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Der Seelenräuber

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Nr. 383

Der Seelenräuber

Begegnung der vertauschtenSeelen

von H. G. Francis

Der Flug von Atlantis-Pthor durch die Dimensionen ist erneut unterbrochen wor-den. Der Kontinent, der auf die Schwarze Galaxis zusteuerte, wurde durch den Kor-sallophur-Stau gestoppt. Pthor ist nun umschlossen von Staub und planetarischenTrümmermassen, die von einem gewaltigen kosmischen Desaster zeugen, das sichin ferner Vergangenheit zugetragen hat.

Die Zukunft sieht also nicht gerade rosig aus für Atlan und seine Mitstreiter. Alles,was sie gegenwärtig tun können, ist, die Lage auf Pthor zu stabilisieren und eine ge-wisse Einigkeit unter den verschiedenartigen Clans, Stämmen und Völkern herbeizu-führen.

Die angestrebte Einigkeit der Pthorer ist auch bitter nötig, denn Pthor bekommt esmit den Krolocs zu tun, den Beherrschern des Korsallophur-Staus.

Während anhaltende krolocische Spähertätigkeit auf Pthor Atlan dazu bewegt,Vorbereitungen gegen eine drohende Invasion zu treffen, spitzt sich für zwei unterden Pthorern weilende Männer, deren Körper vertauscht sind, die persönliche Situati-on dramatisch zu. Wir meinen Kennon, den Terraner, und Grizzard, den ehemaligenSchläfer.

Letzterer betrachtet den anderen als Körperdieb und SEELENRÄUBER ….

Die Hautpersonen des Romans:Atlan - Der König von Pthor befürchtet eine Invasion.Kennon und Grizzard - Die vertauschten Seelen begegnen einander.Thalia - Odins Tochter auf einer Suchexpedition.Espher - Eine schöne Dalazaarin.Axik - Ein Psycho-Vampir.

1.Espher

»Jetzt du«, sagte sie und blickte ihn miteinem herausfordernden Lächeln an. »Ichwette, daß du fünf Runden schaffst.«

Die Männer und Frauen im Saal lachten.Der bisherige Rekord stand auf drei Runden.Keiner von ihnen konnte sich vorstellen, daßirgend jemand ihn gleich um zwei weitereRunden übertreffen würde.

Kennon fühlte, daß ihm das Blut in denKopf schoß. Die dunklen Augen des Mäd-chens verwirrten ihn. Er glaubte, noch nie-mals zuvor eine so schöne Dalazaarin gese-hen zu haben. Sie trug ein Kleid, das ihreweiblichen Reize stark betonte.

»Ich habe es noch nicht versucht«, ent-gegnete er.

»Dann versuche es jetzt«, rief sie undstreckte die Hand nach ihm aus. Jemandstieß ihm eine Faust in den Rücken, und ereilte stolpernd auf das Mädchen zu.

Espher stand neben dem Schwermetallwa-gen eines einfachen Sportgeräts. Der Wagenlief auf einer Schiene, die schräg in die Hö-he führte. Sie verschwand in einer Öffnungin der Wand und fiel danach senkrecht in dieTiefe. Kennon wußte nicht, wie weit es nachunten ging, aber er schätzte, daß es mehrereMeter waren. Danach unterquerte sie denRaum, stieg auf der Rückseite wieder aufund kam aus einer Öffnung in der Wand her-vor. Sie senkte sich leicht ab und stieg da-nach wieder an. Damit war der Kreis ge-schlossen.

Espher legte ihre Hand auf den Metallwa-gen, der mit einem Bügel versehen war.

»Versuche es für mich«, bat sie mit wei-cher Stimme.

Kennon-Grizzard atmete schwer. Ohne eszu wollen, streckte er die Hand nach demWagen aus. Einige Männer pfiffen anerken-nend.

»Los doch«, rief einer von ihnen. »Zeig,was du kannst.«

Kennon kämpfte mit dem Verlangen, Es-pher zu beweisen, wie stark er war. Er dach-te an den verkrüppelten Körper, in dem erviele Jahre lang gelebt hatte. Wie hatte erdiesen Körper geliebt!

Das war kein Wunder gewesen, hatte erdoch zuvor als Gehirn in einem Robotkörperexistiert. Dabei war er mit umfassenden Fä-higkeiten ausgestattet gewesen. Buchstäb-lich alles hatte er vollbringen können. Wenner mit diesem Körper hier gestanden hätte,er wäre in der Lage gewesen, den Metallwa-gen aus der Schiene zu reißen oder ihn so zubeschleunigen, daß man ihn mit bloßem Au-ge nicht mehr hätte verfolgen können. Indem Robotkörper hatte er sich jedoch nichtals Mensch gefühlt.

Wäre er in seinem natürlich gewachsenenKörper gewesen, so hätte er den Metallwa-gen noch nicht einmal mit seinen Händen er-reicht – es sei denn, man hätte ihn auf eineKiste gestellt. Auf gar keinen Fall hätte erihm genügend Schwung geben können.

Kennon blickte Espher an.Das Mädchen hätte ihn überhaupt nicht

beachtet. Er wußte es. Sie bemühte sichnicht zuletzt um ihn, weil er ein schönerMann war, der einen gut gewachsenen, mus-kulösen Körper hatte.

»Worauf wartest du?« fragte sie. »Wenndu es nicht versuchst, gehe ich.«

»Ich versuche es«, versprach er.Sie lachte leise. Sie war sich ihrer Wir-

kung auf ihn bewußt und kostete sie vollaus.

Der Seelenräuber 3

Kennon legte die Hände um den Metall-bügel. Er schwang den Wagen einige Malelangsam auf der Schiene hin und her, riß ihndann mit aller Gewalt nach vorn und schleu-derte ihn die Steigung hoch. Der Wagen be-schleunigte, jagte donnernd die Schienehoch bis zu der Öffnung in der Wand, kippteüber die Höhe und stürzte krachend in dieTiefe. Kennon hörte, wie er unter dem Fuß-boden entlangraste. Er drehte sich um undsah ihn in der Öffnung in der Wand erschei-nen. Der Wagen hatte genügend Geschwin-digkeit. Er rollte rasch an ihm vorbei, stiegwieder auf, stürzte in die Tiefe, jagte don-nernd unter ihm vorbei, erschien erneut inder Öffnung und setzte zu einer weiterenRunde an.

»Drei Runden hast du geschafft«, sagtejemand neben ihm.

Der Wagen schoß Sekunden später aber-mals an ihm vorbei und stürzte zur viertenRunde in die Tiefe. Die Männer und Frauenbrüllten begeistert. Espher klatschte jubelndin die Hände.

Sinclair Marout Kennon glaubte, dieBlicke des Mädchens auf seinem Gesichtbrennen zu fühlen. Sie waren wie körperli-che Berührungen und lösten ein Glücksge-fühl bei ihm aus, wie er es schon seit vielenJahren nicht mehr gekannt hatte.

Er hörte, wie der Metallwagen nahte. Ersah, wie er die Steigung hinaufkletterte, da-bei langsamer und langsamer wurde. Er ver-nahm die Schreie der Männer und Frauen,die in ein chaotisches Beifallsgebrüll ausar-teten, als der Wagen die Höhe erklomm undzur fünften Runde in die Tiefe stürzte. Dabeibeschleunigte er so stark, daß er wenig spä-ter erneut neben Kennon erschien, seinerestliche Geschwindigkeit jedoch auf derSteigung verlor.

Espher zog sich verheißungsvoll lächelndvor Kennon zurück, als die Männer undFrauen ihn jubelnd in die Höhe stemmten.

Kennon hörte kaum, was man zu ihm sag-te. Er ließ das Mädchen nicht aus den Au-gen.

Espher drehte sich plötzlich um und ver-

ließ den Raum. Kennon versuchte, ihr zufolgen, doch die Menge ließ ihn nicht soschnell gehen. Schließlich befreite Kennonsich energisch und eilte zu der Tür, durchdie Espher verschwunden war. Er riß sie aufund wollte hindurchgehen, als sich ihm einriesiger Dalazaare in den Weg stellte. DerMann überragte ihn um etwa einen halbenMeter. Er hatte nur noch ein Auge. Das an-dere verbarg er unter einer schmutzigen Au-genbinde. Sein Gesicht war von Narben ent-stellt. Er stieß Kennon-Grizzard um undging an ihm vorbei. Kennon erhob sich undwollte durch die Tür gehen, doch der Riesepackte ihn am Hals und riß ihn herum.

»Fünf Runden, wie?« fragte er. »Ich wer-de dir zeigen, wie so etwas gemacht wird.«

Er zerrte Kennon-Grizzard quer durch denRaum, ohne ihm eine Abwehrchance zu bie-ten. Die Männer und Frauen an der Metall-schiene wichen zur Seite. Furchtsam mach-ten sie dem riesigen Dalazaaren Platz.

»Wer ist der Rekordhalter?« fragte derRiese.

»Du bist es, Gorthan«, antwortete ein Del-lo.

»Das will ich meinen«, sagte Gorthan zu-frieden grinsend. Er ließ Kennon-Grizzardlos. »Der Stumme glaubt, mir etwas streitigmachen zu können.«

Er lachte dröhnend, legte seine Hand aufden Metallbügel, riß den Wagen einige Malehin und her und jagte ihn dann die Steigunghoch. Kennon-Grizzard wich einige Schrittezurück. Atemlos wie die anderen beobachte-te er den Metallwagen, doch schon baldwurde ihm klar, daß Gorthan nicht mehr alsdrei Runden schaffen würde.

Auch der riesige Dalazaare merkte es. Erwandte sich Kennon zu und streckte dieFäuste drohend nach ihm aus.

»Du hast etwas am Wagen verstellt«, be-hauptete er. »Das Ding funktioniert nichtmehr so wie früher. Du bist ein Betrüger.«

Er stürzte sich brüllend auf Kennon, derihm jedoch geschickt auswich. Die Fäustezuckten dicht an seinem Kopf vorbei.Gleichzeitig versuchte Gorthan, ihn mit dem

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Knie zu treffen, doch auch das schaffte ernicht.

Kennon-Grizzard tänzelte zur Seite, setzteeinen Dagor-Griff an und schleuderte Gor-than auf den Boden. Der Dalazaare schlugso hart auf, daß er betäubt liegen blieb.

Eine junge Frau trat auf Kennon zu.»Verschwinde, Stummer«, sagte sie ha-

stig. »Er bringt dich um, wenn er wieder zusich kommt.«

Kennon hörte sie nicht. Er blickte an ihrvorbei zur Tür hinüber. Dort stand Espher.Sie lächelte bewundernd, und sie spitzte dieLippen zu einem angedeuteten Kuß. Erwollte zu ihr gehen. Der Wunsch, mit ihr zu-sammen zu sein, wurde übermächtig in ihm.

Doch jetzt trat ihm ein uniformierter Del-lo in den Weg.

»Ich habe eine Botschaft von Atlan fürdich«, erklärte er. »Der König von Atlantiswill dich sofort sehen.«

Bedauernd blickte Kennon zu Espher hin-über, doch sie war schon wieder verschwun-den. Offenbar hatte sie erkannt, daß er nichtzu ihr gehen würde. Kennon befahl dem An-droiden, ihn zu führen, und eilte aus demRaum.

Der Weg führte über gewundene Treppen,schräg ansteigende Rampen und lange Gän-ge quer durch die FESTUNG zu den Räu-men, in denen Atlan, der neue König vonAtlantis, sich aufhielt.

Kennon hatte Zeit, über sich und über Es-pher nachzudenken. Mehr denn je war ersich dessen bewußt geworden, was es be-deutete, nun in einem Körper zu leben, derandere beeindruckte.

Kennon hatte weitgehend vergessen, wieglücklich er gewesen war, als die Traumma-schine Ischtars ihm zu einem neuen Lebenin seinem verwachsenen Körper verholfenhatte. Nach mehr als vierhundertdreißig Jah-ren Leben in einer Vollprothese hatte er sichin seinem Körper wiedergefunden. DieserKörper war schwach und voller Mängel ge-wesen, aber es war ein menschlicher Körpergewesen.

Der Kosmokriminalist dachte oft an die-

sen Körper, da er wußte, daß dieser eben-falls auf Pthor war. Doch jetzt sehnte er sichnicht mehr nach ihm zurück, so wie es amAnfang seiner neuen Existenz auf Pthor ge-wesen war. Er wußte, daß Grizzard in die-sem Körper lebte, und er konnte sich gutvorstellen, daß dieser damit gar nicht einver-standen war.

Kennon gestand sich ein, daß er sich gera-dezu davor fürchtete, dem anderen zu be-gegnen. Mehr denn je wurde er sich dessenbewußt, daß er nicht mehr tauschen wollte.

Er mußte an Espher denken.Er erinnerte sich nicht daran, daß je eine

Frau derartige Gefühle in ihm ausgelöst hat-te. Was würde sie tun, wenn er in seiner ver-krüppelten Gestalt vor sie trat und ihr erklär-te, dies sei seine wahre Erscheinung? Sin-clair Marout Kennon brauchte nicht langenachzudenken. Er wußte, wie Espher sichverhalten würde. Sie würde sich von ihm ab-wenden.

Der Gedanke daran schmerzte ihn.Ich würde es niemals wagen, mich ihr zu

nähern, wenn ich nicht diesen Körper hätte,fuhr es ihm durch den Kopf.

Eine Tür öffnete sich vor ihm. HellesLicht flutete ihm entgegen. Er sah Atlan, dermitten im Saal stand und sich mit einem Ro-botbürger unterhielt. Sein Haar glänzte sil-bern. Lächelnd wandte der Arkonide sichihm zu, als er ihn bemerkte.

Atlan ahnte nicht, wer der Stumme wirk-lich war. Er wußte jedoch, daß der verwach-sene Kennon-Körper auf Pthor existierte,und fraglos schloß er daraus auch, daß dasKennon-Bewußtsein irgendwo auf Pthorwar.

Kennon-Grizzard blieb unwillkürlich ste-hen, als sich der Robotbürger nicht von At-lan entfernte. Er spürte Haß gegen den Ro-botbürger in sich aufsteigen, es gelang ihmjedoch, ihn zu unterdrücken und weiterzuge-hen. Auf keinen Fall wollte er sich durchseine Abneigung gegen Roboter verraten.

»Ich danke dir«, sagte der Arkonide zudem Robotbürger, und endlich rollte dieserauf seinen Ketten davon.

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Der Stumme atmete erleichtert auf.»Setzen wir uns«, bat Atlan und zeigte aufbequeme Sessel, die unter einem Fresko miteiner Kampfszene standen. Der Saal befandsich in der Nähe des Regierungssaals. Erwar nur etwa zwanzig Meter lang und zehnMeter breit, enthielt mehrere Tische undSesselgruppen und diente für Empfängekleinerer Gruppen. Atlan hatte die Einrich-tungen nach seinem Geschmack verändertund allen übertriebenen Schmuck entfernenlassen.

Zögernd ließ Kennon-Grizzard sich ineinen Sessel sinken. Seltsamerweise fühlteer sich nicht wohl in der Nähe des Mannes,den er mehr verehrte als jeden anderen Men-schen. Für Atlan war er bereit, alles zu ge-ben.

Doch bis jetzt hatte er sich ihm nicht of-fenbart. Er hatte ihm nicht gesagt, mit wel-chem Problem er zu leben hatte, denn erwußte, daß der Arkonide auch in seinem Falleine klare und gerechte Lösung suchen wür-de. Atlan würde darauf dringen, daß ein Per-sönlichkeitstausch vorgenommen wurde.

Wie würde ein solcher Tausch überhauptaussehen?

Atlan sagte einige unverbindliche Worte,und Kennon-Grizzard hörte sich darauf ant-worten, ohne sich dessen bewußt zu sein,was er überhaupt sagte. Er konnte seine Ge-danken nicht von seinem eigenen Konfliktlösen.

Immer wieder hatte er sich gefragt, ob einPersönlichkeitstausch überhaupt möglichwar.

Instinktiv fürchtete er sich davor, dem an-deren direkt zu begegnen, denn er glaubte,daß bei einer Begegnung der Tausch auto-matisch erfolgen würde. Kennon war davonüberzeugt, daß ein Bewußtsein eine Formvon Energie darstellte. Aus diesem Gedan-ken heraus leitete er ab, daß zwischen denbeiden Bewußtseinsinhalten eine Art energe-tische Spannung entstehen würde, sobald siesich räumlich nur weit genug näherten.

Wie aber würden sich die beiden Energie-einheiten verhalten? Würden sie sich gegen-

seitig abstoßen? Würden sie in sich zusam-menstürzen? Würden sie sich miteinandervereinigen, oder würde jede mit unwider-stehlicher Gewalt zu jenem Körper gerissenwerden, in dem sie geboren und gewachsenwar?

Logischerweise – so meinte Kennon –mußte es zu einem Tausch kommen, zu ei-nem Ereignis also, das er auf gar keinen Fallwollte.

»… habe ich mich entschlossen, ein Son-derkommando zu bilden«, sagte Atlan.

Sinclair Marout Kennon schreckte auf.Der Name Grizzard war gefallen.

»Was ist denn?« fragte der Arkonide.»Es tut mir leid«, erwiderte Kennon. »Ich

habe für einen Moment nicht zugehört. Ichhabe …«

»… an Espher gedacht?« Atlan lächelte,und die rötlichen Augen musterten denStummen.

Kennon fühlte, daß ihm das Blut in dieWangen schoß, und er ärgerte sich über die-se Reaktion.

»Worum geht es?« erkundigte er sich undbemühte sich um eine abweisende Haltung.»Ich nehme an, Espher hat nichts damit zutun.«

Atlan lachte. Er schüttelte den Kopf.»Natürlich nicht«, erwiderte er. Für ihn

war der Stumme ein Schläfer aus der Senkeder Verlorenen Seelen, der nichts über seineVergangenheit wußte oder nichts darüber er-zählen wollte. Er respektierte, daß er sichdarüber ausschwieg, und er versuchte auchgar nicht, Informationen von ihm zu bekom-men, die seine Herkunft betrafen. Der Stum-me war ihm sympathisch, und er fühlte sichzu ihm hingezogen. Atlan hatte davon ge-hört, daß der Stumme sich für das MädchenEspher interessierte, und er hatte Erkundi-gungen über sie eingezogen. Diese warenganz und gar nicht so ausgefallen, wie er er-hofft hatte. Der Arkonide schwieg sich dar-über jedoch aus, weil er wußte, daß es sinn-los gewesen wäre, sein Gegenüber damit zukonfrontieren.

Daher hatte Atlan beschlossen, den Stum-

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men mit einer Aufgabe zu betrauen, die ihnfür einige Zeit aus der FESTUNG wegführ-te. Er hoffte, daß sich die Gefühle desFreundes danach etwas abgekühlt hatten.

»Wir haben genügend Sorgen wegen derdrohenden Invasionsgefahr«, führte Atlanaus. »Das heißt jedoch nicht, daß wir unsereFreunde vergessen.«

»Natürlich nicht«, antwortete Kennon mä-ßig interessiert. Es gelang ihm nicht, sichvon den Gedanken an Espher zu befreien.

»Ich habe eine seltsame Begegnung ge-habt. Es geht dabei um einen alten Freund,doch ich habe nur seinen Körper gesehen. Indiesem Körper existierte ein anderes Be-wußtsein.«

Sinclair Marout Kennon war plötzlichhellwach. Wie weggewischt waren die Ge-danken an Espher.

»Dieser Körper steckte in der RüstungPorquetors. In ihm lebt ein gewisser Griz-zard.«

War es Zufall, daß Atlan ausgerechnet ihnzu sich gerufen hatte? Kennon hatte das Ge-fühl, den Boden unter sich zu verlieren. Sei-ne Finger krallten sich in die Polster desSessels.

»Ich mache mir nun Sorgen um einen al-ten Freund«, fuhr Atlan fort. »Ich möchte,daß du diesen Grizzard suchst. Für mich istklar, daß nicht nur dieser Körper hier aufPthor materialisiert sein kann, das Kennon-Bewußtsein muß auch hier irgendwo sein.Und ich möchte, daß es eine Chance erhält,in den eigenen Körper zurückzukehren.«

Kennon schwindelte.Wußte Atlan, wie die Wahrheit aussah?

Wollte er ihn aus seiner Reserve locken undihn zwingen, sich zu offenbaren? Oder wares einfach nur eine Ironie des Schicksals,daß Atlan ausgerechnet ihn als Leiter desSuchkommandos abstellte?

Die Kehle wurde Kennon so eng, daß erkein Wort über die Lippen brachte.

Verwundert blickte Atlan ihn an.Er berichtete dem Stummen über die Be-

gegnung mit dem Kennon-Körper und derPorquetor-Rüstung.

Kennon erfuhr, daß sein Körper schonhier in der FESTUNG gewesen war, dieseaber wieder verlassen hatte: Atlan eröffneteihm, daß das in diesem Körper existierendeGrizzard-Bewußtsein sich verzweifeltwünschte, in den eigenen Körper zurückkeh-ren zu können, und daß es entschlossen war,um diesen Körper zu kämpfen.

Kennon wurde sich dessen bewußt, daßGrizzard nur ein wenig zu warten gebrauchthätte, dann wäre er ihm fraglos begegnet,und alles wäre vorbei gewesen. Welch einGlück, daß Grizzard dem Arkoniden nichtgeschildert hatte, wie dieser Körper aussah.

Oder hatte er es doch getan? Mußte er At-lans forschende Blicke so deuten, daß derArkonide die Situation genau kannte?

Sinclair Marout Kennon spürte, wie sichalles in seinem Inneren verkrampfte. Vorseinen Augen flimmerte es. Er hatte das Ge-fühl, kurz vor einem Zusammenbruch zustehen.

»Was ist los?« fragte Atlan befremdet.»Stimmt etwas nicht?«

Die Frage traf Kennon wie ein Blitz-schlag. Ihm wurde plötzlich klar, daß er sichauf keinen Fall verraten durfte.

»Es ist alles in Ordnung«, antwortete ermit schwankender Stimme. Er legte sich dieHände vor den Magen. »Ich habe nur etwasgegessen, was mir nicht bekommen ist. Aberich habe bereits ein Medikament genommen.Kein Grund also, vom Thema abzuwei-chen.«

Kennon merkte, daß Atlan sich um ihnsorgte, dennoch konnte ihm nicht recht sein,daß der Arkonide sich um ihn bemühte.Kennon kannte den Freund außerordentlichgut. Er wußte, wie intelligent er war undwelche Kombinationsgabe er besaß. Ein Ge-heimnis vor ihm zu bewahren, war so gutwie unmöglich, wenn man sich nicht vollunter Kontrolle hatte.

War es nicht vielleicht doch besser, Atlandie Wahrheit zu sagen? Durfte er denFreund überhaupt in dieser Weise täuschen?

Kennon wandte sich Atlan zu in der fe-sten Absicht, ihm alles zu sagen. Er wollte

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die Last loswerden, die ihn fast erdrückte.In diesem Augenblick aber schoß ihm der

Gedanke an Espher durch den Kopf. Er sahihr lächelndes Gesicht vor sich, und erglaubte, ihre Blicke auf seinen Wangenbrennen zu spüren.

»Ich werde den Auftrag erfüllen«, sagte ermühsam beherrscht. »In einer Stunde brecheich auf.« Er verneigte sich linkisch vor Atlanund eilte aus dem Raum.

2.Konflikte

Wie von Sinnen stürmte Kennon weiter,als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte.Er wollte allein sein und mit niemandemsprechen. Selten zuvor in seinem Leben hat-te er sich so unglücklich gefühlt wie in die-sen Minuten.

In einem blaugetönten, runden Raumblieb er stehen. In der Mitte des Raumes be-fand sich ein Springbrunnen.

Kennon blickte in das Wasser. Sein linkesLid zuckte heftig, so wie es bei seinem eige-nen Körper auch gewesen war. Trotz allerMühe gelang es ihm nicht, das Zucken zuunterdrücken. Schließlich tauchte er das Ge-sicht in das Wasser des Brunnens.

Kennon erinnerte sich an die Jugend undan das Leben, das er vor seiner»Zweitgeburt« geführt hatte. Er war ein häß-licher Zwerg gewesen, nicht größer als 1,52Meter, schwach wie ein Kind und stets demSpott der anderen ausgesetzt. Er hatte einenRiesenschädel mit vorquellenden Augen, ei-nem spitzen Kinn, strohgelben, dünnen Haa-ren und abstehenden, viel zu großen Ohrengehabt. Sein tonnenförmiger Körper hattedie kurzen und zu dünnen Beine viel zustark belastet. Daran hatten die riesenhaftenFüße auch nichts geändert, die eher zu ei-nem Clown, denn zu einem Mann von dieserGestalt gepaßt hätten.

Die Schönheiten und Genüsse des Lebenswaren ihm verschlossen geblieben. Liebeund Zuneigung hatte er auch als Kind nichterfahren. Bis zum heutigen Tag wußte er

nicht, wer seine Eltern gewesen waren. Siehatten ihn als Kleinkind ausgesetzt, und nie-mand hatte sich die Mühe gemacht, seineHerkunft zu klären.

Sinclair Marout Kennon war sich dessenbewußt, daß er es nie geschafft hatte, dieseelischen Wunden zu schließen, die ihm dieJugend und sein Äußeres geschlagen hatten.

Nur ein einziges Mal in seinem Lebenhatte er die wirkliche Liebe einer Frau emp-fangen. Das war im altarkonidischen Reichgewesen. Ansonsten hatten ihn Frauen stetsnur mitleidig oder verächtlich angesehen,wenn er sich ihnen genähert hatte.

Jetzt aber war alles anders. Er lebte eindrittes Leben, und es erschien ihm wie eineechte Reinkarnation.

Er war auf Pthor existent geworden, je-doch nicht in seinem verkrüppelten Körper,nicht in seinem Robotkörper, sondern indem vollendet gewachsenen, athletischenKörper von Grizzard, dem Schläfer aus derSenke der Verlorenen Seelen.

Er hob den Kopf aus dem Wasser emporund atmete einige Male tief durch. Das Lidhatte sich beruhigt.

Was Wunder, daß Grizzard sich in demverwachsenen Körper nicht wohl fühlte undin seinen eigenen Körper zurückkehrenwollte! Kennon selbst verspürte nicht die ge-ringste Neigung, in diesem Körper zu leben.

In den ersten Stunden seiner Ankunft aufPthor hatte er sich in dem Körper Grizzardsnicht heimisch gefühlt. Er hatte das Bestre-ben gehabt, wieder in seinen eigenen Körperzu kommen und alle damit verbundenenNachteile in Kauf zu nehmen.

Doch mittlerweile war alles anders.Bot sich ihm in diesem Körper nicht die

Möglichkeit, alle geistigen Vorteile, die erbesaß, voll zu nutzen? Konnte er Atlan aufdiese Weise nicht unendlich viel besser die-nen? Ergab sich daraus nicht geradezu diePflicht, sich in diesem Körper zu behaupten?

War es wirklich nur ein Zufall gewesen,der ihn in diesen gesunden und schönenKörper versetzt hatte? Kennon mochte esnicht glauben, und je länger er darüber nach-

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dachte, desto mehr setzte sich in ihm dieÜberzeugung fest, daß es eine Macht imHintergrund gab, die die Weichen gestellthatte.

Überrascht stellte Kennon fest, daß erüber Grizzard so gut wie nichts wußte. Griz-zard hatte zu den Schläfern gehört. Vor eini-ger Zeit war er erwacht und nackt aus seinerSchlafkammer entkommen. Das war alles,was über ihn bekannt geworden war.

Einem Kosmokriminalisten vom RangeSinclair Marout Kennons konnte das nichtgenug sein.

Kennon lächelte plötzlich.Seltsam, daß ich nicht früher darauf ge-

kommen bin, dachte er.Der Schläfer war nicht grundlos in Schlaf

versetzt worden. In seiner Vergangenheitmußte es einen dunklen Punkt geben. Viel-leicht hatte er Verbrechen begangen, die soschwerwiegend waren, daß er zu ewigemSchlaf verurteilt worden war?

Kennon trat zurück bis an die Wand. Ersank in einen Sessel.

Rede dir nichts ein, sagte er zu sich. Be-wahre deinen kühlen Verstand! Natürlichsträubst du dich dagegen, in den verkrüppel-ten Körper zurückzukehren. Hast du aberdas Recht, einen anderen Körper für dich inAnspruch zu nehmen, und einen anderen zueinem Leben in deinem eigenen Körper zuverdammen?

Kennon fühlte, daß er nahe daran war,den Verstand zu verlieren.

Wie sollte er sich verhalten? Was sollte erAtlan sagen? Konnte er es sich leisten, sichnicht intensiv um den anderen zu kümmern– um Grizzard im Kennon-Körper?

Kennon erhob sich.Er hatte das Bedürfnis, mit irgend jeman-

dem über sein Problem zu sprechen.Nur Espher kam in Frage.

*

Atlan hatte keinen Verdacht geschöpft.Er wunderte sich lediglich über das seltsa-

me Verhalten des Stummen. Ihm war aufge-

fallen, wie verwirrt dieser gewesen war.Angst hatte sein Gesicht gezeichnet.

Daraus schloß Atlan, daß er sich in die-sem Mann geirrt hatte. Offenbar war er beiweitem nicht so mutig, wie er angenommenhatte.

Der Arkonide war in höchstem Maß beun-ruhigt wegen der bestehenden Invasionsge-fahr. Unbekannten Kräften war es gelungen,den Wölbmantel zu durchdringen, der Pthorumgab. Verteidigungsmöglichkeiten schienes dagegen nicht zu geben.

Kaum hatte der Stumme ihn verlassen, alseinige Dellos den Saal betraten und ihm mit-teilten, daß wiederum einige Flugscheibengesichtet worden waren. Diese Nachrichtsteigerte die Sorgen Atlans noch weiter, sodaß er schließlich nicht mehr an den Stum-men dachte.

Vorläufig beschäftigte ihn die Tatsache,daß eine fremde Macht Atlantis bedrohte,und daß sie über eine Durchdringungsener-gie verfügte, mit der sie den Wölbmantelneutralisierte. Damit war die Gefahr einerInvasion ganz erheblich gestiegen. Daherrichteten sich die Gedanken Atlans in ersterLinie auf Abwehrmaßnahmen, nur hin undwieder einmal dachte er an den Stummenund an Grizzard, dessen Bewußtsein imKörper Sinclair Marout Kennons existierte.

Das war der Fall, als Thalia ihm begegne-te.

Er traf sie in einem Arbeitsraum, in demDellos statische Unterlagen und Berechnun-gen der FESTUNG sichteten.

»Ich habe eine Bitte«, sagte er zu derTochter Odins, nachdem er sie begrüßt hatte.

»Schon erfüllt«, antwortete sie.»Ich wollte eigentlich den Stummen damit

beauftragen«, erklärte er, »aber ich habenicht den Eindruck, daß er die Aufgabe be-wältigen kann. Daher ist es besser, wenn dufür ihn einspringst.«

»Gern. Sobald ich weiß, worum es geht,ziehe ich los.«

Atlan beschrieb ihr die Aufgabe.»Du sollst also diesen Grizzard finden«,

schloß er seine Ausführungen. »Ich glaube

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nicht, daß das schwierig ist, da er in der Por-quetorrüstung recht auffällig ist. Wenn duihn gefunden hast, bringe ihn hierher in dieFESTUNG. Ich hoffe, daß ich mit seinerHilfe dann feststellen kann, wo das Kennon-Bewußtsein ist. Mir liegt viel daran, mit die-sem alten Freund wieder einmal reden zukönnen. Kaum jemand hat für mich sovielgetan wie er.«

»Du kannst dich auf mich verlassen«, er-widerte sie.

»Und sei vorsichtig«, mahnte er. »Mirmachen die Fremden ziemliche Sorgen, weilsie den Wölbmantel durchbrechen können.Es wäre gefährlich für Pthor, wenn sie dichfangen und entführen würden.«

Sie lachte.»Keine Angst, Atlan, ich passe schon auf

mich auf.«Er blickte ihr nach, als sie davoneilte.

Dann wandte er sich einem der Dellos in sei-ner Nähe zu.

»Sagt dem Stummen Bescheid, daß ichihm den Auftrag entzogen habe«, befahl er.

*

Er fand Espher in einer Halle, in der sichzahlreiche Männer, Frauen und Kinder beiSpielen unterschiedlichster Art amüsierten.Sie stand an einem Automaten und lachteimmer wieder silberhell auf, wenn es ihr ge-lang, durch die geschickte Abstimmungmehrerer Magnete komische Figuren zu er-zeugen.

Kennon blieb etwa zwanzig Meter von ihrhinter einer Säule stehen und beobachtetesie. Sein Herz schlug schneller als zuvor,und seine Augen brannten. Die Schönheitdes Mädchens schlug ihn in seinen Bann.Gern wäre er zu ihr gegangen, doch er woll-te sie nicht stören, zumal er sah, wievielSpaß ihr das Spiel machte.

Sie trug einen braunen Anzug mit langenHosen, der aussah, als sei er aus Leder ge-macht. Er schmiegte sich eng um sie undbrachte ihre Figur vorteilhaft zur Geltung.Ihre Füße steckten in hochhackigen Stiefeln,

die sie größer erscheinen ließen, als sie war.Weich fiel ihr das schimmernde Haar bis aufdie Schultern herab.

Kennon bemerkte, daß einige Dellos spöt-tische Bemerkungen über ihn machten, dochdas störte ihn nicht.

Als er sich gerade entschlossen hatte, zuEspher zu gehen, trat ein Dello an sie heran,legte seine Hand gegen ihren Arm undreichte ihr etwas. Sie drehte sich um. Ihr Ge-sicht verzerrte sich, und zornig stieß sie denAndroiden von sich.

»Was fällt dir ein, Krüppel!« rief sie.Der Dello eilte beschämt davon. Er hinkte

stark, und Kennon sah, daß sein linkes Beinkürzer war als das rechte.

Der Bann war gebrochen!Sinclair Marout Kennon löste sich von der

Säule und ging zu dem Mädchen hin. Siesah ihn, und ihr Gesicht entspannte sich.

»Ich bin froh, daß du gekommen bist.«»Du hast dich geärgert«, stellte er fest.Ihre Stirn umwölkte sich.»Ist das ein Wunder?« fragte sie. »Dieser

Krüppel hat mich berührt.«»Was ist daran so schlimm?« erkundigte

er sich erheitert.»Lache nicht«, rief sie zornig. »Ich hasse

Krüppel. Ich ekle mich vor allem Häßli-chen.«

Ihre Worte trafen Kennon bis ins Innerste.Er erbleichte, und unwillkürlich blickte er ansich herab, um sich davon zu überzeugen,daß er sich wirklich im Grizzard-Körper be-fand.

»Er kann sicherlich nichts dafür, daß einBein kürzer ist als das andere«, wandte ervorsichtig ein.

»Bestimmt kann er etwas dafür«, antwor-tete sie heftig. »Jeder Krüppel kann das.«

Er war so verblüfft, daß er nichts zu sagenwußte.

Espher lachte.»Worüber unterhalten wir uns denn«, rief

sie. »Was geht uns dieser Krüppel an?«Sie hakte sich bei ihm unter und zog ihn

mit zu einem anderen Automaten, bei dessenSpiel äußerste Reaktionsschnelligkeit und

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logisches Denken verlangt wurden.»Ich verstehe dich nicht, Espher«, sagte

er, als sie mit dem Spiel begann. »Wiesosollte ein Krüppel für sein äußeres Bild ver-antwortlich sein.«

»Das liegt in ihrem Charakter begründet«,erwiderte sie. »Und noch tiefer. In den Ge-nen, aus denen sie entstanden sind. Für michsteht fest, daß bei einem Krüppel das äußeremit dem inneren Bild übereinstimmt. Wie eraussieht, so ist auch sein Charakter.«

Was sie sagte, war absolut falsch und er-schütterte ihn. In diesen Sekunden aber warKennon feige. Er wagte nicht, Espher zu wi-dersprechen, weil er fürchtete, sie werde ihneinfach stehenlassen und davongehen.

Gleichzeitig wurde ihm mit aller Deut-lichkeit bewußt, welche Katastrophe ihmnahte. Jetzt war ganz klar, wie Espher sichverhalten würde, falls Grizzard seinen Kör-per zurückerobern würde.

Der Dalazaare Gorthan näherte sich ih-nen. Er blickte Kennon finster an und bliebneben ihm stehen.

»Ich soll dir sagen, daß Atlan dir den Auf-trag entzogen hat«, erklärte er. »Thalia wirderledigen, wozu du offensichtlich nicht fähigbist.«

Sinclair Marout Kennon sah rot.Seine Fäuste schossen vor und bohrten

sich in den Leib des Dalazaaren, der jedochmit einem solchen Angriff gerechnet hatteund ihn mühelos abwehrte.

»Zeig's ihm«, rief Espher ihnen zu. Ken-non bezog diese Aufforderung auf sich,während Gorthan davon überzeugt war, daßer gemeint war.

Der Dalazaare stürzte sich auf Kennonund brachte ihn mit einer geschickt ange-setzten Beinschere zu Fall. Dann warf ersich über ihn und krallte ihm die Hände umden Hals.

»Jetzt ist es aus mit dir«, sagte Gorthankeuchend. »Du wirst Espher nie mehr belä-stigen.«

Er drückte mit aller Gewalt zu.

*

Thalia war froh, die FESTUNG für einpaar Tage verlassen zu können. Sie fühltesich in der FESTUNG beengt. Zudem warsie brennend daran interessiert, mehr überjene geheimnisvollen Fremden zu erfahren,denen es mühelos gelungen war, den Wölb-mantel zu durchdringen.

Sie rief fünfzehn Dellos zusammen undrüstete sie mit einfachen Waffen wie Mes-sern und leichten Schwertern aus. StärkereWaffen hielt sie nicht für notwendig, da siemeinte, sich vor den Fremden stets rechtzei-tig verstecken zu können.

Außerdem glaubte sie, daß die wildenZeiten auf Pthor endgültig vorbei waren.Zwar gab es hier und da noch Zwischenfälledurch herumstreifende Horden, doch ihnenmaß sie kein großes Gewicht bei. Als Toch-ter Odins fühlte sie sich sicher. Niemandwürde es so ohne weiteres wagen, sie anzu-greifen.

Von Porquetor-Grizzard aber war ganzund gar keine Gefahr zu erwarten. Ihn galtes lediglich zu finden und in die FESTUNGzu bringen. Das war unter Umständen eineAufgabe von nur wenigen Stunden.

Sie erklärte den Dello Antrat zum Unter-führer, damit sie sich bei ihren Anweisungenan die Dellos nicht mit jedem einzelnen vonihnen befassen mußte.

Antrat war ein untersetzter Mann miteckigen Schultern, tief liegenden Augen undeinem lippenlosen Mund. Er machte einenintelligenten und willensstarken Eindruck,so daß sie glaubte, sich auf ihn verlassen zukönnen.

»Du bleibst grundsätzlich in meiner Nä-he«, befahl sie.

»Du kannst dich auf mich verlassen«, er-widerte er, während sie die FESTUNG ver-ließen.

Thalia bestieg mit ihm und fünf anderenDellos einen Zugor, verteilte die anderenDellos auf einen anderen und startete.

3.Ein gefährlicher Plan

Der Seelenräuber 11

Sinclair Marout Kennon glaubte, das töd-liche Krachen seines Kehlkopfes zu hören.In der gleichen Sekunde wurde er zum in-stinktgeleiteten Dagorkämpfer, der mit ver-nichtender Präzision und Wucht arbeitet. Biszu diesem Moment hatte er sich gescheut,vor den Augen Esphers mit aller Härte auf-zutreten, weil er fürchtete, sie dadurch zu er-schrecken.

Jetzt aber ging es um sein Leben.Kennons Hände zuckten hoch. Die Fin-

gerspitzen fuhren Gorthan in die Seiten. Ertraf die Schmerzpunkte, und der Dalazaarewarf sich aufschreiend zur Seite. Seine Hän-de lösten sich vom Hals Kennons.

Doch damit endete der Abwehrkampfnoch nicht. Ellenbogen und Knie traten inAktion. Eine Serie von Schlägen trommelteauf Gorthan herab, der sich durch die Fluchtzu retten versuchte. Kennon packte ihn anden langen Haaren, wirbelte ihn herum undstreckte ihn mit einem weiteren Schlag zuBoden.

Der Dalazaare blieb liegen.Kennon rieb sich die Kehle.»Er hätte mich fast umgebracht«, sagte er

mit krächzender Stimme. »Dieser Narr. Hater den Verstand verloren?«

»Ich hatte eher den Eindruck, daß du nichtmehr wußtest, was du tust«, bemerkte Es-pher.

Er drehte sich zu ihr um. Er wagte kaum,sie anzusehen, weil er meinte, sie werde nunvor ihm zurückweichen. Doch er irrte sich.Ihre Worte waren scherzhaft gemeint gewe-sen. Sie trat an ihn heran, schlang ihre Armeum seinen Nacken und küßte ihn.

»Ich hatte keine Ahnung, daß du so kämp-fen kannst«, flüsterte sie. »Gorthan wirdnicht wieder wagen, mir nahe zu kommen.Er hat endgültig die Nase voll.«

»Ich liebe dich, Espher«, antwortete ermit stockender Stimme.

Sie strich ihm mit dem Finger über dieNase, blickte ihm lächelnd in die Augen undsagte: »Ich dich doch auch, du Dummchen.«

Kennon schwankte vor Glück. Er war un-fähig, irgend etwas zu sagen.

Gorthan richtete sich stöhnend auf. Ertippte Kennon auf die Schulter. Gelassenlöste sich dieser aus den Armen des Mäd-chens. Er fühlte sich dem Dalazaaren nunweit überlegen.

»Laß Espher los«, befahl Gorthan.»Geh«, entgegnete Kennon. »Und laß

dich nie wieder hier sehen.«Gorthan drehte sich um und ging schwei-

gend hinaus.»Täusche dich nicht«, sagte das Mädchen.

»Er kneift nicht. Das ist nicht seine Art. Erwird kämpfen. Er kommt zurück, aber nichtallein, sondern zusammen mit seinen Freun-den. Es sind mehr als zehn.«

»Soll er kommen«, sagte der Terraner.»Wichtig ist, daß du dich für mich entschie-den hast.«

»Das habe ich«, erwiderte sie.»Ich möchte mit dir reden. Irgendwo. Nur

nicht hier. Vielleicht können wir nach drau-ßen in den Park gehen?«

Sie schüttelte den Kopf.»Tut mir leid«, sagte sie. »Mein Dienst

beginnt in ein paar Minuten. Ich habe keineZeit. Später.«

»Ich rede mit Atlan, dann hast du sovielZeit, wie du willst.«

»Lieber nicht. Ich möchte keinen Ärger.Sei geduldig.«

Sie hauchte ihm einen Kuß auf die Wangeund eilte hinaus. Dabei benutzte sie einenanderen Ausgang als Gorthan, wie er mitstiller Freude bemerkte.

Einer der Dellos zupfte ihm am Ärmel.»Du solltest auch gehen«, riet er ihm.

»Wir haben Gorthan und seine Freundeschon öfter erlebt. Sie sind bereit zu töten,und gegen zehn kräftige Männer oder nochmehr kannst du auch nichts ausrichten.«

»Sie werden nicht kommen.«»Du irrst dich. Sie kommen bestimmt. Sei

klug, und geh ihnen aus dem Weg. Espherhat dann weniger Ärger.«

Kennon verstand nicht ganz, was der Del-lo damit meinte. Ihm war jedoch wichtig,daß Espher nicht wollte, daß er mit Gorthankämpfte. Er wollte ihr Unannehmlichkeiten

12 H. G. Francis

ersparen, ohne sich darüber klar zu sein,weshalb sie welche haben würde, wenn erkämpfte. Die Worte Esphers und die desDellos hätten ihm eigentlich sagen müssen,daß eine Beziehung zwischen ihr und demriesenhaften Dalazaaren bestand, doch da-von wollte er nichts wissen, und daher ver-drängte er die Gedanken daran.

Im Hochgefühl seines Glücks verließ erden Spielsaal durch eine dritte Tür, so daß erGorthan nicht begegnete.

Er kam wenig später an einer Gruppe vonDellos vorbei, die an einem kompliziertenKabelsystem arbeiteten, das sie in einerWand freigelegt hatten. Der Name Thaliafiel, und jemand sagte etwas von Porquetor.

Kennon hatte das Gefühl, in einen Ab-grund zu stürzen.

Wieder fragte er sich, was geschehenwürde, wenn er Grizzard und seinem ver-wachsenen Körper begegnete. Fraglos wür-de Thalia ihn aufspüren. Vielleicht wußte siesogar, wo er sich befand, so daß sie schon inwenigen Stunden zurück sein würde.

Dann war die Katastrophe unvermeidlich.Der Bewußtseinstausch würde stattfinden,

ohne daß er es verhindern konnte.Espher würde sich Grizzard nähern und

ihn nicht mehr beachten. Kennon war sichdessen ganz sicher, daß es so sein würde.

Kennon eilte an den Dellos vorbei. Er irr-te planlos durch die Gänge und Räume derFESTUNG, bis er endlich auf eine winzigeKammer stieß, in der sich niemand aufhielt.Hier ließ er sich auf einen Hocker sinken. Ervergrub das Gesicht in die Hände und ver-suchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

Es gab keinen Ausweg aus seiner Situati-on.

Das Glück war wieder einmal gegen ihn.Du mußt kämpfen! ging es ihm durch den

Kopf. Du hast mit Gorthan gekämpft undgewonnen. Du wirst Espher verlieren, wenndu den Kampf nicht fortsetzt bis zum bitterenEnde.

Kennon verlor sich in uferlosem Haß ge-gen Grizzard, durch den er sich in seinerExistenz bedroht fühlte.

Was blieb ihm unter diesen Umständenanderes übrig, als mit allen Mitteln zu kämp-fen?

Kennon hob den Kopf und blickte dieWand an. Seine Augen füllten sich mit Trä-nen.

Er hatte keine andere Wahl.Er mußte Grizzard töten. Der verkrüppel-

te Körper mußte sterben, und mit ihm dasGrizzard-Bewußtsein. Nur dann konnte erhoffen, ein neues und schöneres Leben be-ginnen zu können, das ihm endlich all dasbescherte, was er über Jahrhunderte hinweghatte entbehren müssen.

Kennon verließ den Raum, irrte noch eini-ge Zeit in der FESTUNG umher und verließdiese schließlich. Er trat in den Park hinaus.Ein lauer Wind wehte ihm entgegen. Erbrachte den Duft von Tausenden von blü-henden Blumen mit.

Kennon blieb stehen. Er erinnerte sich anAlt-Arkon, wo er sich Lebo Axton genannthatte. Auch dort hatte es Parkanlagen vonatemberaubender Schönheit gegeben. Undwie jetzt hatte er auch dort stets das Gefühlgehabt, daß die Parkanlagen atmeten. Sieströmten ein Lebensgefühl aus, das ihn er-füllt hatte.

Sinclair Marout Kennon ging langsamweiter an einigen Dellos vorbei bis hin zu ei-nem mit Blüten übersäten Baum. In ihmglaubte er, einen terranischen Tulpenbaumwiederzuerkennen.

»Du suchst Thalia?« fragte jemand hinterihm und riß ihn mit diesen Worten aus sei-nen Träumen. Er fuhr herum, als habe manihn bei einem Verbrechen ertappt.

»Wer sagt das?« erwiderte er heftiger, alser eigentlich wollte.

Vor ihm stand ein Dello, der ihn ver-schüchtert anblickte. Er hielt ein Gartengerätin den Händen.

»Niemand«, sagte er stammelnd. »Ichdachte nur, ich könnte dir einen Gefallentun.«

Kennon fing sich. Er zwang sich zur Ru-he. Gleichzeitig sagte er sich, daß Thalia un-ter Umständen einen entscheidenden Hin-

Der Seelenräuber 13

weis darauf erhalten haben konnte, wo sichGrizzard aufhielt. Wenn das der Fall war,dann mußte er ihr so schnell wie möglichfolgen, da er Grizzard auf keinen Fall hier inder FESTUNG töten wollte.

Er lächelte.»Du hast recht«, sagte er. »Entschuldige.

Ich war nur ein wenig erschrocken. Natür-lich suche ich Thalia. Wohin ist sie geflo-gen?«

»Sie hat einen Zugor genommen und istin Richtung Donkmoon geflogen. Ein zwei-ter Zugor mit Helfern ist ihr gefolgt.«

»Ich benötige einen Zugor«, erklärte Ken-non. »Besorge mir einen.«

»Das kann ich nicht«, entgegnete der Del-lo. »Der neue Herrscher hat alle einschlie-ßen lassen, um sie vor den Invasoren in Si-cherheit zu bringen. Du müßtest Atlan fra-gen.«

Der Terraner wußte mittlerweile, daß essinnlos gewesen wäre, den Dello umzustim-men oder ihm Befehle zu geben, die denenAtlans widersprachen.

Kennon schickte ihn an seine Arbeit zu-rück und ging wieder zur FESTUNG. Er warentschlossen, sich einen Zugor zu besorgen,da er ohne ein derartiges Fluggerät nicht be-weglich genug war.

Als er einem anderen Dello begegnete, er-kundigte er sich bei ihm, wo er einen Zugorfinden konnte. Geduldig hörte er sich an,daß er keinen Zugor haben könne, weil At-lan alle Fluggeräte habe einschließen lassen.Danach ließ er sich beschreiben, wo sie un-tergebracht waren, lobte den Dello mitfreundlichen Worten und schickte ihn fort.Er war sich dessen sicher, daß der Dellonicht argwöhnisch werden würde.

Kennon betrat die FESTUNG wieder undeilte zielstrebig voran, bis er endlich einenHangar betrat, in dem die Fluggeräte derTechnos abgestellt waren. Wie erwartet, be-fand sich keine einzige Wache in der Nähe.

Kennon arbeitete etwa zehn Minuten lang.Dann öffnete sich ein Schott vor ihm, er flogin einem Zugor aus dem Hangar, und dasSchott schloß sich wieder hinter ihm.

Er beschleunigte und entfernte sichschnell von der FESTUNG. Hin und wiederblickte er zurück, bis er sich dessen sicherwar, daß ihm niemand folgte.

Dann konzentrierte er sich ganz auf dieJagd, die vor ihm lag. Es galt, Grizzard undden verwachsenen Körper zu vernichten, oh-ne daß es zu einem Tausch der Bewußtseins-inhalte kam. Der Tod mußte blitzschnellüber Grizzard kommen, so daß diesem keineAbwehrmöglichkeit mehr blieb.

*

Grizzard blieb in einer Senke zwischenzwei Hügeln stehen. Er wußte nicht genau,wo er war, sein Instinkt sagte ihm jedoch,daß er sich jenem Gebiet näherte, aus dem ergekommen war, und in dem er lange Zeitgeschlafen hatte.

Die Feste Grool und die Stahlquelle, beider er eine Lanze gefunden hatte, lagen weithinter ihm. Mit einigem Bedauern dachte eran Caidon-Rov. Ihm tat leid, daß er ihn hatteenttäuschen müssen, doch meinte er, keineandere Wahl gehabt zu haben. Seine eigenenInteressen gingen vor.

Auch jetzt hatte er den Schock noch nichtüberwunden, in einem verkrüppelten und äu-ßerst schwachen Körper leben zu müssen.

Ein einziger Wunsch beseelte ihn.Er wollte heraus aus diesem Körper und

in seinem eigenen leben. An diesen erinnerteer sich deutlich, obwohl sonst fast alles ausseiner Vergangenheit im Dunkeln lag. Erwußte, daß er in einer Art Glaspalast ge-schlafen hatte. Und hier, so meinte er, mußteder Persönlichkeitsaustausch vorgenommenworden sein, auf eine Weise, die ihm völligunerklärlich war.

Lange Zeit hatte er vergeblich darübernachgedacht, wie ein solcher Tausch über-haupt möglich war. Er war durch das Landgeirrt, hatte sich im Blutwald verborgen ge-halten und den Kontakt mit allen gemieden,die in seine Nähe kamen. Sein Verstand hat-te sich geweigert, die Wahrheit zu akzeptie-ren. Erst als Grizzard gemerkt hatte, daß er

14 H. G. Francis

sich selbst bis an den Rand des Wahnsinnstrieb, war es ihm gelungen, sich zu fangen.

Der Kämpfer in ihm war erwacht.Er wollte um seinen Körper kämpfen. Die

Phase der Depressionen war weitgehendüberwunden. Jetzt wollte er zumindest ver-suchen, zu seinem Recht zu kommen.

Während er zwischen den beiden Hügelnstand und einige Stiere beobachtete, die aufeiner Lichtung weideten, sagte er sich, daßsein Körper logischerweise irgendwo in derNähe sein mußte. Voller Haß dachte er anjenes Wesen, das in dem verkrüppelten Kör-per gelebt hatte, und dem es – wie er meinte– mit einem Trick gelungen war, sich ineinen anderen Körper zu versetzen.

Er gestand sich ein, daß er sich ein wenigvor diesem Wesen fürchtete. Immer wiederüberlegte er, wie es sein konnte. Er schriebihm magische Kräfte zu. Wäre sonst ein Per-sönlichkeitstausch möglich gewesen?

Und er glaubte, daß er es mit einem Geg-ner voller Heimtücke und Boshaftigkeit zutun hatte.

Ein schlimmeres Verbrechen, als jenes,dem er zum Opfer gefallen war, konnte ersich nicht vorstellen. Selbst ein Mord erschi-en ihm dagegen weniger entsetzlich, da dieLeiden des Opfers mit der Tat zu Ende wa-ren, während seine erst begannen und sichvon Tag zu Tag steigerten.

Er kam nicht auf den Gedanken, daß seinGegenspieler von dem Persönlichkeitstauschebenso überrascht worden sein könnte wie erselbst auch. Stets ging er davon aus, daß derandere den Tausch gezielt und mit vollerAbsicht durchgeführt hatte. Er glaubte, Op-fer eines geplanten Verbrechens gewordenzu sein.

Daher sagte er sich, daß er zunächst ein-mal herausfinden mußte, mit welchen Mit-teln der andere ihn überlistet hatte. Danachmußte er selbst versuchen, den gleichenTrick anzuwenden und seinen Gegner in denrichtigen Körper zurückzuzwingen.

Vielleicht genügte es auch schon, nur inseine Nähe zu kommen.

Grizzard stellte sich vor, daß zwischen

Bewußtsein und Körper eine gewisse Anzie-hungskraft bestand, die dazu führte, daß bei-de zueinander fanden, wenn sie sich nichtweit genug einander näherten.

Grizzard schreckte aus seinen Gedankenauf, als er Metall klirren hörte. Gleichzeitigstoben die Stiere in wilder Flucht davon. Erdrehte sich neugierig um sich selbst, ent-deckte jedoch nichts Ungewöhnliches.

Vorsichtig ging er weiter, wobei er diePorquetor-Rüstung geschickt steuerte. Mitt-lerweile hatte er überhaupt keine Schwierig-keiten mehr damit, sie so zu lenken, wie erwollte. Fast schien es, als sei er mit ihr ver-wachsen.

Ein Zugor flog in etwa fünfhundert Me-tern Entfernung an ihm vorbei. Er wolltenicht gesehen werden und zog sich unter ei-nige Bäume zurück. Die Maschine landetehinter einer Bauminsel.

Grizzard hatte gesehen, daß mehrere Ge-stalten darin saßen, konnte jedoch wegen dergroßen Entfernung niemanden erkennen.Neugierig geworden, löste er sich aus sei-nem Versteck und eilte auf die Stelle zu, ander er den Zugor vermutete. Er spielte mitdem Gedanken, sich die Maschine anzueig-nen. Noch wußte er nicht, wie sie bedientwurde, er hoffte jedoch, sich fehlendes Wis-sen durch einige Experimente schnell ver-schaffen zu können. Mit einem Zugor, someinte er, war er unabhängig und beweg-lich. Er konnte alle Ziele mühelos erreichen.

Nach einem Fußmarsch von etwa einerhalben Stunde durch teils sumpfiges Gebiet,das ihn zu weiten Umwegen zwang, durch-querte er ein kleines Wäldchen, und bald saher Metall durch die Bäume schimmern. Ab-wartend blieb er stehen und horchte.

Er hörte ein seltsames Knistern und Klir-ren wie von brechendem Metall, das er sichnicht erklären konnte. Vorsichtig schritt erweiter voran, jederzeit gefaßt, sich gegeneinen Angreifer verteidigen zu müssen.

Plötzlich klirrte und schepperte es, alsstürze ein Berg leerer Blechdosen um. Se-kunden später war es wieder still.

Grizzard konnte sich die Geräusche nicht

Der Seelenräuber 15

erklären. Irgend etwas in ihm warnte ihn unddrängte ihn zur Flucht. Doch dagegen wehr-te er sich. Er fühlte sich in der Rüstung desHalbroboters sicher und konnte sich nurschwer vorstellen, daß es etwas gab, wasihm wirklich gefährlich werden konnte. An-dererseits war er sich der Schwäche des ver-wachsenen Körpers bewußt, in dem er lebenmußte, und er wußte, daß er hilflos allen Ge-fahren ausgesetzt war, sobald ihm jemanddie Rüstung abnahm.

Schritt für Schritt tastete er sich vor, wo-bei er immer wieder auf den Boden vor sichblickte, um zu verhindern, daß er auf einenAst trat und dabei Geräusche verursachte.

Schließlich trennte ihn nur noch einBusch von dem Zugor. Er trat vorsichtig umihn herum und erstarrte.

Etwa ein Drittel des Zugors fehlte.Grizzard konnte deutlich sehen, daß ir-

gend jemand ein großes Teilstück aus demZugor herausgerissen und diesen dabei zer-stört hatte. Auf den ersten Blick war zu er-kennen, daß die Maschine nicht mehr flie-gen würde. Kabel und Maschinenteile hin-gen aus dem aufgebrochenen Teil heraus.

Grizzard befand sich nördlich des Regen-flusses zwischen dem Dämmersee und derSenke der Verlorenen Seelen. Die Insassendes Zugors, die aus nicht erkenntlichenGründen gelandet waren, entfernten sich vonder Maschine. Sie waren bereits so weit ge-gangen, so daß Grizzard sie kaum noch se-hen konnte.

Eine seltsame Spur führte vom Zugor wegzu einer Felsgruppe.

Grizzard trat aus dem Wäldchen hervorund näherte sich dem Wrack. Er hoffte, dar-in noch irgend etwas zu finden, was er ge-brauchen konnte, doch er wurde enttäuscht.Was wichtig war, hatten die Insassen offen-bar mitgenommen.

Ein seltsames Klirren und Scheppern ließGrizzard mitten in der Suche aufblicken. Einlänglicher Blechhaufen näherte sich ihm. Ersah aus, als ob er aus zahllosen, übereinan-der geschichteten Blechplatten bestand, un-ter dem sich ein Tier verkrochen hätte.

Während Grizzard mitten in dem Wrackstand, kam der Blechhaufen näher und nä-her, bis er endlich erfaßte, daß er es mit ei-nem lebenden Wesen zu tun hatte. Unwill-kürlich schrie Grizzard auf. Er bemerkte,daß der Blechhaufen vier Beine hatte, aufdenen er sich bewegte, und daß an seinerVorderseite so etwas wie ein Rachen gähnte.

Grizzard wich zurück. Er begriff, daß die-ses Wesen den gelandeten Zugor zerstörthatte. Sein Verstand sträubte sich gegen denGedanken, daß es ein Geschöpf gab, dasMetall fraß, bis er sah, wie sich der Rachenmehr und mehr weitete. Der Blechhaufenschien sich in zwei Hälften zu spalten undzur gewaltigen Baggerschaufel zu werden.Grizzard wich entsetzt zurück. Bis jetzt hatteer sich in der Rüstung sicher gefühlt. In ihrwähnte er sich so unangreifbar wie ein Kre-bs in seinem Panzer. Doch was konnte er ge-gen ein metallfressendes Wesen tun?

Er hob seine Lanze und richtete sie gegendas Wesen, das klirrend und schepperndüber dem Rand des Zugors aufstieg. DieMetallpranken zerfetzten das Verkleidungs-material.

Grizzard blickte auf die breite und ge-zackte Spitze der Lanze. Diese bestand ausblau schimmerndem Stahl.

Plötzlich zweifelte er daran, daß er damitetwas ausrichten würde. Dennoch stieß ermit aller Kraft zu. Die Spitze grub sich kra-chend in die Blechplatten, so daß er bereitsglaubte, gewonnen zu haben. Um so über-raschter war er, als das Metallwesen dieLanze mit explosiver Gewalt zurückschleu-derte. Grizzard hielt sie so fest gepackt, daßer selbst hintenüber stürzte, über den Randdes Zugors hinwegfiel und auf den Bodenprallte.

Entsetzt versuchte er, die Rüstung wiederauf die Beine zu bringen, doch in seiner Er-regung verwechselte er die Hebel der Schal-tung. Die Rüstung schlug mit den Armenund Beinen um sich und wühlte den Bodenauf.

Über dem Rand erschien zischend undbrüllend der Metallfresser. Grizzard stieß

16 H. G. Francis

ihm panikartig die Lanze gegen den Leib.Diese wurde erneut zurückgeschleudert,doch dieses Mal hatte er damit gerechnet.Die Stahlhände umklammerten sie, als sieeinen Meter tief in die Erde fuhr. Geschicktzog er sich daran hoch, so daß er auf denBeinen stand, als sich das Monstrum auf ihnstürzte.

Er sprang zur Seite.Laut krachend schlugen die Metallkiefer

zusammen. Sie verfehlten ihn nur um weni-ge Zentimeter.

Grizzard wich weiter zurück. Er hatte sichdavon überzeugt, daß es am Zugor nichtsmehr gab, was er gebrauchen konnte. Daherwollte er sich nun nur noch in Sicherheitbringen. Er wagte es jedoch nicht, dem ge-fährlichen Metallfresser den Rücken zuzu-wenden, und flüchtete daher rückwärts-schreitend.

Das Wesen, das aussah wie ein nachlässigaufgeschichteter Haufen Blechplatten, folgteihm. Dabei bewegte es sich so langsam, daßGrizzard zu der Ansicht kam, daß er ihmmühelos weglaufen konnte.

Er drehte sich um und beschleunigte.Das Land lag frei vor ihm. Keinerlei Hin-

dernisse waren ihm im Weg. Daher meinteGrizzard, es geschafft zu haben.

Er war ungefähr fünfzig Meter weit ge-kommen, als ein Stoß in den Rücken ihn zuBoden schleuderte. Die Lanze flog weit vonihm weg und bohrte sich etwa zwanzig Me-ter von ihm entfernt in den Boden.

Grizzard steuerte die Porquetor-Rüstungpanikartig aus und warf sie herum, so daß erauf den Rücken stürzte.

Das metallfressende Ungeheuer warf sichmit weit aufgerissenem Rachen auf ihn.

4.Spuren im Sand

Sinclair Marout Kennon blickte zur FE-STUNG zurück, die langsam hinter ihm imDunst verschwand.

Die Entscheidung war gefallen.Wenn er zur FESTUNG zurückkehrte,

würde er Atlan einiges zu erklären haben.Das würde nicht einfach werden. Er kannteden Arkoniden gut genug. Oft genug hatte erseinen Scharfsinn bewundert und erlebt, wiekristallklar der Logiksektor dachte. Dochwar die Situation auf Pthor anders, als sieauf der Erde gewesen war. Dort hatten AtlanMutanten zur Seite gestanden, die selbst inschwierigen Fällen die Wahrheit zutagebrachten. Hier auf Pthor war Atlan auf sichallein angewiesen. Es würde ein geistigesDuell werden, das Kennon glaubte, gewin-nen zu können. Sobald der Kennon-Körpertot war, konnte er sich zurückziehen undwarten. Irgendwann würde er sich wieder inden Vordergrund spielen, ohne dabei seinewahre Identität preisgeben zu müssen.

Kennon preßte die Lippen verbittert zu-sammen.

Das alles gefiel ihm nicht. Ein solches In-trigenspiel widersprach seinem Charakter,da es nicht galt, negative Kräfte zu bekämp-fen, sondern einen Freund zu betrügen.

Kennon preßte die Hand gegen das linkeAuge, als das Lid zu zucken begann.

Vielleicht war es besser, umzukehren undeinen anderen Weg zu suchen?

Kennon hörte etwas pfeifen. Er wirbelteherum. Eine Scheibe näherte sich ihm. Siehatte einen Durchmesser von etwa zwanzigMetern. Auf ihrer Oberseite erhob sich einseltsamer Klumpen.

Kennon schrie auf.Eine derartige Scheibe hatte er schon ein-

mal beobachtet. Mittlerweile wußte er, daßsie von Wesen gesteuert wurde, denen es aufnoch unbekannte Weise gelang, den Wölb-mantel zu durchdringen.

Die Scheibe jagte direkt auf ihn zu. DerPilot schien ihn nicht zu sehen, oder er woll-te ihn rammen.

Verzweifelt versuchte Kennon, den Zugorzur Seite zu reißen. Es gelang ihm, ihn eini-ge Meter weit aus der Kollisionszone her-auszuführen, ganz konnte er sich jedochnicht retten. Die Scheibe prallte krachendgegen die Seite des Zugors und schleuderteihn schräg in die Höhe. Kennon klammerte

Der Seelenräuber 17

sich an die Steuerelemente, während sich dieMaschine in der Luft überschlug. Er konntesich halten.

Als der Zugor sich wieder aufrichtete, rißund zerrte Kennon an den Hebeln, weil erhoffte, ihn so abfangen zu können. Er warjedoch nicht gut genug mit der Maschinevertraut. Der Zugor neigte sich nach vornund stürzte in die Tiefe. Erst kurz über demBoden gelang es dem Stummen, ihn abzu-fangen. Doch es war zu spät. Der Zugorschlug mit der Unterseite auf den steinigenBoden und zerbrach in zwei Teile. Kennonflog im hohen Bogen aus der Maschine her-aus. Er sah eine Stichflamme aus den Trüm-mern schießen und hörte, daß etwas explo-dierte. Dann stürzte er kopfüber in einenBusch. Instinktiv streckte er die Arme aus.

Die weich federnden Zweige fingen ihnab und nahmen ihm den Schwung. Errutschte in den Busch hinein und bliebschließlich zwischen den Zweigen stecken,ohne sich verletzt zu haben. Er befreite sichin aller Eile daraus und wollte weiterfliehen,falls weitere Teile des Zugors explodierensollten. Doch schon nach wenigen Schrittenmerkte er, daß da nichts mehr war, was ex-plodieren konnte. Das Antriebsaggregat warnur noch Schrott. Eine rote Flüssigkeitsickerte aus mehreren Rissen hervor, entzün-dete sich jedoch nicht, als sie mit einembrennenden Plastikteil in Berührung kam.

Kennon blickte an sich herab. Er war völ-lig unversehrt. Auch seine Hosen, die aus ei-nem lederartigen Material bestanden, warennicht beschädigt worden. Er hatte kaum faß-bares Glück gehabt.

Lächelnd drehte er sich zu dem Buschum, der ihn aufgefangen hatte. Er wollte ihmscherzhaft danken.

Das Lächeln erstarb ihm auf den Lippen.Der Busch war verschwunden. Spuren im

Sand zeigten an, wo sich die Wurzeln ausdem Boden gehoben hatten und wohin sichder Busch zurückgezogen hatte.

Kennon fröstelte plötzlich. Mit was für ei-nem Wesen hatte er es zu tun gehabt? Hattees ihn bewußt und mit voller Absicht abge-

fangen?Kennon hatte plötzlich das Gefühl, daß

der ganze Wald aus beweglichen, intelligen-ten Wesen bestand, die ihn beobachtetenund belauerten. Er hastete weiter und ent-fernte sich vom Wald. Dabei wurde ihm be-wußt, wie groß der Verlust war, den er erlit-ten hatte. Jetzt konnte er Thalia nicht mehrschnell genug folgen. Schon jetzt war erweit hinter ihr zurück. Der Zusammenprallmit dem ovalen Flugkörper und der damitverbundene Zeitverlust mußten dazu führen,daß er sie vollends aus den Augen verlor.

Er rannte in das Land hinaus, das sichsteppenartig im Norden bis zum Horizont er-streckte. Südlich von ihm erhob sich einBerg. Kennon vermutete, daß es der Taam-berg war, von dem er in der FESTUNGmehrfach gehört hatte. Demnach mußte sichöstlich von ihm das Wache Auge befinden,während westlich die Senke der VerlorenenSeelen lag. Nach Westen war Thalia geflo-gen. Hatte sie Informationen darüber, daßsich Grizzard in dem verwachsenen Körperin der Senke der Verlorenen Seelen aufhielt?

Kennon blickte sich einige Male um. Nie-mand folgte ihm. Er lief dennoch weiter,weil es ihm Freude machte, sich in seinemkräftigen und sportlichen Körper zu bewe-gen. Er steigerte seine Geschwindigkeit im-mer mehr, weil er herausfinden wollte, wieschnell er laufen konnte, bis ihm der Atemknapp wurde.

Ihm erschien einleuchtend, daß sich Griz-zard in der Senke der Verlorenen Seelenaufhielt. Dort war er im Grizzard-Körper er-wacht. Dort war der Tausch vollzogen wor-den. Daher lag auf der Hand, daß Grizzarddort nach einem originalen Körper suchte.

Kennon blieb stehen. Er drehte sich umund blickte zurück. Deutlich zeichnete sichdie Spur ab, die er im Sand zurückgelassenhatte. Er war leicht zu verfolgen, wohinge-gen Thalia durch keinerlei Zeichen verriet,wohin sie tatsächlich geflogen war.

Er strich sich mit den Händen über dieHüften.

Er bedauerte, daß er keinerlei Waffen mit-

18 H. G. Francis

genommen hatte.

*

Grizzard kämpfte um sein Leben.Verzweifelt schlug er um sich. Die stäh-

lernen Fäuste trommelten auf die Blechplat-ten des metallfressenden Wesens, ohne eineentscheidende Wirkung zu erzielen.

Mit Mühe und Not verhinderte er, daßKopf oder Arme zwischen die zermalmen-den Kinnladen gerieten. Das Wesenschnaufte und brüllte vor Gier und versuch-te, die Rüstung mit den Beinen zu zertrüm-mern, als es merkte, daß Grizzard nicht be-reit war, sich so ohne weiteres auffressen zulassen.

Panikartig schaltete Grizzard, wobei esihm wie ein Wunder erschien, daß es ihmgelang, Fehlsteuerungen zu vermeiden. Alssich ihm eine Chance bot, dem monströsenWesen zu entkommen, rollte er sich zur Sei-te. Die metallenen Pranken gruben sich tiefin den weichen Boden. Einige Sekundenvergingen, bevor der Metallfresser merkte,daß sein Opfer nicht mehr an der alten Stellewar. Brüllend hastete er hinterher. Er schleu-derte Grizzard wieder zu Boden, als diesersich gerade aufrichtete. Wiederum fiel der inder Rüstung Eingeschlossene auf denRücken, so daß er seinen Gegner durch dieSchlitze im Helm sehen konnte. Eine derPranken schlug krachend auf ihn herab.Grizzard packte sie und wollte sie zur Seitereißen, als ihm plötzlich eine Idee durch denKopf schoß.

Er stieß die Pranke hoch und schob sie di-rekt in den Rachen des monströsen Wesenshinein. Dieses biß mit aller Kraft zu und zer-malmte die Pranke.

Brüllend vor Schmerz fuhr es zurück.Grizzard richtete die Porquetor-Rüstung

in aller Eile auf. Er beobachtete, wie dasWesen sich vergeblich bemühte, die verletz-te Pranke aus seinem eigenen Rachen zu be-freien. Sie geriet, von Metallzacken geris-sen, weiter und weiter in den Rachen hinein.Dabei verlor der Metallfresser das Gleichge-

wicht und stürzte vornüber auf den Boden.Grizzard lenkte die Rüstung von dem We-

sen fort, ohne es aus den Augen zu lassen.Er beobachtete, daß es schließlich das Beinvom Körper abtrennte und schwerfällig inden Wald flüchtete.

Grizzard eilte zu der Lanze, die noch im-mer im Boden steckte, schulterte sie undrannte weiter nach Norden. Er konnte sichnicht erklären, woher das metallfressendeWesen gekommen und wie es entstandenwar. Er vermutete jedoch, daß es ein Ge-schöpf der Stahlquelle war, aus der er dieLanze entnommen hatte.

Etwa zwei Stunden später erreichte er denRand der Senke der Verlorenen Seelen. Vonhier aus fiel das Land sanft ab bis hin zumtiefsten Punkt im Mittelbereich der Senke.Überall erhoben sich die gläsern erscheinen-den Paläste aus dem Grün des bestelltenLandes. Grizzard sah Wiesen und Felder,auf denen schwarzhaarige Technos arbeite-ten. Der Anblick der Paläste erweckte Erin-nerungen in ihm. Sie waren jedoch vage undan keine bestimmten Ereignisse gebunden.Er wußte, daß er schon einmal hier gewesenwar, die näheren Umstände kamen ihm je-doch nicht in den Sinn.

Grizzard versuchte gar nicht erst, sichmehr ins Gedächtnis zu rufen. Seine Auf-merksamkeit richtete sich auf eine Siedlung,die sich in der Nähe befand. Zahllose Hüttenund Zelte bildeten ein chaotisches Durchein-ander, in dem sich viele Geschöpfe der un-terschiedlichsten Art bewegten. Er sah hu-manoide Wesen, Vierbeiner, vogelähnlicheGeschöpfe und unförmige Gestalten, wie sieihm nie zuvor begegnet waren.

Er beschloß, die Siedlung zu betreten undhier Nachforschungen nach seinem Körperanzustellen.

*

Költer blickte sich vorsichtig um. Nie-mand hielt sich in seiner Nähe auf. Zwi-schen den Hütten und Zelten war es ruhig.Außerdem waren sie so weit entfernt, daß

Der Seelenräuber 19

von dort aus kaum jemand erkennen konnte,was er tat.

Dennoch zögerte er.Er hockte auf einem Stein zwischen zwei

Feldern, auf denen Getreide wuchs. Es wareine besonders hochwertige Art, die hier an-gebaut wurde. Der zu erwartende Ertrag warweitaus höher als bei anderen Sorten. Den-noch war Költer dagegen gewesen, diese an-zubauen, weil die Pflanzen zuviel Wasserbenötigten. Weit mehr als die Hälfte desWassers, das aus dem einzigen Brunnen derSiedlung geschöpft werden konnte, wurdefür die Bewässerung der Felder benötigt.Das hieß, daß ständig zu wenig Wasser fürdie Bewohner der Siedlung vorhanden war.

Doch er selbst benötigte nicht viel. Wich-tiger waren die Lebensbirnen, die er auf ei-nem Feld von fünf Metern Länge und vierMetern Breite anbaute. Mehr Platz hatteman ihm nicht zugestanden. Die Lebensbir-nen waren lebenswichtig für ihn. Ohne siekonnte er nicht existieren. Daher hatte erauch einige Keimlinge bei sich gehabt, alsman ihn gefangengenommen hatte. Und alser aus dem Schlaf erwacht war, da waren sienoch da gewesen. Ohne sie wäre er längsttot gewesen.

Doch auch so waren seine Zukunftsaus-sichten äußerst schlecht. Die Pflanzen benö-tigten viel mehr Wasser, als die Wasserkom-mission ihm zugeteilt hatte. Vergeblich hatteer gegen die geringe Ration protestiert. Nie-mand hatte auf ihn gehört. Dabei hätte jedersehen können, der sich dafür interessierte,daß die Pflanzen kaum Früchte trugen undeinzugehen drohten.

Költer blieb keine andere Wahl. Er mußtehin und wieder heimlich Wasser auf daswinzige Feld führen, wenn er die Pflanzenretten wollte.

Dazu hatte er ein raffiniertes System ent-wickelt. Die Lebensbirnen wuchsen etwafünfzig Meter von ihm entfernt. In mühevol-ler Kleinarbeit, ständig von Entdeckung be-droht, hatte er unter aufgeschichteten Stei-nen eine Leine versteckt, mit der er von hieraus ein Holzschott bedienen konnte. Damit

öffnete er einen Wasserkanal, und Wasserflutete zu den Lebensbirnen.

Nachdem Költer sich davon überzeugthatte, daß ihn niemand beobachtete, zog eran der Leine. Er spürte den Widerstand,überwand ihn und öffnete damit das Schott.Langsam zählte er bis zehn. Dann ließ er dieLeine los, so daß sich das Schott wiederschloß. Auf diese Weise hatte er sich etwazwanzig Liter Wasser mehr beschafft, alsihm zustand.

Er erhob sich und klopfte sich zufriedenmit den Händen gegen die schuppigenSchenkel. Es war geschafft.

Als er sich gerade umwenden und in dieSiedlung zurückkehren wollte, lösten sichzwei Technos aus einem der beiden Getrei-defelder. Sie schritten zu dem Feld mit denLebensbirnen und betrachteten es.

Költer erschrak. Die beiden Technos sa-hen, daß das Feld frisch bewässert wordenwar. Sie würden ihn verraten, wenn sie ihnentdeckten. Er duckte sich und rannte aufdie Hütten zu, doch schon nach wenigenSchritten blieb er stehen. Vier Technos ka-men hinter einer Hütte hervor. Sie hieltenWaggus in den Händen, mit denen sie ihnlähmen konnten, wie er mittlerweile wußte.

Die anderen Technos eilten vom Feld her-bei.

»Er hat Wasser gestohlen«, erklärten sie.»Wir haben es gesehen.«

Költer griff sich verzweifelt an die Hör-ner, die aus seinem geschuppten Schädelwuchsen.

»Damit habe ich nichts zu tun«, erwiderteer.

»Wir beobachten dich seit Tagen«, sagteeiner der Technos verächtlich. »Jetzt ist füruns alles klar. Du brauchst nichts mehr zubewässern, denn du wirst in Zukunft nichtsmehr für dich benötigen.«

Kälter wollte ihnen erläutern, warum erWasser genommen hatte, doch sie ließen ihnnicht zu Wort kommen. Sie führten ihn indie Siedlung. Einer von ihnen richtete stän-dig seinen Lähmstrahler auf ihn und machtedamit deutlich, daß eine Flucht unmöglich

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war.Wenige Minuten später betraten sie zu-

sammen mit ihm eine Holzhütte, die aussorgfältig behauenen Baumstämmen errich-tet war. Hinter einem Tisch saß ein hochge-wachsener Mann. Er hatte flammend rotesHaar, eine dunkle, rötliche Haut und strah-lend blaue Augen. Einer der Technos berich-tete von Költers Tat.

»Dir sind die Gesetze bekannt, die wir al-le gemeinsam für unsere Siedlung erarbeitethaben?« fragte der Mann mit den hellen Au-gen.

»Ich kenne sie, Dorguet«, antwortete Käl-ter.

»Dann weißt du auch, welche Strafe du zuerwarten hast«, stellte Dorguet fest.

»Laß mich doch erklären«, rief Költer er-regt. »Ich habe eine viel zu kleine Wasserra-tion zugeteilt bekommen. Sie ist so gering,daß die Pflanzen dabei nicht gedeihen kön-nen. Den Pflanzen zu wenig Wasser zu ge-ben, ist Wasserverschwendung, weil am En-de doch nichts dabei herauskommt.«

»Das alles spielt keine Rolle«, sagte Dor-guet. »Du lebst in unserer Gemeinschaft. Duweißt, daß wir alle in unserer Existenz be-droht sind. Jeder Wassertropfen ist wichtig.Auf jedes Getreidekorn kommt es an. Dahersind unsere Gesetze hart. Ich habe die trauri-ge Pflicht, dir zu eröffnen, daß du dein Le-ben verwirkt hast.«

»Nein, Dorguet, höre mich an«, schrie derGeschuppte. »Ich habe in Notwehr gehan-delt.«

»Du hättest zu mir kommen können. Dashast du nicht getan. Du hast dich entschie-den, gegen das Gesetz zu verstoßen. Das Ur-teil wird vollstreckt.«

Er gab den Technos ein Zeichen. Einervon ihnen löste seinen Lähmstrahler aus.Kälter brach mit einem Schrei zusammen.

»Werft ihn in den Schacht«, befahl Dor-guet.

Die Technos hoben den gelähmten Kälterauf und trugen ihn hinaus. Sie brachten ihnan den nördlichen Rand der Siedlung. Hierbefand sich, von einer kreisförmigen Mauer

eingeschlossen, ein Schacht, von dem nie-mand wußte, wozu er einmal gedient hatte.Niemand hatte bisher herausgefunden, wietief er war. Ließ man Steine hineinfallen, sokonnte niemand hören, wann sie aufschlu-gen. Es schien, als führe der Schacht bis indie Unendlichkeit.

Einer der Technos strich Kälter über dasGesicht und schloß seine entsetzt geweitetenAugen. Dann gab er den anderen ein Zei-chen. Sie warfen Kälter über die Mauer, under stürzte in den Schacht.

»Die Gesetze sind hart«, sagte einer derTechnos, »aber sie sind gerecht. Nur so kön-nen wir überleben.«

»Er tut mir leid«, entgegnete ein anderer.»Vielleicht brauchte er wirklich mehr Was-ser, als die Kommission ihm gegeben hat.«

»Mag sein«, sagte der erste. »Doch dasändert nichts. Vergiß nicht, daß über zwei-hunderttausend Geschöpfe aller denkbarenArten hier in der Senke der Verlorenen See-len leben. Wenn auch nur zehn Prozent vonIhnen unsere selbstgeschaffenen Gesetzemißachten würden, wäre es das Ende für unsalle.«

»Ich habe kein Mitleid mit ihm«, erklärteein Techno, der sich bislang abseits gehaltenhatte. »Der Geschuppte hat genau gewußt,was er tat. Er hat versucht, uns zu überlisten.Das ist ihm nicht gelungen. Die Strafe istgerecht. Jetzt lebt einer weniger in unsererSiedlung. Das bedeutet, daß wir anderen einwenig besser dran sind als bisher.«

*

»Wo ist der andere Zugor?« fragte Thalia,als sie sich der Feste Grool im Westen vonPthor näherte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Antrat.»Er ist vorhin gelandet«, erklärte einer der

anderen Dellos. »Ich habe es gesehen.«Thalia zog die Flugmaschine herum und

ging auf Gegenkurs.»Warum hat mir das niemand gesagt?«

fragte sie ärgerlich.Die Dellos blickten sie schweigend an.

Der Seelenräuber 21

Sie waren frei von Schuldgefühlen. Thaliasah ein, daß es keinen Sinn hatte, ihnen Vor-würfe zu machen. Sie begriffen nicht, wiewichtig es für sie gewesen wäre, über denAusfall des anderen Zugors informiert zuwerden.

Jetzt hatte sie unnötig Zeit verloren. Wäh-rend sie nun wieder nach Osten raste, über-legte sie, ob sie nicht auch auf die anderenDellos verzichten konnte. In den Zugorkonnte sie sie nicht aufnehmen. Damit hättesie ihn überlastet. Sie wollte jedoch wissen,warum die Dellos den anderen Zugor aufge-geben hatten, und dann wollte sie verhin-dern, daß die Androiden sich einfach irgend-wo verloren und auf Nimmerwiedersehenverschwanden. Sie wollte sie sinnvoll für dieSuche nach Grizzard einsetzen.

Kennon irrte sich mit seiner Annahme,daß sie wußte oder ahnte, wo Grizzard war.Sie hatte nicht mehr Informationen als erund war auf reine Vermutungen angewiesen.Sie hatte die Feste Grool als Ziel gewählt,weil sie hoffte, von Caidon-Rov einige Aus-künfte zu bekommen. Immerhin war Griz-zard bei Caidon-Rov gewesen.

Nach etwa einer Stunde Flug machte An-trat sie auf eine Gruppe von zehn Dellos auf-merksam, die sich am nördlichen Ufer desRegenflusses versammelt hatte. Sie landetein ihrer Nähe und winkte die Androiden zusich heran.

»Die Maschine des Zugors hat versagt«,erklärte ihr einer der Dellos, nachdem siesich danach erkundigt hatte, wo der Zugorgeblieben war. »Wir mußten ihn aufgeben.«

Der Dello beschrieb nun genau, wo siegelandet waren. Thalia wollte den Zugornicht so ohne weiteres aufgeben. Sie schätz-te die Dellos nicht besonders hoch ein undglaubte, den Zugor reparieren zu können.Sie befahl den Dellos, nach allen Richtun-gen auszuschwärmen und nach GrizzardAusschau zu halten, dann flog sie weiter.

Etwa fünfzehn Minuten später hatte siedie Stelle erreicht, an der das Wrack des Zu-gors lag. Fassungslos landete sie daneben,wobei sie darauf achtete, daß sie keine Spu-

ren zerstörte. Sie befahl den Androiden, imZugor zu bleiben und stieg allein aus.

Kopfschüttelnd untersuchte sie dasWrack. Sie konnte sich nicht erklären, wo-durch die Maschine so schwer beschädigtworden war. Etwa ein Drittel des Zugorswar verschwunden. Davon hatten ihr dieDellos nichts gesagt.

Die Spuren, die die Dellos zurückgelassenhatten, waren deutlich zu erkennen. Sie führ-ten in westlicher Richtung vom Zugor weg.Dann waren da aber noch andere Spuren. Siezeugten von einem schweren Kampf zwi-schen zwei offenbar riesigen Wesen. DerSand war weich und fein. In ihm zeichnetensich keine klaren Umrisse ab, so daß Thalianur ahnen konnte, daß einer der beidenKämpfer ein humanoides Wesen gewesenwar. Über das Äußere des anderen konntesie sich keine Vorstellungen machen.

Sie folgte den Spuren des humanoidenWesen, bis dieses festeren Boden erreichthatte. Hier hatten seine Füße deutliche Ab-drücke hinterlassen.

Sie drehte sich um und blickte zum Zugorzurück. Sie wollte Antrat zurufen, daß siedie Spur Grizzards gefunden hatte. Da sahsie, daß ein monströses Wesen, das auswahllos aufgeschichteten Blechplatten zubestehen schien, auf den Zugor zukroch.Schlagartig begriff sie, was mit dem anderengeschehen war.

Sie rannte wie von Sinnen auf den Zugorzu, in dem die Dellos ahnungslos schwat-zend saßen.

5.Die Verzweifelten

Grizzard versteckte sich hinter einemBaum und beobachtete. Er wollte kein Risi-ko eingehen. Andererseits wußte er, daß erdie Siedlung früher oder später betretenmußte. Irgendwann mußte er etwas essenund trinken. Viel benötigte er nicht, aber oh-ne Hilfe konnte er nicht leben.

Er überlegte flüchtig, ob er die Porquetor-Rüstung ablegen sollte, weil er sich dann un-

22 H. G. Francis

ter die Bewohner der Siedlung mischenkonnte, ohne soviel Aufsehen zu erregenwie in der Rüstung. Diesen Gedanken ver-warf er jedoch rasch wieder, weil er allzuschwach war, wenn er auf die Rüstung ver-zichtete. Er sagte sich, daß er notfalls ausder Siedlung fliehen konnte, wenn man ihnnicht aufnehmen wollte. Dabei würde ihmdie Rüstung entscheidend helfen.

Er löste sich aus der Deckung des Baumesund marschierte auf die Hütten und Zelte zu.Kaum war er etwa zwanzig Schritte weit ge-kommen, als die Männer und Frauen auf denFeldern auf ihn aufmerksam wurden. Sie rie-fen sich gegenseitig etwas zu, und einigevon ihnen eilten zur Siedlung.

Wenig später tauchte eine Gruppe von et-wa dreißig Männern zwischen den Hüttenauf. Grizzard sah, daß alle Männer bewaff-net waren. Die meisten trugen Lanzen undSchwerter. Es waren überwiegend Technos,aber auch einige humanoide Gestalten, dieanderen Sternenvölkern entstammten, warendarunter.

Grizzard ging weiter, wobei er die Lanzenach wie vor geschultert hielt, um damit zuzeigen, daß er nicht kämpfen wollte. Er warsich darüber klar, daß er ein bedrohlichesBild in seiner Rüstung bot, und Caidon-Rovhatte ihm einiges über Porquetor berichtet.Daher wußte er, daß Porquetor über langeZeit sein Unwesen auf Pthor getrieben hatteund von vielen gefürchtet worden war. Nunmochten manche Pthorer glauben, daß Por-quetor wiedererstanden und erneut zur Be-drohung geworden war.

Etwa zwanzig Meter vor den Männernblieb Grizzard stehen und rammte die Lanzemit der Spitze in den Boden.

»Ich bin nicht gekommen, weil ich kämp-fen will«, rief er. »Ich will mit euch reden.«

Einer der Männer schritt langsam und zö-gernd auf ihn zu. Er war hochgewachsen,hatte flammend rotes Haar, eine dunkleHaut, mit einem seltsam rötlichen Schim-mer, und leuchtendblaue Augen.

»Was willst du mit uns reden?« fragte er,als er vor Grizzard stand. »Wir haben dich

nicht gerufen, und wir wollen hier nieman-den bei uns haben. Wir haben zu wenig zuessen und zu trinken. Je weniger wir sind,desto besser für alle.«

»Ich brauche nicht viel«, erwiderte derVerwachsene.

»Mag sein, aber was kannst du uns ge-ben?«

Darüber hatte Grizzard noch nicht nach-gedacht.

»Ich bin auf der Suche nach einemMann«, erklärte er ausweichend. »Sobaldich ihn gefunden habe, verschwinde ich wie-der.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.Was kannst du uns geben?«

»Laß mich darüber nachdenken«, schlugGrizzard vor. »Im Augenblick weiß ich esnicht. Sicherlich fällt mir aber noch etwasein.«

Die anderen Männer rückten näher. BevorGrizzard sich dessen bewußt wurde, hattensie ihn umringt.

»Ich weiß, was er für uns tun könnte«, riefeiner von ihnen. »Willst du es hören, Dor-guet?«

»Und ob«, antwortete der Mann mit denroten Haaren.

»Wir brauchen jemanden, der die Scheibetritt. Dafür ist er geeignet wie kein anderer.«

Dorguet grinste. Er blickte Grizzard prü-fend an.

»Ich weiß etwas, was du uns gebenkannst. Bist du einverstanden?«

»Wenn ich weiß, was du meinst, werdeich dir antworten.«

Dorguet gab seinen Männern ein Zeichenmit der Hand. Alle warfen sich auf Grizzardund stießen ihn mitsamt seiner Rüstung um.Bevor er sich durch entsprechende Gegen-schaltungen wieder aufrichten und sie zu-rückschlagen konnte, fesselten sie ihm dieArme und Beine mit einem Stahlseil. Dieseshielt stand, obwohl er alle Kräfte der Rü-stung einsetzte, um sich zu befreien.

Johlend schleiften die Männer ihn überden Boden in die Siedlung. Grizzard sah ein,daß es sinnlos war, den Kampf jetzt schon

Der Seelenräuber 23

gegen sie aufzunehmen. Er beschloß zu war-ten, bis sich ihm eine bessere Gelegenheitbot.

Er war ärgerlich über sich selbst, weil ersich hatte übertölpeln lassen.

*

Zu diesem Zeitpunkt war Sinclair MaroutKennon noch etwa dreißig Kilometer vonder Senke der Verlorenen Seelen entfernt. Erkam zügig voran und machte nur wenigePausen. Sein hochgewachsener Körper er-müdete nicht.

Grizzard-Kennon war etwa 1,78 Metergroß. Der Terraner schätzte das Alter desKörpers, in dem er jetzt lebte, auf ungefährzwanzig Jahre. Er wußte aber, daß das tat-sächliche Alter beträchtlich höher war, daGrizzard in der Senke der Verlorenen Seeleneine unbekannte Zeitspanne lang in einer ArtSarkophag geschlafen hatte.

Kennon bewegte sich nach Westen. Er be-fand sich zwischen der Senke der Verlore-nen Seelen und dem Regenfluß. Aus Kartenund Aufzeichnungen, die er in der FE-STUNG gefunden hatte, kannte er die Land-schaft, so daß er recht genau wußte, wo erwar.

Er scheute davor zurück, direkt bis in dieSenke der Verlorenen Seelen vorzustoßen.Je mehr er über sein Problem nachdachte,desto überzeugender erschien ihm die Vor-stellung, daß sich jener Grizzard, dessenKörper er übernommen hatte, sich dort auf-hielt. Er selbst sagte sich, daß er auf jedenFall dorthin gegangen wäre, wo alles seinenAnfang genommen hatte.

Da Kennon jedoch wußte, daß eine Be-gegnung mit Grizzard die Entscheidungbringen würde, zögerte er, direkt in die Sen-ke zu gehen. Er fürchtete sich nicht vor demanderen, sondern er wehrte sich noch immergegen den Gedanken, einen Mord zu bege-hen. Verzweifelt suchte er nach einer ande-ren Möglichkeit, fand jedoch keine.

Es war unabänderlich. Wenn er weiterhinin diesem jungen und schönen Körper leben

wollte, dann mußte Grizzard zusammen mitdem verwachsenen Körper sterben.

Kennon wich der Senke der VerlorenenSeelen jedoch noch aus einem anderenGrund aus. Er war sich klar darüber, daßGrizzard nach seinem eigenen Körper Aus-schau halten würde und nicht weniger ver-zweifelt war als er.

Vielleicht war er auch intelligent genug,die Gefahr zu erkennen, in der er schwebte.Wenn es so war, dann würde er eine Falleaufbauen. Er würde sich irgendwo auf dieLauer legen und darauf warten, daß er kam.

Am Rand eines Wäldchens blieb Kennonstehen. Er hörte das Rauschen des Wassers.Es verriet ihm, daß er sich in unmittelbarerNähe des Regenflusses befand. Nördlich vonihm stieg das Land leicht an. Es war step-penartig. Ein warmer Wind wehte von Nor-den her. Zwischen vereinzelten Bauminselnästen einige Tiere.

Kennon strich sich über das dunkelbrauneHaar, das ihm bis auf die Schultern herab-reichte.

Auf keinen Fall durfte er so, wie er war,in die Senke der Verlorenen Seelen eindrin-gen. Er mußte sein Äußeres verändern, da-mit Grizzard ihn nicht sofort erkannte. Ken-non vermutete, daß sein Gegenspieler seineNähe körperlich spüren würde, sagte sichaber, daß er ihn früher erkennen würde alsumgekehrt, wenn er sich maskierte.

Doch wie sollte er das ohne entsprechen-de Mittel anstellen? Er konnte sein indiani-sches Profil nicht verändern. Auch besaß erkeine Kontaktlinsen, mit denen er seinenbraunen Augen eine blaue Farbe hätte gebenkönnen. Das Gesicht war bartlos. Er brauch-te sich nur selten zu rasieren.

Plötzlich vernahm er Stimmen. Er hasteteunter die Bäume und versteckte sich. Wenigspäter fand er heraus, daß die Stimmen vomFluß her kamen. Vorsichtig schob er sichdurch das Unterholz voran, wobei er sich be-mühte, kein Geräusch zu verursachen. Eini-ge allzu dicht gewachsene Büsche zwangenihn zu einem Umweg, dann aber sah er eini-ge Männer, die am Ufer des Flusses arbeite-

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ten. Sie hatten Netze ausgelegt.Kennon zählte sieben Männer. Sie hatten

offensichtlich einen guten Fang gemacht,denn sie sprachen davon, daß man sie in derSiedlung begeistert empfangen werde. Auseinigen weiteren Bemerkungen ging hervor,daß sie aus der Senke der Verlorenen Seelenkamen, und daß man dort mit erheblichenVersorgungsschwierigkeiten zu kämpfenhatte.

Kennon zog sich vorsichtig zurück. Erwollte nicht den Eindruck erwecken, daß eres auf die Beute der Männer abgesehen hat-te. Das wäre bei ihrer Überlegenheit zu ge-fährlich gewesen. Dennoch hoffte er, irgend-wie bei ihnen ansetzen zu können und zu-sammen mit ihnen bis in die Senke der Ver-lorenen Seelen vorzustoßen.

Er schlug einen weiten Bogen ein bis fastan den Waldrand zurück. Dann drang erweiter nach Westen vor. Er wollte etwazweihundert Meter weiter wieder ans Was-ser gehen. Er hoffte, dort einen abgebroche-nen Baumstamm oder loses Buschwerk zufinden, das er ins Wasser schieben konnte.Er wollte sich daran festhalten und abtreibenlassen, um danach so zu tun, als sei er in Ge-fahr. Er glaubte, daß die Fischer ihn aus demWasser ziehen würden. Danach würde sichalles von allein ergeben, meinte er.

Doch als Kennon den Regenfluß erneutsah, entdeckte er zugleich eine Hütte, dieniemand unter den Bäumen am Fluß errich-tet hatte. Sie war nur schwer auszumachen,weil sie vollkommen von Buschwerk umge-ben war und auf ihrem Dach Gras wuchs.

Neugierig geworden, pirschte er sich ansie heran.

Als er noch etwa zwanzig Meter davonentfernt war, trat ein alter, bärtiger Mann ausder Hütte hervor, wandte sich ihm zu undhob die rechte Hand.

»Komm her«, forderte er ihn auf. Ver-dutzt erhob sich Kennon aus den Büschen.Er war davon überzeugt gewesen, daß ihnniemand gesehen hatte. Jetzt begriff er, daßer sich gründlich geirrt hatte. Der Alte wußteoffenbar schon längst, daß er kam.

*

Grizzard schrie zornig auf, als er sah, wo-hin ihn die Männer schleppten. Es war eineschräg gestellte Scheibe, die einen Durch-messer von etwa zehn Metern hatte. EinStier bewegte sie mit kraftlosen Schritten.Die Bewohner der Siedlung hatten ihn aneinen Pfahl gebunden, der sich neben derScheibe befand. Da diese sich unter ihmwegdrehte, weil sein Körpergewicht ihn zumtiefsten Punkt hin drückte, mußte er laufen,wenn sich die Schlinge um seinen Hals nichtzuziehen sollte. Über ein primitiv aussehen-des Zahnräderwerk aus Holz hatten die Er-bauer allerlei einfache Geräte an die Dreh-scheibe angeschlossen, unter anderem einePumpe, die Wasser aus einem Brunnen för-derte. Die Leistung war jedoch unbefriedi-gend, weil der Stier zu schwach und zu ma-ger war.

Johlend eilten Männer und Frauen aus al-len Richtungen herbei. In Windeseile hattesich herumgesprochen, daß man einen Ge-fangenen gemacht hatte.

Dorguet band den Stier los und zog ihnvon der Scheibe herunter. Müde und er-schöpft ließ das Tier den Kopf hängen.

»Schlachtet den Stier«, rief eine Frau.»Das gibt eine gute Portion Fleisch für vielevon uns.«

Ihr Ruf pflanzte sich fort. Mehr und mehrMänner und Frauen forderten, den Stier zuschlachten.

»Ihr Narren«, schrie Grizzard. »Glaubt ihrdenn wirklich, daß ihr mich lange zu dieserArbeit zwingen könnt? Was wollt ihr dennmachen, wenn ich es nicht mehr tue und derStier tot ist?«

Er drang jedoch mit seiner schwachenStimme nicht durch, zumal sie noch durchdie Rüstung Porquetors gedämpft wurde.Unter dem Gelächter der Zuschauer schlepp-ten ihn Dorguet und seine Männer auf dieScheibe, banden ihm einen Strick um denHals und ließen die Scheibe los, die sie vor-her arretiert hatten. Grizzard stürzte nach

Der Seelenräuber 25

vorn, als die Scheibe unter ihm in Bewegunggeriet. In letzter Sekunde konnte er sich ab-fangen. Er mußte weiterlaufen, wenn ernicht fallen wollte.

Grizzard brüllte vor Wut. Mit fliegendenFingern steuerte er die Rüstung aus, so daßsich die Beine mit der richtigen Geschwin-digkeit bewegten. Er durfte weder zuschnell, noch zu langsam sein. War er zuschnell, stieg er die Schräge zu hoch hinauf,und beschleunigte die Scheibe dadurch nurnoch mehr. War er zu langsam, drohte er zustürzen.

Er brauchte fast fünf Minuten, bis er dieRüstung so ausgesteuert hatte, daß sie sichmit der richtigen Geschwindigkeit bewegte.Dabei mußte er sich selbst in der Rüstungauch kräftig bewegen, und schon bald wurdeihm klar, daß er diese Strapazen mit seinemschwächlichen Körper nicht lange durchste-hen würde.

Er blickte durch die Sehschlitze nachdraußen. Die Menge stand dichtgedrängt umihn herum und bewunderte seine Leistung,die wesentlich höher war als die des Stiers.

Grizzard fluchte lauthals. Er versuchte,Dorguet auf sich aufmerksam zu machen,doch dieser beachtete ihn nicht.

Danach konzentrierte Grizzard sich dar-auf, die auf den Rücken gefesselten Arme zubefreien. Immer wieder bemühte er sich, dieFesseln zu zerreißen, doch sie hielten, sovielEnergie er auch in die Arme gab.

Die Situation erschien hoffnungslos. Griz-zard hörte, daß einige Männer bereits überweitere Maschinen diskutierten, die von sei-ner Energie zehren sollten.

Er schalt sich einen Narren, weil er dieSiedlung betreten hatte. Alles wäre andersgekommen, so meinte er, wenn er seinenAuftritt hier besser vorbereitet hätte.

Sein Blick fiel auf den Strick, mit dem eran den Pfahl gebunden war, und plötzlichwurde er ruhig. Er hatte die schwache Stelleentdeckt, die ihm neue Hoffnung gab. Die-sen Strick konnte er zweifellos zerreißen.Doch damit war noch nichts gewonnen. In-mitten der Menschenmenge konnte er nur

wenig ausrichten und mußte damit rechnen,daß man ihn sofort wieder auf die Tretschei-be schleifte. Er mußte warten, bis sich dieMenge zerstreute.

*

Sinclair Marout Kennon blieb vor demAlten stehen, der aus der Hütte gekommenwar.

»Ich wußte nicht, daß jemand in der Hüttelebt«, sagte er ein wenig hilflos.

Der Alte blickte ihn durchdringend an. Erhatte dunkelgrüne Augen, die tief unter bu-schigen Augenbrauen lagen. Sein Haar warweiß. Er schien es seit Jahren nicht mehr ge-schnitten zu haben. Es hing ihm offen bisauf den Rücken herab. Auch der weiße Bartwirkte ungepflegt.

»Du bist der Mann mit vielen Namen«,sagte er. »Ich werde dich Kennon nennen.«

»Woher weißt du das?« fragte der Terra-ner überrascht.

»Nehmen wir einmal an, daß ich so etwaswie eine telepathische Begabung habe.«

»Das würde dir nichts nützen«, erwiderteKennon selbstsicher.

Der Alte lachte.»Du meinst, weil du durch eine paraener-

getische Schocklähmung mentalstabilisiertworden bist?« Der Alte kicherte, als ermerkte, wie maßlos überrascht sein Gegen-über war.

»Allerdings«, antwortete Kennon nach ei-niger Zeit, während der der Greis ihn belu-stigt musterte.

»Das hilft dir überhaupt nichts. Vergißnicht, daß dein anderer Körper mentalstabili-siert ist. Das hat mit diesem Körper, in demdu jetzt steckst, nichts zu tun.«

Kennon fuhr sich mit beiden Händendurch das Haar. Er wußte nicht mehr, was ersagen sollte. Eine solche Situation wie diesewar ihm völlig unbekannt. Seit mehr alsvierhundert Jahren hatte er in dem Bewußt-sein gelebt, daß ein Telepath seine Gedan-ken nicht erfassen konnte. Jetzt kam er sichnackt und hilflos vor. Am liebsten wäre er

26 H. G. Francis

davongerannt.»Hoffentlich kommst du jetzt nicht auf

den Gedanken, mich auch umzubringen«,versetzte der Alte.

Kennon ging zu einer Bank, die ausBaumstämmen zusammengefügt war, undsetzte sich.

»Mich umzubringen, ist nicht unbedingtnotwendig«, sagte der Alte. Er setzte sichauf einen Baumstumpf. »Das andere Pro-blem läßt sich jedoch nicht anders lösen. Dumußt ihn töten, wenn du frei sein willst.«

»Wo ist er?« fragte Kennon.Der Alte zeigte nach Norden.»Er lebt in der Senke der Verlorenen See-

len. Wenn du dorthin gehst, wirst du ihn fin-den. Ich würde dir jedoch nicht raten, dichso, wie du bist, in seine Nähe zu wagen. Daskönnte ein tödliches Abenteuer für dich wer-den.«

»Du meinst also, daß ich mein Äußeresverändern muß.«

»Genau das meine ich.«Kennon war verwirrt. Er wußte nicht, was

er von dem Alten halten sollte. Wollte dieserihm tatsächlich helfen, einen Mord zu bege-hen? Warum war er ihm nicht ausgewichen?Hatte er hier auf ihn gewartet, oder hatte ermit seinen parapsychischen Sinnen gar dafürgesorgt, daß er zu dieser Hütte kam? Wiesointeressierte er sich überhaupt für ihn? Hatteer irgend etwas mit dem Bewußtseinsaus-tausch zu tun? War er vielleicht gar dafürverantwortlich, daß Kennon im Körper Griz-zards erwacht war, während dessen Bewußt-sein sich im verwachsenen Kennon-Körpermanifestiert hatte?

»Wer bist du?« fragte er in der Hoffnung,einige erklärende Worte zu hören.

»Mein Name ist Axik. Ich bin ein alter,harmloser Mann, der hier in der Hütte lebt,hin und wieder ein paar Fische fängt und dernicht mehr daran glaubt, daß er Pthor einesTages verlassen wird.«

»Woher kommst du?«»Das weiß ich nicht. Ich bin auf Pthor

aufgewachsen. Lange Jahre habe ich in derFESTUNG gelebt. Ich habe in der Großen

Barriere von Oth gedient, und ich hatte inMoondrag ein wenig Macht, bis Mjöllnirmich daraus vertrieb. Ich habe bei den Dala-zaaren Stiere gezüchtet und ich bin in derFeste Grool gewesen. Nirgendwo habe ichjedoch eine wirklich bedeutende Rolle ge-spielt.«

»Trotz deiner Fähigkeiten?« Kennon be-zweifelte, daß Axik die Wahrheit gesagt hat-te.

Der Alte ging nicht auf diese Bemerkungein.

»Ich werde dir eine Fellmütze geben undeine Salbe, die deine Haut für einige Tagedunkler färbt«, erklärte er. »Hier im Waldgibt es eine Flechte. Du kannst dir Stückedavon an die Oberlippe kleben. Das siehtaus, als hättest du einen Bart. Alles zusam-men genügt, den anderen zu täuschen.«

»Wozu tust du das?« fragte Kennon.»Vielleicht zu meinem Vergnügen«, ant-

wortete Axik ausweichend. »Vielleicht, weilich verhindern will, daß der andere dichgleich bei der ersten Begegnung umbringt.Er steckt in der Porquetor-Rüstung und istdir allein dadurch grenzenlos überlegen.«

Kennon-Axton verwünschte die Minute,in der er den Entschluß gefaßt hatte, in die-sen Wald einzudringen. Der geheimnisvolleAlte verunsicherte ihn. Er wußte nichts mitihm anzufangen, aber er spürte, daß er genauüber ihn und den anderen informiert undvielleicht sogar in das Geschehen um siebeide verstrickt war.

»Also schön«, sagte Kennon, nachdem ereine Weile nachgedacht hatte. »Ich werdedeine Vorschläge annehmen. Es ist auf jedenFall besser, wenn der andere mich nichtgleich erkennt.«

Wortlos stand Axik auf und ging in dieHütte. Er kehrte mit der Fellmütze, einemkleinen Salbentopf und einer Pflanze zurück.Er zerzupfte die Pflanze, bis zwei Härchen-bündel übrigblieben, die einem Bart verblüf-fend ähnlich sahen. Er klebte sie Kennon mitein wenig Harz an die Oberlippe, nachdemer ihm das Gesicht mit der Salbe eingestri-chen hatte. An den Händen konnte der Ter-

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raner wenig später sehen, daß sich seineHaut rötlichbraun färbte und dabei stark ab-dunkelte.

»So bist du für die Begegnung schon we-sentlich besser gerüstet«, sagte Axik undreichte ihm die Mütze, die aus mehreren Fel-len zusammengesetzt war. »Geh jetzt.«

»Was bin ich dir schuldig?« fragte Ken-non. »Irgend etwas muß ich dir doch dafürgeben.«

Axik schüttelte lachend den Kopf.»Ich bekomme nichts von dir«, erwiderte

er. »Ich werde dich mit meinen Gedankenverfolgen, und ich werde wissen, was dutust. Das ist Gegenleistung genug.«

Kennon-Axton dankte dem Alten mitknappen Worten, drehte sich um und gingdavon. Als er sich wenig später umdrehteund zurückblickte, konnte er die Hütte nichtmehr sehen. Er stutzte. Verdeckte ihmBuschwerk die Sicht, oder war die Hütteverschwunden? Er wollte einige Schritte zu-rückgehen, um nachzusehen, folgte dannaber einem Impuls, der ihn veranlaßte, sei-nen Weg fortzusetzen.

Er war immer noch verwirrt, und es ge-lang ihm nicht, einen klaren Gedanken zufassen. Axik war und blieb ein Rätsel fürihn, das er nicht zu lösen vermochte. Ken-non-Axton war ein stets wacher und miß-trauischer Geist. Das hatte ihm im Lauf derJahrhunderte einige Male das Leben gerettet.Jetzt aber befand er sich in einer Situation,die mit nichts zu vergleichen war, was er jeerlebt hatte. Er fühlte sich als Spielball einerverborgenen Macht, die aus rätselhaftenGründen den Bewußtseinstausch herbeige-führt hatte. Mehr und mehr schob er den Ge-danken von sich, daß der Tausch durcheinen Zufall verursacht oder durch ihm un-bekannte Faktoren einer n-dimensionalenPhysik erzwungen worden war.

Nach dem Gespräch mit Axik klammerteer sich an den Gedanken, daß es irgend je-mandem im Hintergrund gab, der für denTausch verantwortlich war. Das gab ihmgleichzeitig die Hoffnung, daß sein Problemlösbar war. Es galt nur, diesen Drahtzieher

zu finden. Vollzog sich der Tausch nicht au-tomatisch, wenn er Grizzard und seinem ei-genen Körper begegnete, so war vielleichtmöglich, den Hintergrundspieler zu zwin-gen, einen erneuten Tausch für alle Zeitenunmöglich zu machen. Das würde bedeuten,daß er in seinem neuen Körper bleiben durf-te.

Kennon verließ den Wald und trat in dassavannenartige Land hinaus. Es war dunklergeworden, und er konnte nur noch etwa tau-send Meter weit sehen. Er ging geradewegsnach Norden. Die Senke der VerlorenenSeelen war nur noch etwa fünf Kilometerentfernt. Diese Strecke würde er bald hintersich gebracht haben. Ihm blieben daher nocheinige Minuten, sich alle weiteren Schritte inRuhe zu überlegen. Hatte er die Senke ersteinmal erreicht, dann mußte alles klar sein.Er mußte genau wissen, was zu tun war,wenn er Fehler vermeiden wollte.

Hinter ihm kläffte ein Hund. Überraschtdrehte er sich um. Ungefähr fünf Meter vonihm entfernt hockte ein kleiner Hund imGras. Er war etwa so groß wie ein Spitz. Erhatte ein weißes Fell mit einigen schwarzenund braunen Punkten. Der Kopf war dunkelund wurde nur an der Schnauze durch einenweißen Fleck aufgehellt.

Kennon ging weiter. Er wollte sich nichtmit einem streunenden Hund belasten, derihm im Ernstfall nicht die geringste Hilfebieten würde. Mit einem größeren Tier hätteer sich angefreundet, ohne zu zögern.

Als er etwa hundert Meter weiter gegan-gen war, trottete der Hund seitlich an ihmvorbei und blickte ihn unverwandt an. Mitwedelndem Schwanz signalisierte er ihmFreundlichkeit.

»Verschwinde«, rief Kennon. »Ich kannnichts mit dir anfangen. Du hast bisher fürdich selbst gesorgt und wirst es auch zu-künftig tun.«

Der Hund trottete auf ihn zu. Kennon hobdie Hand und zeigte auf den Wald.

»Los – ab mit dir«, sagte er. »Bei mir bistdu an der falschen Adresse.«

Der Hund setzte sich vor ihm hin, blickte

28 H. G. Francis

ihn mit großen, dunklen Augen an und we-delte mit dem Schwanz.

Kennon bückte sich und streichelte ihn.Freundlich sprach er auf ihn ein und erklärteihm, daß er allein sein wollte. Der Hundleckte ihm die Hand.

Kennon hob ihn hoch, drehte ihn um undgab ihm einen freundschaftlichen Klaps.

»So – verschwinde«, sagte er.Der Hund drehte sich um und streckte

auffordernd eine Pfote nach ihm aus.Der Terraner seufzte und ging weiter. Er

sah ein, daß er den Hund auf diese Weisenicht vertreiben konnte. Wie befürchtet,blieb der Hund bei ihm, lief hin und wiederspielerisch ein Stückchen voraus, kehrteaber immer wieder zu ihm zurück, streckteihm vorsichtig schnüffelnd die Schnauzeentgegen und wedelte erfreut mit demSchwanz, sobald er sich davon überzeugthatte, daß er immer noch den gleichen Be-gleiter hatte wie zuvor.

Er lenkte Kennon-Axton von seinen Ge-danken ab und war ihm schließlich gar will-kommen. Der Terraner sagte sich auch, daßder Hund in seiner Begleitung ihn selbstharmlos erscheinen ließ.

»Ich werde dich Budde nennen«, sagte er,als die erste Siedlung am Rand der Senke inSicht kam. »Hoffentlich gewöhnst du dichan den Namen.«

Der Hund kläffte, als wolle er ihm damitzeigen, daß er mit diesem Namen einver-standen war.

Unmittelbar darauf stieß der Stumme aufeine Spur im Sand. Sie zeichnete sich deut-lich ab. Es war der Abdruck einer Stahlsoh-le.

6.In der Senke der Verlorenen Seelen

Thalia schrie den Dellos eine Warnungzu. Antrat reagierte als erster. Er bewies In-telligenz. Rasch startete er den Zugor undentzog ihn so dem Zugriff des metallfressen-den Wesens, das sich brüllend unter ihmaufrichtete, sich dann aber dem Wrack zu-

wandte und kopfgroße Metallfetzen daraushervorriß.

Von Entsetzen geschüttelt, beobachteteThalia das Wesen. Sie fürchtete sich vorihm, da sie nicht wußte, ob es sie angreifenwürde. Doch dann wurde ihr bewußt, daßGrizzard in einer metallenen Rüstung steck-te und aus diesem Grund in den Kampf ver-wickelt worden war. Vorsichtig zog sie sichzurück. Antrat führte den Zugor an sie her-an, so daß sie einsteigen konnte. Gleich dar-auf stieg die Maschine wieder auf. Der Me-tallfresser kümmerte sich nicht mehr um sie.Er schien jegliches Interesse an ihr verlorenzu haben.

»Wir folgen der Spur«, befahl Thalia.»Sie führt zur Senke der Verlorenen See-len.«

Antrat beschleunigte bis auf Höchstwerte.Er blieb bei dieser Geschwindigkeit, solangedie Spur deutlich zu erkennen war. Später,als Grizzard festeren Boden erreicht hatte,zeichnete sie sich weniger klar ab, und derDello flog langsamer. Thalia zweifelte nichtim geringsten, daß sie den Gesuchten end-lich gefunden hatte. Sie hoffte, nun baldwieder in die FESTUNG zurückkehren zukönnen.

Als eine Siedlung am Rande der Senkevor ihr auftauchte, befahl sie Antrat, nochlangsamer zu fliegen. Sie wollte, daß mansie kommen sah. Niemand sollte an einenÜberfall glauben. Sie wußte, daß alle, die inder Senke der Verlorenen Seelen lebten, mitgrößten Schwierigkeiten zu kämpfen hatten.Die in den Glaspalästen schlafenden Wesenwaren erwacht. Mehr als 200 000 Wesen derverschiedensten Art bevölkerten nun dieSenke. Für sie gab es nur unzureichendeVersorgungsmöglichkeiten. Überall in derSenke und an ihrem Rand waren provisori-sche Siedlungen entstanden, in denen sichzumeist jene Wesen zusammengefundenhatten, die sich ähnlich waren. Vorüberge-hend waren alle in den VONTHARA-Schlafgefallen. So war das mühselige Aufbauwerkgestört worden.

Atlan hatte so viele Dellos zur Senke ge-

Der Seelenräuber 29

schickt, wie er entbehren konnte. Sie hattendie Aufgabe, die Erwachten aufzusuchenund ihnen zu helfen. Glücklicherweise wa-ren fast alle dieser Wesen intelligent. Siehatten ihre Lage erkannt und wußten, daß ihrLeben bedroht war. Deshalb hatten sie, derNotsituation gehorchend, sich zu Kollekti-ven zusammengeschlossen. Sie unterstütztenihrerseits die Dellos bei der Organisation, sodaß sie ihre Überlebenschancen entschei-dend verbesserten. Dennoch blieb die Ver-sorgungslage angespannt.

Die Situation wurde noch verschlimmertdurch Überfälle, die von verschiedenen Sei-ten auf die Lager verübt wurden.

Thalia war daher nicht überrascht, alszwischen den Häusern und Hütten bewaff-nete Gestalten auftauchten, als sie sich ihnenbis auf etwa hundert Meter genähert hatte.Die humanoiden Gestalten, die sie sah, hat-ten sich auf die abenteuerlichste Weise be-waffnet. Viele von ihnen trugen Lanzen inden Händen, einige hatten Steinäxte, Messeroder Schleudern.

Als der Zugor langsam nähertrieb, er-kannten die Dellos, die in der Siedlung ar-beiteten, sie. Die erhobenen Waffen sankennach unten. Thalia wies Antrat an, die Ma-schine zu landen. Danach sprang sie ausdem Zugor heraus.

Ein hochgewachsener Mann mit flam-mend rotem Haar und auffallend blauen Au-gen trat auf sie zu.

»Mein Name ist Dorguet«, sagte er. »Dubist Thalia, wie ich höre. Was führt dich zuuns?«

»Ich suche Porquetor, den Stählernen«,erwiderte sie. »Seine Spuren führen hier-her.«

Das Gesicht Dorguets verdunkelte sich.»Das tut mir leid, Thalia. Er hat uns schon

wieder verlassen. Er hat gesagt, daß er zurFESTUNG gehen wolle, aber meine Leute,die ihn beobachtet haben, sahen, daß er dieRichtung nach Moondrag eingeschlagenhat.«

»Nach Moondrag?« fragte sie überrascht.»Ich kann mir nicht vorstellen, was er dort

will.«»Wir ebenfalls nicht, aber es gibt keinen

Zweifel, daß er dorthin gegangen ist. Wirmußten ihn abweisen, weil er eine unnötigeund untragbare Belastung für uns gewesenwäre. Es tut uns leid, daß wir dir nicht hel-fen können. Wenn wir gewußt hätten, daßdu dich für ihn interessierst, hätten wir ihnselbstverständlich aufgehalten. Wir hattenjedoch nicht die geringste Ahnung.«

Dorguet sprach so ruhig und überzeugend,daß Thalia ihm glaubte. Sie kam nicht aufden Gedanken, daß er sie belügen könnte.

»Wie lange ist er schon fort?« fragte sie.»Seit einigen Stunden. Er hatte es ziem-

lich eilig, nachdem wir ihm erklärt hatten,daß wir nichts für ihn tun können und daß erauch in anderen Siedlungen keine Unterstüt-zung finden wird.«

»Wenn er in Richtung Moondrag gegan-gen ist, dann werde ich seine Spuren fin-den.«

»Dort drüben war Sturm«, wandte Dor-guet ein. »Ich weiß nicht, ob man die Spurennoch sehen kann.«

»Das wird sich zeigen.« Thalia verab-schiedete sich, stieg wieder in den Zugorund startete. Zunächst wollte sie das Lagerüberfliegen, doch dann entschied sie sich an-ders und gab Antrat den Befehl, es zu um-runden. Sie hoffte, so am schnellsten auf dieSpur des Gesuchten zu stoßen.

*

Kennon-Axton warf sich in eine Boden-rinne, als er den Zugor bemerkte, wie diesersich der Siedlung näherte. Er zog den Hundzu sich heran und drückte ihn ebenfalls nachunten, so daß dieser keine Aufmerksamkeiterregen konnte.

Durch die Zweige eines Busches zusätz-lich geschützt, beobachtete der Stumme, wieder Zugor bei der Siedlung landete. VollerAbneigung blickte er auf Thalia, weil erfürchtete, diese werde Grizzard vor ihm fin-den und in die FESTUNG entführen, wo erseinem Zugriff entzogen war.

30 H. G. Francis

Er erwartete, daß Thalia nach kurzer Be-grüßung mit den Bewohnern des Lagerszwischen den Hütten und Zelten verschwin-den würde.

»Was soll das?« fragte er unwillkürlichlaut sprechend, als Thalia nach kurzem Ge-spräch wieder mit dem Zugor startete. Erwandte sich dem Hund zu. »Verstehst dudas?«

Das Tier winselte, und er ließ es frei, daThalia nun schon weit genug von ihm ent-fernt war. Er horchte in sich hinein, weil erhoffte, durch irgendein Gefühl auf die NäheGrizzards zu reagieren. Doch er wurde ent-täuscht. Nichts in ihm war anders als sonst.Entweder hielt sich Grizzard nicht in diesemLager auf, oder es bestand keine paraenerge-tische Beziehung zwischen ihnen, die sichdurch eine ungewöhnliche Empfindung be-merkbar machte.

War Thalia weitergeflogen, weil Grizzardnicht hier war?

Dann wurde ihr Vorsprung nun fast un-einholbar.

Namenlose Angst überfiel Kennon. Erfürchtete, daß Grizzard lange vor ihm in derFESTUNG eintreffen und Atlan die Zusam-menhänge erklären würde. Kennon kannteden Arkoniden gut genug. Er wußte, daß erdanach keine Chance mehr haben würde, indiesem Körper weiterzuleben. Atlan würdealles daransetzen, den Tausch wieder rück-gängig zu machen.

Kennon stöhnte auf. Die Angst, wieder ineinen gebrechlichen und häßlichen Körperzurückkehren zu müssen, verursachte ihmkörperliche Schmerzen.

Er sprang auf.Grizzard mußte sterben. So schnell wie

möglich.Entschlossen ging Kennon auf die Sied-

lung zu. Er war noch keine zwanzig Schritteweit gekommen, als man bei den Hütten undZelten auf ihn aufmerksam wurde.

»Die freuen sich bestimmt nicht über uns,Budde«, sagte er zu dem Hund. »Vor allemnicht über dich, denn du frißt ihnen nur et-was weg, ohne ihnen etwas zu geben.«

Der Hund winselte, als habe er genau ver-standen.

Als er die ersten Häuser erreicht hatte,standen fünf mit Messern und primitivenSchwertern bewaffnete Männer vor ihm undversperrten ihm den Weg. Schweigendblickten sie ihn an. Kennon zeigte ihnen sei-ne leeren Hände.

»Ich bin unbewaffnet«, sagte er.»Das ist uns egal«, erwiderte einer der

Männer. Er war untersetzt und kahlköpfig.Er trat Kennon entgegen. »Wir wollen dichhier nicht. Wir haben Probleme genug. Hierist kein Platz mehr für dich.«

»Vielleicht kann ich euch helfen, einigeProbleme zu lösen«, sagte er.

»Verschwinde«, befahl der Untersetzte.Dorguet kam hinter einem Haus hervor

und gesellte sich zu den Männern. For-schend blickte er den Stummen an.

»Wir haben viele Probleme«, erklärte erund zeigte damit, daß er Kennons Worte ge-hört hatte. »Zum Beispiel ein Energiepro-blem. Löse es, und du kannst bei uns blei-ben.«

Die anderen Männer neben ihm lachten.Sie waren überzeugt davon, daß DorguetKennon eine unlösbare Aufgabe gestellt hat-te.

»In Ordnung«, sagte Kennon. »Ich brau-che ein paar Männer, die mir helfen. Ichweiß, wo ein Zugor liegt. Wahrscheinlich istder Reaktor noch in Ordnung. Wenn wir unsbeeilen, können wir ihn ausbauen und hier-her bringen.«

»Das läßt sich hören«, entgegnete Dor-guet. Er rief einige Namen, einige der Män-ner eilten davon und kehrten wenig spätermit fünf anderen und einem Holzkarren zu-rück.

»Da hast du die Männer«, sagte der Rot-haarige. »Nutze deine Chance.«

Kennon überlegte kurz, ob er noch eineandere Möglichkeit hatte, als diese Forde-rung zu erfüllen. Er hatte gehofft, daß manseinen Vorschlag als zu schwer ablehnenwürde. Jetzt steckte er in der Klemme. DerZugor, mit dem er abgestürzt war, lag weit

Der Seelenräuber 31

von hier entfernt und war kaum mehr alsSchrott. Das Antriebsaggregat war zerbro-chen, und ob sonst noch Teile zu verwendenwaren, blieb ungewiß. Doch er hatte keineandere Wahl. Er mußte mit den Männern zudem Wrack ziehen.

Er gab ihnen mit der Hand ein Zeichen,drehte sich um, pfiff den Hund zu sich heranund ging los. Knarrend setzte sich der Kar-ren hinter ihm in Bewegung. Die Männerfolgten ihm.

Als sie etwa eine Stunde gegangen waren,sagte einer der Männer hinter ihm: »Da ist erja.«

Verdutzt blieb Kennon-Axton stehen undblickte in die Richtung, in die der Mannzeigte. Er entdeckte das Wrack eines Zu-gors, das jedoch ganz gewiß nicht seineswar.

»Das meine ich nicht«, sagte er vorsich-tig. »Aber wir sollten es uns dennoch anse-hen. Vielleicht können wir einige Teile ge-brauchen.«

Die Männer aus der Siedlung erhoben kei-nen Einspruch, und einige Minuten späterstanden sie vor den Resten eines Zugors,von denen allerdings ein erheblicher Teilfehlte. Etwa ein Drittel der Flugmaschinewar herausgerissen worden.

»Jemand ist schon vor uns hier gewesen«,stellte ein blonder Mann fest. Er machte kei-nen besonders intelligenten Eindruck. Ken-non sah, daß er mehrere Öffnungen in denAugenbrauen hatte. Das waren die einzigenAnzeichen dafür, daß er es nicht mit einemTerraner zu tun hatte.

»Man nennt mich den Stummen«, erklärteer, und jetzt endlich stellten sich ihm auchdie anderen vor. Kennon fuhr fort: »Einigefür uns wichtige Teile sind noch da. Unteranderem der Reaktor. Darauf kommt es an.Wir können uns den Weg zu meinem Zugorsparen. Der sieht übrigens auch nicht vielbesser aus.«

Kennon ließ sich nicht anmerken, wie un-endlich erleichtert er darüber war, diesesWrack gefunden zu haben. Obwohl es nichtmehr flugfähig war und erhebliche Zerstö-

rungen aufwies, sah es noch besser aus alsdas andere.

Die Männer, die ihn umgaben, kanntensich in der Technik des Zugors nicht aus. Siewaren jedoch intelligent und entstammtenhochentwickelten Zivilisationen. So hatte ernur wenig Mühe, ihnen die Technik des Zu-gors zu erklären, zumal sie alle pthorischsprachen. Es war offensichtlich, daß Dor-guet sie nach dieser Voraussetzung ausge-sucht und zusammengestellt hatte.

Alle begannen nun unter Kennons Anlei-tung die Reste des Zugors auseinanderzu-bauen und auf den Karren zu verstauen, bisdieser unter der Last fast zusammenbrach.Danach machten sie sich auf den Weg zu-rück zum Lager, das die Männer Goris nann-ten.

Aufgeräumt schwatzend gingen die Män-ner neben dem Karren her. Kennon verhieltsich still, verfolgte die Gespräche jedochaufmerksam. Er horchte auf, als der Blondesagte: »Wenn der Reaktor wirklich nochfunktioniert, dann kann der Stählerne vonder Tretscheibe steigen. Wir brauchen ihnnicht mehr.«

Kennon unterdrückte das in ihm aufkom-mende Verlangen, direkte Fragen zu stellen.Er wußte, daß die Männer dann sofort miß-trauisch geworden wären.

Tatsächlich fielen wenig später noch eineReihe weiterer Bemerkungen, aus denenKennon seine Schlüsse ziehen konnte.

Er spürte, daß ihm das Blut in den Kopfstieg. Seine Hände wurden feucht. Er hatteGrizzard gefunden!

Nun begann er behutsam damit, einigeFragen zu stellen, mit denen er sich langsaman die Fragen herantastete, die ihn wirklichinteressierten. Es gelang ihm, allmählich al-les aus seinen Begleitern herauszuholen, waser wissen wollte.

Als er erfuhr, wozu Grizzard gezwungenwurde, stockte ihm der Atem. Entsetzt dach-te er an den schwächlichen Körper, in demGrizzard lebte und der nun Höllenqualen er-litt. Er konnte sich gut vorstellen, daß Griz-zard verzweifelt versuchte, sich zu befreien,

32 H. G. Francis

aber er wußte, daß seine Chancen von Stun-de zu Stunde geringer wurden. Der verwach-sene Körper brauchte die Porquetor-Rüstungzwar nicht mit Muskelkraft zu bewegen,aber er mußte alle Bewegungen mitmachen.Dieser Anstrengung war er nicht lange ge-wachsen.

Früher oder später würde er vor Erschöp-fung bewußtlos werden, aber auch das wür-de ihn nicht erlösen. Die Rüstung marschier-te unverdrossen weiter, weil die sich drehen-de Scheibe sie dazu zwang.

Vielleicht würde Grizzard diese Torturnicht überleben? Vielleicht wurden die An-strengungen so groß, daß sie ihn umbrach-ten?

Kennon schluckte mühsam. Das Entset-zen schnürte ihm die Kehle zu. Eigentlichhätte er froh über das sein müssen, wasGrizzard widerfahren war, denn dadurchwurde die Gefahr für ihn geringer. Hatte ernicht vorgehabt, ihn zu töten? Wollte er dasnicht jetzt immer noch? Warum fühlte erdann mit ihm mit?

Der Hund begann plötzlich zu bellen.Knurrend sprang er Kennon gegen die Bei-ne. Dieser drehte sich um und blickte zu-rück.

»He, was ist das?« rief einer der Männerneben ihm.

Etwa hundert Meter hinter ihnen krochein Wesen, das aussah wie ein Haufen wirrübereinander geworfener Blechplatten. Klir-rend und rasselnd bewegte es sich über denBoden. Dabei hatte es einige Mühe, da einesseiner vorderen Beine verletzt zu sein schi-en.

Kennon und seine Begleiter waren unwill-kürlich stehengeblieben. Sie fühlten sichnicht bedroht. Sie glaubten zunächst, ein Ge-schöpf vor sich zu haben, das sich mit eini-gen Blechplatten umgeben hatte, um sichauf diese Weise zu schützen. Doch baldschon erkannten sie ihren Irrtum.

Der Hund wurde immer unruhiger. Errannte dem seltsamen Wesen entgegen undbellte es aus respektvoller Entfernung an.Dann kehrte er zurück und schmiegte sich

winselnd an die Beine Kennons.Dieser sah den zerstörten Zugor vor sich,

und mit einem Mal begriff er.»Das Biest hat den Zugor zerstört«, rief

er. »Und jetzt ist es scharf auf das, was wirauf dem Karren haben.«

»So ein Blödsinn«, entgegnete Mays, derBlonde, der neben ihm stand. »Hat man jevon einem Wesen gehört, das Metall frißt?«

»Ich habe davon gehört«, sagte einer deranderen. Graue Hornplatten bedeckten seineStirn und die Wangen. Er nannte sich Gatround wußte nicht mehr zu sagen, von welcherWelt er stammte. »Der Stumme hat recht.Wir müssen vorsichtig sein. Laßt unsschneller gehen.«

Der Metallfresser war bereits bis auf etwafünfzig Meter herangekommen. Er stöhnteund ächzte, als habe er keine Kraft mehr,sich vorwärtszubewegen, wurde dabei aberimmer schneller.

Kennon und seine Begleiter eilten an denKarren und schoben ihn durch den Sand.Der Boden wurde immer weicher, so daß dieRäder tiefer und tiefer einsackten. Dadurchkamen sie immer schwerer voran.

Zwei der Männer aus Goris griffen dasMetallwesen mit ihren Lanzen an, ohne da-bei etwas auszurichten. Der Metallfresserbeachtete sie gar nicht.

Kennon rief ihnen zu, daß sie an den Kar-ren zurückkehren sollten, weil die Bestie be-drohlich nah an diesen herankam.

»Schnell«, rief er ihnen zu. »Da vorn wirdder Boden fester. Dort schütteln wir dasDing ab.«

Die Männer gehorchten. Sie rannten zumKarren und schoben ihn voran.

Kennon stutzte. Unwillkürlich blickte erzurück.

Er glaubte gesehen zu haben, daß derHund durchsichtig geworden war, als er dieMänner zum Karren zurückgerufen hatte.Doch jetzt trabte Budde hechelnd hinter ihmher, und alles schien völlig normal zu sein.

Kennon sagte sich, daß er sich geirrt hat-te. Etwas anderes schien nicht möglich zusein.

Der Seelenräuber 33

Wenig später erreichten die Männer feste-ren Boden, und der Karren rollte leichtervoran. Tatsächlich fiel das metallfressendeWesen nun zurück. Es gab die Verfolgungjedoch nicht auf.

Plötzlich überlief es Kennon eiskalt, under blieb unwillkürlich stehen. In Goris, derSiedlung am Rand der Senke, war Grizzardmit seiner stählernen Porquetor-Rüstung.Wenn es ihnen nicht gelang, das metallfres-sende Wesen abzuschütteln, würde es ihnenbis ins Lager folgen und sich dort früheroder später auf Grizzard werfen.

Kennon rannte hinter dem Karren her.Er versuchte, den Männern aus der Senke

die Gefahr für Grizzard zu erklären, aber siehörten ihm nicht zu. Bis zu den ersten Hüt-ten war es nicht mehr weit. Aus Goris ka-men ihnen bereits Männer und Frauen entge-gen, um sie zu begrüßen und ihre Beute zubewundern. Niemand interessierte sich jetztnoch für Grizzard.

*

In der FESTUNG herrschte mittlerweileAlarmzustand. Atlan hielt eine Konferenznach der anderen, um mit seinen Freundenund Helfern zu besprechen, wie eine drohen-de Invasion abgewehrt werden konnte. Erließ alle technischen Mittel aufbieten, mitdenen die Sicherheit von Atlantis erhöhtwerden konnte. Alle Räume der FESTUNGwurden nach Waffen durchsucht, wobeimanches Gerät zutage kam, von dessen Exi-stenz vorher niemand etwas gewußt hatte.

Atlan ließ alle Fluggeräte ausschwärmenund über Pthor verteilen, um dadurch überallBeobachtungsposten zu haben, da das Wa-che Auge seinen Aufgaben nicht mehr inausreichendem Maße nachkommen konnte.Immer wieder trafen Nachrichten über Flug-scheiben in der FESTUNG ein, die denWölbmantel über Pthor durchbrochen hat-ten.

Atlans Unruhe stieg von Stunde zu Stun-de.

Ein Angriff auf Pthor schien unmittelbar

bevorzustehen.

*

Thalia entdeckte eine fast verwehte Spur,die am Rand der Senke der Verlorenen See-len wegführte. Sie schloß daraus, daß manihr im Lager die Wahrheit gesagt hatte unddaß Grizzard tatsächlich nach Moondrag ander Westküste wollte.

Die Spur verlor sich jedoch bald, als siesich der Wüste Fylln näherte und die Vege-tation immer spärlicher wurde. Thalia gabAntrat den Befehl, zu beschleunigen undsich nicht mehr um eventuelle Spuren zukümmern. Er sollte Moondrag direkt anflie-gen.

Als etwa fünfzehn Minuten verstrichenwaren, entdeckte einer der Dellos eine einsa-me Gestalt in der wüstenartigen Landschaft.Sie bewegte sich nach Nordwesten und nä-herte sich der Eisküste.

Thalia glaubte, Grizzard vor sich zu ha-ben, und befahl Antrat, zu ihm zu fliegen.Der Dello gehorchte, kam jedoch nicht weit.Plötzlich senkte sich aus dem grauen Dunstüber ihnen eine Flugscheibe herab und setztesich vor sie. Thalia stieß Antrat zur Seite.Sie übernahm das Steuer und versuchte, dieFlugscheibe zu unterfliegen. Das gelang ihrjedoch nicht. Die Spaccah verzögerte stark,so daß der Zugor gegen ihn prallte und ausdem Kurs geworfen wurde.

Eine zweite Flugscheibe schoß heran undzwang Thalia zu einem riskanten Ausweich-manöver. Sie ließ den Zugor steil abfallenund fing ihn erst dicht über dem Boden wie-der ab. Dabei näherte sie sich der einsamenGestalt in der Wüste. Überrascht stellte siefest, daß sie gar nicht Grizzard vor sich hat-te, sondern ein fremdes, humanoides Wesen.

Abermals jagte eine Spaccah auf Thaliazu, so daß diese nach Westen ausweichenmußte. Ihr blieb keine Zeit, auf den unbe-kannten Wanderer zu achten. Sie hatte alleHände voll zu tun, den Zugor vor einem Ab-sturz zu retten. Immer wieder drohte die Ma-schine, mit der Spaccah zusammenzustoßen.

34 H. G. Francis

Bleich und ängstlich kauerten die Dellos aufdem Boden und klammerten sich fest, wosich ihnen ein Halt bot.

Thalia war ihren Gegnern weit unterlegen.Die Waffen der Maschine gegen die Flug-scheiben der Fremden einzusetzen, wäresinnlos gewesen. Mit dieser spärlichen Aus-rüstung hätte sie keine Chance in einemKampf gehabt. So blieb ihr nur die Flucht.

Als sie sich nach Westen wandte und mitHöchstwerten beschleunigte, schien sie dieEntscheidung getroffen zu haben, die dieFremden erwarteten. Sie blieben zurück.

Thalia drehte sich aufatmend um. Sie be-obachtete, daß eine der Flugmaschinen ne-ben der einsamen Gestalt in der Wüste lan-dete und sie aufnahm. Danach starteten dieSpaccahs, deren Zahl mittlerweile auf vierangestiegen war, wieder. Rasch verschwan-den sie am Horizont.

Thalia wußte nicht, was sie von dem Zwi-schenfall halten sollte. Hatten die Fremdeneinen Spion auf Pthor abgesetzt, und warensie nur gekommen, um ihn jetzt wieder auf-zunehmen?

Es sah so aus.Thalia beschloß, Atlan sofort zu benach-

richtigen und anschließend die Suche nachGrizzard wieder aufzunehmen.

7.Begegnung

Als Kennon-Axton merkte, daß sich nie-mand mehr um ihn kümmerte, beschloß er,sich in der Siedlung ein wenig umzusehen.Er wußte nun, wo Grizzard sich mit der Por-quetor-Rüstung aufhielt. Die Entscheidungnahte.

Mit aller Macht zog es ihn hin zu Griz-zard. Er wollte sich nicht länger quälen. Erwollte ein Ende.

Nach wie vor fürchtete er, daß bei einerBegegnung automatisch ein Wechsel derKörper stattfinden würde. Daher nahm ersich vor, nicht allzu nah an Porquetor heran-zugehen.

Immer wieder fragte er sich, wie er Griz-

zard töten sollte. Dazu mußte er die Rüstungdurchbrechen, die den Verwachsenen wieeinen Panzer umgab.

Während er sich zwischen einige Hüttenzurückzog, blickte er aufs Land hinaus. Dasmetallfressende Wesen wagte sich offen-sichtlich nicht an Goris heran. Er lag etwazweihundert Meter vor der Siedlung auf demsandigen Boden und wartete ab.

Je länger Kennon über das Problem nach-dachte, Grizzard zu beseitigen, desto deutli-cher wurde ihm bewußt, daß der Metallfres-ser das einzige Instrument war, das er in sei-nem Kampf gegen Grizzard einsetzen konn-te.

Eine andere Möglichkeit ergab sich unterUmständen dadurch, daß Grizzard früheroder später etwas essen und trinken mußte.Dabei konnte er ihn vergiften, doch vorläu-fig hatte er noch kein Gift.

Gerade als Kennon ins Innere von Gorisgehen wollte, kam ein Junge zu ihm.

»He, du«, rief er. »Du sollst zu Dorguetkommen.«

Kennon blickte zum Karren hinüber, woder Rothaarige stand. Dabei mußte er sichzur Seite drehen, und während er das tat,glaubte er, an einer der Hütten den Alten ge-sehen zu haben, den er im Wald getroffenhatte. Er zuckte zusammen und spähte er-neut zu der Stelle hinüber, an der er meinte,Axik bemerkt zu haben, doch dieser warnicht dort. Der Hund, der ihm zugelaufenwar, trottete auf ihn zu.

»He, was ist?« fragte der Junge. »Kommstdu nun?«

»Schon gut, Kleiner«, erwiderte Kennonund ging mit ihm. Er pfiff, um den Hund an-zulocken, und schnippte mit den Fingern.

»Was ist denn mit dir los?« fragte derJunge.

»Ich rufe den Hund.«»Was für einen Hund?«Kennon sah das Tier deutlich vor sich und

zweifelte nicht im geringsten daran, daß erwirklich da war. Er glaubte, daß das Kindihn necken wollte, und ging nicht auf dieFrage ein. Er erreichte die Gruppe um den

Der Seelenräuber 35

Karren und wandte sich an Dorguet, der un-geduldig auf ihn wartete.

»Du mußt uns schon helfen«, erklärte ihmder Anführer der Siedler von Goris. »Alleinkönnen wir so gut wie nichts damit anfan-gen. Was schlägst du vor? Was können wirdamit einrichten?«

»Bevor ich das beantworten kann, müßteich mich erst einmal bei euch umsehen. Da-nach weiß ich, was ihr habt und worauf ichaufbauen kann. Bist du einverstanden?«

»Na schön«, erwiderte Dorguet. »Ich wer-de dir alles zeigen.«

Damit begann eine Führung durch Goris,bei der Dorguet Kennon alles zeigte – bisauf Grizzard-Porquetor. Er vermied es ge-schickt, dorthin zu gehen, wo sich das Tret-rad befand.

Der Terraner verfügte über ein ausgepräg-tes Raumgefühl. Daher wußte er immer, woer war, auch als Dorguet ihn kreuz und querdurch die Siedlung führte. So ermittelteKennon recht genau jenen Bezirk, in demGrizzard die stumpfsinnigste Arbeit verrich-tete, die für einen Menschen vorstellbar war.Er glaubte sogar, einmal das Knarren dersich drehenden Scheibe zu hören, mit derenHilfe zahlreiche kleinere Vorrichtungen an-getrieben wurden.

Als sie zum Karren zurückkehrten, bliebKennon stehen.

»Warum hast du mir eigentlich den Stäh-lernen nicht gezeigt?« fragte er.

»Was weißt du von ihm?« Dorguet warsichtlich verärgert.

»Nur wenig«, antwortete der Terraner.»Deine Leute haben nicht allzu viel von ihmerzählt. Nur daß er da ist und welche Arbeiter verrichtet.«

»Das genügt«, erklärte der Rothaarige.»Mehr brauchst du nicht zu wissen.«

»Weißt du, wer in ihm steckt?«Dorguet blickte ihn überrascht an.»Ich verstehe dich nicht. Wieso sollte je-

mand in ihm stecken?«Kennon begriff. Dorguet und seine Leute

hatten noch gar nicht erkannt, daß die Rü-stung nur der Schutzpanzer eines Wesens

war, das sich darin befand. Sie sahen in derRüstung selbst ein fremdartiges Lebewesen.

*

Grizzard war am Ende seiner Kraft.Er war sich klar darüber, daß er bald aus-

brechen mußte, wenn er es überhaupt nochschaffen wollte.

Um ihn herum war es ruhig geworden.Kaum noch jemand interessierte sich für ihn.Nur hin und wieder tauchten einige Neugie-rige bei ihm auf. Mit gleichmäßigen Bewe-gungen lief er auf der Schräge, die sich un-aufhörlich unter ihm wegdrehte. Sein An-blick löste teils Bewunderung, teils Heiter-keit aus, fesselte aber niemanden länger alsein paar Minuten lang.

Darauf baute Grizzard seinen Plan auf. Jemehr die Aufmerksamkeit seiner Peinigernachließ, desto höher schätzte er seineChancen ein. Er wollte den Strick zerreißen,den man ihm um den Hals gebunden hatte,und danach aus der Siedlung flüchten. Erhoffte, später irgendwo auch die Armfesselnabstreifen zu können. Darüber machte ersich jetzt noch keine Gedanken.

Als er durch die Sichtschlitze seinesHelms niemanden mehr sah, griff er nachden Hebeln, mit denen er die Rüstung steu-erte. Im gleichen Moment spürte er, daß et-was nach ihm tastete. Eisiger Schreckendurchfuhr ihn. Er erkannte sofort, daß je-mand versuchte, ihn telepathisch zu sondie-ren, aber er wußte nicht, daß so etwas beiihm unmöglich war.

Er drehte den Helm und spähte nach drau-ßen. Der Platz um ihn herum war leer. Erkonnte niemanden sehen. Das Licht warnicht gut. Die Siedlung war in ein diffusesDämmerlicht getaucht, in dem es keineSchatten und keine scharf umrissenen Kon-turen gab.

Wieder tastete etwas nach ihm. Grizzardfühlte körperliches Unbehagen, so als ob einfeines Gespinst über seinen Rücken und denNacken streiche.

Plötzlich entdeckte er neben einem Baum,

36 H. G. Francis

nur wenige Schritte von ihm entfernt, einezierliche Gestalt. Sie war wie ein Schemenund hob sich kaum von ihrer Umgebung ab.Zunächst glaubte er, ein Kind zu sehen,dann aber merkte er, daß er sich irrte. Wasdort am Baum stand, war unsäglich fremdar-tig und bedrohlich. Es war nicht humanoid.Grizzard glaubte, drei Beine ausmachen zukönnen, und ihm schien, als habe das Wesendort nur ein einziges, großes Auge, das aufihn gerichtet war und bis in sein Innerstes zusehen schien.

Grizzard schrie panikerfüllt auf.Er hatte schon genug gelitten. Jetzt wollte

er nicht auch noch das Opfer eines fremdar-tigen Wesens werden.

Plötzlich verschwand der Fremde. Erschien sich in nichts aufgelöst zu haben.Grizzard zog sich keuchend im Innern derRüstung hoch, um besser durch die Schlitzedes Helms blicken zu können, während diePorquetor-Rüstung ununterbrochen weiter-lief.

»Wo bist du?« brüllte er.»Hier«, antwortete eine schrille Stimme

hinter ihm, und dann glaubte er, verhaltenesGelächter zu hören.

Vergeblich versuchte er, den Helm soweit nach hinten zu drehen, daß er denFremden sehen konnte.

»Was willst du von mir?« schrie er.»Verschwinde endlich.«

Dieses Mal hörte er das Lachen ganzdeutlich.

»Es amüsiert mich«, erwiderte das ge-heimnisvolle Wesen.

»Wovon sprichst du?« fragte Grizzard.»Von dem Tausch.«Grizzard wurde übel. Er konnte sich nicht

mehr halten und sank erschöpft in der Rü-stung nach unten. Porquetor lief weiter. Erriß die schwächlichen Beine des Einge-schlossenen immer wieder nach vorn. Er rüt-telte ihn durch und gönnte ihm auch nichtdie geringste Pause.

Grizzard schrie und weinte.Die Worte des Fremden hatten ihn mit un-

geheurer Wucht getroffen. Woher wußte er

von dem Tausch der Bewußtseinsinhalte?Wieso amüsierte er sich darüber? Tat dasnicht nur jemand, der auch dafür verantwort-lich war? Hatte dieser Fremde mit seinen ge-heimnisvollen Kräften und Fähigkeiten denTausch verursacht, nur um sich damit dieLangeweile zu vertreiben?

War der andere, der jetzt in seinem Griz-zard-Körper lebte, gar nicht der Drahtziehergewesen? Hatte er den Tausch der Bewußt-seinsinhalte nicht bewußt herbeigeführt,sondern war auch nur das Opfer der Mani-pulation des Fremden geworden? Das glück-lichere Opfer allerdings?

Grizzard konnte sich nicht konzentrieren.Er hatte nur einen Wunsch. Die Rüstungsollte endlich zur Ruhe kommen, damit ersich wenigstens einige Sekunden lang nichtmehr bewegen mußte, damit er Kräfteschöpfen und nachdenken konnte.

Wütend griff er in die Steuerung der Rü-stung. Er ließ sie nach hinten springen. DerStrick um seinen Hals straffte sich. DieSpannung stieg so stark an, daß sich derPfahl bog, an dem der Strick befestigt war.Grizzard fühlte sich nach vorn gerissen. Mitaller Macht stemmte er sich dagegen, undkrachend zerriß der Strick.

Grizzard verlor die Kontrolle über die Rü-stung und stürzte mit ihr. Er rollte bis zumtiefsten Punkt der Scheibe und fiel dann inden Sand. Die Beine der Rüstung liefen wei-ter. Sie scharrten den Sand auf und schobendie Rüstung über den Boden, während Griz-zard erschöpft in ihr lag und keuchend nachLuft rang.

Ihm war in diesen Sekunden alles egal. Erhatte sogar das fremde Wesen vergessen. Erfühlte sich frei. Er brauchte die schrägge-stellte Scheibe nicht mehr hochzulaufen.

Müde streckte er die Hände nach derSchaltung aus und brachte die Beine zur Ru-he. Sein ganzer Körper schmerzte. Die Lun-gen waren wund.

Wie aus weiter Ferne ertönten Schreie.Lange Zeit verstrich, bis sie ihm bewußtwurden.

Die Tretscheibe stand still. Das hatte Fol-

Der Seelenräuber 37

gen. Alle Vorrichtungen, die damit angetrie-ben waren, fielen nun aus. Aus dem Brun-nen floß kein Wasser mehr. Das Hammer-werk einer Schmiede rührte sich nicht mehr,und der fauchende Atem eines Blasebalgswar versiegt. Aber auch in anderen Werk-stätten, wie etwa in einer Tischlerei und beieinem Schuhmacher, sagten die einfachenMaschinen den Dienst auf. Allen Betroffe-nen mußte klar sein, daß beim zentralen An-trieb etwas nicht in Ordnung war, und nunkamen sie, um nachzusehen, was passiertwar.

Grizzard streckte die müden Hände nachder Schaltung aus. Wieder verfluchte er je-nen Unbekannten, der ihn dazu zwang, indiesem verwachsenen Körper zu leben. Ihmfehlten Kraft und Konzentration, um selbsteinfache Schaltungen vorzunehmen. Ledig-lich die Angst trieb ihn voran. Er wolltenicht noch einmal auf die schräge Scheibe,denn er war sich dessen sicher, daß eineRückkehr dorthin seinen Tod bedeutet hätte.

Nach zwei vergeblichen Versuchen ge-lang es ihm endlich, auf die Beine zu kom-men. Mittlerweile näherten sich ihm mehre-re Männer. Er sah, daß sie keine Waffen beisich hatten und es nicht wagten, ihn mit blo-ßen Händen anzugreifen.

»Zurück«, brüllte er, aber seine Stimmewar so schwach, daß selbst die Männer, diekaum zwei Schritte von ihm entfernt waren,etwas hörten.

Er veränderte die Schaltung Porquetors,und die Stahlrüstung marschierte vorwärts.Die Männer wichen erschreckt zur Seite.Zwei von ihnen nahmen ihren ganzen Mutzusammen und sprangen ihn gleichzeitig an,doch er schüttelte sie ab, obwohl seine Hän-de nach wie vor auf den Rücken gefesseltwaren. Er rannte in die Menge hinein, stießeinige Männer um und brach mit elementa-rer Wucht durch die Holzwand einer Hütte.Krachend stürzte das primitive Bauwerküber ihm zusammen.

Grizzard stöhnte vor Enttäuschung, weiler fürchtete, daß seine Flucht nun schon wie-der zu Ende sei, doch die Rüstung arbeitete

sich gleichmäßig stampfend weiter voran.Sie tauchte unter Brettern und Zweigen wie-der auf.

Die Schreie der Handwerker und ihrerHelfer alarmierten mittlerweile mehr undmehr Einwohner von Goris. Immer wiederversuchte jemand, Grizzard aufzuhalten,doch der war auf der Hut. Er schlug jedenAngriff zurück. Dabei folgte er einem brei-ten Lederriemen, der von der Tretscheibe zueinem Innenhof führte. Als er diesen er-reichte, schrie er triumphierend auf.

Wie erhofft, endete der Riemen an einemBlasebalg, und unter diesem erhob sich einHaufen glühender Kohle und Holzkohle, andem die Schmiede das Eisen bearbeitet hat-ten.

Er stürmte zu ihm hin, drehte sich um undstreckte die metallenen Hände in die Glut,ohne sich um die Männer zu kümmern, dieihn nun zu Dutzenden umgaben. Als einigemit Hämmern und Äxten auf ihn eindran-gen, trieb er sie mit Tritten zurück. Doch derKreis der Männer zog sich enger und engerum ihn zusammen. Grizzard sah über ihreKöpfe hinweg, daß einige Bewohner vonGoris ein Stahlseil heranschleppten. Das warnach seiner bisherigen Erfahrung das einzigeMittel, das ihm wirklich gefährlich werdenkonnte.

Er wartete, bis sie sich ihm bis auf etwadrei Meter genähert hatten, dann richtete ersich auf und zog die Hände aus der Glut. Ersteuerte die Arme der Rüstung aus, und kra-chend zerplatzte das Stahlseil, mit dem manihn gefesselt hatte.

Drohend hob er die glühenden Hände.Von ihnen ging nun eine fast unerträgli-

che Hitze aus, die auch die Temperatur imInnern der Rüstung stark ansteigen ließ.Grizzard schrie die Männer an.

»Zurück«, rief er. »Wagt es nicht, michanzurühren.«

Er rannte auf sie zu und bedrohte sie mitden im Feuer erhitzten Händen. Sie wichenentsetzt vor ihm zurück und vergaßen denPlan, ihn mit Hilfe des Seils zu Fall zu brin-gen. Er stürzte sich auf einen Bottich mit

38 H. G. Francis

Wasser und tauchte die Hände hinein. Lautzischend kühlte das Wasser den Stahl.

Grizzard riß den Bottich hoch und schüt-tete das Wasser über zwei Männer, die ihmeinen Holzbalken zwischen die Beine stoßenwollten, so daß auch ihr Angriff scheiterte.Er packte den Balken, hob ihn hoch und wir-belte ihn um den Kopf.

Damit verschaffte er sich genügend Platz.Niemand wagte sich jetzt noch an ihn heran.

»Laßt mich heraus aus eurem verdamm-ten Dorf«, rief er fordernd. Seine Stimmewar jedoch noch immer so schwach, daß ersich nicht verständlich machen konnte. DieKehle war trocken, und die Zunge war ge-schwollen. Grizzard hätte sich den Bottichmit Wasser viel lieber selbst über den Kopfgeschüttet, in der Hoffnung, dabei ein paarTropfen an die Lippen zu bringen. Doch dieAbwehr der Angriffe war ihm wichtiger er-schienen. Er fürchtete sich davor, daß dieBewohner des Lagers herausfanden, wer inder Rüstung steckte. Er wußte, daß er da-nach verloren gewesen wäre. Sie blieben nurin respektvoller Entfernung, weil sie seineKraft fürchteten. Wenn sie ihn schwach sa-hen, dann würden sie über ihn herfallen. Da-von war er überzeugt.

Er entschloß sich, die Siedlung zu verlas-sen und die Suche nach demjenigen, der ihmseinen Körper gestohlen hatte, an andererStelle fortzusetzen.

Sich immer wieder um sich drehend, umdie Angreifer nach allen Seiten hin abweh-ren zu können, marschierte er los. Hin undwieder wirbelte er den Balken um den Kopf,und er achtete genau darauf, daß ihm nie-mand ein Stahlseil um die Füße werfenkonnte.

Als er einige Meter weit gekommen war,fühlte er wieder, daß etwas Fremdes nachihm griff. Er würgte vor Entsetzen. Fastübermächtig wurde das Verlangen, aus derRüstung zu fliehen, wo er sich plötzlich ein-gesperrt sah wie in einem versinkendenSchiff.

Da entdeckte er eine schemenhafte Ge-stalt in der Nähe des Feuers. Ihm schien, als

würde er von dort mit unerklärlichen Kräf-ten beeinflußt.

*

»Was weißt du von dem Stählernen?«fragte Dorguet, wobei er die Augen verengteund Kennon mißtrauisch musterte.

»Nicht viel«, antwortete der Terraner ru-hig. Er strich sich mit den Fingerspitzenüber den aufgeklebten Lippenbart, um sichdavon zu überzeugen, daß dieser noch rich-tig saß. »Ich weiß, daß er von der FesteGrool gekommen ist, und daß jemand in derRüstung steckt. Dieser Mann ist klein undverkrüppelt. Er steuert die Rüstung von in-nen heraus. Sie ist nicht mehr als ein Halb-roboter. Das ist alles, was ich weiß. Ihr wer-det etwas für den Mann in der Rüstung tunmüssen, sonst wird er verhungern oder ver-dursten.«

Dorguet war fassungslos. Er stellte eineReihe von Fragen, die sich teilweise wieder-holten, um sich immer noch einmal bestäti-gen zu lassen, was Kennon gesagt hatte.

»Woher weißt du das alles?« fragte erschließlich. »Wer hat dir das verraten?«

»Nun, das ist kein großes Geheimnis«, er-klärte der Stumme. »Ich komme von der FE-STUNG, und meine Informationen habe ichvon Atlan, dem neuen König von Pthor. Erist an dem Stählernen interessiert.«

Kennon-Axton entwickelte während desGesprächs seinen Plan. Jetzt fühlte er sich inseinem Element. Er hatte in der Senke derVerlorenen Seelen Fuß gefaßt, und er wollteseine Position ausbauen. Nach wie vor saher in seiner Verzweiflung nur die eine Mög-lichkeit für sich, Grizzard mit dem verwach-senen Körper zu töten. Warum aber sollte erdas allein tun? Warum sollte er sich nichtvon Dorguet und seinen Leuten helfen las-sen, wenn sich das bewerkstelligen ließ?

Kennon war sich jedoch auch dessen be-wußt, daß er vorsichtig sein mußte. Erglaubte, die Nähe Grizzards körperlich füh-len zu können, und er stand wie unter einerständigen Anspannung, die kaum noch er-

Der Seelenräuber 39

träglich war. Daher kalkulierte er nach wievor ein, daß ein Körpertausch stattfindenwürde, sobald Grizzard und er sich genü-gend weit näherten. Vielleicht, so meinte er,war dazu eine körperliche Berührung not-wendig.

Aus diesem Grund bereitete Kennon sichauf einen Körpertausch vor, um im Katastro-phenfall nicht überrascht zu werden.

Immer wieder malte er sich aus, daß erseinen Mordplan konsequent ausführte und,in letzter Sekunde einem Körpertausch un-terworfen wurde, so daß er plötzlich selbstin dem Moment im verwachsenen Körpersteckte, in dem dieser sterben sollte.

Eine solche Katastrophe konnte er nurverhindern, wenn er die Nähe Grizzardsmied und die Tat von Dorguet und seinenLeuten verüben ließ.

»Warum schweigst du?« fragte der Rot-haarige. »Was ist los mit dir?«

Kennon-Axton schreckte aus seinen Ge-danken auf.

»Nichts weiter«, antwortete er auswei-chend. »Ich habe nur über etwas nachge-dacht.«

»Worüber? Ich will es wissen.«»Atlan scheint jenes Wesen, das in der

Rüstung steckt, zu fürchten. Ich habe denEindruck, daß er es beseitigen will, um da-mit eine Gefahr aus dem Weg zu räumen,die uns alle bedroht.«

»Meinst du wirklich?« Dorguet schien ei-ne hohe Meinung von Atlan und seinerMacht zu haben, obwohl er den Arkonidennoch nie gesehen und auch nicht besondersviel von ihm gehört hatte. Er schien jedochzu glauben, daß eine beeindruckende Per-sönlichkeit sein mußte, wem es gelang, sichzum Herrscher von Atlantis zu machen.

»Ich denke schon. Vermutlich weiß Atlanviel mehr als wir über diese Porquetor-Rü-stung und das Wesen, das darin steckt. Erkann daher viel besser als wir beurteilen,wie groß die Gefahr ist, die davon ausgeht.«

»Meinst du, daß wir dem neuen Königvon Atlantis einen Gefallen tun können?«forschte Dorguet und setzte ein wissendes

Lächeln auf.»Ich denke schon. Es kommt nur darauf

an, das zu tun, was er erwartet.«»Ich verstehe«, sagte der Rothaarige.

»Atlan genügt es, wenn er die Rüstung be-kommt. Der da drinnen ist unwichtig. Rich-tig?«

Kennon-Axton lächelte.»Jetzt hast du es erfaßt«, erwiderte er.

»Ich bin überzeugt davon, daß eure Versor-gungsprobleme weitgehend behoben seinwerden, wenn Atlan die Rüstung erst einmalhat.«

Als Kennon sich erneut mit den Fingernüber den Bart strich, löste sich dieser ab undfiel herunter. Dorguet blickte ihn verblüfftan.

»Das war notwendig«, erklärte der Terra-ner lachend. »Ich wollte nicht so schnell er-kannt werden.«

Dorguet verzog keine Miene. Er setzte zueiner Bemerkung an, als plötzlich Schreiedurch das Lager klangen. Lärm zeigte an,daß irgendwo in der Nähe gekämpft wurde.

»Das ist beim Stählernen«, rief Kennon.»Er hat sich befreit.«

Er hörte einen Hund kläffen, drehte sichum und sah das Tier, das ihm auf dem Wegnach Goris zugelaufen war. Er rief es zusich, aber es gehorchte ihm nicht und ver-schwand zwischen den Hütten. Es lief dort-hin, wo Kennon Grizzard in seiner Rüstungvermutete.

»Komm mit«, befahl Dorguet, packteKennon an der Schulter und zog ihn mitsich. »Ich will dich bei mir haben. Der Stäh-lerne darf Goris auf keinen Fall verlassen.«

Sie rannten zusammen mit einigen ande-ren Männern auf das Zentrum des Lagers zu,in dem sich überall Spuren entschlossenenAufbaus zeigten. Die Bewohner von Gorisdachten nicht daran, untätig darauf zu war-ten, daß man sie von außen her versorgte.Sie hatten ihr Schicksal selbst in die Handgenommen und Erstaunliches geleistet. Ken-non sah auf seinem Weg zum Stählernenzahllose Maschinen und Gerätschaften, diemit einfachsten Mitteln hergestellt worden

40 H. G. Francis

waren. Er wagte es nicht, Dorguet oder ir-gendeinem anderen zu sagen, daß alles inGefahr war, weil unbekannte InvasorenPthor bedrohten. Er wollte, daß Dorguet undseine Leute sich auf nicht mehr als ihre Ar-beit und auf den Stählernen konzentrierten.

Je näher sie der schräggestellten Antriebs-scheibe kamen, auf der Grizzard seit vielenStunden gearbeitet hatte, desto mehr Bewoh-ner des Lagers drängten sich auf den engenGassen zwischen den Hütten und Zelten zu-sammen. Es schien so, als seien alle Bewoh-ner von Goris auf dem Weg zu dem Stähler-nen. Dorguet verschaffte sich mit wütendenRufen Platz, und wo man ihm gar nicht wei-chen wollte, setzte er die Fäuste ein.

Kennon folgte ihm mit dem Gefühl, sichdurch eine unwirkliche Welt zu bewegen. Ersah weit vor sich Flammen aufsteigen, alseine der Hütten zu brennen begann. Er hörtedie Menge schreien, und kaum jemand inseiner Umgebung schien zu wissen, waswirklich geschah. Doch alles schien ihnselbst nicht zu berühren, sondern sich völligunabhängig von ihm abzuspielen, so als be-wege er sich durch eine Traumwelt.

Er hörte das Kläffen des Hundes in seinerNähe, hatte jedoch den Eindruck, die Stim-me Axiks, des Alten aus dem Wald am Re-genfluß, zu hören. Und er meinte, sein bärti-ges Gesicht vor sich zu sehen. Er schleuder-te die Pelzmütze weit von sich. Sie drückte,als sei sie nicht aus federleichtem Fell, son-dern aus Schwermetall.

Dann plötzlich sah er an Dorguet vorbeidie hoch aufragende Gestalt Porquetors, dereinen Balken in seinen stählernen Händenhielt und wild damit um sich schlug.

Doch Kennons Blicke glitten weiter bishin zu einer brennenden Hütte. Unmittelbardaneben stand Axik. Der Alte lachte.

Während Kennon sich ihm schrittweisenäherte, konzentrierte er sich völlig auf ihn.Grizzard schien für ihn nicht mehr vorhan-den zu sein, und dann sah er deutlich, wiedie Gestalt des Alten sich verzerrte, wie dieKonturen verschwammen, wie das ihm auf-gezwungene Scheinbild mehr und mehr

wich. Dahinter wurde ein schemenhaftesWesen sichtbar. Es hatte nur ein Auge, aberes war so groß, daß es fast das ganze Gesichtausfüllte.

8.Feinde

»Es war richtig, mich zu informieren«,sagte Atlan zu Thalia, nachdem sie ihm be-richtet hatte, was geschehen war.»Vermutlich haben wir es tatsächlich mit ei-nem Fremden zu tun, der in der Nähe desLagers irgend etwas ausspioniert hat.«

»Ich werde wieder starten.« Thalia erhobsich aus dem Sessel, in dem sie gesessenhatte.

»Das halte ich allerdings auch für richtig.Der Stumme hat die FESTUNG verlassen,nachdem ich ihm den Auftrag entzogen ha-be, Grizzard zu suchen.«

»Er scheint dich enttäuscht zu haben«, be-merkte die Tochter Odins.

»Allerdings. Er hat sich seltsam benom-men. Er scheint ein Nervenbündel zu sein –fast schon ein Psychopath. Zunächst war erverwirrt, weil ich ihm den Auftrag erteilte,Grizzard zu suchen. Als ich ihm diesen Auf-trag aber entzog, drehte er durch. Ich habeEinkünfte über ihn eingeholt. Er hat sich ei-genartig benommen und ist schließlich miteinem Zugor weggeflogen. Mittlerweile wis-sen wir, daß diese Maschine abgestürzt ist.Der Stumme hat diesen Absturz überlebt undist seitdem spurlos verschwunden.«

»Dann hat er sich also auf eigene Faustauf die Suche gemacht«, stellte sie fest.

»Daran besteht wohl kein Zweifel«, erwi-derte der Arkonide gleichgültig. »Mir soll esrecht sein. Wenn er Grizzard findet und hier-her bringt, ist es gut.«

Er stutzte.Bisher hatte er so gut wie nicht über das

seltsame Benehmen des Stummen nachge-dacht. Nun wurde ihm bewußt, daß so gutwie nichts über ihn bekannt war.

»Vielleicht besteht eine Beziehung zwi-schen Grizzard und dem Stummen, von der

Der Seelenräuber 41

wir noch nichts ahnen«, sagte er. »Vielleichteine Feindschaft, die uns völlig entgangenist.«

»Wie sollte die entstanden sein?« Thaliawar skeptisch.

»Darauf habe ich keine Antwort. Ich den-ke jedoch, wir sollten vorsichtig sein. Griz-zard ist mir nicht gleichgültig und auch derStumme nicht. Ich würde es bedauern, wennsich zwischen ihnen etwas entwickelt, wassich unserer Kontrolle entzieht. Deshalb bit-te ich dich, sofort wieder abzufliegen. Setzedie Suche in Goris fort.«

»Der Anführer der Leute dort hat michabgewiesen. Er hat gesagt, daß der Stählernenach Moondrag gezogen ist.«

»Das solltest du genau überprüfen. Viel-leicht hat er dich getäuscht. Vielleicht hältsich der Stählerne in Goris auf und brauchtdringend Hilfe. Vergiß nicht, er ist schwach,und ohne die Rüstung wäre er vermutlichschon längst verloren. Die Leute von Gorisund in den anderen Lagern in der Senke derVerlorenen Seelen sind schlimm dran. Nie-mand kann sagen, was sie anstellen, um ihreNot zu lindern. Sieh dich genau um. Ichglaube nicht daran, daß Grizzard nachMoondrag gegangen ist. Viel einleuchtenderwäre, wenn er hierher kommen würde.«

Thalia nickte dem Arkoniden kurz zu undverließ den Raum. Sie wollte ihm nicht wi-dersprechen, glaubte aber nicht daran, daßman sie in Goris getäuscht hatte.

Deshalb kehrte sie auch nicht allzu eiligzum Zugor zurück, in dem die Dellos nochauf sie warteten.

*

Sinclair Marout Kennon war wie von Sin-nen.

Er glaubte, jenes Wesen vor sich zu ha-ben, das bei seiner Wanderung durch, dieDimensionen und der Suche nach Atlan fürden Körpertausch gesorgt hatte. Alles deute-te darauf hin. So glaubte er wenigstens, under vergaß darüber einige Dinge, die nicht zudieser Vorstellung passen wollten.

Warum sonst bemühte sich dieses Wesenum ihn und um Grizzard? Weidete es sichnicht an ihrem Schicksal?

Voller Haß blickte Kennon-Axton auf dasWesen, das er nur schemenhaft erkennenkonnte, und namenlose Angst stieg in ihmauf.

Würde dieser Fremde sein grausamesSpiel soweit treiben, die Bewußtseinsinhalteinmitten dieser dramatischen Situation wie-der auszutauschen?

Kennon fuhr herum. Er folgte damit ei-nem Impuls, der ihn zur Flucht treiben woll-te. Er rannte von dem Fremden fort, kam je-doch nur wenig Schritte weit. Dann fing ihndie Mauer der Neugierigen auf, die zu demStählernen hin drängte, der einen ebensoverzweifelten wie aussichtslosen Kampf umseine Freiheit führte. Die Menschen stießenKennon zurück, so daß er fast zu Boden ge-stürzt wäre.

Er vernahm ein schrilles Gelächter, unddort, wo eben noch der Fremde gewesenwar, sah er jetzt den Hund Budde, der wildkläffte und dabei Laute erzeugte, die Ken-non erschauern ließen.

Er verfluchte die Tatsache, daß er über-haupt hierhergekommen war. Warum war ernur nicht in irgendeinen Winkel von Pthorgeflohen, wo er seine Ruhe gehabt hätte?Warum mußte er sich auf die Suche nachseinem Körper machen? War alles nur ge-schehen, weil er eine panische Angst davorhatte, Espher zu verlieren?

Plötzlich wurde es still.Kennon drehte sich langsam um. Obwohl

er nur die schimmernden Sichtschlitze derPorquetor-Rüstung sah, fühlte er die BlickeGrizzards deutlich. Er glaubte sogar, diewäßrigen, hervorquellenden Augen, die ei-gentlich seine eigenen waren, erkennen zukönnen.

Er wußte, daß Grizzard ihn entdeckt undidentifiziert hatte. Die Menschen um ihnherum wichen zurück, als spürten sie, welchenge Beziehung zwischen ihm und demStählernen bestand. Grizzard schleuderteden Balken zur Seite, mit dem er sich ge-

42 H. G. Francis

wehrt hatte. Er fiel in den Gluthaufen undverschob die Glut bis an die Holzwand einerHütte. Fast augenblicklich entzündete sichdas ausgetrocknete Holz. Flammen stiegenauf, aber niemand machte den Versuch, siezu löschen. Das Geschehen auf dem Platzschlug alle in den Bann.

»Er weiß, wer du bist«, sagte Dorguet lei-se. »Er weiß es.«

Endlich hat er begriffen, hallte AxiksStimme in ihm auf, und seine Nerven zitter-ten unter dem Gelächter des Alten. Ich hättenie gedacht, daß ich noch einmal sovielSpaß haben würde, nachdem ich aus demverfluchten Glaspalast entkommen bin.

Kennon löste sich aus dem Bann, der ihnbefallen hatte. Er ging einige Schritte weitauf das schemenartige Wesen zu, das ihmTrugbilder vorgaukelte und zu seinem Ver-gnügen mit ihm spielte.

Du hast es getan, dachte er zornig. Duhast uns gegeneinander ausgetauscht.

Narr! Der Fremde lachte noch wilder. Dubist der Spielball der Dimensionen gewor-den. Wer sich in die unvorstellbar mächti-gen Energiewirbel unbekannter Dimensio-nen wagt, darf sich nicht wundern, daß ersich selbst nicht mehr kontrollieren kann.

Dann hast du nichts damit zu tun?Nein!Sinclair Marout Kennon stand jetzt dicht

vor dem geheimnisvollen Wesen, das sichAxik nannte und das aus der Senke der Ver-lorenen entflohen war, nachdem es aus jahr-tausendelangem Schlaf erwacht war. In die-ser Beziehung bestand zwischen ihm undGrizzard eine enge Beziehung, denn auchGrizzard hatte in einem Glaspalast geschla-fen. Er war sogar derjenige, den die unbe-kannten Konstrukteure der Schlafpalästeden, der für alle schläft genannt hatten.

War das der Grund dafür gewesen, daßAxik sich so intensiv um ihn gekümmerthatte? Oder war Axik Grizzard und Kennonnur durch einen Zufall über den Weg gelau-fen?

Auf diese Fragen sollte Kennon keineAntwort mehr bekommen. Er erhielt plötz-

lich einen Stoß in den Rücken. Eine stähler-ne Faust schmetterte ihn zu Boden. Er stürz-te vor die Füße Dorguets, der keinerlei An-stalten machte, ihm zu helfen, sondern wiegebannt auf die Porquetor-Rüstung blickte.

Er begriff überhaupt nichts.Kennon-Axton dagegen erfaßte die Situa-

tion in ihrer vollen Bedeutung. Grizzard-Porquetor warf sich auf Axik, der in diesemMoment wieder aussah wie ein kleinerHund. Mit seinen parapsychischen Kräftentäuschte er der Menge dieses Bild vor. AuchGrizzard sah ihn so, aber er war ein Opferdes Bewußtseinstauschs, er hatte beobachtet,daß zwischen dem Fremden und Kennon et-was geschehen war, und paraenergetischeStröme hatten ihn gestreift. Er hatte sie ge-spürt, obwohl sein Gehirn mentalstabilisiertwar.

Daher handelte er. Er hoffte, einen erneu-ten Bewußtseinstausch herbeiführen zu kön-nen.

Er ergriff das schemenhafte Wesen undschleuderte es ins offene Feuer.

Kennon sah eine blaue Stichflamme in dieHöhe schießen. Er ahnte, was kommen wür-de, und er war doch hilflos dagegen. Er warfsich zu Boden, als die paraenergetischeSchockwelle auch schon kam. Sie löschtesein Bewußtsein aus.

Mit ihm brachen Hunderte von Männernund Frauen zusammen, die ebenfalls durchdie Schockwelle paralysiert wurden, die vondem vergehenden Wesen ausging. LediglichGrizzard in seiner Porquetor-Rüstung bliebverschont.

Er spähte durch die Sehschlitze seiner Rü-stung und konnte sich nicht erklären, wasgeschehen war. Er wußte nicht, daß das Ge-hirn des verwachsenen Mannes, in dem erlebte, mentalstabilisiert war. So blieb dieSchockwelle auf ihn nahezu wirkungslos. Ererlitt lediglich eine leichte Bewußtseinsein-trübung, die sein Denk- und Reaktionsver-mögen für etwa eine Minute verringerte.

Als er sich davon erholte, stoppte er diePorquetor-Rüstung, die unverdrossen weiter-gelaufen war. Er drehte sie herum und blick-

Der Seelenräuber 43

te zurück. Er war mitten durch eine Hüttegelaufen und hatte sie dabei zerstört. Deut-lich konnte er die Gasse erkennen, die er ge-schlagen hatte. Glücklicherweise hatte erniemanden dabei verletzt.

Grizzard dachte über das nach, was ge-schehen war. Er hatte spontan gehandelt,weil er sich von dem schemenhaften Wesenbedroht gefühlt hatte. Außerdem war derGedanke in ihm übermächtig geworden, die-ses Wesen sei verantwortlich für den Be-wußtseinstausch. Danach war der Racheaktgeradezu zwangsläufig gewesen.

Jetzt horchte Grizzard in sich hinein.Er hatte gehofft, daß er sich nach dem

Tod des fremdartigen Wesens anders fühlenwürde. Er hatte gehofft, daß der Bewußt-seinstausch rückgängig gemacht werdenwürde. Doch nichts von dem war geschehen.

Er hatte sich geirrt. Das schemenhafteWesen hatte den Bewußtseinstausch nichterzwungen. Es mußte ein anderer gewesensein. Grizzards Gedanken richteten sich aufjenen, der jetzt in seinem Körper lebte.

Er hatte ihn gesehen. Er hatte ihn erkannt,obwohl er sein Gesicht dunkel gefärbt hatte.

Grizzard marschierte auf seiner Fährte zu-rück.

Jetzt – so meinte Grizzard – gab es nurnoch eine Möglichkeit für ihn. Wenn derBewußtseinstausch schon nicht durch dieNähe der beiden Körper zueinander erzwun-gen wurde, dann wollte er wenigstens seineRache. Er wollte nicht, daß ein fremdes Be-wußtsein in seinem Körper lebte. Er wußte,daß er den Anblick dieses Körpers nicht er-tragen und sich nie damit abfinden würde,daß ein anderer in ihm lebte. Es war seinKörper. Er hatte einen Anspruch darauf, undwenn er diesen schon nicht verwirklichenkonnte, so sollte dieser Körper auch nichtmehr leben.

Grizzard verspürte nicht die geringstenGewissensbisse, und er hatte keinerlei mora-lische Bedenken. Für ihn war der Körpernicht mehr als eine Hülle, der er ein Eigenle-ben nicht gestatten konnte.

Irgendwo in ihm aber schlummerte der

Gedanke, daß der andere, der von seinemKörper Besitz ergriffen hatte, in höchsterTodesangst in seinen verkrüppelten Körperzurückkehren und ihm den Körper überlas-sen werde. Wenn das geschehen sollte, dannkonnte er hoffen, im letzten Moment dochnoch zu überleben.

Grizzard hob die stählernen Hände vor dieSehschlitze.

Würde er diese Instrumente in einer sogefährlichen Situation wirklich gut genugkontrollieren? Eine menschliche Kehle warein empfindliches Ding. Ein wenig zuvielDruck bedeutete bereits den Tod.

Er stöhnte gequält auf.Ihm blieb keine andere Wahl. Er mußte es

riskieren, und wenn der Tausch nicht er-zwungen wurde, so hatte er sich wenigstensgerächt.

Er ließ die Hände sinken und marschierteweiter. Neben der noch immer brennendenHütte blieb er stehen. Hier war der rätselhaf-te Fremde gestorben. Überall lagen bewußt-lose Männer und Frauen herum. Wo war derGrizzard-Körper?

Grizzard schaltete alle Aggregate desHalbroboters aus bis auf jene Teile, die ihnaufrecht hielten. Er sank stöhnend im Innen-raum Porquetors zusammen und preßte dieHände vor das Gesicht.

Er durfte nichts unternehmen, solange derandere bewußtlos war. Ein Besinnungsloserempfand keine Todesfurcht und konnte zunichts gezwungen werden.

Grizzard hörte das Knistern der Flammenund das Glucksen von Wasser, das irgendwoin seiner Nähe durch eine offene Rinne floß.

Er horchte auf.Mit einem Schlag waren alle Gedanken an

Rache und Bewußtseinstausch vergessen. Erfühlte sich wie ausgetrocknet. Die Zungewar so geschwollen, daß er hechelnd durchden offenen Mund atmete.

Er mußte etwas trinken.Mit bebenden Fingern öffnete er die Por-

quetor-Rüstung, warf den bewußtlosen Män-nern und Frauen einen flüchtigen Blick zuund wandte sich dann der offenen Wasser-

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rinne zu. Das Wasser floß durch ausgehöhlteBaumstämme zur Schmiede hin.

Grizzard kroch aus der Rüstung herausund sank erschöpft auf den Boden. Er wim-merte vor Enttäuschung und Wut, als er er-kannte, daß er bereits so geschwächt war,daß er sich nicht mehr auf den Beinen haltenkonnte. Er preßte die Zähne zusammen undkroch auf allen vieren vorwärts. Mühsam ar-beitete er sich über die Körper der Besin-nungslosen hinweg, und mit Schreckendachte er daran, was geschehen würde, wennsie erwachten, bevor er in die Rüstung zu-rückgekehrt war.

Eine endlose Zeit schien vergangen zusein, bis er endlich die Holzrinne erreichthatte. Er zog sich daran hoch. Seine Mus-keln schmerzten. Sie sträubten sich gegenjede noch so geringe Belastung, doch Griz-zard gab nicht nach. Das glucksende Wasserlockte ihn mit unwiderstehlicher Gewalt, bises ihm schließlich gelang, auf die Beine zukommen und das Gesicht ins kühle Wasserzu tauchen. Er trank so schnell und gierig,daß er sich verschluckte und von einem Hu-stenanfall zu Boden geworfen wurde.

Dabei fiel er neben eine Frau. Ihre Handlag direkt vor seinem Gesicht. Er sah, daßsich die Finger bewegten.

Er erschrak so heftig, daß er sich sekun-denschnell aufrichtete und an der Holzrinnehochzog.

Die Bewußtlosen erwachten, und unter ih-nen war auch der andere, dem er auf keinenFall in diesem schwächlichen Zustand be-gegnen durfte.

*

Sinclair Marout Kennon brauchte einigeZeit, bis er sich wieder an das erinnerte, wasgeschehen war. Er fühlte über sich das Ge-wicht eines anderen Menschen. Sein Planwar gelungen. Er hatte sich unter einem an-deren versteckt, der wie er selbst auch vonder Schockwelle gefällt worden war.

Das Leben kehrte in seine Glieder zurück.Er konnte sich wieder bewegen, wenngleich

er noch nicht wieder die volle Kontrolleüber seinen Körper hatte.

Er hütete sich, den Kopf zu heben, weil ervermutete, daß Grizzard irgendwo in derNähe lauerte und nur darauf wartete, daß ersich verriet. Vorsichtig bewegte er die Hän-de, spannte und lockerte die Muskeln derBeine, seiner Schultern und des Rückens, biser sicher war, daß er sich erheben konnte.Dann drehte er den Kopf.

Unwillkürlich zuckte er zusammen, als erdie Porquetor-Rüstung etwa zwei Meter ent-fernt entdeckte. Er sah, daß sie offen war.Grizzard hielt sich nicht darin auf. Über-rascht drehte er den Kopf und spähte überdie Körper der Menschen um ihn hinweg,bis er Grizzard sah.

Der Verwachsene stand an einer Holzrin-ne und spritzte sich mit beiden Händen Was-ser ins Gesicht. Er bot ein bejammernswer-tes Bild. Kennon krampfte sich das Herz zu-sammen. Er erkannte augenblicklich, wie esum Grizzard stand. Die Arbeit auf der Tret-scheibe hatte ihn grenzenlos erschöpft, sodaß er sich kaum noch auf den Beinen haltenkonnte.

Das war die Chance, auf die er gewartethatte.

Vorsichtig schob er einen Arm zur Seite,der quer über seinem Nacken lag. Er warentschlossen, Grizzard anzugreifen, bevordieser in die Rüstung zurückkehrte. Nur sokonnte er ihn überwinden.

Kennon wurde übel bei dem Gedanken,daß er seine Hände um den hageren Hals desVerwachsenen legen mußte. Ihm blieb je-doch keine andere Wahl. Auf eine solcheChance wie diese hatte er gewartet. Jetztmußte er sie nutzen.

Er drehte sich zur Seite und befreite sichdadurch von der Last eines Mannes, der überihm lag. Dabei blickte er ständig zu Grizzardhinüber. Dieser erstarrte plötzlich mitten inder Bewegung.

Kennon richtete sich auf die Knie auf. Erbewegte sich langsam und schwerfällig, weilsein Nervensystem den paraenergetischenSchock noch nicht völlig überstanden hatte.

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Am liebsten wäre er aufgesprungen und hät-te sich mit einem Satz auf Grizzard gewor-fen, doch das konnte er nicht.

Er sah das lächelnde Gesicht Esphers vorsich. Ihr zuliebe mußte er es tun. Er dachtedaran, wie verächtlich sie sich dem nurleicht Verunstalteten in der FESTUNG ge-genüber benommen hatte. Er wußte, daß eres nicht wagen durfte, sich ihr zu nähern,wenn er in dem verwachsenen Körper lebenmußte.

Eine zweite Chance, ein normales Lebenzu führen, wird sich dir nie mehr bieten, fuhres ihm durch den Kopf. Du mußt es tun. Dumußt!

Stöhnend stemmte er sich mit den Händenauf, setzte die Füße auf den Boden und rich-tete sich vollends auf, während Grizzardnoch immer vor Entsetzen und Angst ge-lähmt an der Wasserrinne stand. Er war etwazehn Meter von Kennon entfernt, währenddiesen nur etwas mehr als zwei Meter vonder Porquetor-Rüstung trennten.

Schwerfällig machte Kennon-Axton dieersten Schritte über die bewußtlosen Männerund Frauen hinweg. Dabei verhakte sichsein Fuß an der Schulter eines Mannes. Erstürzte, fing sich aber auf den Knien ab.

Grizzard schrie verzweifelt auf. Er rannteauf die Rüstung zu, doch Kennon kroch ihmauf allen vieren in den Weg, so daß er sienicht erreichen konnte, ohne in den Bereichseiner Arme zu kommen.

Keuchend standen sich die beiden Männergegenüber. Der eine konnte sich kaum nochauf den Beinen halten, weil die stundenlangeTortur auf der Schrägscheibe ihn erschöpfthatte, der andere, weil er noch immer unterder Wirkung der paraenergetischen Schock-welle stand.

Grizzard machte in seiner Verzweiflungletzte Reserven mobil. Er rannte von derPorquetor-Rüstung fort. Sinclair MaroutKennon erschrak. Er glaubte, den Plan desanderen erkennen. Er vermutete, daß Griz-zard ihm ausweichen wollte, um Zeit zu ge-winnen. Nicht nur Kennon-Axton erwachteaus der Bewußtlosigkeit, auch die anderen

Bewohner von Goris kamen allmählich zusich. Daher ging es um Minuten. Hatte erGrizzard in den wenigen verbleibenden Mi-nuten nicht getötet, dann würde es ihm über-haupt nicht mehr gelingen, weil die Bewoh-ner des Lagers den Anschlag verhindernwürden. Vergessen war, was er mit Dorguetbesprochen hatte.

Blind vor Haß und Verzweiflung rannteKennon-Axton hinter dem Verwachsenenher, mühsam die Beine hebend und dasGleichgewicht haltend, aber dennoch wei-taus stärker als Grizzard. Dieser flüchtete biszu einer Hütte. Dort stürzte er.

Kennon triumphierte.Er glaubte, es geschafft zu haben. Er warf

sich mit ausgestreckten Armen nach vorn,als der Verwachsene sich plötzlich herum-wälzte, damit außer Reichweite seiner Armegeriet und sich erhob. Bevor Kennon rechterfaßte, was geschah, flüchtete Grizzard zuroffenen Porquetor-Rüstung zurück. Undjetzt bewegte er sich viel schneller als zuvor.

Kennon begriff, daß er auf eine einfacheFinte hereingefallen war. Grizzard hatte ihnvon der Rüstung weggelockt, weil er ge-merkt hatte, daß er sich trotz aller körperli-cher Nachteile ein wenig schneller bewegenkonnte als er. Jetzt hoffte er, die Rüstung beieinem zweiten Ansturm vor ihm zu errei-chen.

Kennon eilte hinter ihm her. Von Schrittzu Schritt verlor sich die Schockwirkungmehr, doch auch der Vorsprung Grizzardswuchs immer mehr an, bis Kennon bestürzterkannte, daß er ihn nicht mehr rechtzeitigeinholen konnte. Die Chance war vertan.

Dennoch rannte er weiter. Er wollte nochnicht einsehen, daß er aufgeben mußte.

Als er noch etwa vier Meter von der Por-quetor-Rüstung entfernt war, kletterte Griz-zard in sie hinein. Und als Kennon gegen dieRüstung prallte, schloß sich diese. Zusam-men mit der Rüstung stürzte er zu Boden. Erwußte, daß er endgültig verloren hatte.

Hastig richtete er sich wieder auf. Die Rü-stung bewegte sich bereits. Jetzt war der dar-in eingeschlossene Grizzard ihm in allen Be-

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langen überlegen. Ihm blieb nur noch dieFlucht.

Er wich vor der Rüstung zurück, weil erwußte, daß die stählernen Arme ihn zerquet-schen würden, wenn sie ihn umschlangen.Mit geweiteten Augen beobachtete er, wiesich Grizzard-Porquetor erhob. Dann drehteer sich um und flüchtete.

Er kam nur langsam voran, weil er überdie Leiber der vielen Menschen hinwegstei-gen mußte. Aber auch Porquetor war nichtschneller. Er nahm Rücksicht auf die Män-ner und Frauen, die auf dem Boden lagen,weil er wußte, daß er sie mit einem einzigenfalschen Tritt tödlich verletzten würde.

Mittlerweile war es etwas heller gewor-den. Die Sicht reichte nun wieder mehrerehundert Meter weit. Eine dunkle Flugschei-be raste über das Lager hinweg.

Kennon atmete auf, als er in die Nähe derSchrägscheibe kam. Hier hockten vieleMenschen auf dem Boden und blickten ver-wirrt um sich. Einige bestürmten ihn mitFragen. Sie wollten wissen, was passiertwar, doch er kümmerte sich nicht um sie. Ersah, daß dicht neben der Schrägscheibe dieLanze Porquetors im Boden steckte. Er zogsie mühsam heraus. Die Waffe war viel zuschwer für ihn. Dennoch wollte er sie gegenPorquetor richten.

Als er den Stählernen jedoch kommensah, ließ er die Waffe fallen. Damit konnteer Grizzard nicht besiegen.

Er flüchtete weiter. Dabei blickte er überdie Schulter zurück und beobachtete, wieGrizzard-Porquetor die mächtige Lanzespielerisch leicht aufnahm und schulterte.

Kennon erschauerte.Plötzlich begriff er, daß er gegen diesen

Stahlkoloß keine Chance hatte. Porquetorkonnte sich schneller bewegen als er. In ihmsteckten nahezu unerschöpfliche Kraftreser-ven.

Was konnte er gegen ihn schon ausrich-ten?

Je weiter er sich von der Stelle entfernte,an der das rätselhafte Schemenwesen gestor-ben war, desto geringer war die paraenerge-

tische Schockwirkung. Sie war jedoch aucham Rand von Goris noch so stark, daß dieMenschen dort unsicher auf den Beinenstanden und in ihrer Verwirrung nicht wuß-ten, was sie tun sollten. Sie stellten sichKennon nicht in den Weg, und das war ihmin seiner Lage zunächst wichtiger als allesandere.

Er führte es auf die paraenergetischen Be-sonderheiten zurück, denen er während desBewußtseinswechsels unterworfen wordenwar, daß er sich früher von der Schockwir-kung erholt hatte als alle anderen. Doch dashalf ihm nur wenig. Grizzards Körper hatteüberhaupt nicht darunter gelitten, und Griz-zard steuerte den Halbroboter. Dabei kam erKennon immer näher. Als dieser den äußer-sten Rand des Lagers erreichte, war Griz-zard nur noch etwa zwanzig Meter hinterihm. Und er holte rasch auf, weil er nun kei-ne Rücksicht mehr auf Bewußtlose zu neh-men brauchte, die im Weg lagen.

Obwohl Kennon sich so gut wie nichtmehr behindert fühlte, kam er nicht schnellgenug voran. Er steigerte seine Geschwin-digkeit, so weit es eben ging, und dennochschmolz der Abstand zwischen ihm und demStählernen immer mehr zusammen. Kennonfühlte bereits, daß ihm die Beine schwerwurden.

Er flüchtete auf das savannenartige Landhinaus, das sich zwischen der Senke derVerlorenen Seelen und dem Regenfluß er-streckte, und nirgendwo bot sich ihm einVersteck an.

Der Abstand zwischen ihm und Porquetorverringerte sich auf etwa zehn Meter, als derBoden unter Kennons Füßen weicher undsandiger wurde, so daß er noch langsamervorankam als zuvor. Seine Lungen begannenzu schmerzen. Die Luft wurde ihm knapp.Verzweifelt stürmte er weiter, obwohl erlängst erkannt hatte, daß er Porquetor nichtmehr entkommen konnte.

Da entdeckte er etwa zweihundert Metervon ihm entfernt das metallfressende Wesen,das aussah wie ein Haufen übereinander ge-schichteter Blechplatten. Die jäh in ihm auf-

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flackernde Hoffnung verlieh ihm neue Kräf-te. Er glaubte, Grizzard-Porquetor zu demseltsamen Wesen locken zu können.

Doch Grizzard erkannte die Gefahr eben-so schnell wie er. Mit mächtigen Sprüngennäherte er sich ihm.

Kennon blickte über die Schulter zurück.Seine Füße verfingen sich in einem Grasbü-schel. Er stürzte.

In panischer Angst warf er sich herumund versuchte, wieder auf die Beine zu kom-men.

In diesem Moment fiel ein Schatten überihn und Grizzard-Porquetor. Kennon blicktein die zornigen Augen Thalias. Die TochterOdins stand in einem Zugor, der direkt ne-ben ihm schwebte.

»Schluß jetzt«, befahl sie mit heller Stim-

me.Porquetor stürmte weiter.Thalia richtete einen Waggu auf ihn. Die

lähmenden Strahlen erfaßten Grizzard undveranlaßten diesen zu einer Fehlsteuerung.Der Stählerne stürzte dicht neben Kennon inden Sand. Dann zielte Thalia mit demLähmstrahler auf den Stummen und machtediesen ebenfalls kampfunfähig.

»Glaubt ihr wirklich, ich würde zulassen,daß ihr euch gegenseitig umbringt?« fragtesie und befahl Antrat, den Zugor zu landen.

ENDE

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