siehst du, dort hinter der grauen Tanne ist wieder eine niedergegangen."

Ich schwieg nach diesen Worten eine Weile, endlich aber fragte ich: „Warum heißen sie jenen wilden Baum die graue Tanne, Vater?"

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Mein Vater bog eben einen Garbendeckel ab, und als er diesen aufgestülpt hatte, sagte er: „Du weißt, daß man ihn auch Türkentanne nennt, weil der schreckliche Türke einmal seine Mondsichel hat draufgehangen. Die graue Tanne heißen sie ihn, weil sein Geäste und sein Moos grau ist, und weil auf diesem Baume dein Urgroßvater die ersten graue Haare bekommen hat."

„Mein Urgroßvater? Wie ist das hergegangen?" „Ja", sagte er, „wir haben hier noch sechs Garben aufzusetzen, und ich will

dir dieweilen eine Geschichte erzählen, die sehr merkwürdig ist." Und dann hub er an: „Es ist schon länger als achtzig Jahre, seitdem dein

Urgroßvater meine Großmutter geheiratet hat. Er war sehr reich und ein schöner Mensch, und er hätte die Tochter des angesehensten Bauern zum Weibe bekommen können. Er nahm aber ein armes Mädchen aus der Waldhütten herab, das gut und sittsam gewesen ist. Von heute in zwei Tagen ist der Vorabend des Festes Maria Himmelfahrt; das ist der Jahrestag, an welchem dein Urgroßvater zur Werbung in die Waldhütten ging. Es mag wohl auch im Kornschneiden gewesen sein; er machte frühzeitig Feierabend, weil durch den Ebenwald hinein und bis zur Waldhütten hinauf ein weiter Weg ist. Er brachte viel Bewegung mit in die kleine Wohnung. Der alte Waldhütter, der für die Köhler und Holzleute die Schuhe flickte, ihnen zuzeiten die Sägen und die Beile schärfte und nebenbei Fangschlingen für Raubtiere machte — weil es zur selben Zeit in der Gegend noch viele Wölfe gegeben hat —, der Waldhütter nun ließ seine Arbeit aus der Hand fallen und sagte zu deinem Urgroßvater: ,Aber Josef, das kann doch nicht dein Ernst sein, daß du mein Katherl zum Weib haben willst, das war' ja gar aus der Weis'!' Dein Urgroßvater sagte: Ja, deswegen bin ich heraufgegangen, und wenn mich das Katherl mag und es ist ihr und Euer redlicher Willen, daß wir zusammen in den Ehestand treten, so machen wir's heut' richtig, und wir gehen morgen zum Richter und zum Pfarrer, und ich laß dem Katherl mein Haus und Hof verschreiben, wie's Recht und Brauch ist.' — Das Mädel hatte deinen Urgroßvater lieb und sagte, es wolle seine Hausfrau werden. Dann verzehrten sie zusammen ein kleines Mahl, und endlich, als es schon zu dunkeln begann, trat der jung' Bräutigam den Heimweg an.

Er ging über die Wiese, die vor der Waldhütten lag, auf der aber jetzt schon die großen Bäume stehen, er ging über das Ge-schläge und abwärts durch den Wald, und er war freudig. Er achtete n-'cht darauf, daß es bereits finster geworden war, und er achtete

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nicht auf Wetterleuchten, das zur Abendzeit nach einem schwülen Sommertag nichts Ungewöhnliches ist. Auf eines aber wurde er aufmerksam, er hörte von den gegenüberliegenden Waldungen ein Gebelle. Er dachte an Wölfe, die nicht selten in größeren Rudeln die Wälder durchzogen und heulten; er faßte seinen Knotenstock fester und nahm einen schnelleren Schritt. Dann hörte er wieder nichts als zeitweilig das Kreischen eines Nachtvogels, und sah nichts als die dunklen Stämme, zwischen welche der Fußsteig führte und durch welche von Zeit zu Zeit das Leuchten zuckte. Plötzlich vernahm er wieder das Heulen, aber nun viel näher als das erste Mal. Er fing zu laufen an. Er lief, was er konnte; er hörte keinen Vogel mehr, er hörte nur immer das entsetzliche Heulen, das ihm auf dem Fuße folgte. Als er hierauf einmal umsah, bemerkte er hinter sich durch das Geäst funkelnde Lichter. Schon hört er das Schnaufen und Lechzen der Raubtiere, die ihn verfolgen, und denkt: 's mag sein, daß morgen kein Versprechen ist beim Pfarrer! — da kommt er heraus zur Türkentanne. Kein anderes Entkommen mehr möglich — rasch faßt er den Gedanken, und durch einen kühnen Sprung schwingt er sich auf einen Ast. Die Bestien sind schon da; einen Augenblick stehen sie bewegungslos und lauern; sie gewahren ihn auf dem Baum, sie schnaufen, und mehrere setzen die Pfoten an den Stamm. Dein Urgroßvater klettert weiter hinauf und setzt sich auf einen dicken Ast. Nun ist er wohl sicher. Unten heulen sie und scharren an der Rinde; — es sind ihrer viele, ein ganzes Rudel. Zur Sommerszeit war es doch selten geschehen, daß Wölfe einen Menschen anfielen; sie mußten gereizt oder von irgendeiner anderen Beute verjagt worden sein. Dein Urgroßvater saß lange auf dem Ast; er hoffte, die Tiere würden davonziehen und sich zerstreuen. Aber sie umringten die Tanne und schnürfeiten und heulten. Es war längst schon finstere Nacht; gegen Mittag und Morgen hin leuchteten alle Sterne, gegen Abend hin aber war es grau, und durch dieses Grau schössen Blitzscheine. Dein Urgroßvater wußte, daß er die ganze Nacht so würde zubringen müssen; er besann sich aber doch, ob er nicht Lärm machen und um Hilfe rufen sollte. Er tat es, aber die Bestien ließen sich nicht verscheuchen; kein Mensch war in der Nähe, das Haus zu weit entfernt. Damals hatte die Türkentanne unter dem abgerissenen Wipfelstrunk, wo heute die wenigen Reiserbüschel wachsen, noch eine dichte Krone aus grünenden Nadeln. Da denkt sich dein Urgroßvater: Wenn ich denn schon einmal hier Nachtherberge nehmen soll, so klimme ich noch weiter hinauf unter die Krone. Er tat's und ließ sich oben in einer Zweigung nieder, da konnte er sich recht gut an die Äste lehnen.

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. Unten ist's nach und nach ruhiger, aber das Wetterleuchten wird stärker, und an der Abendseite ist ein fernes Donnern zu hören. — Wenn ich einen tüchtigen Ast bräche und hinabstiege und einen wilden Lärm machte und gewaltig um mich schlüge, man meint', ich müßt' den Rabenäsern entkommen! — so denkt dein Urgroßvater — tut's aber nicht; er weiß zu viele Geschichten, wie Wölfe trotz alledem Menschen zerrissen haben.

Das Donnern kommt näher, alle Sterne sind verloschen — 's ist finster wie in einem Ofen; nur unten am Fuße des Baumes funkeln die Augensterne der Raubtiere. Wenn es blitzt, steht wieder der ganze Wald da. Nun beginnt es zu sieden und zu kochen im Gewölke wie in tausend Kesseln. Kommt ein fürchterliches Gewitter, denkt sich dein Urgroßvater und verbirgt sich unter die Krone, so gut er kann. Der Hut ist ihm hinabgefallen, und er hört es, wie die Bestien den Filz zerfetzen. Jetzt zuckt ein Strahl über den Himmel, es ist einen Augenblick hell wie zur Mittagsstunde — dann bricht in den Wolken ein Schnalzen und Krachen los, und weithin hallt es im Gewölke.

Jetzt ist es still, still in den Wolken, still auf der Erde — nur um einen gegenüberliegenden Wipfel flattert ein Nachtvogel. Aber bald erhebt sich der Sturm, es rauscht in den Bäumen, es tost durch die Äste, eiskalt ist der Wind. Dein Urgroßvater klammert sich fest an das Geäste. Jetzt wieder ein Blitz, schwefelgrün ist der Wald; alle Wipfel neigen sich, biegen sich tief; die nächststehenden Bäume schlagen, es isj, als fielen sie heran. Aber die Tanne steht starr und ragt über den ganzen Wald. Unten rennen die Raubtiere wild durcheinander und heulen. Plötzlich saust ein Körper durch die Äste wie ein Steinwurf. Da leuchtet es wieder — ein weißer Knollen hüpft auf dem Boden dahin. Dann dichte Nacht. Es braust, siedet, tost, krachend stürzen Wipfel. Ein Ungeheuer mit weitschlagenden Flügeln, im Augenblick des Blitzes gespenstige Schatten werfend, naht in der Luft, stürzt der Tanne zu und birgt sich gerade über deinem Urgroßvater in die Krone. Ein Habicht, Junge, ein Habicht, der auf der Tanne sein Nest gehabt."

Mein Vater hatte bei dieser Erzählung keine Garbe angerührt; ich hatte den ruhigen, schlichten Mann bisher auch nie mit solcher Lebhaftigkeit sprechen gehört.

„Wie's weiter gewesen?" fuhr er fort. „Ja, nun brach es erst los; das war Donnerschlag auf Donnerschlag, und beim Leuchten war zu sehen, wie glühenden Wurfspießen gleich Eiskörner auf den Wald niedersausten, an die Stämme prallten, auf den Boden flogen und wieder emporsprangen. So oft ein Hagelknollen an den Stamm

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der Tanne schlug, gab es im ganzen Baume einen hohlen Schall. Und über dem Heugraben gingen Blitze nieder; plötzlich war eine blendende Glut, ein heißer Luftschlag, ein Schmettern, und es loderte eine Fichte. Und die Türkentanne ststad da, und dein Urgroßvater saß unter der Krone im Astwerk.

Die brennende Fichte warf weithin ihren Schein, und nun war zu sehen, wie endlich der Sturm in einen mäßigen Wind überging und ein dichter Regen rieselte.

Die Donner wurden seltener und dumpfer und zogen sich gegen Mittag dahin; aber die Blitze leuchteten noch ununterbrochen. Am Fuße des Baumes war kein Heulen und kein Augenfunkeln mehr. Die Raubtiere waren durch das Wetter verscheucht worden. Also stieg dein Urgroßvater wieder von Ast zu Ast bis zum Boden. Und er ging heraus durch den Wald über die Felder gegen das Haus.

Es ist schon nach Mitternacht. — Als der Bräutigam zum Hause kommt und kein Licht in der Stube sieht, wundert er sich, daß in einer solchen Nacht die Leute ruhig schlafen können. Haben aber nicht geschlafen, waren zusammen gewesen in der Stube um ein Kerzenlicht. Sie hatten nur die Fenster mit Brettern verlehnt, weil der Hagel alle Scheiben eingeschlagen hatte.

,Bist in der Waldhütten blieben, Sepp?' sagte deine Ururgroß-mutter. Dein Urgroßvater antwortete: .Nein, Mutter, in der Waldhütten nicht.'

Es war an dem darauffolgenden Morgen ein starker Harzduft gewesen im Walde — die Bäume haben geblutet aus vielen Wunden. Und es war ein beschwerliches Gehen gewesen über die Eiskörner, und es war eine kalte Luft. Als sie am Frauentag alle über die Verheerung und Zerstörung hin zur Kirche gingen, fanden sie im Walde unter dem herabgeschlagenen Reisig und Moos manchen toten Vogel und anderes Getier; unter einem geknickten Wipfel lag ein toter Wolf.

Dein Urgroßvater ist bei diesem Gange sehr ernst gewesen; da sagt auf einmal das Katherl von der Waldhütten zu ihm: ,0 du himmlisch' Mirakel! Sepp, dir wachst ja schon graues Haar!'

Später hatte er alles erzählt, und nun nannten die Leute den Baum, auf dem er dieselbige Nacht hat zubringen müssen, die graue Tanne!" —

Das ist die Geschichte, wie sie mir mein Vater eines Abends beim Kornschöbern erzählt hat, und wie ich sie später aus meiner Erinnerung niedergeschrieben. Als wir dann nach Hause gingen zur Abendsuppe und zur Nachtruhe, blickte ich noch hin auf den Baum, der hoch über dem Wald in den dunklen Abendhimmel hineinstand.

2,1

Wolfsabenteuer zweier Knaben Noch in den Jahren von 1723 bis 1727

wurde im Gebiet Preußens für 4300 erlegte Wölfe die vom Staat ausgesetzte I Prämie bezahlt. Durch das Fortschreiten der Kultur ist der Wolf dann allmählich aus unserer Heimat verdrängt worden. Der lange Krieg hat den grauen Räuber dann wieder vordringen lassen, besonders in den Ostgebieten. Hier war die Erinne- , rung an die Wolfsschrecken immer lebendig geblieben, und die älteren Leute wußten aus ihrer Jugend noch manche selbsterlebte Wolfsgeschichte zum besten zu i geben.

s ist nun mehr als fünfzig Jahre her, so erzählt Paul von Gizyck, da besuchte ich in unserem ostpreußischen Städtchen die oberste Klasse der Lateinschule. Es war um Weihnachten, und ein bitterkalter Winter hatte früher als sonst das Land mit seiner Schneedecke verhüllt und alle Seen und Flüsse zufrieren lassen. Auch der große See, an dem meine Vaterstadt liegt, hatte sich selbst bald mit spiegelglattem Eise bedeckt, und trotz des scharfen Frostes tummelten sich an allen freien Nachmittagen die Schüler des Ortes auf der weiten Fläche.

An einem freien Mittwochnachmittag hatte unser Lehrer, ein noch junger Mann und vorzüglicher Turner, die besten Schlittschuhläufer seiner Klasse zu einem Ausflug nach einem mehr als zwei Meilen entfernten Seedorfe eingeladen. Pünktlich um zwei Uhr fanden wir uns alle am Ufer ein, schnallten unsere Eisen an, und nun ging es hinaus auf die glitzernde, sonnenbeschienene Fläche.

Als eine ganz besondere Vergünstigung war mir gestattet worden, auch meinen jüngeren Bruder Eduard, der eine andere Klasse besuchte, zu der Partie mitzunehmen. Wir hielten uns immer zusammen, und er zeigte sich an diesem Tage uns älteren Knaben an Ausdauer und Gewandtheit völlig gewachsen. Es war ein herrliches Laufen. Der Wind stand uns im Rücken, und wir schwebten über das Eis dahin, als hätten wir Flügel. Einige Jungen breiteten ihre Überzieher mit den Armen aus und flogen, ohne einen Fuß zu rühren, mit Windeseile dahin. Der Horizont erweiterte sich: rechts und links von dem See breiteten sich tiefe, weite Forsten aus, deren Tannen- und Kiefernzweige grau von kleinen Eisnadeln schimmerten. Die Sonne war noch nicht gesunken, als wir bereits den Kirchturm unseres Bestimmungsortes auftauchen sahen, und es dauerte

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nicht lange, da schössen wir an der großen, bewaldeten Insel vorüber, die mitten im See, gegenüber dem Dorfe lag. Fröhliches Hundegebell empfing uns, und die Abendsonne spiegelte sich in den Scheiben des ansehnlichen Wirtshauses, welches nicht weit von unserem Landungsplatze stand. Hier wollten wir rasten, um -eine Tasse Kaffee zu trinken und die berühmten Waffeln der Frau Wirtin, die an solchen Nachmittagen frisch gebacken wurden, zu kosten. Bald saßen wir alle in dem wohlgeheizten Gastzimmer und über-ließen uns mit unserem fröhlichen jungen Lehrer allerlei heiteren Gesprächen und Scherzen. Die alte freundliche Hausfrau freute sich unserer Lustigkeit, trat an unseren Tisch heran, schüttelte uns die Hand und sagte dann: „Die jungen Herren sollten sich nur in adit nehmen, es sind wieder Wölfe in der Nähe gesehen worden."

Uns machte das wenig Sorge. Wir wußten genau, daß selbst hungrige Wölfe eine Schar von zehn oder zwölf mit Stöcken bewaff • neten jungen Burschen schwerlich angreifen würden. Aber unser Lehrer, der die Sache ernster auffassen mochte, mahnte doch zeitiger als sonst zum Aufbruch. Alles eilte zur Landungsbrücke, und nun wurden die Schlittschuhe zur Rückfahrt wieder angeschnallt.

Wir wollten eben aufbrechen, da sagte Eduard zu mir: „Paul, jetzt ist mir der Riemen an dem rechten Schlittschuh gerissen, was machen wir nun?" „Lauf nur schnell hinauf ins Wirtshaus, die Frau wird dir gewiß einen Riemen geben können", erwiderte ich. Eduard eilte hinauf und kam bald mit einem neuen Riemen zurück, der auch ganz vortrefflich für seinen Schlittschuh paßte. Inzwischen waren aber unsere Gefährten bereits aufgebrochen und mehrere hundert Schritt vorausgelaufen. Das war an und für sich keine große Entfernung, und wenn wir uns tüchtig angestrengt hätten, so würden wir sie bald eingeholt haben. Uns aber kam es ganz besonders poetisch und schön vor, so allein durch die schweigende Dämmerung dahinzugleiten. Die Richtung kannten wir genau. Die Sonne war als glühendroter Ball im Nebel des westlichen Horizonts untergegangen und hatte nur noch eine schwach schimmernde Glut am Himmel zurückgelassen. Hoch oben stand bereits im Blauen die feine silberne Sichel des zunehmenden Mondes, und bald flimmerte auch hier und da ein Stern an dem wolkenlosen Firmament.

Es war bitterkalt, und der Wind war gänzlich eingeschlafen. Jetzt passierten wir den äußersten Zipfel der schwarzen Insel zur Linken; da vernahmen wir einen eigentümlichen, langgezogenen, heulenden Laut, der uns, ohne daß wir uns bereits klar waren, was er bedeutete, erbeben machte.

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Es dauerte nicht lange, so erklang dieser Laut zum zweitenmal und lief in heulendes Gebell aus. „Das waren Wölfe!" sagte Eduard, und ich wußte, daß er recht hatte.

Jetzt schauten wir nach unseren Gefährten aus, bemerkten sie aber nur als einen fernen, dunklen Punkt auf der weißen Fläche des Sees. Wir strengten alle Kraft an und schössen nur so über das Eis dahin. Bald darauf sahen wir links von uns auf dem Eise in ziemlicher Entfernung etwas Dunkles daherlaufen wie einen großen Hund, und bald ertönte hinter uns, diesmal aber von zwei Seiten, das langgezogene, furchtbare Geheul. Wir hatten beide schwere Stöcke, vorn mit einer eisernen Spitze, und wir würden uns wohl getraut haben, einen einzelnen Wolf damit zu Boden zu schlagen. Nun aber wußten wir, daß ihrer mehrere auf unseren Fersen waren. Wir dachten daran, nach unseren Gefährten zu rufen; aber es war keine Aussicht vorhanden, daß sie uns hörten.

Wir strengten also unsere Kraft aufs äußerste an und flogen blitzschnell über das Eis dahin. Uns schien es auch, als ob die Entfernung zwischen dem Tiere, das links von uns über das Eis lief, nicht geringer wurde. Da hörten wir plötzlich gar nicht weit hinter uns abermals das Geheul. Wir sahen uns um, und es schien uns, als ob noch einige schwarze Tiere daherkämen. Bis zu unserer Vaterstadt hatten wir, das war uns klar, gewiß noch eine Stunde Wegs zurückzulegen. Aber weit näher mußte rechts am Seeufer eine größere Dorfschaft liegen, die wir im besten Falle in einer Viertelstunde zu erreichen hoffen durften. Rasch entschlossen wandten wir uns also nach rechts und bemerkten auch nach einigen Minuten fernen Lichtschein und die Umrisse von Häusern und Bäumen am Seeufer. Jetzt galt es, alle Kraft daranzusetzen, um unseren Verfolgern zu entrinnen. Wir hatten unsere Wendung ziemlich plötz-lich gemacht und waren, als wir uns wieder umblickten, erstaunt, den Wolf, der zu unserer Linken gelaufen war, in viel weiterer Entfernung daherkommen zu sehen. Er hatte uns augenscheinlich die kurze Wendung nicht nachmachen können und war eine Strecke weit auf dem spiegelglatten Eise weggerutscht, ehe er zu unserer Verfolgung umwenden konnte. Das bemerkten wir und schöpften aus diesem Umstände neue Hoffnung für unsere Rettung. Während wir mit keuchendem Atem dahinstürmten und jeder Nerv aufs äußerste gespannt war, um den wilden Bestien zu entfliehen, empfanden wir beide kaum ein Gefühl der Angst. Wir hatten wirklich nicht Zeit, uns zu fürchten.

Inzwischen fing diese äußerste Anspannung unserer Kräfte an, uns zu ermüden. Wir keuchten, und Eduard sagte zu mir: „Glaub

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mir, Paul, lange kann ich es nicht mehr aushalten." Auch mir war zumute, als ob ich über einen Strohhalm hätte stolpern können, und die Knie zitterten mir. Aber jetzt hieß es aushalten; jetzt waren uns die Wölfe beträchtlich näher gekommen, und als wir uns umblickten, bemerkten wir mit Schrecken das Funkeln ihrer grünlichen Augen. Ich rief Eduard zu: „Wir müssen wieder eine Wendung machen!" Blitzschnell bogen wir links ab und hatten die Freude, zu beobachten, wie die Wölfe, drei große Bestien, wenigstens dreißig Schritt weit auf der glatten Fläche vom Wege abglitten. Wir gewannen dadurch einen guten Vorsprung und wiederholten diesen Versuch mehrmals mit demselben Erfolg.

Jetzt konnte man bereits die erleuchteten Fenster des Dorfes sehen; ja, man vernahm schon den Hammerschlag des Schmiedes und sah die rote Glut aus der Esse emporschlagen. Da erhoben wir unsere Stimmen und schrien aus Leibeskräften um Hilfe. Aber noch immer trennten uns mehrere hundert Schritt von dem Ufer. In gerader Linie sausten wir darauf los. Da schrie plötzlich mein Bruder: „Um Gottes willen! Paul, wir sind verloren! Vor uns ist das Eis aufgehauen!" — Es war so. An den hier und da auf dem Eise Hegenden Schollen sahen wir, daß hier die Fischer die Eisdecke aufgehauen hatten, um ihre Netze hinabzulassen. „Jetzt ist unser letztes Stündlein gekommen", der Gedanke fuhr mir blitzschnell durch den Kopf. — Da kam mir ein rettender Gedanke. Bis auf zwanzig Schritt hatten wir uns den Eisschollen genähert. Die Wölfe waren, nicht mehr dreißig Schritt hinter uns. „Links um! Entlang am Wasser!" rief ich dem Bruder zu und wandte mich, so kurz als es mir möglich war. Das war unsere Bettung. Auch in diesem Falle vermochten die Wölfe in ihrem rasenden Laufe auf der glatten Fläche nicht festen Fuß zu fassen. Sie schössen gleitend und rutschend ganz nahe an uns vorüber und flogen an den Schollen vorbei in die offene Wasserfläche, die nur von einer ganz dünnen, unter ihrer Last zusammenbrechenden Eisdecke bedeckt war. Wir vernahmen noch ihr Heulen und Prusten, waren dann aber in einer Minute an der offenen Stelle vorbei und an der Landungsbrücke, wo uns bereits einige Fischer, die durch unser Rufen aufmerksam geworden waren, und einige laut kläffende Hunde, die die Wölfe witterten, erwarteten.

Wie uns diese Leute aufnahmen, wie sie die zum Tode Erschöpften, die gänzlich außerstande waren, sich mit ihren zitternden Händen die Schlittschuhe zu lösen, in ein warmes, hell erleuchtetes Zimmer mehr trugen als führten, davon habe ich kaum eine Erinnerung behalten.

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Ich habe in meinem späteren Leben manchen Strauß mit wilden Bestien zu bestehen gehabt, aber in größerer Lebensgefahr bin ich als Jäger niemals auf irgendeinem Streifzuge in der Fremde gewesen.

Der Würger von Lichtenmoor ........ im Kreise Fallingbostel tragen die

L Bauern finstere Gesichter." er Wonnemonat Mai ist mit Vogelsang ins Land gekommen. Wohin

auch unser Blick fällt, schmückt sich die Natur für ihre hohe Zeit. Überall regt sich hundertfaches Leben, in Wald und Feld, in Wiese und Bruch. Hoffnungsvolle, frohe Frühlingsstimmung liegt über der Welt und den Menschen. Nur in den Niederungen der Aller, in den Mooren am Rande der Heide, in den endlosen Föhrenforsten des Kreises Fallingbostel tragen die Bauern finstere Gesichter, sind Jäger und Gendarmen tags und nachts, vom Hahnenschrei bis zur Uhlenflucht und wieder bis zum Hahnenschrei unterwegs; denn ein furchtbares Schreckgespenst geht um, bringt Tod und Verderben über Wild und Vieh. Hier findet sich in der Dickung ein gerissenes Reh, dort verendet ein Rind in der Koppel unter furchtbaren Qualen, drüben verbluten Schafe an grausamen Wunden.

Der „Würger von Lichtenmoor" zieht durch das Land. Im April sind die ersten Untaten gemeldet worden, seit Wochen ist die ganze Bevölkerung in wilder Erregung. Der eine meint, es sei eine Löwin mit Jungen, die da ihren Blutzoll erhebt, der andere hat einen Puma gesehen, der dritte einen Tiger, der vierte einen Vielfraß aus Lappland. Soldaten sollen das Untier aus dem Osten oder Norden mitgebracht und es freigelassen haben, als sie selbst in Gefangenschaft gerieten. Gerüchte und phantasievolle Legenden ranken sich um das reißende Tier, das Nacht für Nacht seine Opfer fordert. 1500 Mann werden in einer riesigen Treibjagd aufgeboten, aber alles ist umsonst. Endlich löst ein alter, erfahrener Heidejäger, der Bauer Gaatz aus Eilte an der Aller, das Rätsel. Unermüdlich hat er dem Räuber nachgestellt, Tag und Nacht hat er die Waldwege abgespürt, Hunderte von Stunden auf dem Ansitz verbracht. Am 22. August 1948 wird seine Ausdauer belohnt: Plötzlich taucht ein starker, grauer Wolf vor ihm auf. Mit sicherer Kugel trifft er ihn tödlich. Vier Monate lang hatte es der Rüde verstanden, sich allen Nachstellungen zu entziehen. Im Bauer Gaatz hat er seinen Meister gefunden.

Die Bevölkerung atmet auf und vergißt schnell den Alpdruck der 28

letzten Zeit. In unserer befriedeten, bewachten Heimat, so denken die Leute, kann das Auftreten eines verirrten Wolfes nur ein seltenes Ausnahmeereignis sein.

Im Spätwinter 1952/53 macht ein Förster seinen Kontrollgang durch das Revier des niedersächsischen Forstamtes Gartow. Als sein Weg ihn an die Elbe heranführt, beobachtet er vom Ufer aus, wie ein kräftiges, graues Tier, einem starken Hunde ähnlich, den Strom durchschwimmt, wie ein Schemen an Land steigt und nach Westen weiterwechselt. Der Beamte wagt nicht, Wolfsalarm zu geben; es könnte sein, daß er sich getäuscht hätte; aber er hatte sich nicht geirrt. — Einige Monate später wird bei Unterlüss, 80 km weiter westlich, ein Grauräuber erlegt. Der glückliche Schütze meint, er habe einen wildernden Hund vor sich und scharrt den Körper ein. Dann aber erkennen Fachkundige, daß wieder ein Wolf eingewechselt ist. Dort, hinter Unterlüss, erstreckt sich endlos weit der Truppenübungsplatz Munster, dort dehnen sich einsame Waldungen, die kein Zivilist betreten darf. Panzer malmen durch das Heidekraut, Sprenggranaten zerschmettern krachend die Föhren, hier mag der Räuber seine Zuflucht gefunden haben. Und wieder zieht Ruhe ins Land. Aber schon am 1. Juli des gleichen Jahres wird, rund 20 km nordwärts und wieder am Rand des Übungsplatzes, der dritte Wolf geschossen. Ein vierter Wolf soll im Herbst 1955 im Zentrum der Heide gestreckt worden sein.

Ein Jahrhundert hindurch haben wir uns daran gewöhnt, daß Wolfsplagen nur fern im Osten, in unkultivierten Ländern auftreten, daß sich von dort nur gelegentlich einige Irrgäste in abgelegene Provinzen, vielleicht nach Ostpreußen oder Oberschlesien, verirren. Wölfe in unseren Breiten gehören in eine weit entlegene Vergangenheit, meint man noch immer.

Und doch liegen die Zeiten, in denen nachts graue Schatten mit hechelndem Atem, heraushängender Zunge im gestreckten Galopp durch Wald und Heide hetzten, bis sie das Wild erreichten, ihm mit scharfem Biß die Flanken aufrissen, es an der Drossel niederzogen und knurrend zerfetzten, gar nicht so weit zurück! Noch im 19. Jahrhundert stieg in mancher Gegend Wolfsgeheul zum Sternenhimmel, sicherte der Landmann winters Viehstall und Schafpferch gegen den Isegrim!

Von 1800 bis 1809, also in zehn Jahren, wurden allein in Pommern 870, im Jahre 1870 im ganzen Königreich Preußen noch 1080 Wölfe erlegt. Im Winter 1814/15 mordete der graue Tod 28 Kinder in der Provinz Posen, 1820 fielen dem Räuber in der gleichen Landschaft 19 Menschenleben zum Opfer. Unentwegte Nachstellungen machten

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den Wolf dann immer seltener und ließen ihn gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts fast überall verschwinden. 1818, 1820, 1836 wurden die letzten Wölfe im Münsterlande geschossen, 1846 wurde noch ein Isegrim im Böhmerwald erbeutet, 1845 ein anderer im Fichtelgebirge gespürt. In der Lüneburger Heide erlag 1872 der Letzte seines Stammes im Becklinger Holz. Nur in den damaligen Reichslanden Elsaß-Lothringen blieb der Wolf bis zum ersten Weltkrieg Standwild. Er behielt also Bürgerrechte am längsten im Westen des deutschen Reiches, nicht im Osten. Von dort kamen Wölfe bis 1859 in die Pfalz. Noch im Winter 1910/11 meldeten die Zeitungen, daß im Elsaß vier Wölfe erbeutet worden seien, und es war bekannt, daß in den lothringischen Forsten von St. Quirin und Albersweiler damals jahraus, jahrein Wölfe gesehen wurden. Als Grenzgänger aber blieb Isegrim uns besonders in Ostdeutschland treu.

(Dieses und die folgenden Kapitel schrieb Dr. Georg Steinbacher, Direktor des Augsburger Tiergartens)

Graue Grenzgänger „Isegrim kam vor allem im Frühjahr und Herbst

über die Grenze . . . Leicht laufen die schnellen Räuber siebzig, achtzig Kilometer in jeder Nacht." n den einsamen Wäldern an der ostpreußischen Grenze hielten die Männer im grünen Rock treue Wacht für Wald und Wild. Immer wieder wurden Reh und Hirsch plötzlich scheu und unstet, zogen hin und

her, wagten nicht mehr, in Ruhe zu äsen, verschwanden aus dem Revier. Schon am Verhalten des Wildes erkennt der Waidmann, daß Wölfe eingewechselt sind. In diesen Augenblicken heißt es, sie dort zu fassen, wo sie sich eingestellt haben, so schwer das auch sein mag.

I Die grauen Räuber kamen zu jeder Jahreszeit, vor allem vom Frühling bis

zum Herbst; denn jene Grenzgänger waren keineswegs in Wintersnot hungernde Bestien, die der knurrende Magen im harten Frost aus Rußlands Einöden an den gedeckten Tisch in Ostpreußen oder Schlesien trieb. Die Wölfe des Ostens ertragen das Klima der Heimat aufs beste; ihr dichter Pelz schützt sie gegen die niederste Temperatur. Gerade im Winter ist zudem vielerorts für den Wolf der Tisch reichlich gedeckt. Die Schneedecke trägt das Raubtier dank seiner Pfoten meist besser als das Schalenwild, dessen Hufe den Harsch durchstoßen. So fallen dem Raubtier Hirsch und Elch im Winter weit eher zum Opfer als im Sommer, zumal das

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Wild im Winter oft sehr geschwächt wird, weil seine Äsung zu tief vom Schnee vergraben ist.

Nein, Isegrim kam vor allem im Herbst und Frühjahr über die Grenze auf der Suche nach neuen Einständen: im Frühjahr, wenn sich die winterlichen Rudel auflösen und die Wolfspaare Wurfstuben für den Nachwuchs und ruhige Plätze zur Jungenaufzucht suchen; im Herbst, wenn sich die Rudel wieder zusammenschlagen, auf der Suche nach den Waidgenossen. Leicht laufen die schnellen Räuber siebzig, achtzig Kilometer in jeder Nacht; was gelten ihnen die Entfernungen!

Und immer wieder gelang es ihnen, gerade zur warmen Jahreszeit, wenn man sie am schwersten spürte, wenn dichtes Laub sie verargt und der begraste Boden die Fährte nicht aufnahm, für einige Zeit in unseren Grenzgauen heimisch zu werden. Es sind dort auch immer wieder junge Wölfe im dichten Versteck geboren worden.

Birkhahnbalz 1931! Ein Jäger sitzt bei Schneidemühl am Rand des Bruchs im Morgengrauen im Birkhahnschirm, den treuen Hund zur Seite. Da taucht vor ihm ein grauer Schatten auf, ein schneller Schuß wirft Isegrim ins Gras. Am Gesäuge erkennt der Waidmann, daß die Wölfin Junge hat: Der Vorstehhund findet sie, würgt sie zu Tod; nur der fünfte Welpe findet ein Heim in einem Forsthaus, bis er in den Tierpark München-Hellabrunn gelangt. Von dort kommt er in den Berliner Zoo, um hier bis Kriegsende zu leben.

In den Jahren von 1925 bis 1945 wurden allein in der Johannis-burger Heide zehn Wölfe geschossen; in Schlesien wurde am 25. Mai 1927 ein Wolf im Kreise Rosenberg, am 10. Oktober 1924 ein Rüde im Kreis Groß-Wartenberg gestreckt. Anfang 1945 wurden dort zwei weitere Wölfe erlegt. Auch jener Wolf soll nicht vergessen sein, der in der Gegend von Landsberg an der Warthe im Jahre 1910 einen ganzen Sommer verbrachte und dann wieder spurlos ver-schwand. Viele Jäger wollten ihn erlegen, aber ihre Mühe war umsonst.

Manche dieser Wölfe mögen bereits in Polen zu Hause gewesen sein, bevor sie die Wanderlust packte. Hier fanden sie vereinzelt ruhige Einstände. Im berühmten Urwald von Bialowiesz hielt sich immer ein recht ansehnlicher Bestand, der bis auf hundert Stück anstieg. Dort zogen in der Zarenzeit wuchtige Wildrinder, die gewaltigen Wisente, zu Hunderten ihre Fährte. Sie teilten ihren Lebensraum mit tausenden Stück Rotwild. Die Wisente wurden ein Opfer des ersten Weltkriegs, die Wölfe aber blieben. Heute ist die Zeit der polnischen Magnaten, der Großgrundbesitzer, vorbei; eine andere Gesellschaftsordnung hat andere Bedingungen auch für Wild

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und Wolf geschaffen. Wieder steht eine ansehnliche Wisentherde in Bialowiesz, die mühsam herangehegt wurde; die Wölfe aber haben in Polen an Zahl sehr zugenommen. Heute melden vier Wojwod-schaften Wölfe als Standwild, ihre Menge hat die Zahl tausend überschritten. In der Johannisburger Heide aber stehen heute ebensoviel Wölfe wie früher im riesigen Wald von Bialowiesz, nämlich über hundert! Die deutschen Waidmänner und Forstleute haben ihre ostpreußische Heimat verlassen müssen. Nun jagen dort die grauen Räuber, erheben nachts ihre heulenden Stimmen über das menschenarm gewordene Land.

Die Wölfe kommen näher Die verlassenen Landstriche der deutschen

Ostgebiete sind ideale Einstände für Ise- grim. rüher waren ganz Europa, Asien,

Nordamerika Wolfsland. Nur Südostasien war von Grauräubern frei. Jahrtausende eifriger Verfolgung mit Speer und Pfeil, mit Büchse und

Flinte, mit Schlinge und Fallgrube, mit Fangeisen und Gift haben nicht vermocht, die Verbreitung des Wolfes so einzuschränken, wie es der Aufwand an Jagdeifer und Jagdtechnik erwarten ließ. Natürliche List, scharfe Sinne, starke Vermehrungsziffer, Härte und Ausdauer haben doch immer wieder über den menschlichen Verstand triumphiert. Trotz aller Anstrengungen ist der Wolf heute nur in England, Holland, Belgien, Dänemark, der Schweiz, Österreich und Westdeutschland völlig ausgerottet. Selbst in Spanien, Frankreich, im überbevölkerten Italien existieren noch geringe Restbestände. Die Abruzzen im Zuge der Apenninen, das Zentralmassiv und einige andere Bergstöcke in Frankreich, weite Flächen in Spanien bieten immer noch sichere Schlupfwinkel. Die landwirtschaftlich genutzten Gebiete der Vereinigten Staaten sind nur durch rücksichtslose Anwendung von Gift, durch Ausloben hoher Kopfprämien weithin wolfsfrei gemacht worden. Und doch gibt es heute noch Wölfe in den Rocky Mountains und im Mississippital. In Asien aber ist der Wolf auch heute nicht selten. In Rußland wurden vor dem letzten Krieg in jedem Jahr etwa 30 000 der grauen Räuber geschossen.

F

Wir dürfen die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß der unselige letzte Krieg unter anderem die Tatsache zur Folge hat, daß die Wölfe die Gebiete ständiger Besiedlung weit, weit nach Westen vorgeschoben haben. In den riesigen Landstrichen des deutschen Ostens, aus denen unsere Landsleute ausziehen mußten,

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wachsen Eschen- und Weidendickichte auf den früher durch Bauernfleiß so fruchtbaren Äckern. Die weit geringere Zahl polnischer Neusiedler hat nicht verhindern können, daß der Wald die einst gerodeten Felder vielfach zurückerobert. Das niedrige Holz ist oft kaum durchdringlich, es bietet ideale Einstände für den streifenden Isegrim. In drei, vier Nächten aber durchqueren die flüchtigen Wildhunde leicht die deutsche Ostzone und dringen in das Bundesgebiet ein. Wie die Geschichte der in der Heide geschossenen Wölfe zeigt, scheinen sie bestimmte Wege zu bevorzugen. Vielleicht sind sie durch die gewaltigen Wälder der Schorfheide, der Uckermark herangewechselt, um in die Einstände um Uelzen und Soltau zu gelangen. Nun gilt es für die deutschen Jäger wachsam zu sein; nicht allein in Niedersachsen. Man muß damit rechnen, daß Wölfe auch durch die Wälder der böhmischen Randgebirge von Schlesien her herüberkommen. Am „Eisernen Vorhang" heißt es darum für den Jäger: Augen auf! Wachsam spähen, ob Reh und Hirsch das Einwechseln eines Wolfes verraten, sorgsam spüren, ob sich die Fährten finden, geduldig lauern, Tag und Nacht auf der Hut sein!

Menschen, die vom Wolfe leben Isegrim ist Handelsobjekt geworden.

. och oben im Innern Alaskas, im Brook Range, weit nördlich der Baumgrenze in der Tundra, liegt die Heimat eines kleinen Eskimostammes, der Nunamiut. Früher gab es eine ganze Anzahl solcher Inlandeskimos, die hier unter härtesten Lebensbedingungen von der Jagd auf Wildrentiere lebten. Die meisten dieser Stämme sind verschwunden. Die Krankheiten des Weißen Mannes, die um die Mitte des vorigen Jahrhunderts eingeschleppt wurden, haben sie ebenso dezimiert wie Alkohol und Nikotin. Vorher hatten sie nicht anders gelebt als ihre zahlreichen Brüder von der Küste, die mit dem schnellen Kajak verwachsen waren und vom Ertrag des Fischfangs zehrten und die Jagd auf Robben und Eisbären betrieben, bis sie ein besseres Auskommen bei der Fischindustrie, beim Bau von Radarstationen und anderen Einrichtungen der Amerikaner fanden. Jahrtausende hindurch gab den Inlandeskimos das Rentier alles, was sie brauchten, Nahrung, Bekleidung, Nähmaterial und vieles andere. Heute aber hat das Fell der hochnordischen Wölfe das Rentierfell verdrängt; im Pelzwarenhandel der Eskimos steht es neuerdings hoch im Kurs, da es besonders dicht, weich und warm und sehr groß ist; denn diese Wölfe werden bis zu 70 kg schwer. Die Inlandeskimos

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stellen Isegrim unentwegt nach, dessen Hauptopfer von jeher das Rentier gewesen ist. Pelzhändler suchen im Sommer die Jäger im Flugzeug auf, versorgen sie mit Munition und manchem Nützlichen und kaufen ihnen ihre Beute ab. So sind die Rentiereskimos zu Wolfseskimos geworden, und es sind wohl die einzigen Menschen, die vom Wolfe leben.

Die Story von den Wolfskindern Wölfe fallen fast nie erwachsene Menschen

an. ine der schönsten Erzählungen des großen englischen Dichters Rudyard

Kipling ist die spannende Geschichte von Mowgly, dem Inder, der als kleines Kind in eine Höhle gerät, in der ein Wolfspaar mit seinen Jungen haust. Sie adoptieren das Menschlein, es wächst mit den jungen Wölfen auf, jagt mit dem Rudel, erlebt den Urwald mit all seinen Freuden und Gefahren und mit all seinen Tieren, von der Riesenschlange bis zum Tiger. Später kehrt Mowgly zu den Menschen zurück.

Kipling greift hier auf eine Story zurück, die oft aus Indien berichtet wird und von Kindern erzählt, die mit den Wölfen leben. Diese Storys tauchen immer wieder von neuem auf und werden selbst von ernsthaften Menschen für wahr gehalten. Man hat sie gründlich nachgeprüft, in keinem Fall aber konnte ihre Wahrheit wirklich erwiesen werden. Im Gegenteil: In zahlreichen Fällen haben im Laufe der Jahrzehnte Wölfe Kinder gerissen und gefressen.

Wölfe fallen erwachsene Menschen fast nie an. Selbst angeschossene Wölfe setzen sich nur dann zur Wehr, wenn sie, in die Enge getrieben, nicht mehr entkommen können. Man hört zwar von hohen Zahlen an Menschenopfern; aber sie stammen meist aus sehr unkultivierten Gebieten, in denen örtliche Hungersnöte und seuchen-hafte Erkrankungen nicht selten sind. Unter solchen Bedingungen gewöhnen sich die Wölfe leicht daran, die Körper verhungerter oder an Krankheit gestorbener Menschen zu fressen, wenn die Toten nicht beerdigt werden. So wird es verständlich, wenn sie dann auch hilflose, geschwächte Menschen anfallen. Im allgemeinen aber weichen sie Erwachsenen aus und bemühen sich, von ihnen nicht gesehen zu werden.

Während des letzten Krieges sind viele unserer Soldaten im Osten in Gebieten gewesen, in denen Wölfe gar nicht selten vorkamen. Der aufmerksame Beobachter fand ihre Fährte hier und da im Schnee,

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ohne sie selbst zu erblicken. Mitunter wurden sie auch nicht erkannt. Bei Moskau erlebte ein Soldat, wie ein „deutscher Schäferhund" aus dem nahen Wald heraus bis zum ersten Haus des Dorfes trabte, in dem der Landser am Fenster stand. Er wollte den schönen „Hund" an sich locken und wunderte sich sehr, als das Tier schleunigst Reißaus nahm. Noch erstaunter war er, als er erfuhr, daß er den ersten Wolf seines Lebens gesehen hatte.

Weiße und schwarze Wölfe Anpassung an die Umwelt.

-ine Tierart, die rund um den Erdball, von den Tropen bis an das Nordmeer, über drei Kontinente verbreitet ist, kann kein einheitliches Aussehen haben, sie muß, je nach ihrer Lebenszone und entsprechend den andersartigen Umweltsbedingungen, ihr Äußeres verändern. Größe, Gewicht, Farbe und Dichte des Fells wandeln sich, je nachdem, ob wir Wölfe aus den kalten Tundren Nordgrönlands, aus den Kaktusgebieten von Arizona, aus den Hochsteppen Tibets oder den Schluchten der Abruzzen vor uns haben. Besonders groß sind die Wölfe Alaskas, sie erreichen bis zu 140 Pfund Gewicht. Ihre südlichen Vettern sind weit kleiner. Starke Wölfe aus Osteuropa kommen auf etwa 40 kg, jene aus Italien sind noch leichter. Auch in der Färbung unterscheiden sie sich. Anatolische Wölfe sind gelbbraun wie die Lehmsteppe ihrer Heimat, jene aus Nordgrönland dagegen schneeweiß. Kanadische Wolfsrudel sind ebenso wie die von Tibet nicht einheitlich; die Mehrzahl der dortigen Wildhunde ist zwar hellgrau gefärbt, daneben aber gibt es schwärzliche, rotbraune und andersfarbige Vertreter. In den Urwäldern Kanadas aber sind ganz schwarze Wölfe gar nicht selten. In Europa fehlt das Schwarz völlig. Mancherorts findet man Wölfe mit einheitlicher Färbung, während sonst die Trupps recht bunt sind. So verschieden Färbung und Gestalt auch sein können, so verschieden ist auch der Lebensraum. Überall verstehen die Wölfe mit den verschiedenen Lebensbedingungen fertigzuwerden. Sie jagen in den sumpfigen Niederungen, auf den flechtenüberwachsenen Bodenwellen, auf den kahlen Gebirgen der Tundra Rentiere und Bergschafe, auf den wind-gepeitschten Hochebenen Tibets Gazellen und Tschiru-Antilopen, in den Urwäldern Indiens Axishirsche, Sambure und Nilgaus, in den Wüstensteppen am Kaspischen Meer und am Aral-See die Saigas. Europäische Wölfe leben von Hirsch und Reh, jene Anatoliens von

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Steppenschafen, daneben aber greifen sie jedes kleinere Tier bis herab zur Maus und zum Lemming. Unterschlupf findet der Wolf in den Dickungen und Windbrüchen des Waldes, in den Balkas und Schluchten der Steppe, im Schilfdickicht an See und Altwasser, in Felshöhlen unter Steinbrocken, in selbstgegrabenen Erdlöchern.

Wolf und Hund " Die Ähnlichkeit zwischen Wölfen und Hunden ist nicht zufällig. »in Schäferhund und ein Isegrim haben viel Gemeinsames mit

einander: Der eine wirkt wie die kultivierte, verfeinerte Ausgabe des groben Naturkindes. 12 000 Jahre mögen verstrichen sein, seit die Jägerhorden ausgangs der letzten Eiszeit in engere Beziehung zum Wolfsgeschlecht kamen. Auffällig sind dabei die Parallelen zwischen dem Menschen der Vorzeit und seinem Zeitgenossen, dem Wolf. Ruhelos, immer auf der Jagd nach Wild, streiften unsere Ahnen, Menschen wie du und ich, durch die eisfrei gebliebenen und eisfrei werdenden Gefilde. Mit Pfeil und Bogen, mit Fallgruben und Schlingen jagten sie selbst das wehrhafte Großwild, Mammut und Wildpferd, Ur und Wisent. Sie verstanden den Feuerstein so zu be arbeiten, daß sie ihre Waffen mit scharfen Klingen und gefährlichen Spitzen versehen konnten. Hunderte von Grabungen haben uns Aus kunft über den vorgeschichtlichen Menschen gegeben und über seine Art zu leben. Aber auch die Menschen selbst hinterließen uns Nach richt in den herrlichen, teils erstaulich naturgetreuen, teils eigenartig stilisierten Bildern und Zeichnungen aus den Felsenhöhlen, die sie vor allem in Spanien und Frankreich Jahrtausende hindurch immer wieder aufsuchten. Die ältesten dieser Kunstwerke sind rund vierzig tausend Jahre alt. Erschüttert steht der heutige Mensch vor diesen oft noch gut erhaltenen Selbstzeugnissen der Vorzeit, etwa in den Höhlen von Altamira, Cogul, Alpera in Spanien, in der Dordogne und anderen französischen Landschaften. Immer wieder kehrten die Menschen der Altsteinzeit in dieselben Höhlen zurück, die ihnen Schutz vor den Unbilden des oft harten Klimas boten. In dem Höh lenschutt finden wir unzählige Knochen ihrer Beutetiere, ihre Feuer stellen, Steinwerkzeuge, oft auch Skelettreste der Bewohner selbst. Auf ihren frühesten Bildern ist auch der Wolf zu erkennen. Wie die Menschensippen jagend umherstreiften, in den Höhlen rasteten und ruhten, so zogen die Wolfsrudel durchs Land; denn auch ihnen boten die Höhlen Unterschlupf. Sicher haben die Abfallhaufen mensch-

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licher Mahlzeiten die grauen Räuber magnetisch angezogen, weither lockte sie auch der Duft des Wildfleisches. So mögen die Wölfe zunächst den Menschen als ungerufene und ungebetene Tischgäste gefolgt sein. Hunde aber gab es in dieser Frühzeit noch nicht.

Reste des ersten, dem Wolf noch sehr ähnlichen Haushundes .sind in der Nähe von Moskau zutage getreten, sie stammen aus den frühesten Schichten der Jungsteinzeit. Wie der Weg der Haustier-werdung des Wolfes vor sich gegangen ist, wissen wir noch nicht; aber die ständig steigende Zahl der Fundstellen läßt erhoffen, daß später einmal die Geschichte des ältesten Haustieres, des aus dem Wolf entstandenen Hundes, deutlicher erkennbar werden wird. Sicher hat sich der Hund bei den schweifenden Jägervölkern herausentwickelt, tausende Jahre, bevor um 5000 v. Chr. das erste Dorf seß-hafter Ackerbauern im Zweistromland Mesopotamien entstanden ist. Die ersten Hunde mögen Wächter der Höhlen, Helfer bei der Jagd gewesen sein. In der späteren Jungsteinzeit finden sich auch schon zahlreiche Typen verschiedener Hunderassen.

Aus den jüngsten Schichten der Jungsteinzeit und aus der Bronzezeit kennen wir viele Hundeschädel, die sich von denen heutiger Artgenossen gar nicht oder kaum noch unterscheiden lassen. Schon früh hat also eine Aufspaltung in zahlreiche verschiedene Rassen und Formen begonnen, die zu der heutigen unglaublichen Mannigfaltigkeit hinführt. Es ist schwer vorstellbar, daß alle unsere modernen Hunde, vom riesigen Bernhardiner bis zum winzigen Zwerg-pinscher, von der wuchtigen Bulldogge bis zum eleganten Zwergspitz, vom haarlosen Nackthund der Indianer bis zum Setter mit seinem langen, goldigen Haar, vom Wollknäuel des Pekinesen bis zum glatthaarigen Dobermann aus dem grauen Jäger der finsteren Wälder entstanden sind. Und doch ist es so. Jahrtausende hindurch haben züchterisches Können und sorgsame Auslese einen Hundetyp nach dem anderen für viele Verwendungszwecke und zu den verschiedensten Dienstleistungen herausgebildet, indem sie hier die urtümliche Eigenart steigerten und dort unerwünschte Eigenarten zurückdrängten. Die Windhunde behielten nicht nur den schnellen Lauf des Wolfes, sondern steigerten ihn; die Doggen blieben wehrhafte Kämpen mit eiserner Muskulatur und wurden stärker als Isegrim, nur konnten sie seinen furchtbaren Biß, gestählt in tausend Jagden, nicht bewahren, denn sie erhielten nach ihrer Zähmung ihr Futter aus der Hand des Herrn und brauchten nicht mehr vom Raube zu leben; die Bracken bewahrten die feine Nase, die unerhörte Spursicherheit; die Spitze die immerwährende Wachsamkeit.

In den Fähigkeiten unserer Hunde finden wir immer wieder das 37

Vermögen des Ahnherrn wieder. Wie das Wolfsrudel das gehetzte Wild einkreiste, so rudeln heute die Hütehunde die Schafe, halten sie zusammen, lassen sie nicht ausbrechen; auch hier ist das Können des Ahnen bewahrt, ja, gesteigert erhalten geblieben.

Obwohl im Laufe der Entwicklung zum Hausgefährten auch die Verschiedenheiten deutlicher geworden sind, erkennen Wolf und Hund immer noch, daß sie eines Blutes sind. Oftmals treffen Hund und Wolf in entlegenen Gebieten zusammen und paaren sich miteinander. Besonders häufig ist das bei den Schlittenhunden des hohen Nordens der Fall, großen kräftigen Gestalten, die sich im Ernstfall durchaus eines Wolfes zu erwehren vermögen. Gefördert wird das Zusammenkommen von Wolf und Hund durch die eigenartige Tat-sache, daß Hunde sich viele Ausdrucksformen bewahrt haben, welche die Wölfe besitzen, um sich miteinander zu verständigen. Die moderne Tierpsychologie hat für manche Tierarten ein vollständiges Verzeichnis solcher Gebärden zusammenstellen können, unter anderen auch für den Wolf. Tiere besitzen ja nicht unsere Sprache, sie wissen sich nicht mit Begriffen zu verständigen, sie können nicht sagen, was sie fühlen, was sie wollen. Aber sie verfügen statt dessen über einen großen Schatz höchst eindrucksvoller Gebärden, mit denen sie fast beredt über ihre Gefühle, aber auch über ihr Wollen Auskunft zu geben in der Lage sind. Unser Hausgenosse, der Hund, umdrängt uns schweifwedelnd, um uns seine Freundschaft zu beweisen; er umstürmt uns mit hohen Sprüngen, um uns zum Spaziergang zu verlocken; er knurrt den Fremden an und weist ihm die blitzenden Zähne, um ihm seine Grenzen klarzumachen. Erblickt ein Bude einen anderen, dann geht er mit hoch erhobenem Schweif, mit merkwürdig steifen Schritten, hochgereckt auf ihn zu, und der andere zeigt die gleiche Gebärde. Man spürt, daß jeder dem anderen klarmachen will, wie stark er ist. Vorsichtig, mit gespitzten Ohren, be-riechen sie einander. Dann können die Ohren zurückgelegt werden, die Zähne werden gezeigt, es wird geknurrt, die Bückenhaare sträuben sich, und schon beginnt ein oft blutiger Streit, in dem es um die Frage geht, wer Herr im Land sei und das Herrenrecht habe; oder aber der Schwanz senkt sich und beginnt zu wedeln, die steife Haltung löst sich, die Hunde spielen freundschaftlich miteinander. Dieselbe Zeremonie kennt Meister Isegrim! Trotz tausendjähriger Gebundenheit an die Wohnstätten des Menschen kratzt der Hund den Asphalt der Straße, wenn er sein Geschäft gemacht hat, dreht sich im Kreis über seinem Lager, bevor er sich legt, so als wolle er Zweige wegschieben oder das Gestrüpp ordnen. Er tut das, obwohl diese Gebärden längst zwecklos geworden sind, während sie beim

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Ahnen Wolf ihre praktische Bedeutung hatten. Zum Kummer des wohlerzogenen Besitzers sind manche Hunderüden nicht davon abzuhalten, in einer fremden Wohnung an einem Tischbein, an einer Schrankecke das Bein zu heben und schnell, gewissermaßen nur angedeutet, ein bißchen „Kleines Geschäft" zu machen. Selbst in dieser wenig erfreulichen Handlungsweise steckt noch ein Erbe vom Urahnen Wolf; denn ein Wolfsrüde richtet, wenn er draußen in der Landschaft ein neues Wohn- und Jagdgebiet bezieht, auf diese deutliche Weise an allen auffälligen Stellen kleine Duftfähnchen auf; sie sollen allen anderen Wölfen zeigen, daß dieser Teil der Erde nun einen Herrn erhalten hat, der ihn gegen jeden Eindringling zu verteidigen bereit ist. Und wenn sich nachts die Wolfsfamilie, Vater und Mutter und die Kinder des letzten Jahres und dieses Jahres zur gemeinsamen Jagd zusammenfinden wollen, dann setzen sie sich auf die Keulen und brechen in ein weithin hörbares Geheul aus; sie rufen das Rudel zusammen und warnen gleichzeitig alle fremden Wölfe vor den rechtmäßigen Herren des Reviers. Wenn wir unseren Hund aus der Wohnung in den Zwinger sperren, quält er uns und unsere Nachbarn nachts durch ein ähnlich zwerchfellerschütterndes Geheul, so, als wenn er den menschlichen Gefährten zu sich rufen wollte.

Merkwürdig: Das laute Hundegebell ist dem Wolf fremd, er kann nur kurz, aber kräftig blaffen. Aus diesem Laut dürfte in langer Züchterarbeit das warnende Bellen entstanden sein, indem die Laut-gebung verstärkt und gefördert wurde, bis sie die heutige Bellweise erreichte; so wie auch das Schweifwedeln beim Wolf nicht so ausgeprägt in Erscheinung tritt wie beim Hunde.

Oft hört man von tödlicher Feindschaft zwischen Hund und Wolf; sie scheint unsere Ansicht von der wölfischen Abstammung des Haushundes zu widerlegen. In freier Wildbahn aber besteht zwischen den Angehörigen verschiedener Wolfsrudel die gleiche Gegnerschaft wie zwischen Wolf und Hund. Der eigenen Sippe fremde Wölfe werden unbarmherzig abgebissen, verjagt, ja, manchmal abgewürgt. Nur in der Paarungszeit ändert sich das Bild; in dieser Zeit kämpfen zwar fremde Rüden gegeneinander, Rüde und Wölfin aber greifen sich nicht an. Jetzt finden sich auch fremde Paare zusammen, auch wenn sie verschiedenen Rudeln angehören. Das Wolfspaar aber, das einmal die Ehe geschlossen hat, bleibt beieinander, oftmals viele Jahre lang; denn Wölfe leben in Einehe. Vater Wolf behütet und bewacht seine Kinder, trägt Futter für Mutter und Welpen herbei, und selbst jene Wölfe des Rudels, die kein Ehegesponst gefunden, es verloren haben oder keine Kinder besitzen, helfen mit und sorgen

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ebenfalls für Futter und Schutz. Bei einem Wurf kann man daher vier, fünf alte Wölfe antreffen. Dieses enge Zusammenhalten im Rudel ist es, das uns den Nachfahren des Wolfes, den Hund, zu einem solch wertvollen Gefährten gemacht hat. Alle Liebe zum Rudelgenossen, alle Anhänglichkeit an die Sippe hat der Hund auf den menschlichen Freund übertragen. Unsere Wohnung ist seine Wohnhöhle, sein Einstand, sie gilt es, von jedem Eindringling frei-zuhalten.

Wieviel vom wilden Ahn aber noch in jedem Hunde steckt, das beweist die Unzahl wildernder Köter in den Jagdrevieren. Wackere Boxer, brave Rottweiler, zarte Spitze, gutmütige Haushunde werden, oft ohne daß ihr Besitzer es ahnt, zu grausamen Geissein des Wildes. Sie morden meist geradezu bestialisch, weil ihre Kiefer und Zähne, ihre Beißmuskeln nicht mehr die alte Wolfskraft haben und zu schwach zu schnellem Töten sind. Meist ziehen sie zu zweit, zu dritt hinaus, setzen sich auf die Fährte des Wildes, hetzen es wölfisch lautlos, unbarmherzig, stumm. Sie sind schwer zu ertappen, noch schwerer in Schußnähe anzugehen. Denn nach erfolgreicher Hatz kehren sie meist friedlich nach Hause zurück, liegen vor der Hütte oder in ihrem Korb, als ob nichts geschehen sei. Man kann sie nicht in der Dickung einkreisen, wie den Wolf, der dort in Ruhe verdaut. Gerade in der Nähe der Städte wüten die Hunde oft furchtbar unter dem Wild. Man hat festgestellt, daß in einem einzigen ausgedehnten Waldgebiet am Rande einer süddeutschen Großstadt trotz aller Anstrengungen der Forstbeamten alljährlich ein Viertel bis ein Achtel des Rehwildbestandes von jagenden Hunden gerissen wird. Wohl hat nach dem Gesetz jeder Revierinhaber das Recht, jedweden Hund abzuschießen, der sich unbeaufsichtigt mehrere hundert Meter vom nächsten Gehöft entfernt aufhält; aber der wirklich wildernde Hund ist meist äußerst scheu, vorsichtig und oft ein Nachttier. Besonders gefährlich sind als Wildräuber der deutsche Schäferhund und seine Mischlinge. Hier ist in jahrzehntelanger, aufopfernder Zuchtarbeit eine Rasse entstanden, die im Äußeren, in Farbe und Figur viel Wölfisches an sich hat, die ausdauernd laufen und im Dienste der Polizei Schärfe und Mut, eine gute Nase und ein sicheres Spurvermögen besitzen soll. All diese Eigenschaften mißbrauchen die Schäferhunde nicht selten zur Jagd auf Wild. Es gibt nur ein zuverlässiges Mittel, den Wolf im Hund zu unterdrücken: Man darf ihn nicht unbeaufsichtigt laufen lassen, und man muß ihn so erziehen, daß er sofort auf Ruf oder Pfiff herbeikommt; jeder Versuch zu hetzen muß streng bestraft werden. Leider müssen alljährlich viele tausende wildernde Hunde um des Wildbestandes willen in den

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Jagdrevieren ins Gras beißen. Fast immer, weil sich ihre Herren nicht ausreichend um sie kümmern und die Verpflichtung vergessen haben, die sie auf sich nahmen, als sie Besitzer eines Hundes wurden.

Der australische Wolf

Was die Tierforschung vom Dingo zu berichten weiß. ustralien, jene riesige Insel im rauschenden Weltmeer, besitzt eine außerordentlich interessante und charakteristische Tierwelt. Auf dem australischen Festland gehören alle größeren Säuger zur

altertümlichen Gruppe der Beutler — mit einer Ausnahme. Es ist der Dingo, der australische Wolf oder der australische Hund, wie man ihn nennen will. Lange Zeit war es ein zoologisches Problem, wie dieses eigenartige Tier auf die Insel gelangt sein könne. Die Frage nach seiner Herkunft wurde um so verwickelter, als sich ergab, daß die ältesten Haushunde, deren Reste dort gefunden wurden, dem Dingo äußerst ähnlich, ja, ihm fast identisch waren. Noch rätselhafter wurde das Problem, als man in Australien Dingoknochen fand, die man in die Eiszeit datieren zu können glaubte.

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Reisende berichten, daß die Dingos sich gern in der Nähe der Siedlungen der Eingeborenen, der Australneger, aufhalten, von ihnen oft jung aufgezogen und fast als Haustiere gehalten werden. Er wird sich also schon früh dem Menschen angeschlossen haben. Heute neigt man zu der Auffassung, daß der Dingo frühestens gegen Ende der Eiszeit nach Australien gelangte, daß wahrscheinlich menschliche Einwanderer ihn vor Jahrtausenden mit sich geführt haben. Die älteste Welle solcher Siedler, die über das Meer kamen, waren die vom weißen Manne ausgerotteten Tasmanier, die aber keine Hunde gekannt haben. Erst die zweite Welle, die der heute noch in kümmerlichen Resten vorhandenen Australneger, führte wohl den Dingo als Haustier mit, und zwar in einer Zeit, als diese ursprüngliche Rasse bei den Jägervölkern der Jungsteinzeit noch weit verbreitet war. In der abgeschlossenen Einsamkeit des Südkontinents blieben die Australneger auf der Zivilisationsstufe der Steinzeit stehen. Sie jagten Känguruhs, sammelten Zwiebeln und Früchte und bewahrten ihr erstes Haustier — den Dingo als primitiven Hund — fast unverändert. Lange Zeiten hindurch blieb der Kontinent menschenarm. So verwilderte vielfach der Dingo und

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dürfte dann das einzige größere eingeborene Raubtier, den Beutelwolf, ausgerottet haben. Der Beutelwolf blieb nur in Tasmanien erhalten, da die Tasmanier keine Dingos hatten. Jahrtausende lang änderte sich nichts, bis der Europäer erschien, die Känguruhs und die Australneger jagte und beide mit Pulver und Blei fast ausrottete. Die Weißen brachten Schafe ins Land, die man zu Millionen züchtete. Wieder griff man zu Pulver und Blei, zu Gift und Falle, um nun auch den Dingo zu erledigen, der, um nicht zu verhungern, den Schafen nachstellte, weil seine natürliche Beute, die Känguruhs, und seine Freunde, die Australneger, dezimiert waren. Ja, hätte sich der Dingo an die Kaninchen gehalten, kein Lob wäre für ihn zu hoch gewesen. Nachdem man die grauen Nager als zusätzliches Wild in Australien eingeführt und ausgesetzt hatte, hatten sie sich in dem milden, trockenen Klima so ungeheuerlich vermehrt, daß sie zu einer Katastrophe für den Ackerbau, zur furchtbaren Nahrungs-konkurrenz für die Schafe und zu Zerstörern der ursprünglichen Pflanzenwelt wurden. Nicht einmal die Füchse wurden ihrer Herr, die man bald danach aussetzte, um die Kaninchen zu schädigen. Heute bemüht man sich, alle zugleich — Kaninchen, Füchse und Dingos — mit den Mitteln modernster Technik und Chemie, mit Giften, Gasen und Seuchen zu vernichten. Dingos sind fast nur noch in den Zoologischen Gärten auf der ganzen Welt zu sehen, einige sogar in den Tiergärten Australiens.

Vettern mit schlechtem Ruf So schlecht Isegrims Ruf auch sein mag, so

viele Schandtaten ihm mit oder ohne Grund aufs Konto geschrieben werden,

sein Vetter' Rotwolf hat einen noch schlechteren Kredit, er Rotwolf ist zwar kleiner und schwächer als Isegrim, dafür aber tritt er stets in größeren Rudeln auf. Zur warmen Jahreszeit betragen Wolfstrupps selten mehr als sechs bis acht Köpfe, jene

des Rotwolfs aber sind doppelt so groß, mitunter versammeln sich Hunderte zur gemeinsamen Jagd auf großes Wild.

D Der Rotwolf kommt in der Zone zwischen Altai und Amur bis nach Java vor.

Er wagt sich trotz seiner geringen Größe an die mächtigen sibirischen Hirsche, die Marale, an Steinböcke und Nilgauantilopen heran und überwältigt so starke Haustiere wie Büffel und Pferde; er macht sogar dem König der Wälder, dem Tiger,

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die Beute streitig. Bei der Hatz reißt er dem Opfer die Flanken auf, so daß die Eingeweide herausstürzen. Selbst dem Menschen nimmt der Rotwolf gelegentlich die Jagdbeute ab und fällt ihn an, um ihn vom gestreckten Wild zu vertreiben. Er versteht es, sich weit besser im Pflanzenwuchs zu bergen als sein Vetter, er ist schweigsam, hetzt geräuschlos und ist deshalb schwerer zu stellen.

Ungefährlich, aber äußerst lästig und verrufen, sind die kleineren Vettern der Wölfe, die Schakale, die zwischen Nordwestafrika und Südasien häufig und weit verbreitet sind. Man trifft sie überall, in abgelegenen Gebieten, aber auch in nächster Nähe menschlicher Siedlungen, in Urwald, Steppe und Wüste. Sie sorgen dafür, daß in den Dörfern alle Küchenabfälle, Speisereste in kürzester Zeit verschwinden, ja, sie verschlingen selbst Kot und andere unappetitlichen Dinge. Mit besonderer Vorliebe gehen Schakale an Aas, an Tierkadaver gleich welcher Herkunft. Verludert ein angeschossenes Stück Wild im Dickicht, wird etwa ein eingegangenes Rind vom Bauern vor das Dorf gezerrt, schnell sind die Schakale zur Hand und fressen alles Verwesende. In Indien werden aus religiösen Gründen oft Leichen oder Leichenteile, die bei der Verbrennung übrigblieben, den Wellen der Flüsse anvertraut. Da entfalten die Schakale eine geradezu segensreiche sanitäre Tätigkeit, indem sie auch hier alles nutzen, was sie hinabschlingen können. So wichtig mitunter ihre Tätigkeit ist, so ärgerlich werden sie wegen der Frechheit, mit der sie alles stibitzen, was der Mensch in ihrer Reichweite liegen läßt. Alles Eßbare, aber auch Kleidungsstücke, Gegenstände aus Leder und vieles andere nehmen sie mit. Die Schakale fangen übrigens auch Kleintiere jeder Art.

Vielerorts schließen sie sich eng an den Menschen an. Ähnlich mögen die Ahnen des Haushundes in grauer Vorzeit gehandelt haben. Man hat darum oft gemeint, auch der Schakal sei ein Ahn des Haushundes, aber einmal ähneln viele Hunderassen dem Wolf noch heute, nach Tausenden von Jahren intensiver Züchtung, außerordentlich, und dann ist es doch recht auffällig, daß es zwar immer wieder Mischlinge zwischen freien Wölfen und Hunden gibt, nicht aber zwischen Hund und Schakal, obwohl überall im Orient primitive Hunderassen, wie die Parias, in engster Nachbarschaft mit den Schakalen leben.

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Kampf dem Isegrim

Wolf und Viehzucht sind zwei Dinge, die sich nie miteinander vereinigen lassen.

lochgezüchtetes Nutzvieh mit guten Erträgen an Fleisch, Milch, Wolle fällt dem grauen Tod noch viel leichter zur Beute als primitive Rassen. Bei aller Schläue, bei hoher Anpassungsfähigkeit lernt es der Wolf nie und nirgendwo, daß es der Landwirt ihm zwar verzeiht, wenn er das Wild des Waldes jagt, daß er aber Haustiere meiden muß, um mit ihm in Frieden auszukommen. Der Bauer schätzt das Wild nicht allzu sehr, es geht in seine Felder, äst in den Kulturen, schädigt die Erträgnisse, zertritt, zerwühlt oft vieles und erschwert dadurch die Bodenbearbeitung. Mancher Bauer in entlegenen Gebieten würde deshalb den Wolf gern als Nachbarn sehen, wenn er nur dem Schadwild nachstellte und es von seinen Äckern | fernhielte, aber seine Haustiere in Ruhe ließe. Diesen Vorzug be-sitzt unsere Großkatze, der Luchs, die sich deshalb vielerorts viel I länger hat halten können als der Wolf; denn der Luchs ist ausschließlich Waldtier und jagt nicht auf Weiden und Triften.

Dem Jäger aber muß aus dem gleichen Grunde der Wolf ein j Greuel sein; denn der Waidmann beansprucht alle Erträgnisse der ' Wildbahn für sich und ist nicht bereit, den vierfüßigen Konkurrenten daran teilnehmen zu lassen. Gegenüber dem Urzustand sind unsere Forsten zudem überreich mit Wild besetzt, übervölkert, der Urwald war weit wildärmer. In unseren dichten Wildbeständen aber wirkt der Wolf verheerend, sobald er einwechselt; das Wild wird schnell kopfscheu, beginnt auszuwechseln, das Revier, wird wildleer. Der Jagdpächter aber muß den Pachtschilling weiterzahlen, gleichgültig ob er die Beute macht oder der Wolf. So greift er zur Büchse, sobald Isegrim erscheint.

Meist lassen drei Dinge seine Anwesenheit erkennen: zuerst das j Benehmen des Wildes, dann die Fraßplätze und schließlich hier und 1 dort die Fährte des Räubers. Am leichtesten kommt der Jäger zum Erfolg, wenn es sich nicht um ein streifendes Einzeltier handelt, ] sondern um ein ganzes Rudel. Es bejagt zwar ein riesiges Gebiet j von 40 km Durchmesser, stellt sich aber immer wieder an bestimm- I ten Stellen zur Rast ein. Bei Schnee oder sonst einer guten Spür- j gelegenheit kann man den Tageseinstand erkennen und erfahren, 1 ob die Grauräuber in diesen Windbruch, in jene Dickung gegangen ] sind und sie aber noch nicht wieder verlassen haben. Schnell wird i die Jägerschaft alarmiert, der Schlupfwinkel in weitem Umkreis vor-

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sichtig umstellt, um die Tiere nicht aufzuschrecken, dann werden sie gegen die Schützen aufgetrieben.

Dort, wo Wölfe öfter erscheinen, richtet man eine Lappstatt ein. An langen Leinen werden in regelmäßigen Abständen helle, farbige Lappen geheftet und rund um den Ort aufgehängt, an dem die Wölfe stecken. Wenn die Räuber rege werden, stoßen sie auf die Lappen, wagen aber nicht, durch das Flatterzeug zu brechen, laufen an ihm entlang und kommen so dem Schützen vor die Büchse.

Auch auf dem Ansitz kommt der Wolf gelegentlich schußgerecht, wenn der Waidmann den bevorzugten Wechsel kennt und das Büchsenlicht noch ausreicht. Eine schwierige Jagdart ist das Anheulen, das vor allem zur Paarungszeit ausgangs des Winters Erfolg hat. Der Jäger muß das Wolfsgeheul gut nachmachen können, damit er Isegrim veranlaßt, auf das Geheul zuzuwechseln. Die Pirsch, das waidgerechte Aufsuchen, hat nur selten Erfolg und nur dann, wenn viele Jäger oder viele Wölfe unterwegs sind; hier ist das Zusammentreffen allein vom Zufall abhängig, der entscheidet, wann einmal der Weg des Raubtiers den des Menschen so schneidet, daß sie sich in Raum und Zeit treffen. Bei reichem Wolfbestand lohnt auch die Luderhütte: Man beködert einen freien Platz mit Tierkadavern und beschickt ihn immer neu. Die lieblichen Düfte, die von dort ausstrahlen, locken die Wölfe von weither herbei. Sie suchen das Aas auf und können in hellen Mondnächten erlegt werden; der Schütze versteckt sich dabei in einer Hütte, die man zuvor in den Boden hineingegraben hat.

Romantisch, voller Spannung ist die Winterjagd auf Skiern, wie sie im hohen Norden in der baumlosen Tundra oder auf weiten Hochmooren geübt wird. Im tiefen Neuschnee tun sich die Wölfe schwer, sie sinken bis an den Körper ein und kommen schlecht voran; der Jäger aber gleitet auf den Skiern leicht über die Schneelage. Es gilt die Wölfe aus den Verstecken im Wald, aus dem Dickicht am Fluß, aus dem Gewirr von Felsblöcken heraus auf die freien Flächen zu drücken, sie hier einzuholen und zu erledigen, sobald sie sich stellen.

Am schönsten aber war einst die Wolfshatz hoch zu Roß hinter den schnellen Hunden, wie sie früher überall in Europa, später in den Steppen der USA üblich war, oder jene mit Hund und Adler, wie sie heute noch die Kirgisen betreiben. Die Meute mußte im Waldland sorgfältig ausgesucht werden; man brauchte Hunde mit guter Nase, um die Wolfsspur zu finden und die Fährte zu halten, schnelle Hetzer, um den Wolf einzuholen und zu stellen, sobald man seiner ansichtig wurde, schwere wuchtige Packer, die ihn dann

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anfielen und abwürgten. Mochte die Jagd gehen wie sie wollte, wenn die Reiter mit ihren schnellen Pferden heran waren, die Hunde den Wolf bereits erledigt hatten oder ihn im dichten Kreis umstanden, aus dem er nicht mehr entrinnen konnte, stets hatte der eine oder der andere treue Jagdgehilfe schwere Wunden davongetragen, war zuschandengebissen worden, denn zu furchtbar arbeiten die Zähne Isegrims.

Auf ausdauerndem Pferd traben die Kirgisen zur Wolfsjagd in die Steppe hinaus, reiten die Schlupfwinkel der Räuber in Balkas und Schluchten, im dichten Staudengewirr, im Röhricht ab, die schnellen Windhunde zur Seite. Spüren die Hunde den Wolf auf, so hetzen sie mit langen Sätzen hinter ihm her; der Reiter aber wirft von der Faust den mächtigen Vogel, der mit wuchtigem Flügelschlag dahinstürmt, aufholt und über dem Räuber gleitet. Die Krallen eines Fußes fassen furchtbar über das Wolfsmaul, dringen tief in das Fleisch, drücken die Schnauze zusammen, daß sie nicht mehr geöffnet werden kann. Der andere Fuß aber packt Kopf oder Genick. Schlagartig bricht der Wolf zusammen und kommt zunächst nicht wieder hoch. Mit geöffneten Flügeln hängt der Adler an ihm, er läßt ihn nicht mehr los. Schnell sprengen die Reiter heran, ein Stich mit dem Dolch löscht den Grauräuber aus.

Auch freundliche Züge fehlen nicht Die Poldi und die Wölfe vom Mount

McKinley in Alaska. o furchterregend ein kapitaler Wolf in freier Wildbahn erscheinen mag,

vielen Tierfreunden sind jung aufgezogene Wölfe schon liebenswürdige, vertraute Hausgenossen geworden. Der bekannteste unter ihnen ist wohl die „Poldi" des Kärntner Polizeibeamten Rudolf Knapp aus St. Veith an der Glan geworden. Knapp war zuvor erfahrener Hundedresseur, der viele erfolgreiche Polizeihunde abgerichtet und geführt hatte. Er setzte sich die Aufgabe, die Dressurfähigkeit eines Wolfes festzustellen. Nach langen Bemühungen hatte er die Gelegenheit, einen ganzen Wurf junger Wölfe aus einer Felsspalte im bosnischen Karst auszuheben, behielt das einzige weibliche Tier, das sich darunter befand, zog es groß und richtete es wie einen Polizeihund ab. Sieben Jahre lang ist er dann mit Poldi kreuz und quer durch Mitteleuropa gereist, hat sie in Hunderten von Vorführungen unzähligen Zuschauern vorgestellt

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und bewiesen, daß diese Wölfin alle Aufgaben zu lösen verstand, die ein Polizeihund bewältigen muß. Ihr Gedächtnis, ihr Riechvermögen, die Fähigkeit, eine Spur zu halten, übertrafen die Eigenschaften eines vortrefflichen Hundes bei weitem. Wohl erforderten ihre gewaltige Kraft und ihr furchtbares Gebiß besondere Vorsicht. Trotzdem ist Knapp mit ihr mitten durchs Verkehrsgewühl volkreicher Städte gegangen, hat sie Tausende von Kilometern weit in der Eisenbahn mitgefühlt und mit ihr in Hotels und Gasthöfen übernachtet. Die meisten Menschen merkten gar nicht, daß sie eine Wölfin vor sich hatten. Sie hielten das Tier für einen besonders schönen Schäferhund. Erstaunlich war das blitzschnelle Reagieren dieser Wölfin. Knapp war dadurch gezwungen, seinen Wolf immer im Auge zu behalten, wenn irgendein Geschehnis eintreten konnte. Nur eines konnte Knapp seiner Poldi nicht abgewöhnen: Sie hat immer wieder Hühner gerissen, wenn sie Gelegenheit dazu hatte; der Reiz lebender Beute war zu groß für sie. Audi durfte er ihr bei aller Zuneigung nie das Futter wegnehmen, sie verteidigte es auch gegen ihren Herrn. Im ständigen Umgang mit ihr mußte er feststellen, daß ihr die vollständige Unterwerfung, die fast alle Hunde gegenüber dem Herrn zeigen, fehlte; sie gehorchte wohl, aber Knapp mußte ihr immer wieder seinen überlegenen Willen zeigen.

Dieses Experiment ist oftmals von Laien und Fachleuten wiederholt worden. Viel wurde darüber geschrieben, immer wieder aber hat sich gezeigt, daß auch Wölfe fähig sind, Hausgenossen des Menschen zu werden, daß aber ihre Stärke und Selbständigkeit zur Vorsicht zwingen. So haben Poldi und ihre zahmen Genossen dem Bild vom Isegrim neue, freundliche Züge hinzugefügt, die ihm zuvor fehlten.

Aber auch sonst ist das Bild von der Rolle des Wolfs in der freien Natur zu ergänzen, seit sich amerikanische Zoologen der Mühe unterzogen, die grauen Räuber des Naturschutzgebietes am Mount McKinley in Alaska eingehend zu studieren, um an Stelle der Fabeln und des Wolfslateins exaktes, wohlbegründetes Wissen zu setzen. Sie verbrachten mit Ausnahme der Winter fünf Jahre dort oben und verwandten unendlich viel Mühe und Ausdauer an ihre Aufgabe. Sie fanden die Kinderstuben der Wölfe, beobachteten sie bei Jagd und Spiel, bei der Fürsorge für den Nachwuchs, bei der Verdauungsrast und beim Kampf. Eines der Rudel von sechs bis acht Köpfen hatte ein Jagdgebiet von fast 1000 qkm Ausdehnung, das es allein für sich in Anspruch nahm. Hier jagte es vor allem die Bergschafe auf den Höhen, bis die wandernden Wildrentiere

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im Sommer in Massen erschienen, um auf weiten Ebenen die Kälber .zu setzen. Dann stellten sich die Wölfe auf diese bequeme Nahrung um und lebten ausschließlich von ihr. Die Forscher fanden unzählige Fraßplätze; ihr Erstaunen aber wuchs, als sie bei der Untersuchung der Opfer feststellten, daß die Wölfe fast ausschließlich ganz junge Tiere, daneben vor allem überalterte und jene Stücke rissen, die nicht gesund, sondern krank und bresthaft waren. Wild in der Vollkraft der Jahre, in guter Verfassung, wurde nur, als Ausnahme unter den Opfern nachgewiesen.

Jungtiere werden meist in Überzahl geboren; in ungebundener Natur muß ein Großteil von ihnen zugrunde gehen, damit nicht später, wenn sie heranwachsen, durch Futtermangel der Gesamtbestand in Mitleidenschaft gezogen wird. Überalterte Tiere aber werden leicht von Krankheiten befallen, sie stecken dann als Seuchenträger die gesunden Gefährten an. Hier erweisen sich die Wölfe als harte, grausame, aber notwendige Gesundheitspolizei. Ihre harten Kiefer sorgen dafür, daß der Wildbestand gesund erhalten wird und der Fortbestand der Arten gesichert bleibt. Nirgendwo und zu keiner Zeit haben der Wolf oder ein anderes Raubtier eine bestimmte Tierart ausgerottet; Jäger und Beute halten sich vielmehr in der Natur in einem wohlarasgewogenen Gleichgewicht. So gewinnt selbst der Wolf bei all seinen Untugenden doch zuletzt noch freundliche Züge, und man soll auch Isegrim dort, wo es möglich ist, einen Platz in der weiten Welt belassen.

Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky

L ux-L es ebo gen 23/24 (Naturkunde)-Heftpreis 50 Pf Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (viertelj. 6 Hefte DM 1,50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt - Verlag Sebastian Lux, Muinau (Oberb.), Seidlpark - Druck: Greven & Bechtold, Köln - Printed in Germany

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Beim Lesen von Zierers abendländischer Geschichte öffneten sich immer wieder Ausblicke in die Räume jenseits der weitgezogenen Grenzen des Abendlandes und ließen die Ausstrahlungen der abendländischen Welt auf die Reiche des Orients, Asiens, Afrikas und Amerikas sichtbar werden. Diesen außereuropäischen Großräumen ist

eine neue Buchreihe von Otto Zierer gewidmet, die die Geschichte und Kultur der gelben Rasse, des Islams, Indiens, Afrikas, Ostasiens und des amerikanischen Kontinents farbig und anschaulich schildert. Als erstes abgeschlossenes Werk erscheint die

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