2
Der Weg zur post- karbonen Gesellschaſt? – „Nur mit überzeugender Zukunſtsvision“ Interview mit Risikoforscher Prof. Dr. Dr. h. c. Ortwin Renn Dass es menschengemachten Klimawandel gibt und die Politik tätig werden muss, ist in der Wissenschaſt längst Konsens. Dennoch hinkt die Politik hinterher. Wieso? Ist sie mit der Komplexität des Klimawandels und seinen komplexen Risiken überfordert? ad hoc international hat mit Risikoforscher und Politikberater Prof. Dr. Dr. h. c. Ortwin Renn gesprochen – über unser Verständnis von Klimawandel, die Stolpersteine in der Klima- politik und wie unsere Gesellschaſt diese überwinden kann. ad hoc: Prof. Renn, versuchen wir zunächst einmal die Komplexität des Phänomens zu reduzieren, über das wir hier sprechen. Klima- wandel ist eine abstrakte Erscheinung, deren Folgen wir in die Zukunſt projizieren. Das motiviert nicht unbedingt zum Handeln. Wie können wir das überwinden? Renn: Wir müssen einsehen, dass wir so wie bisher nicht weitermachen können. Es geht um unseren Lebensstil und wie wir unsere Wirtschaſt organisieren und betreiben. Für die Entwicklungen in der Zukunſt gibt es bereits in sich schlüssige Simulationen, die deutlich machen, was passiert, wenn wir nicht gegensteuern. Gut gemeint, aber weitgehend kontra- produktiv sind solche Szenarien, die sich auf Katastrophen- semantik versteifen. Plötzliche Katastrophen sind auch nicht zu erwarten – zumindest bei uns in Europa. Klimawandel ereignet sich schleichend und je länger wir warten, desto eher schmelzen unsere ökologischen wie auch ökonomischen Grundlagen dahin. Handeln wir nicht jetzt, kommen uns die Konsequenzen schon bald teuer zu stehen und wir sehen uns mit irreversiblen Schäden konfrontiert. Wir sind zentrale Mitgestalter unseres Planeten geworden – und Mitgestaltung heißt auch Mitverantwortung. ad hoc: In der Tat ist die Situation alarmierend, wir haben nicht einmal einen Stillstand der Emissionen erreicht. Gleichzeitig ist die Akzeptanz von klimaschützenden Maßnahmen in der Bevöl- kerung hoch. Die Entscheidung für einen Politiker, in diese Richtung etwas zu unternehmen, ist daher doch relativ einfach. Renn: Im Prinzip ja, fragen wir aber: „Wären Sie bereit im Namen des Klimaschutzes höhere Steuern zu bezahlen?“, dann sinkt die Akzeptanz auch bei der Bevölkerung. Die Politik reflektiert zwar den grundsätzlichen Wunsch der Bürger, etwas zu tun, weiß aber auch, dass es letztlich nicht viel kosten darf – frei nach der Low-Cost-Hypothese: Wir machen alles mit, solange es uns nicht zu sehr schmerzt. Das weiß die Politik sehr genau. ad hoc: Wie konnte dann aber die Energiewende verabschiedet werden? Natürlich gab es da mehrere Einflussfaktoren, aber sie wird uns finanziell ja auch einiges abverlangen. Renn: Bei der Energiewende gab es eine Vision, die alle Akteure überzeugt hat – von Gewerkschaſten bis zum Kohle- kraſtwerksbetreiber. Das letztlich alle vereinende Narrativ war: Mit den neuen Energieträgern entwickeln wir eine neue und kreative Industriekultur – für uns als exportabhängiges Land eine ganz neue Form des „made in Germany“. Nach dem Motto: Wir stehen für neue nachhaltige Systeme, die wir auch im Ausland anbieten können. ad hoc: Das klingt nach einem Szenario, bei dem letztlich alle profitieren. Renn: In diesem Fall leider nicht. Eine sogenannte win-win- Situation suggeriert, alle gewinnen und keiner verliert. Doch so wird es nicht sein. Kernkraſtwerksbetreiber werden verlieren; auch die Betreiber von Bergwerken und fossilen Kraſtwerken: Die Kohle muss im Boden bleiben. Menschen, die bisher in diesen Bereichen ihren Lebensunterhalt verdient haben, benö- tigen neue Perspektiven. Ich vergleiche es mal mit der Pubertät: Freiwillig will da keiner durch. Wenn wir erwachsen werden wollen, haben wir da aber keine Wahl. Wollen wir langfristig Zukunſt sichern, müssen wir durch diesen Transformationsprozess. 4 Interview

Der Weg zur post- karbonen Gesellschaft? – „Nur mit ... Weg zur post-karbonen... · tigen neue Perspektiven. Ich vergleiche es mal mit der Pubertät: Freiwillig will da keiner

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Der Weg zur post- karbonen Gesellschaft? – „Nur mit ... Weg zur post-karbonen... · tigen neue Perspektiven. Ich vergleiche es mal mit der Pubertät: Freiwillig will da keiner

i Die menschengestaltete Welt des Anthropozän verlangt nach Mitverantwortung.

Der Weg zur post- karbonen Gesellschaft? – „Nur mit überzeugender

Zukunftsvision“Interview mit Risikoforscher

Prof. Dr. Dr. h. c. Ortwin Renn

Dass es menschengemachten Klimawandel gibt und die Politik tätig werden muss, ist in der Wissenschaft längst Konsens. Dennoch hinkt die Politik hinterher. Wieso? Ist sie mit der Komplexität des Klimawandels und seinen komplexen Risiken überfordert? ad hoc international hat mit Risikoforscher und Politikberater Prof. Dr. Dr. h. c. Ortwin Renn gesprochen – über unser Verständnis von Klimawandel, die Stolper steine in der Klima-politik und wie unsere Gesellschaft diese überwinden kann. ad hoc: Prof. Renn, versuchen wir zunächst einmal die Komplexität des Phänomens zu reduzieren, über das wir hier sprechen. Klima-wandel ist eine abstrakte Erscheinung, deren Folgen wir in die Zukunft projizieren. Das motiviert nicht unbedingt zum Handeln. Wie können wir das überwinden?Renn: Wir müssen einsehen, dass wir so wie bisher nicht weiter machen können. Es geht um unseren Lebensstil und wie wir unsere Wirtschaft organisieren und betreiben. Für die Entwicklungen in der Zukunft gibt es bereits in sich schlüssige Simulationen, die deutlich machen, was passiert, wenn wir nicht gegensteuern. Gut gemeint, aber weitgehend kontra- produktiv sind solche Szenarien, die sich auf Katastrophen-semantik versteifen. Plötzliche Katastrophen sind auch nicht zu erwarten – zumindest bei uns in Europa. Klimawandel ereignet sich schleichend und je länger wir warten, desto eher schmelzen unsere ökologischen wie auch ökonomischen Grundlagen dahin. Handeln wir nicht jetzt, kommen uns die Konsequenzen schon bald teuer zu stehen und wir sehen uns mit irreversiblen Schäden konfrontiert.

Wir sind zentrale Mitgestalter unseres Planeten geworden – und Mitgestaltung heißt auch

Mitverantwortung.

ad hoc: In der Tat ist die Situation alarmierend, wir haben nicht einmal einen Stillstand der Emissionen erreicht. Gleichzeitig ist die Akzeptanz von klimaschützenden Maßnahmen in der Bevöl-kerung hoch. Die Entscheidung für einen Politiker, in diese Richtung etwas zu unternehmen, ist daher doch relativ einfach.Renn: Im Prinzip ja, fragen wir aber: „Wären Sie bereit im Namen des Klimaschutzes höhere Steuern zu bezahlen?“, dann sinkt die Akzeptanz auch bei der Bevölkerung. Die Politik reflektiert zwar den grundsätzlichen Wunsch der Bürger, etwas zu tun, weiß aber auch, dass es letztlich nicht viel kosten darf – frei nach der Low-Cost-Hypothese: Wir machen alles mit, solange es uns nicht zu sehr schmerzt. Das weiß die Politik sehr genau.

ad hoc: Wie konnte dann aber die Energiewende verabschiedet werden? Natürlich gab es da mehrere Einflussfaktoren, aber sie wird uns finanziell ja auch einiges abverlangen.Renn: Bei der Energiewende gab es eine Vision, die alle Akteure überzeugt hat – von Gewerkschaften bis zum Kohle-kraftwerksbetreiber. Das letztlich alle vereinende Narrativ war: Mit den neuen Energieträgern entwickeln wir eine neue und kreative Industriekultur – für uns als exportabhängiges Land eine ganz neue Form des „made in Germany“. Nach dem Motto: Wir stehen für neue nachhaltige Systeme, die wir auch im Ausland anbieten können.

ad hoc: Das klingt nach einem Szenario, bei dem letztlich alle profitieren.Renn: In diesem Fall leider nicht. Eine sogenannte win-win-Situation suggeriert, alle gewinnen und keiner verliert. Doch so wird es nicht sein. Kernkraftwerksbetreiber werden verlieren; auch die Betreiber von Bergwerken und fossilen Kraftwerken: Die Kohle muss im Boden bleiben. Menschen, die bisher in diesen Bereichen ihren Lebensunterhalt verdient haben, benö-tigen neue Perspektiven. Ich vergleiche es mal mit der Pubertät: Freiwillig will da keiner durch. Wenn wir erwachsen werden wollen, haben wir da aber keine Wahl. Wollen wir langfristig Zukunft sichern, müssen wir durch diesen Transformationsprozess.

ad hoc: … der wohl alles andere als ein Spaziergang sein wird.Renn: Alle Transformationsprozesse sind mit Belastungen, mit Brüchen und Schmerzen verbunden. Wichtig ist, dass man dies auch ehrlich kommuniziert, sonst gibt man eine Illusion vor, die nicht einlösbar ist. Außerdem muss man sich sehr gut überlegen, wie man Transformationsprozesse sozialverträglich abfedert. In einer Kohleregion wie der Lausitz können wir die Leute nicht alle in die Arbeitslosigkeit entlassen oder zum Solarpfleger umschulen. Das funktioniert nicht. Wir müssen ein Narrativ entwickeln, ja, eine Vision und Hoffnung, die für die betrof-fenen Menschen auch attraktiv ist. Wenn es eine überzeugende Aussicht gibt, für die es sich lohnt, den Transformationsprozess auf sich zu nehmen, ist die Politik eher gewillt, diesen Weg ein-zuschlagen. Können wir gleichzeitig nachweisen, dass Wirtschaft, öffentlicher Wohlstand und Entwicklung auch mit einem kon-sequenten Dekarbonisierungsprogramm vereinbar sind, nimmt das auch die Angst vor dem Transformationsprozess.

Man muss sich sehr gut überlegen, wie man Transformationsprozesse

sozialverträglich abfedert.

ad hoc: Welches Narrativ könnte uns durch diesen Transformati-onsprozess leiten? Renn: Halten wir uns das Narrativ des Anthropozän vor Augen. Wir befinden uns im Zeitalter einer durch menschliche Handlungen gestalteten Welt. Wir verfügen heute als Mensch-heit über weitreichende organisatorische Maßnahmen, mit denen wir signifikant die natürlichen Kreisläufe und unsere Umgebung prägen. Das hat uns ein exponentielles Bevölke-rungswachstum eingebracht, aber auch all die Umweltprobleme, mit denen wir jetzt umgehen müssen. Wir können nicht ein-fach mehr abwarten und hoffen, dass alles noch mal gut geht. Wir sind zentrale Mitgestalter unseres Planeten geworden – und Mitgestaltung heißt auch Mitverantwortung.

Zum Wohle unserer Lebensqualität, aber auch zum Wohle künftiger Generationen. Wir müssen dabei unsere individu-ellen Ansprüche hier in Deutschland und anderen wohlha-benden Ländern reduzieren. Um etwas Kostbares zu gewin-nen: die Aussicht auf ein humanes Leben für alle Menschen und die folgenden Generationen. Wenn wir es nicht schaffen, eine positive und überzeugende Zukunftsvision zu erstellen, wird es sehr schwer werden, den Wandel zur post-karbonen Gesellschaft herbeizuführen.

ad hoc: Wie weit muss eine solche Vision gehen? 2030, 2050, 2070?Renn: Bei den großen Schritten, die wir Richtung Nachhaltig-keit unternehmen müssen, muss der Weg das Ziel sein. Jeden Tag weniger CO2 ausstoßen als am Tag zuvor. Wir werden sehen, ein solches Programm ist realistisch. Die Wirtschaft bricht nicht zusammen – das wären erste Erfolgsmeldungen. Solche Ankerpunkte sind für die Glaubwürdigkeit einer nachhaltigen Transformationspolitik essentiell. Darauf kann man dann sukzessiv aufbauen.

ad hoc: Lieber Prof. Renn, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview: Julia Harrer Prof. Dr. Dr. h. c. Ortwin Renn ist Professor für Umwelt und Technik-soziologie an der Universität Stuttgart. Im Februar 2016 wird Renn die Leitung des Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam übernehmen. Renn ist auch als Politikberater tätig, u. a. war er Mitglied in der von Bundeskanzlerin Angela Merkel berufenen Ethikkommission „Zukunft der Energieversorgung“. Zu seinen Hauptforschungsfeldern gehören Risikoanalyse, Theorie und Praxis der Bürgerbeteiligung bei öffentlichen Vorhaben, sowie sozialer und technischer Wandel in Rich-tung einer nachhaltigen Entwicklung.

4 5 Interview Interview

Page 2: Der Weg zur post- karbonen Gesellschaft? – „Nur mit ... Weg zur post-karbonen... · tigen neue Perspektiven. Ich vergleiche es mal mit der Pubertät: Freiwillig will da keiner

i Die menschengestaltete Welt des Anthropozän verlangt nach Mitverantwortung.

Der Weg zur post- karbonen Gesellschaft? – „Nur mit überzeugender

Zukunftsvision“Interview mit Risikoforscher

Prof. Dr. Dr. h. c. Ortwin Renn

Dass es menschengemachten Klimawandel gibt und die Politik tätig werden muss, ist in der Wissenschaft längst Konsens. Dennoch hinkt die Politik hinterher. Wieso? Ist sie mit der Komplexität des Klimawandels und seinen komplexen Risiken überfordert? ad hoc international hat mit Risikoforscher und Politikberater Prof. Dr. Dr. h. c. Ortwin Renn gesprochen – über unser Verständnis von Klimawandel, die Stolper steine in der Klima-politik und wie unsere Gesellschaft diese überwinden kann. ad hoc: Prof. Renn, versuchen wir zunächst einmal die Komplexität des Phänomens zu reduzieren, über das wir hier sprechen. Klima-wandel ist eine abstrakte Erscheinung, deren Folgen wir in die Zukunft projizieren. Das motiviert nicht unbedingt zum Handeln. Wie können wir das überwinden?Renn: Wir müssen einsehen, dass wir so wie bisher nicht weiter machen können. Es geht um unseren Lebensstil und wie wir unsere Wirtschaft organisieren und betreiben. Für die Entwicklungen in der Zukunft gibt es bereits in sich schlüssige Simulationen, die deutlich machen, was passiert, wenn wir nicht gegensteuern. Gut gemeint, aber weitgehend kontra- produktiv sind solche Szenarien, die sich auf Katastrophen-semantik versteifen. Plötzliche Katastrophen sind auch nicht zu erwarten – zumindest bei uns in Europa. Klimawandel ereignet sich schleichend und je länger wir warten, desto eher schmelzen unsere ökologischen wie auch ökonomischen Grundlagen dahin. Handeln wir nicht jetzt, kommen uns die Konsequenzen schon bald teuer zu stehen und wir sehen uns mit irreversiblen Schäden konfrontiert.

Wir sind zentrale Mitgestalter unseres Planeten geworden – und Mitgestaltung heißt auch

Mitverantwortung.

ad hoc: In der Tat ist die Situation alarmierend, wir haben nicht einmal einen Stillstand der Emissionen erreicht. Gleichzeitig ist die Akzeptanz von klimaschützenden Maßnahmen in der Bevöl-kerung hoch. Die Entscheidung für einen Politiker, in diese Richtung etwas zu unternehmen, ist daher doch relativ einfach.Renn: Im Prinzip ja, fragen wir aber: „Wären Sie bereit im Namen des Klimaschutzes höhere Steuern zu bezahlen?“, dann sinkt die Akzeptanz auch bei der Bevölkerung. Die Politik reflektiert zwar den grundsätzlichen Wunsch der Bürger, etwas zu tun, weiß aber auch, dass es letztlich nicht viel kosten darf – frei nach der Low-Cost-Hypothese: Wir machen alles mit, solange es uns nicht zu sehr schmerzt. Das weiß die Politik sehr genau.

ad hoc: Wie konnte dann aber die Energiewende verabschiedet werden? Natürlich gab es da mehrere Einflussfaktoren, aber sie wird uns finanziell ja auch einiges abverlangen.Renn: Bei der Energiewende gab es eine Vision, die alle Akteure überzeugt hat – von Gewerkschaften bis zum Kohle-kraftwerksbetreiber. Das letztlich alle vereinende Narrativ war: Mit den neuen Energieträgern entwickeln wir eine neue und kreative Industriekultur – für uns als exportabhängiges Land eine ganz neue Form des „made in Germany“. Nach dem Motto: Wir stehen für neue nachhaltige Systeme, die wir auch im Ausland anbieten können.

ad hoc: Das klingt nach einem Szenario, bei dem letztlich alle profitieren.Renn: In diesem Fall leider nicht. Eine sogenannte win-win-Situation suggeriert, alle gewinnen und keiner verliert. Doch so wird es nicht sein. Kernkraftwerksbetreiber werden verlieren; auch die Betreiber von Bergwerken und fossilen Kraftwerken: Die Kohle muss im Boden bleiben. Menschen, die bisher in diesen Bereichen ihren Lebensunterhalt verdient haben, benö-tigen neue Perspektiven. Ich vergleiche es mal mit der Pubertät: Freiwillig will da keiner durch. Wenn wir erwachsen werden wollen, haben wir da aber keine Wahl. Wollen wir langfristig Zukunft sichern, müssen wir durch diesen Transformationsprozess.

ad hoc: … der wohl alles andere als ein Spaziergang sein wird.Renn: Alle Transformationsprozesse sind mit Belastungen, mit Brüchen und Schmerzen verbunden. Wichtig ist, dass man dies auch ehrlich kommuniziert, sonst gibt man eine Illusion vor, die nicht einlösbar ist. Außerdem muss man sich sehr gut überlegen, wie man Transformationsprozesse sozialverträglich abfedert. In einer Kohleregion wie der Lausitz können wir die Leute nicht alle in die Arbeitslosigkeit entlassen oder zum Solarpfleger umschulen. Das funktioniert nicht. Wir müssen ein Narrativ entwickeln, ja, eine Vision und Hoffnung, die für die betrof-fenen Menschen auch attraktiv ist. Wenn es eine überzeugende Aussicht gibt, für die es sich lohnt, den Transformationsprozess auf sich zu nehmen, ist die Politik eher gewillt, diesen Weg ein-zuschlagen. Können wir gleichzeitig nachweisen, dass Wirtschaft, öffentlicher Wohlstand und Entwicklung auch mit einem kon-sequenten Dekarbonisierungsprogramm vereinbar sind, nimmt das auch die Angst vor dem Transformationsprozess.

Man muss sich sehr gut überlegen, wie man Transformationsprozesse

sozialverträglich abfedert.

ad hoc: Welches Narrativ könnte uns durch diesen Transformati-onsprozess leiten? Renn: Halten wir uns das Narrativ des Anthropozän vor Augen. Wir befinden uns im Zeitalter einer durch menschliche Handlungen gestalteten Welt. Wir verfügen heute als Mensch-heit über weitreichende organisatorische Maßnahmen, mit denen wir signifikant die natürlichen Kreisläufe und unsere Umgebung prägen. Das hat uns ein exponentielles Bevölke-rungswachstum eingebracht, aber auch all die Umweltprobleme, mit denen wir jetzt umgehen müssen. Wir können nicht ein-fach mehr abwarten und hoffen, dass alles noch mal gut geht. Wir sind zentrale Mitgestalter unseres Planeten geworden – und Mitgestaltung heißt auch Mitverantwortung.

Zum Wohle unserer Lebensqualität, aber auch zum Wohle künftiger Generationen. Wir müssen dabei unsere individu-ellen Ansprüche hier in Deutschland und anderen wohlha-benden Ländern reduzieren. Um etwas Kostbares zu gewin-nen: die Aussicht auf ein humanes Leben für alle Menschen und die folgenden Generationen. Wenn wir es nicht schaffen, eine positive und überzeugende Zukunftsvision zu erstellen, wird es sehr schwer werden, den Wandel zur post-karbonen Gesellschaft herbeizuführen.

ad hoc: Wie weit muss eine solche Vision gehen? 2030, 2050, 2070?Renn: Bei den großen Schritten, die wir Richtung Nachhaltig-keit unternehmen müssen, muss der Weg das Ziel sein. Jeden Tag weniger CO2 ausstoßen als am Tag zuvor. Wir werden sehen, ein solches Programm ist realistisch. Die Wirtschaft bricht nicht zusammen – das wären erste Erfolgsmeldungen. Solche Ankerpunkte sind für die Glaubwürdigkeit einer nachhaltigen Transformationspolitik essentiell. Darauf kann man dann sukzessiv aufbauen.

ad hoc: Lieber Prof. Renn, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview: Julia Harrer Prof. Dr. Dr. h. c. Ortwin Renn ist Professor für Umwelt und Technik-soziologie an der Universität Stuttgart. Im Februar 2016 wird Renn die Leitung des Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam übernehmen. Renn ist auch als Politikberater tätig, u. a. war er Mitglied in der von Bundeskanzlerin Angela Merkel berufenen Ethikkommission „Zukunft der Energieversorgung“. Zu seinen Hauptforschungsfeldern gehören Risikoanalyse, Theorie und Praxis der Bürgerbeteiligung bei öffentlichen Vorhaben, sowie sozialer und technischer Wandel in Rich-tung einer nachhaltigen Entwicklung.

4 5 Interview Interview