Der Zauber Des Ersten Schnees

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    Über die Autorin Hinter der Autorin Michelle Schrenk steckt eine 1983 geborene Wassermannfrau, die es liebt,zu träumen, und es hasst, Zwiebeln zu schneiden. Sie wohnt in der Nähe von Nürnberg und

    hofft, ihren Lesern mit traumhaften Geschichten Glücksmomente zu bescheren. Ihr ganzes Glück  besteht aus ihrem Mann, den beiden Kindern und ihrem Hund.Mit ihren Romanen »Über rosaroten Wolken« und »Unter halbblauem Himmel«, detraumhaften Märchen »Die Suche nach dem verlorenen Stern« sowie drei Kinderbüchern hatsie sich ihren Traum vom Schreiben erfüllt. Mehr über mich und meine Bücher im Internet auf:www.michelleschrenk.de Mehr aus meinem Leben gibt’s auf Facebook:www.facebook.com/MichelleSchrenkAutorin

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    Michelle Schrenk  

    Der Zauberdes ersten Schnees 

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     Für alle,

    die an den Zauber glauben 

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     Nur ein Blick,und ich kann nicht mehr atmen.Zwei Seelen für immer verbunden,gefangen in diesem

    einen Augenblick.Wenn du nicht da bist, bin ich nicht vollständig. Du berührst michwie tausend tanzende Schneeflocken,verzauberst mich,lässt mich einfach schwebenwie im Traum.Immer in dieser einen Nacht

     bist du hier.

    Schau mir in die Augenund sag, dass du mich willst,so wie ich dich will.Ewig wie der Zauber des ersten Schnees. Die Liebe trifft uns mitten ins Herz,eden Winkel,

    verwandelt Schattenins Licht,strahlt für dichund mich. Du und ich,ewig wie der Zauber von tausend Schneeflocken.Trägst mich fortzu unserem Ortvoller Sehnsucht.Immer in dieser einen Nacht

     bist du hier.

    Schau mir in die Augenund sag, dass du mich willst,so wie ich dich will.Ewig wie der Zauber des ersten Schnees Es ist wie ein Herzschlag,der nie endet,so wie wir nie enden,nicht in dieser einen Nacht. 

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    Solange es die Liebe gibt, wird es auch Zauber und Wunder geben. 

    Michelle Schrenk  

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    Prolog

     London, Winter 1962 Eisig schlägt Grace der Schnee ins Gesicht, als sie durch die vertrauten Straßen von Londonhastet, hin zu dem alten Pub, den sie immer zusammen mit Will besucht hat.

    Doch sie spürt die Kälte nicht, denn die Aufregung folgt ihr auf jedem Schritt. Der Koffer mit ihren wenigen Habseligkeiten wiegt schwer, aber sie hält ihn fest in der Hand. Sie wirdetzt nicht aufgeben – nicht, nachdem sie so weit gekommen ist. Brian ist ihre letzte Hoffnung.

    Aber was, wenn sie ihn gar nicht im Pub antrifft oder er keine Zeit hat, um sie zu fahren? Er muss es einfach tun. Sonst wird sie es nicht schaffen, dessen ist sie sich bewusst.

     Nur noch wenige Schritte, sie kann schon die Lichter erkennen. Schließlich bleibt sievöllig außer Atem vor dem Gebäude stehen. Die Schneeflocken tanzen im Lichtschein, der 

    durch die Fenster nach draußen dringt, und ihr Herz hämmert hart gegen ihren Brustkorb. Sieweiß nicht, was sie drinnen erwartet, aber sie nimmt all ihren Mut zusammen und drücktzaghaft die Klinke der schweren Eichentür hinunter.

    Sie lässt ihren Blick durch den Gastraum wandern. Tatsächlich, er ist da. Er sitzt am Tresen,trinkt ein Bier, und ein kleiner Funke Hoffnung lodert in ihr auf, als sie auf ihn zugeht.

     Nun hat er sie auch entdeckt. »Er ist nicht mehr hier, Grace, er ist längst weg«, sagt er undsieht ihr fest in die Augen.

    Ihr Haar ist ganz zerzaust. Schnee klebt darin, genauso wie an ihrem wollenen Mantel. Dochdas beschreibt noch lange nicht, wie aufgewühlt sie tatsächlich ist. »Das weiß ich schon. Ich

     bin hier, weil du mir helfen musst. Bitte, Brian, du bist meine letzte Hoffnung!«Er seufzt, nimmt einen Schluck aus seinem Glas und tippt mit den Fingern dagegen. » Was

    soll ich dennmachen? «Sie tritt noch einen Schritt näher auf ihn zu. »Fahr mich bitte zum Hafen!«»Was? Ich soll dich zum Hafen bringen?« Sein Blick haftet auf ihr. Er mustert sie, als wollte

    er durch sie hindurchsehen.Wie sie aussieht, wirklich schrecklich. Noch nie hat er sie in all der Zeit so aufgebracht

    gesehen. Es muss wirklich etwas Schlimmes passiert sein, und er kann sich auch schondenken, was. Doch er wird einen Teufel tun und sie danach fragen.

    Den Griff ihres Koffers hat sie noch immer fest umschlossen, so fest, dass die Knöchel ihrer Finger weiß hervortreten. Und in der anderen Hand hält sie etwas, das er nicht gleich erkennenkann. Trotz des gedämpften Lichts, das im Inneren des Pubs herrscht, funkelt es.

    »Bitte, ich habe nicht mehr viel Zeit«, fleht sie und reißt ihre blauen Augen, die ziemlich

    geschwollen aussehen, weit auf. »Bitte, es ist wichtig, ich muss zu ihm.« Ihre Stimme zittert.»Ich muss zu Will!«

    Sie stellt das, was sie in der Hand hält, auf dem Tresen ab, und der Koffer kracht zu Boden.»Bitte«, fleht sie, wimmert fast und beginnt, in ihrer Manteltasche zu kramen.

    Inzwischen wandert Brians Blick zu dem Ding auf dem Tresen. Es ist eine Schneekugel,eine hübsche kleine Schneekugel. Was wohl an diesem Ding so wichtig ist, dass sie es mit sichherumschleppt?

    Doch ihre Stimme reißt ihn schnell wieder aus seinen Gedanken. »Ich bezahle auch für denAufwand. Hier, zwanzig Pfund. Bitte, Brian.«

    Er wendet sich ab und nimmt den letzten Schluck aus seinem Bier. Dann steht er auf, holtsich an der Garderobe links neben dem Tresen seinen Mantel und schlüpft hinein. »Also schön,ich fahre dich. Aber ich will dein Geld nicht, Grace, steck es wieder ein.«

    »Ehrlich? Oh Gott, vielen Dank«, keucht sie. Ihre Augen sind vor Freude geweitet, als sie

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    nach der Schneekugel greift und sie in ihre Manteltasche steckt. Dann will sie sich nach deKoffer bücken, aber Brian kommt ihr zuvor.

    »Ich nehme ihn schon.« Er hebt das Gepäckstück hoch und geht damit zum Ausgang. Gracefolgt ihm.

    Draußen schlagen ihnen Schnee und Kälte unerbittlich entgegen. Im dichten Flockenwirbel

    sieht man kaum noch die Hand vor den Augen, und die beiden kämpfen sich darin die wenigenSchritte zu Brians Wagen durch.Während Brian Graces Koffer auf die Rückbank wuchtet, lässt sich Grace auf den

    Beifahrersitz fallen. Brian nimmt auf dem Fahrersitz Platz und steckt den Schlüssel ins Schloss.Doch bevor er ihn umdreht, hält er einen Moment inne und blickt hinüber zu Grace, die sichungeduldig die nassen Haare aus dem Gesicht streicht.

    Verzweifelt sieht sie ihm in die Augen. »Bitte, fahren wir doch los.«»Er liebt dich wirklich, Grace, das weißt du! Ich fahre nur los, wenn du es ebenfalls ernst

    mit ihm meinst. Also falls du nur den geringsten Zweifel an der Sache mit euch hast, dann sages jetzt. Das ist deine letzte Chance, um auszusteigen.«

    Sie greift nach seiner Hand. »Ich habe keinen Zweifel, Brian, keinen einzigen. Und ich hätte

    auch nie einen haben sollen.« Eine Träne rinnt ihr über die Wange. »Ich liebe Will sounglaublich«, seufzt sie, und ihre Stimme zittert. »Ich will nur noch bei ihm sein, egal wo.«

    Er nickt. »Das ist alles, was ich hören wollte.« Dann dreht er den Schlüssel herum, tritt aufsGas, und der Motor heult auf. Sofort rollt das Auto los, erst zum Hayden’s Place, dann nachlinks auf die Lancaster Road, immer in Richtung des großen Londoner Hafens.

    Jetzt spürt Grace zum ersten Mal eine kleine Erleichterung in ihrem Bauch. Nicht mehr lange, dann wird sie Will endlich wieder in die Arme schließen können. Dieses Mal für immer.

    Die Scheibenwischer gehen schnell, versuchen, den Schnee zu vertreiben, was nichtsonderlich gut gelingt. Aber Brian fährt sicher, mit einer ruhigen Gelassenheit, und schließlicherreichen sie den Ladbroke Grove.

    Sie werden es schaffen. Und dann wird sie ganz neu anfangen. Sie blickt aus dem Fenster, betrachtet den Schnee, der gegen die Scheibe fällt, und holt die Schneekugel aus ihrer Manteltasche. Sanft streicht sie mit den Fingern über die Glaskuppel, dann dreht sie sie umund liest die Gravur auf der Unterseite, die ihr in all der Zeit so viel Mut gegeben hat, die somagisch ist und diesen ganz speziellen Zauber verbreitet, den sie sich gar nicht erklärenkann. Doch sie weiß, dass er da ist.

    Will hat so viel Liebe in diese Schneekugel gesteckt, die ihr Geheimnis ist und derenBedeutung auch nur sie beide kennen. Deshalb hat er die Gravur auch in Deutsch verfasst, der Sprache seiner Vorfahren, in der sie sich manchmal unterhalten, wenn die anderen sie nichtverstehen sollen.

     

    Wenn der erste Schnee des Jahres vom Himmel fällt und du die Hand voller Sehnsucht gegen den Himmel hältst,

    dann denke daran: Unsere Träume und Wünsche werden wahr.

     Denn dieser eine Moment ist ewig,

    wir beide sind ewig,

    ewig wie der Zauber des ersten Schnees.

     Ihr Herz klopft schneller, als sie die vertrauten Zeilen liest. Jetzt wird alles anders werden.Endlich können sie zusammen sein. Ewig wie der Zauber des ersten Schnees.

    »Verdammt!«, schreit Brian plötzlich aus dem Nichts. Noch bevor Grace überhaupterkennen kann, was passiert ist, reißt er schon das Lenkrad herum, und es gibt einen lauten

    Knall.Alles dreht sich, und Grace wird mit voller Wucht durch den Wagen geschleudert. Sie hört

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    Brian schreien, sie selbst ist dazu nicht fähig.Und dann ist da das Geräusch von brechendem Glas, ein Dröhnen, und ihr Kopf schlägt hart

    gegen das Fenster. Die Schneekugel rollt ihr aus der Hand, sie hat keine Ahnung, wohin.Will. Das ist ihr letzter Gedanke, dann wird alles schwarz.

     

    *** 

    Zwei Wochen später 

    »Mami, Mami, schau mal, was ich gefunden habe!« Fasziniert bleibt das kleine Mädchen mitden blonden Locken stehen und hebt die Schneekugel auf, die unbemerkt in einer Ecke desLadbroke Grove liegt. »Ist die aber schön. Darf ich die haben, Mami? Bitte. Die kann ich dochOma schenken, sie liebt Schneekugeln.«

    »Lass mal sehen, Mary.« Ihre Mutter tritt ein paar Schritte heran, greift nach der 

    Schneekugel, die in der Hand ihrer Tochter liegt, und betrachtet sie genauer. »Hmm, warunicht? Sie sieht wirklich sehr hübsch aus. Oma freut sich bestimmt darüber.« Sanft schüttelt siedie Kugel, aber es passiert nichts. »Oh, kein Schnee. Ich glaube, sie ist kaputt, meine Süße«,stellt sie fest und gibt sie Mary zurück.

    »Ich nehme sie trotzdem mit. Darf ich?«»Meinetwegen. Aber jetzt komm, wir müssen uns beeilen. Unser Flug nach Nürnberg geht

    schon heute Abend, und wir müssen noch einiges erledigen.«»Ja, ja, ich komme ja schon.« Mary steckt die Kugel in ihre Jackentasche, dann hetzt sie

    ihrer Mutter hinterher.Ganz kurz glimmt ein kleiner Funke in der Kugel auf. Doch das kleine Mädchen sieht ihn

    nicht mehr, denn die Kugel ist längst in der Dunkelheit ihrer Tasche verschwunden, bereit, audie Reise zu gehen.

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    Der Zauber des ersten Schnees

     Viele Jahre späterNürnberg, Dezember 1980 »Schau mal dort hinten, sieht die nicht unglaublich hübsch aus?«

    Aufgeregt drehe ich mich zu Leo um, der mich lächelnd ansieht, während ich mich gleichwieder der kleinen Schneekugel zuwende, die ich an einem der Schmuckstände am

     Nürnberger Christkindlesmarkt entdeckt habe. Umgeben von schillernden, buntenChristbaumkugeln, Porzellanengeln und Glöckchen liegt sie da, und sofort spüre ich einewarme Welle in meinem Magen. »Die ist doch wunderschön, oder?«

    Leo reckt seinen Hals, um zu erkennen, was ich meine. Dabei sieht er so süß aus, dass ichihn am liebsten vernaschen würde. »Meinst du die kleine Weiße? Mit den hübschen

    Verzierungen?«, fragt er, und ich nicke.»Da drin ist auch ein Liebespaar, siehst du?« Aufgewühlt betrachte ich die beiden Figuren,die sich in der Kugel gegenüberstehen. Ihre Hände strecken sie nach oben in den Himmel, undsie sind sich ganz nah, man spürt förmlich ihre Verbundenheit.

    Ich will gerade danach greifen, als ich eine raue Stimme höre.»Für eine Mark könnt ihr sie haben.« Ein Mann mit grauen Haaren, einem faltigen Gesicht

    und Lippen schmal wie Papier taucht hinter der Verkaufsfläche auf. Er nimmt die Kugel in dieHand und betrachtet sie eine Weile.

    »Ehrlich? Nur eine Mark?«, frage ich etwas ungläubig und spüre, wie es in meinem Innerenvor Freude kribbelt.

    »Ja, meinetwegen. Sie ist zwar sehr hübsch, aber sie funktioniert nicht mehr, besser gesagt,

    sie hat noch nie funktioniert.« Er schüttelt die Kugel leicht. »Seht ihr, kein Schnee, und das ineiner Schneekugel. Das Ding ist absolut wertlos! Sie gehörte der verstorbenen Schwester meiner Frau. Ich kann damit nichts anfangen.«

    Ich spüre Leos Berührung. Sanft streicht er mir über die Wange.»Ich finde sie trotzdem toll«, stelle ich entschieden fest. »Also eine Mark nur?« Ich weiß

    nicht, warum, aber die Kugel hat etwas Magisches an sich, etwas, das mich anzieht. Als wolltesie mir etwas erzählen.

    Ich krame in der Manteltasche nach meinem Geldbeutel, doch Leo hält mich zurück. »Lassmal, ich mach das schon. Ich schenke sie dir.« Er reicht dem Mann das Geldstück, ich greifemit einem Lächeln nach der Kugel, und im nächsten Moment spüre ich dieses kurze, aber heftige Beben in meinem Bauch.

    Was war das denn? Ein Gefühl, als wäre ich gestolpert, als wäre ich plötzlich gefallen,doch ich habe es geschafft, mich rechtzeitig wieder abzufangen.

    Ich halte die Kugel fest und betrachte sie jetzt ganz aus der Nähe, erkenne winzige Details.Hübsche Verzierungen umschmeicheln den Sockel. Das Liebespaar sieht beinahe aus, als wärees echt. Ein Moment, der für immer eingefangen wurde, von wem auch immer.

    »Oh sieh nur, da steht ja was!« Ich deute auf eine Inschrift am Rand der Kugel. »Ewig wieder Zauber des ersten Schnees«, lese ich die Worte laut vor, und ich habe das Gefühl, dass inmeinem Inneren ein kleiner Sturm tobt.

     Ewig wie der Zauber des ersten Schnees.  Was für hübsche Worte. Wie aufregend, wiewunderschön.

    Ich betrachte die Kugel von allen Seiten und versuche, mir alles genau einzuprägen. Als ichsie auf den Kopf drehe, entdecke ein weiteres hübsches Detail. Aufgeregt zupfe ich Leo aÄrmel seiner Jacke. »Sieh nur, da am Boden ist etwas eingraviert.«

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    Wir stecken die Köpfe zusammen und lesen: 

    Wenn der erste Schnee des Jahres vom Himmel fällt 

    und du die Hand voller Sehnsucht gegen den Himmel hältst,

    dann denke daran: Unsere Träume und Wünsche werden wahr.

     Denn dieser eine Moment ist ewig,wir beide sind ewig,

    ewig wie der Zauber des ersten Schnees.

     »Wie schön«, seufze ich und streiche über die Gravur. »Das soll also heißen, dass der ersteSchnee des Jahres Träume wahr werden lässt?«

    »Das ist wirklich ein sehr schöner Gedanke«, stellt Leo fest, und der Blick aus seinenwarmen braunen Augen trifft mich mitten ins Herz.

    »Und sieh dir nur die beiden darin an. Sie sehen doch wirklich beinahe echt aus, oder? Fastals wären sie lebendig.«

    »Ja, und irgendwie erinnern sie mich an uns beide«, flüstert er, greift nach meiner Hand,

    und gemeinsam streichen wir über die Kugel.»Was würdest du dir wünschen, wenn jetzt der erste Schnee des Jahres vom Himmel

    fällt?« Leo sieht mir tief in die Augen, doch ich komme nicht mehr dazu, zu antworten, dennmit einem Mal fangen die kleinen Schneeflocken in der Kugel an, sich zu bewegen. Einfachso, wie von Zauberhand.

    »Siehst du das? Das gibt’s doch nicht!«, rufe ich, und mein Herz klopft unheimlich schnellgegen meinen Brustkorb. Wie kann das sein?

    Der Mann hinter dem Stand blickt neugierig zu uns herüber und lacht kurz auf. »Sieht wohlso aus, als wäre das alte Ding wieder zum Leben erwacht.«

    »Ja, scheint so«, antworte ich, und Leo ergänzt: »Manchmal geschehen noch Zauber undWunder. Was meinst du, Elli, wir beide, ewig wie der Zauber des ersten Schnees?«

    »Ja.« Ich nicke, spüre die Wärme in meinem Bauch und bin sicher, dass ich diesen Momentniemals vergessen werde.

     

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    Ein B lick zurück 

     Fünfunddreißig Jahre späterDezember 2015

     Wir beide, ewig wie der Zauber des ersten Schnees.

     Noch immer hallt der Satz durch meine Gedanken. Ich sitze da und flüstere ihn gegen dieScheibe, die Hand fest dagegengedrückt.

    Die Erinnerungen, die gerade noch so real waren, verebben, ziehen an mir vorüber, werdendurchsichtig und zerbrechlich wie das Fensterglas vor mir. Da sitze ich in meinem liebgewonnenen Korbsessel am Fenster unseres Schlafzimmers, von wo aus man einen besondersschönen Blick auf die Nürnberger Altstadt hat, und betrachte die weißen Flocken, die mir gerade einen kleinen Ausflug in meine Vergangenheit geschenkt haben.

    Es ist jetzt über dreißig Jahre her, aber ich höre noch immer die Worte, die er mir damalszugeflüstert hat, sehe den Schnee in der kleinen Kugel umherschweben, spüre Leos Hand inmeiner, und sofort fühle ich mich wieder wie ein junges Mädchen.

    Dabei bin ich alles andere als jung. Genau genommen bin ich vor wenigen Monateneinundfünfzig Jahre alt geworden. Kaum zu glauben, wie die Zeit vergeht.

    Ich schließe die Augen, atme tief durch und versuche, noch ein Weilchen in der Erinnerungzu verweilen, sie festzuhalten. Ganz für mich.

    »Du hattest mal wieder Recht, mein Liebes. Es hat tatsächlich angefangen zu schneien.«Ich zucke zusammen, löse mich von der Scheibe und drehe mich um. Da steht er, mein Mann.

    Seine braunen Haare sind von ein paar grauen Fäden durchzogen, und kleine Falten zeichnensich um seine noch immer hübsch geschwungenen Lippen ab. »Du wirst ihr heute davon

    erzählen, oder?«, fragt er.Wir sehen uns eine ganze Weile an, dann nicke ich. »Ja, das werde ich. Heute ist der richtige Zeitpunkt, der erste Schnee ist gefallen. Wann wäre es passender?«

    Über sein Gesicht huscht ein winziges Lächeln. »Ja, das stimmt wohl.«»Es macht mich einfach so traurig, mit anzusehen, wie sie ihr Talent wegwirft. Das ganze

    Jahr geht es nun schon so. Und du weißt, alles Reden hat nichts geholfen. Ich bin sicher, dieseGeschichte ist das, was sie braucht. Sie hat auf einen solch besonderen Anlass gewartet.«Dann halte ich kurz inne und zögere. »Oder meinst du, ich sollte nicht?«

    »Doch, ich denke auch, dass es richtig ist und dass sie dafür bereit ist.«Ich werfe ihm einen dankbaren Blick zu.»Die Frage ist, bist du es denn?« Er sieht mich besorgt an, aber ich lächle und versuche,

    damit jeden Zweifel wegzuwischen.»Ja, ich bin bereit, mach dir keine Sorgen«, flüstere ich und atme tief durch.»Gut, dann werde ich mich jetzt zurückziehen und ein wenig lesen. Wenn du mich brauchst,

    du weißt ja, ich bin nebenan im Arbeitszimmer.«»Ich weiß.« Mein Herz klopft wie verrückt, pocht voller Wärme und Geborgenheit unter 

    meiner Brust.Er wirft einen kurzen Blick auf das Telefon, das neben mir auf der Fensterbank liegt, dann

    nickt er mir noch einmal aufmunternd zu und verlässt den Raum.Eine kurze Weile sitze ich noch da, blicke hinaus, sehe den Schneeflocken beim Tanzen zu

    und lasse ihren Zauber auf mich wirken. Dann greife ich nach dem Telefon und tippe Ziffer für Ziffer die Nummer meiner Tochter ins Display.

     

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    Ein altes Geheimnis

     Das Telefonat mit Anna hat nicht lange gedauert. Im Hintergrund habe ich Stimmen gehört, esist sicher viel los, denn gerade um diese Zeit ist Nürnberg unglaublich beliebt bei denTouristen. Dementsprechend sind auch die Cafés immer bis auf den letzten Platz besetzt.

    Doch als ich Anna gefragt habe, ob sie mir heute noch beim Schmücken helfen könne, hatsie mir versprochen, gleich nach Schichtende gegen drei Uhr bei mir vorbeizukommen.

    Im Moment hat sie drei Jobs. Am Wochenende arbeitet sie meist in einer Diskothek undschenkt dort Getränke aus. Unter der Woche ist sie in einem Büro angestellt, wo sie alte Ordner sortiert. Und seit dem Sommer arbeitet sie nun auch noch in einem kleinen, hübschen Café inder Innenstadt, so wie ich damals. Ohnehin entdecke ich erstaunlich viele Parallelen zwischenihr und mir. Der Laden ist wirklich süß, und mir gefällt es dort sehr gut. Er hat diesen altenCharme, den es früher in den Cafés oft gegeben hat. Schon das eine oder andere Mal habe ich

     bei ihr hausgemachten Kuchen gegessen und wirklich guten Kaffee getrunken.Anna ist sehr fleißig, und das macht mich unglaublich stolz. Sie geht rührend mit den Gästenum, immer mit einem warmen Lächeln im Gesicht.

    Und doch schmerzt es mich, sie so zu sehen. Denn Anna sollte nicht in einem Café arbeiten,nachts in Diskotheken bedienen oder Ordner sortieren. Sie sollte sich nicht täglich mitzahlreichen Jobs herumschlagen.

    Denn eigentlich ist Anna Schauspielerin, und eine gute noch dazu. Wirklich. Und das sageich nicht nur, weil sie meine Tochter ist.

    Anna hatte schon von klein auf dieses Talent. Einfach so. Schon als Vierjährige hat sie iKindergarten mit besonderem Engagement beim Krippenspiel mitgemacht. In der Schule war sie stets in den Theater-AGs präsent, und tatsächlich wurde sie schon mit sechzehn an einer 

    renommierten Schauspielschule in Berlin angenommen, was äußerst ungewöhnlich war. Aber die Leitung der Schule war von ihrem Talent einfach überzeugt. Und wir gaben unser Okay,denn wir wollten ihr nicht im Wege stehen. Nachdem sie ihre Ausbildung abgeschlossenhatte, spielte sie schon bald in Werbespots und weitere kleine Rollen. Daraus wurden mit der Zeit größere Sprechrollen, und ich muss zugeben, dass ich mächtig stolz auf sie bin.

    Doch dann hatte sie vor einem Jahr dieses Vorsprechen, es ging um eine Rolle in eineFernsehfilm. Sie war schon Tage vorher so aufgeregt und konnte kaum schlafen. Ich habe sieimmer wieder beruhigt, ihr gesagt, dass es schon klappen wird. Und wenn nicht, dass es dannandere Rollen gibt.

    Doch alles kam anders. Dieser Tag veränderte alles.Es war ein Tag wie heute. Der erste Schnee des Jahres fiel auf die Straßen, und Anna,

    aufgeregt, wie sie war, verspätete sich. Denn der plötzliche Wintereinbruch hatte die Stadt fastlahmgelegt. Als sie dann völlig aufgelöst endlich ankam, erhielt sie zwar die Chance, dochnoch vorzusprechen, aber der Produzent kritisierte sie so hart, dass Anna diese Leichtigkeit,die sie immer hatte, einfach so verlor.

    Als der Produzent dann auch noch meinte, sie solle das mit der Schauspielerei lieber nochmal überdenken, hat sie von heute auf morgen einfach aufgehört. Nichts und niemand konnte siedavon abbringen.

    Erst dachte ich, dass sie einfach mal ein bisschen Abstand braucht, ein wenig Pause. Dochdie Wochen und Monate gingen dahin, verflogen wie Sand im Wind, und ihre Meinung hat sichnicht geändert. Ich habe alles versucht, um sie wieder aufzubauen, ihr gut zugeredet. Vergebens.

    Fast ein Jahr lang sehe ich dem Ganzen nun schon zu. Doch heute an diesem Tag will ich

    noch mal versuchen, zu ihr durchzudringen, vor allem weil sie dieses wirklich tolle Angeboterhalten hat. Ein großes Vorsprechen in London. Ihre Agentur hat sie empfohlen. Sie könnte in

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    einem Kinofilm mitspielen. Doch sie will nicht hingehen.Ich blicke noch einmal aus dem Fenster, auf den frischen Schnee, der sich wie Zuckerguss

    auf die Straßen, Wiesen und Bäume gelegt hat.Ja, heute ist es so weit, und ich hoffe, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war,

    wenn ich ihr meine Geschichte anvertraut habe.

    Ich stehe auf, gehe gedankenverloren hinaus in den Flur und steige die Treppe hinunter insErdgeschoss.Im Vorbeigehen bleibe ich kurz stehen und betrachte den kunterbunten Mix an Bildern, die

    ich an der Wand im Treppenhaus hängen habe. Erinnerungen. Jeder Rahmen birgt vielzähligevon ihnen. Diese kostbaren Schätze, die Spuren unseres Lebens zeigen. Und ich wünsche mir,dass Anna irgendwann ebenfalls voller Freude auf die Dinge zurückblickt, die sie erlebt hat.Dinge, von denen sie nicht mal im Traum gedacht hat, dass sie sie einmal tun wird.

    Stolz betrachte ich das Bild, das mich vor einem Bungee-Sprungturm zeigt. Auf dennächsten Fotos sehe ich mich im Meer, unter dem Sternenhimmel, in einem Flugzeug, dannwieder vor einer Klippe. Andere zeigen mich bei meinen Tanzaufführungen.

    Doch die meisten Aufnahmen sind Familienfotos. Anna als Baby, Anna, wie sie Jahr für 

    Jahr älter wurde, ihre ersten Schritte bis hin zu ihrer Abschlussaufführung im Theater.Kaum zu glauben, dass sie schon einundzwanzig ist. Ich denke an die beschwerliche Geburt,

    die so viele Stunden gedauert hat, denke daran, wie ich Annas Augen zum ersten Mal gesehenhabe, diese wunderschönen Funkelperlenaugen, die so voller Neugier waren. Und ich denke anihre ersten Worte, die ersten Schritte.

    Hunderte von Erinnerungen und viele mehr, die mir mein Leben bisher geschenkt hat.Erinnerungen, die auf ewig in meinem Herzen und auf diesen Bildern leben. Im Laufe der Jahresind sie zu einer Art Herzensmuseum geworden, das man besuchen kann, wann immer eineder Sinn danach steht.

    Schließlich betrachte ich mein Lieblingsbild, auf dem Anna in diesem alten Koffer sitzt. Ichsehe sie mit mir tanzen, und wir wirken so glücklich.

     Natürlich gab es auch Phasen, in denen sie nicht besonders glücklich war. Damals, als siesich mit vierzehn immer die Haare ins Gesicht gekämmt hat, als sie die Pickel in ihrem Gesichtmit Kajalstift angemalt hat, damit man glaubt, es seien Muttermale.

    Sie war schon immer verletzlich, mehr, als manch einer von ihr dachte. Genau das war ihr Problem.

    Denn die Wahrnehmung spielt uns Streiche.Ich mache mir auch keine Illusionen darüber, wie mich meine Tochter sieht. Sicher, sie liebt

    und respektiert mich, aber eigentlich hält sie mich die meiste Zeit für ziemlich verrückt. Siedenkt, ich lasse in meinem Leben kein Risiko aus. Und wenn man die Fotos betrachtet, glaubtman das vielleicht auf den ersten Blick auch.

    Gedankenverloren schaue ich noch einmal zu dem Bild zurück, das mich vor dem Bungee-Turm zeigt. Erst vor einem Jahr habe ich den Sprung gewagt, und Anna war entsetzt.»Bungee springen? Mama, weißt du eigentlich, wie gefährlich das ist? Das kannst du nicht

    machen!« Ihre Worte wandern durch meine Gedanken, und ich muss schmunzeln, als ich darandenke, wie ich sie daraufhin angesehen habe.

    »Warum denkst du, dass ich das nicht machen kann?«, habe ich sie gefragt.Doch sie wusste keine Antwort – und ich auch nicht.Es mag merkwürdig klingen, aber sie weiß nicht, warum ich so bin, wie ich bin. Warum ich

    mich auf gefährliche Erlebnisse einlasse, gerne reise, etwas erleben will. Warum ich diesenviel zu roten Mantel mit Stolz trage, obwohl mir wirklich jeder sagt, dass mir die grelle Farbenicht steht. Warum ich im Leben das mache, wonach mir der Sinn steht.

    Doch heute wird sie es erfahren.Ich denke an das Vorsprechen, das auf sie wartet, denke schmerzhaft daran, dass sie sich

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    diese Gelegenheit entgehen lassen will. Nur weil sie nicht mehr an sich glaubt. Sie hat zu großeAngst. Gerne würde ich sie ihr abnehmen, aber ich kann ihr nur helfen, ihren eigenen Weg zufinden – so wie ich einst meinen gefunden habe, damals, als auch ich vor einer Entscheidungstand.

    Ich atme tief durch, dann steige ich die restlichen Stufen hinab. Unten angekommen drehe ich

    mich um und werfe noch einmal einen zufriedenen Blick zurück auf die Wand.Schließlich bleibe ich noch vor einem ganz besonderen Bild stehen, einem Bild, das vor vielen, vielen Jahren von mir gezeichnet wurde. Ich betrachte es, sehe mich, wie ich dasteheund die Haare mein Gesicht umwehen. Ein Seufzen gleitet mir über die Lippen, und ich streichesanft über den Rahmen, halte inne und fühle die Erinnerung lebendig werden. Ich trage sieimmer bei mir.

    Ich denke an den Schnee und hole mir meinen roten Mantel von der Garderobe, setze mir eine blaue Mütze auf den Kopf, schlüpfe in meine flauschigen Boots und betrachte mich ganzkurz im Spiegel.

    Für eine Sekunde sehe ich wieder das junge Mädchen von damals vor mir, mit seinendunklen, schulterlangen Haaren und den braunen Augen.

     Es ist nicht wichtig, was die anderen von dir denken. Es ist wichtig, was man selbst von sich hält.

    Dieser Satz hallt durch meine Gedanken. Ein jahrelanger Begleiter, der mir stets guteDienste erwiesen hat, der mir das Leben in so mancher schweren Stunde erleichtert hat.

    Ob ich es bedauere, älter zu werden? Jetzt, wenn ich so dastehe und mein Spiegelbild betrachte, die kleinen Fältchen um meine Lippen und Augen sehe?

     Nein.Gut, manches vermisse ich natürlich. Sind wir mal ehrlich, ich gehöre zwar noch nicht zu

    alten Eisen, aber der Körper verändert sich nun mal. Das ist einfach so. Man braucht deutlichmehr Ruhepausen, manchmal schmerzen mir die Gelenke, und auch die Haut verlangt nach mehr Pflege.

    Aber letzten Endes sind die Erfahrungen, die ich mit der Zeit gemacht habe, wertvoller. Unddiese Erfahrungen kommen nun mal erst mit dem Alter.

    Denn so schön das Jungsein auch war, es brachte auch viele Probleme mit sich. Ich denke andie Ängste, die ich hatte, die Unsicherheit und das Chaos in meinem Leben, den Schmerz.

     Natürlich ist es nicht so, dass ich heute ohne Sorgen bin. Aber ich trage sie anders.Ob ich trotzdem jeden Weg wieder gehen würde, und wenn er auch noch so steinig war? Ja,

    eden Schritt.Mit einem Beben in der Brust wende ich mich ab und tue das, was ich tun muss. Ich öffne

    die Tür, und kalte, frische Dezemberluft schlägt mir entgegen. Mein Atem bildet kleineWölkchen.

    Aber ich will hier sein, inmitten der weißen Flocken, will den Schnee nicht nur sehen,sondern auch spüren und mich davon überzeugen, dass er wirklich da ist.Da stehe ich, in meinem leuchtend roten Mantel, mit der blauen Mütze, strecke meine Hand

    aus und warte, bis die ersten Flocken sich darauf niederlassen.Wenig später schmelzen sie auf meiner Haut, und ich atme tief ein. Genau jetzt, wenn der 

    Schnee so nah ist, wird alles wieder lebendig, als würde die Zeit stillstehen.»Was würdest du dir wünschen, wenn jetzt der erste Schnee des Jahres vom Himmel

    fällt?«, flüstere ich gegen den aufkommenden Wind. Er wirbelt mein Haar durcheinander, undich blinzle eine Träne weg.

    So viele Jahre sind vergangen, und noch immer ist es dieser eine Satz, der mein Herz zuSchmelzen bringt.

    Ja, heute ist es an der Zeit, Anna die Geschichte zu erzählen, die ich seit Jahren in meineHerzen trage und die mein Leben für immer verändert hat.

  • 8/19/2019 Der Zauber Des Ersten Schnees

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    Das Geheimnis vom Zauber des ersten Schnees. 

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    B ereit , zurückzukehren

     Wenig später stehe ich wieder in der Küche und bereite den Glühwein zu. Der verführerischeDuft von Zimt, Nelken und Orange ruft sofort Erinnerungen in mir hervor und verbreitet einenwinterlichen Zauber im Raum. Ich drehe die Herdplatte zurück und richte noch eine bunteMischung aus Schoko-, Zucker- und Mandellebkuchen auf einem Teller an.

    Ja, ich bin so weit. Nur eine Sache fehlt noch, eine ganz entscheidende.Flüchtig wische ich meine Hände an einem Geschirrtuch ab, dann gehe ich in die kleine

    Abstellkammer neben dem Flur und knipse das Licht an.Dort ganz oben steht er, etwas versteckt. Der alte Karton, der nur mir gehört.Ich rücke mir einen Schemel zurecht, steige hinauf und greife nach der Kiste. Ehrfürchtig

     betrachte ich sie.Ganz kurz wird mir etwas schwindlig von den Gefühlen, die sie in mir auslöst. Aber ich

    nehme all meine Kraft zusammen, denn heute werde ich sie nicht nur für mich öffnen, nein,sondern auch für sie, für Anna. Weil ich mir so sehr wünsche, dass es ihr hilft, dass es ihr dieAugen öffnet.

    Ja, danach wird alles anders sein, das weiß ich, und ich bin mir sicher, dass ich dasRichtige tue.

     

    Mit der Kiste unter dem Arm gehe ich zurück in die Küche und stelle sie auf dem Tisch ab.Mittlerweile erfüllt der würzige Glühweinduft das ganze Haus, und ich atme ihn tief ein.

    Für einen Moment schließe ich die Augen, denn die Erinnerungen überfluten mich.Ich weiß noch genau, wie ich die Kiste damals zusammengepackt habe, wie ich mich gefühlt

    habe. Als wäre es erst gestern gewesen.Ich setze mich, warte einen Moment ab, dann öffne ich sie. Ein Seufzen kommt mir über dieLippen, als ich den Inhalt sehe, der mir immer noch so vertraut ist. Den gezeichnetenReisepass, den er mir geschenkt hat. Ein Foto, das ihn vor der Nürnberger Burg zeigt. SeineMappe. Und das Bündel mit den Briefen, die wir uns hin und her geschrieben haben.

    Doch ein Brief liegt lose darin. Der Brief. Ich nehme ihn heraus und drehe ihn in meinenHänden. Sofort wird das Gefühl wieder lebendig, dieses Gefühl, das ich damals empfundenhabe. Sein Geschenk an mich.

    Ich ziehe den dünnen Briefbogen aus dem Umschlag. Die Tinte ist mittlerweile verblasst, anmanchen Stellen schon etwas schwer zu lesen, doch ich kenne jedes einzelne Wort auswendig.

    Ganz still für mich nehme ich die Worte in mich auf und spüre die Tränen, die sich in

    meinen Augen sammeln. Später werde ich ihr den Brief zeigen.Ich blicke auf, atme tief durch und lege den Brief schließlich zurück in die Kiste.Dann greife ich nach dem Reisepass, meinem Traumpass, und muss lächeln. Liebevoll

    streiche ich mit dem Finger darüber und lese die Wünsche, die Leo mir vor langer Zeit darinaufgeschrieben hat. Meine Wünsche, die noch immer auf diesem Stück Papier verewigt sind.Als würde der Staub der Vergangenheit dadurch zum Leben erwachen, berühre ich sie, undmeine Gefühle treiben mich davon.

    Da sitze ich und spüre meinen Herzschlag, wie er im Takt der weihnachtlichen Musik schlägt, die im Küchenradio läuft, spüre den Wind in meinen Haaren und erinnere mich daran,wie unglaublich ich mich gefühlt habe, wie lebendig – und all das hatte ich nur ihm zuverdanken.

    Schließlich lege ich den Reisepass zurück in die Kiste und schließe den Deckel.Genau in diesem Moment klingelt es an der Tür, und ich zucke zusammen, bereite mich

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    innerlich darauf vor, auch wenn man sich irgendwie gar nicht darauf vorbereiten kann.Doch eines ist sicher: Jetzt ist es so weit.Ich halte meine Hand ans Herz und spüre, wie es vibriert.Bin ich bereit? Wirklich bereit?Ja, ich bin es. Ich bin bereit, zurückzukehren.

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    Zurück in die Vergangenheit

     »Hallo Mama.«

    Da steht sie, Anna, meine große Kleine, und klopft sich genervt den Schnee von denSchuhen. Auf ihrem schwarzen Mantel haben sich genau wie in ihren Haaren einige Flockenniedergelassen. Ihre Wangen sind von der kühlen Luft leicht gerötet, und ihre Augen blickenmich erwartungsvoll an.

    »Hallo mein Schatz. Schön, dass du da bist«, sage ich und umarme sie rasch. Sie duftet nachKaffee und Vanille. »Aber komm rein, es ist ja eisig kalt da draußen!«

    Wir lösen uns voneinander, und Anna folgt mir ins Haus. Im Flur reibt sie sich kurz dieHände, dann schlüpft sie aus ihrem Mantel. Die Stiefel zieht sie ebenfalls aus, und ich hole ihr ein paar pink gefleckte Hausschuhe aus dem Schuhschränkchen, die sie kritisch beäugt.

    »Oh Mama, was ist das denn wieder?«, seufzt sie, und ich muss lächeln.

    »Jetzt schau nicht so, ich fand sie toll. Außerdem machen die ganz warme Füße, und das istdoch die Hauptsache, oder? Also zieh sie schon an.«Sie verdreht die Augen, wie sie es immer tut, wenn ich mit Dingen komme, die sie für zu

    ausgeflippt hält, aber dann schlüpft sie doch hinein. »Dieses Wetter macht mich verrückt. Auden Straßen ist sowieso schon die Hölle los, und jetzt schneit es auch noch. Schrecklich.« Siehält inne und reckt die Nase in die Luft. »Was kochst du denn da? Es riecht so nach Gewürzen.Ist das etwa …«

    »Glühwein, ja«, ergänze ich und lächle.»Glühwein? Da kann ich jetzt einen gebrauchen.«»Na, dann komm mit in die Küche, ich habe einen ganzen Topf für uns. Und Lebkuchen.« Ich

    zwinkere ihr zu.

    »Das ist eine gute Idee«, meint sie lachend. Sie folgt mir in die Küche, nimmt sich einenLebkuchen vom Teller und beißt voller Genuss hinein. »Mmm, die sind lecker. Im Café war heute so viel los, ich bin gar nicht zum Essen gekommen. Ich bin total erledigt.« Während siekaut, lässt sie ihren Blick durch den Raum wandern. Dann zieht sie die Stirn in Falten undsieht mich fragend an. »Warum sagst du, dass ich zum Schmücken kommen soll, wenn duschon alles geschmückt hast? Du meintest doch, ich soll dir helfen.«

    Wenn sie wüsste, wie wunderschön sie gerade aussieht. Die nussbraunen Haare, diehübschen grünen Augen und diese feinen Wangenknochen. Mit ihrer schlanken Figur überragtsie mich um einen halben Kopf. Sie hat eine solche Präsenz.

    »Ja, ich weiß, aber …«»Aber?« Sie zieht eine Augenbraue nach oben und trommelt mit den Fingern auf die

    Küchenplatte. »Wo ist eigentlich Papa? Ist er gar nicht da?«»Doch, er ist oben in seinem Büro. Er hat sich verkrochen, weil ich ihm gesagt habe, dass

    ich gerne etwas Zeit mir dir verbringen möchte. Weil ich mit dir …«»Mama! Was hast du denn schon wieder vor?«»Nichts, gar nichts, ich wollte dich nur mal wiedersehen.«Sie kneift die Augen zusammen. »Aber ich war doch erst vorgestern hier. Ich kenne dich zu

    gut, also raus mit der Sprache! Was hast du ausgeheckt?«»Ja, also gut, du hast mich durchschaut. Um ehrlich zu sein, ich muss mit dir über etwas

    Wichtiges reden, über etwas ganz Bestimmtes.«»Okay, worüber denn?«Ich deute auf einen der Stühle am Küchentisch. »Jetzt setz dich bitte erst einmal hin und sei

    nicht gleich so abwehrend.«Doch sie macht keine Anstalten, sich zu setzen, sondern verschränkt die Arme vor der Brust.

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    »Ich weiß, was du möchtest. Es geht wieder um das Vorsprechen in London, oder?«»Nun, Anna, es ist so …«, versuche ich zu erklären, aber sie lässt mich wieder nicht

    ausreden.»Nein, Mama, wir haben schon darüber geredet! Ich habe mich entschieden, ich will das

    nicht mehr. Ich fahre nicht nach London.« Sie reibt sich die Schläfen, und genau in diese

    Moment würde ich sie so gerne in den Arm nehmen. Aber ich weiß, dass das nicht der richtigeZeitpunkt dafür ist. »Warum kannst du das nicht endlich akzeptieren?«Ich antworte nicht gleich, sondern atme erst einmal tief durch. Dann kehre ich ihr den

    Rücken zu, gieße uns Glühwein in die bereitgestellten Tassen und trage sie zum Tisch. »Bitte,setz dich jetzt erst mal hin und nimm einen Schluck.«

    »Aber ich …«»Ja, ich weiß, du glaubst, es ist richtig. Und ich soll nicht wieder davon anfangen. Aber 

    etzt hör mir bitte zu. Bitte, es geht um sehr viel mehr als nur um dieses Vorsprechen.« Ich seheihr ernst in die Augen, bis sie schließlich nickt.

    »Na schön, dann setze ich mich eben.« Seufzend lässt sie sich auf den Stuhl fallen und ziehteine der Tassen zu sich heran. »Also dann mal los. Um was geht es denn noch?«, fragt sie, und

    ihre Stimme klingt ziemlich genervt.Sie nimmt mich nicht ernst, glaubt, dass ich ihr wieder dasselbe wie immer erzählen werde.

    Dass sie nicht aufgeben soll, dass sie gut ist, dass sie an sich glauben soll …»Also Mama, was ist jetzt?«Ich hole den Teller mit den Lebkuchen von der Arbeitsplatte und stelle ihn ebenfalls auf den

    Tisch.Annas Blick schweift zum Fenster. Woran sie wohl gerade denkt? »Dieser blöde Schnee,

    wie ich ihn hasse«, sagt sie, als ich mich ihr gegenübersetze.Wenn sie wüsste, wie ich mit ihr fühle, ihre Enttäuschung, diesen Schmerz. Es gab Zeiten,

    da habe auch ich den Schnee gehasst, so unglaublich. Mehr noch, er hat mir Angst gemacht.In ihren Augen spiegelt sich Traurigkeit, und mir schmerzt das Herz in der Brust, wenn ich

    das sehe.»Ja, dieser Schnee kann ganz schön viel durcheinanderwirbeln, aber an allem ist er nicht

    schuld, er …« Er  ist zauberhafter, als du glaubst , will ich noch sagen, doch sie unterbricht mich.»Ja, ja. Tut mir leid, Mama, ich weiß, dass du den Schnee magst. Aber so romantisch, wie

    du ihn immer darstellst, ist er bei Weitem nicht. Mir bringt er nur Ärger.« Ich weiß, dass siegerade an das verpatzte Vorsprechen denkt.

    »Alles nur eine Sache der Ansicht«, antworte ich. Mit den Händen umschließe ich meineTasse, um meine kalten Finger daran zu wärmen.

    Im Radio läuft jetzt ein langsames, nachdenkliches Lied, und eine Weile sitzen wir einfach

    nur da. Wie soll ich denn anfangen?»Also was ist jetzt?«, fragt sie schließlich, dann huscht ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. »Warum tust du eigentlich so geheimnisvoll?«

    »Ehrlich gesagt, ich überlege nur gerade, wie ich am besten beginnen soll, mein Schatz.«»Du machst mir langsam wirklich Angst. Ist etwas passiert?«Ich strecke meine Hand nach ihrer aus und halte sie einen Moment lang fest. »Nein, nein,

    keine Sorge.« Beruhigend streiche ich ihr über den Handrücken, dann nehme ich noch einenSchluck aus meiner Tasse und lasse den würzigen Geschmack des Glühweins auf meiner Zungezergehen. Als würde ich mich damit auf die Geschichte einstimmen.

    »Also gut, Anna, ich will dir etwas erzählen, eine Geschichte, die sich vor dreißig Jahren inmeinem Leben ereignet hat.«

    Annas Augen werden groß, und sie legt den Kopf zur Seite.»Eine Geschichte, die mir viel bedeutet. Es war zwei Tage vor Weihnachten …«

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     Nun fange ich an zu erzählen, einfach so, ohne weiter nachzudenken. Und schon als ich dieersten Worte ausgesprochen habe, breitet sich der Zauber der Zeit in der Küche aus. Er trägtuns fort, zurück in die Vergangenheit … 

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    Der Zauber der Schneekugel

     22. Dezember 1985, zwei Tage vor Heiligabend »Weihnachten in London! Jetzt komm schon, Elli. Warum überlegst du da überhaupt noch?« DieStimme meiner besten Freundin Stefanie überschlägt sich beinahe vor Aufregung, und ich weißnicht, was ich darauf antworten soll.

    Angestrengt halte ich den Telefonhörer ans Ohr, ringe um Worte und lasse den Blick durchmeine kleine Wohnung schweifen. »Ich weiß nicht. Ein Vortanzen nach so langer Zeit? Das

     bringt doch eh nichts, der totale Blödsinn. Ich weiß gar nicht, warum Moira das für micheingefädelt hat.«

    Moira – oder Miss Strettner, wie Stefanie sie immer noch nennt, obwohl die beiden sichebenfalls schon Jahre kennen – ist meine Tanzlehrerin und gleichzeitig auch meine Ziehmutter.

    Sie stammt aus England und arbeitet im Moment wieder dort.»Weil sie dich lieb hat und an dich glaubt, an uns glaubt. Du solltest dankbar sein, dass sichdir nach all der Zeit diese Möglichkeit bietet. Das ist doch die Chance, wieder einzusteigen,Leute kennenzulernen. Und wenn es nicht klappt, dann feiern wir zumindest Weihnachten inLondon! Miss Strettner hat doch alles perfekt organisiert, ihre Verbindungen spielen lassen, dieUnterkunft besorgt, sogar schon Gepäck mitgenommen. Deine Wohnung würde für das eine Jahr diese Austauschstudentin übernehmen. Und dass Miss Strettner diese Kontakte in England hat,

     bringt uns wirklich was. Wir beide könnten morgen bei diesem Vortanzen dabei sein, das istdoch wunderbar. Bitte, das wird einfach unglaublich werden!«

    Ja, es hört sich verlockend an. Und solch eine Chance zu bekommen, ist auch nichtselbstverständlich. Vor allem, da es schon Jahre her ist, seit ich das letzte Mal getanzt habe,

    aber …»Bitte komm mit, kneif jetzt nicht und lass uns das machen! Überleg mal, was allein so einTicket schon kostet, und sie hat es für dich ausgelegt. Sie wünscht sich so sehr, dass dukommst.«

    Mein Blick schweift zum Fenster, und in meinem Magen krampft sich alles zusammen. Es istein merkwürdiger Tag. Heute wird es noch schneien, ich spüre es genau. »Ich weiß nicht,außerdem zählt Babette im Café auf mich. Morgen findet der Weihnachtsbasar statt, und ichkann sie doch nicht hängen lassen. Apropos, ich muss ihr jetzt dann noch unsere Kistevorbeibringen«, antworte ich, aber Stefanie geht überhaupt nicht darauf ein.

    »Du weißt, dass du Blödsinn redest. Babette hat gesagt, dass du gehen kannst, wenn duwillst. Mich lässt du viel mehr hängen, und Miss Strettner auch.«

    Ich weiß, dass sie Recht hat. Babette hat das mit dem Vortanzen mitbekommen, als Stefanievor einer Woche völlig aus dem Häuschen in das kleine Café, in dem ich arbeite, gestürmt istund lautstark von Moiras Plänen erzählt hat.

    Gedankenverloren betrachte ich die kleine Schneekugel auf dem Fensterbrett. Sie sieht sohübsch aus wie eh und je, nur leider funktioniert sie nicht mehr. Nicht mehr seit damals. Nichtmehr, seit er weg ist, seit ich Leo verloren habe.

    »Jetzt komm schon, Elli!«, trägt mich Stefanies Stimme zurück in die Gegenwart.Rasch entgegne ich: »Und außerdem habe ich Frau Peters versprochen, ihr über den

    Jahreswechsel im Büro bei der Ablage zu helfen. Wenn es klappt, sind wir ein Jahr weg,wovon ich nicht ausgehe, aber …«

    »Ich fasse es nicht!«, unterbricht sie mich. »Du bringst Ausrede um Ausrede! Warum hast dunur so große Angst? Am Anfang konnte ich es ja noch verstehen, aber langsam … Ich meine, esist so viele Jahre her …« Sie bricht ab. »Tut mir leid, so hab ich das nicht gemeint, ich weiß,

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    dass die Zeit schwer für dich war. Aber ich finde, du solltest es endlich wieder versuchen.«»Ja, ich weiß«, sage ich, meine es aber eigentlich nicht so. Doch im Moment fehlt mir die

    Kraft für eine weitere Diskussion mit ihr.»Pass auf, der Flug geht heute Abend um halb zehn. Du hast das Ticket. Und du hast noch

    Zeit, um dir Gedanken zu machen. Also mach das bitte auch. Okay?«

    »Ja, okay, ich denke darüber nach«, verspreche ich ihr und spüre, wie mir ganz flau iMagen wird. Ich will sie nicht enttäuschen, aber ich kann das einfach nicht tun. Ich kann nichtmit ihr mitkommen, nicht zu diesem Vortanzen gehen. Nicht nach all den Jahren. »Wärst du dennsehr böse, wenn ich wirklich hier bleibe?«, frage ich vorsichtig, damit sie sich seelisch schonmal darauf vorbereiten kann. Sie kennt mich, immerhin sind wir seit vielen Jahren guteFreundinnen.

    »Ach Elli, nein, ich wäre nicht böse, aber ein bisschen enttäuscht wäre ich ehrlich gesagtschon.«

    Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen.»Versteh mich nicht falsch«, fügt sie an. »Ich wäre nicht meinetwegen enttäuscht, sondern

    deinetwegen. Weil ich finde, dass du es probieren solltest. Mal ehrlich, seit fünf Jahren

     bekommst du keinen Fuß mehr auf den Boden, hangelst dich von Job zu Job. Und jetzt ist dieGelegenheit da, und sie ist wirklich besonders. Gerade nach all der Zeit noch mal so eineChance zu bekommen. Und selbst wenn es nicht klappt, dann hast du wenigstens dieMöglichkeit, London zu sehen und dort Weihnachten zu verbringen. Wir beide haben sie.«

    Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Natürlich wäre es toll, London zu sehen. Und irgendwiewürde ich ja auch gerne dorthin. Aber es geht nicht.

    »Ich lege jetzt auf, ich muss noch einiges erledigen, und meine restlichen Sachen muss ichauch noch packen«, sagt sie schließlich kurz angebunden, und ich nicke in mich hinein. Ichweiß, sie ist jetzt traurig.

    »Stefanie, es tut mir wirklich leid. Und vor allem werde ich dich total vermissen, wenn esklappt und du ein ganzes Jahr weg bist. Natürlich drücke ich dir die Daumen, aber mit wesoll ich denn dann um die Häuser ziehen, meine Probleme bequatschen und Silvester feiern …«Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen.

    »Ich werde dich doch auch vermissen, du feiges Huhn.« Sie schafft es, mir ein kurzesLächeln ins Gesicht zu zaubern. »Denk bitte einfach noch mal darüber nach. Versprochen?«

    »Ja, mach ich, versprochen. Also bis dann, ich muss auch gleich los.« Ich hänge denschweren Hörer auf die Gabel, atme kurz durch, betrachte die kreisrunde Wählscheibe undversuche, meine Gedanken zu ordnen.

     Nein, ich bleibe hier.Dann gehe ich ans Fensterbrett, greife nach der Schneekugel und betrachte sie genau. Ich

    lese die Inschrift an der Seite: Ewig wie der Zauber des ersten Schnees. Wie viel Freude hat

    sie mir damals bereitet. Jetzt ist sie nichts mehr als ein trauriger Rest einer verlorenen Liebe.Ich schüttle sie kurz, aber wie immer passiert nichts. Von wegen Zauber. Der Zauber istlängst verflogen. Warum behalte ich sie eigentlich noch? Sie macht mich nur traurig.

    Du weißt warum, flüstert eine Stimme tief in mir. Weil sie alles ist, was mir von ihgeblieben ist.

    Ich blicke hinaus in den Tag. Wie schnell die Zeit vergeht. Übermorgen ist schonWeihnachten, und morgen könnte ich bereits in London sein.

    Ich spiele mit der Kugel, streiche gedankenverloren über die Glaskuppel, als suchte ichnach einem Zeichen.

    Vielleicht ist es nach all den Jahren wirklich an der Zeit, loszulassen, etwas zu verändern.Zumindest ein klein wenig.

    Und wenn ich das mit London schon nicht schaffe, dann sollte ich vielleicht wenigstens dieKugel loslassen. Unsere Geschichte loslassen. Womöglich findet die Kugel dann jemand

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    anderen. Jemanden, der noch an den Zauber des Schnees glaubt.Der Karton für den Basar ist bereits gepackt. Von Stefanie ist altes Geschirr drin und ein

     paar Spielkarten, von mir bisher nur eine alte Dose, ein Webrahmen und eine Tasche, die mir nicht mehr gefällt. Auch zwei Plüschtiere habe ich darin verstaut. Die Kugel würde sicherlichauch einen neuen Besitzer finden.

    Fest entschlossen gehe ich auf den Karton zu, öffne den braunen Pappdeckel und lege dieKugel hinein. Als ich sie noch einen Moment betrachte, zucke ich plötzlich zusammen. Ganzkurz scheint mir, als hätte etwas in der Kugel gefunkelt.

    Die Erinnerungen wirbeln um mich herum wie einst der Schnee in der kleinen Kugel. Ichdenke daran, wie es war, als Leo und ich sie an dem Verkaufsstand am Christkindlesmarktfanden. Als wir die Gravur an der Seite und am Boden lasen und die Kugel plötzlich wieder zu schneien begann. Damals war ich mir sicher: Wer auch immer diese Worte verfasst hatte,muss die Person, für die sie bestimmt waren, sehr geliebt haben.

    Ich ertappe mich, wie ich dasitze und lächle.»Was meinst du, was für eine Geschichte dahintersteckt?«, habe ich Leo des Öfteren

    gefragt, auch an diesem Tag.

    »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass die Kugel uns gefunden hat und dass ich dich liebe,Elli.« Dabei sah er mir tief in die Augen, und genau jetzt in diesem Moment, wenn ich an seineWorte denke, fängt mein Herz wieder heftig unter meinem Brustkorb an zu schlagen. Damalssagte er mir zum ersten Mal, dass er mich liebt.

    »Ich liebe dich auch sehr«, flüsterte ich zurück und legte meinen Kopf an seine Schulter.Später waren wir dann noch an unserem geheimen Lieblingsort in der Stadt, an der 

    Turnhalle gleich neben der Schule, in der ich immer trainiert habe. Wir saßen auf der Mauer und redeten über unsere Träume. Leo fragte mich, was ich gerne einmal erleben würde.Damals war ich mir so sicher, eine unglaublich gute Tänzerin zu werden. Eine, die Schneeschmelzen lässt. Ich habe mir gewünscht, Sterne am helllichten Tag zu sehen, einmal nackt iMeer zu baden, London … Es gab so viele Träume und Wünsche.

    »Das sind eine ganze Menge Träume«, stellte Leo fest. Dann saßen wir einfach nur zusammen da, und es war wie immer wunderbar. Wie sehr ich das vermisse.

    »Apropos Träume und Wunder«, sagte er plötzlich und deutete in den Himmel. Und ichtraute meinen Augen kaum. Denn es fing wirklich genau in diesem Moment an zu schneien.

    »Das gibt’s nicht, es schneit, der erste Schnee des Jahres!«, rief ich, stand auf und begann,mich im Tanz der Schneeflocken zu drehen. Ich stoppte erst wieder, als Leo mich in seine Armezog.

     Noch jetzt spüre ich in meinem Körper das Kribbeln von damals, das knisterte wieFeuerholz im Kamin.

    Sanft strich er mir über die Wange. »Was meinst du? Wenn das stimmt, was auf der Kugel

    steht, dass der Schnee Träume wahr werden lässt, sollten wir uns dann nicht auch waswünschen?«Und dann hielten wir gemeinsam unsere Hände gegen den Himmel, so wie das Liebespaar 

    in der Kugel.Ich hole die Kugel noch einmal aus der Kiste, streiche sanft über die Kuppel und schüttle

    sie leicht, in der Hoffnung, dass sie vielleicht doch nach all der Zeit wieder schneit. Aber daist nichts. Natürlich nicht. Wie auch? Der Schnee ist fort, seit Leo fort ist. So wie auch ein Teilvon mir.

    Ich packe die Kugel zurück in den Karton und schließe ihn endgültig. Dann atme ich tiedurch, gehe hinaus in den Flur und schlüpfe in meinen schwarzen Mantel. Schließlich holeich die Kiste, und während ich sie zur Wohnungstür trage, denke ich noch mal kurz an den

    winzigen Funken.All die Erinnerungen sind noch immer lebendig. Und sie halten mich auch nach fünf Jahren

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    noch gefangen. Doch ich will jetzt nicht mehr darüber nachdenken. Es ist an der Zeit, mich vonder Geschichte zu befreien. Endgültig.

    Mit diesem letzten Gedanken verlasse ich meine Wohnung und begebe mich hinaus insweihnachtliche Winterchaos.

     

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    Plötzl ich und unerwartet

     Es ist voll in Nürnberg, wie immer in der Weihnachtszeit. Hektisch geht es zu, und doch funkeltdie Stadt so friedlich, wie ein kleines Wunderland. Fröhliche Musik dringt aus den Lädenheraus, Menschen kommen mir entgegen, und ich gehe mit meiner Kiste unter dem Arm dieEinkaufspassagen entlang zu dem kleinen Café, in dem ich arbeite.

    Der Weg von meiner Wohnung dorthin ist nicht weit, und ich bin schließlich nach einer guten Viertelstunde da.

    Zum Glück kommt mir genau in dem Moment, als ich das Café betreten will, ein Mannentgegen und hält mir freundlich die Tür auf. Schon dringt mir der Duft von Kuchen, Plätzchenund frisch gebrühtem Kaffee entgegen. Um mich herum ein Stimmengewirr, surrend wie Bienenin einem Bienenstock. Jeder Platz an den dunklen Holztischen ist besetzt, die Gäste sind inGespräche vertieft, und ich mache mich auf den Weg in Richtung Theke, wo gerade mein

    Kollege Sebastian Unmengen von Gläsern spült.»Hey, wo ist denn Babette?«, frage ich ihn und stelle die Kiste neben mir auf den Boden.»Ich hab noch ein paar Sachen für sie.«

    Er hebt den Kopf und lächelt mich an. »Hey Elli, die sitzt da drüben mit so einem Künstler.Er hat von unserem Basar gehört und war sofort bereit, ein paar Bilder zu spenden. Die werdenhier morgen aufgehängt. Der hat es echt drauf, sage ich dir.« Er deutet auf die gemütlicheSitzecke am Fenster, und ich nicke.

    Dann drehe ich mich um, und gerade als ich die Kiste wieder hochhebe, fährt ein Ruck durch mich hindurch. Sofort fangen meine Beine an zu zittern, sind kurz davor, einfach soeinzuknicken, und wenn ich die Kiste nicht noch einmal abgestellt hätte, wäre sie mir aus der Hand gerutscht.

    Die ganze Bandbreite von Gefühlen überfällt mich mit voller Wucht. Freude, Trauer, Wut,Liebe.Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein. Nicht heute, nicht jetzt, nicht hier.Vielleicht bilde ich mir das Ganze ja auch nur ein, wie ich es mir in den letzten Jahren

    schon so oft eingebildet habe. Sicherlich spielen mir meine Augen wieder einen Streich. Ichkneife sie fester zusammen und sehe noch mal genauer hin. Die Kiste halte ich noch immer festumklammert, als könnte sie mich beschützen.

    Aber ich täusche mich nicht. Er ist es wirklich. Leo.Vor meinem inneren Auge entfalten sich Hunderte von Erinnerungen an uns, losgetreten wie

    eine Lawine in den Bergen. Sie sind plötzlich da, ganz nah, direkt vor mir, und meinHerzschlag hat sich gerade ungefähr verdreifacht.

    Es ist so lange her. Viel zu weit weg, und doch fühlt es sich so nah an. Genau jetzt in dieseMoment. Als würde sich in meinem Kopf ein Film abspielen.

    Mit voller Wucht werde ich durchgeschüttelt, sehe Bilder, sehe ihn und mich, spüre dasVerlangen, das er in mir hervorgerufen hat. Seine Hände auf meiner Haut. Leo und ich, als wir uns das erste Mal gesehen haben, hinter der Turnhalle auf dem alten Spielplatz der Schule. Leound ich tanzend im Schnee, auf dem Markt, unser erster Kuss, die Schneekugel. Und schließlichder große Streit und unsere Trennung.

    Da ist es, dieses Kribbeln, das jeden Winkel meines Körpers mit Freudenimpulsen ausfüllt.Ich rieche seine Haut, fühle noch immer die Wärme, die von ihm ausging, wenn ich meine Nasean seinem Hals vergraben habe. Sehnsucht, da ist so viel Sehnsucht. In meinen Erinnerungensehe ich uns, spüre unsere Küsse, spüre dieses wohlige Ziehen in meinem Unterbauch, dieses

    Prickeln, von dem ich nicht genug bekommen konnte, wenn er mich geküsst hat.Ein Stich fährt durch mich hindurch, bremst meinen Herzschlag aus und erfasst mich a

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    ganzen Leib.Mehr als einmal habe ich mir in den letzten Jahren ausgemalt, was ich ihm sage, wenn wir 

    uns wiedersehen würden. Und jetzt ist er wirklich da, plötzlich und unerwartet, und mir fehlendie Worte.

    Ich mustere ihn von Weitem. Sein Haar ist dunkel, leicht gewellt und ein bisschen länger als

    früher. Irgendwie chaotisch durchgestuft. Er trägt einen grauen Pullover, einen locker sitzendenSchal, und ich sehe den Ansatz einer Jeans.Was soll ich jetzt nur tun? Soll ich einfach zu ihm hingehen, mit ihm reden? Zu gerne würde

    ich genau das tun, aber was soll ich ihm sagen?Vielleicht stelle ich die Kiste auch einfach nur ab und gehe.Doch gerade als ich diesen Gedanken sehr verlockend finde, hebt Babette den Kopf,

    entdeckt mich und winkt mir zu. »Huhu, Elli, komm doch mal eben her!«, ruft sie mir durch dasStimmengewirr entgegen.

    Genau in dieser Sekunde dreht sich auch Leo um, und unsere Blicke treffen sich mit voller Wucht. Mir wird schwindlig, sicher falle ich gleich in Ohnmacht. »Tief durchatmen«, flüstereich mir zu. Wie ferngesteuert bahne ich mir den Weg durch den Gang zu dem Tisch, an dem die

     beiden sitzen.Dann stehe ich vor ihm, und das Kribbeln breitet sich in meinem gesamten Körper aus. Er 

     blickt mich mit seinen unglaublich braunen Augen an, und ich würde zu gerne wissen, was er gerade denkt.

    In mir zuckt etwas zusammen, mein Magen fühlt sich flau an.Leo. Das kann nicht sein.»Elli, das ist Leo Freitag«, höre ich Babettes Stimme wie aus weiter Ferne. »Wir wählen

    gerade ein paar Bilder aus, die er hier ausstellen wird. Unter anderem möchte er auch zweioder drei für den Basar zur Verfügung stellen. Ist das nicht toll?«

    Wie festgefroren stehe ich da, starre erst ihn an und dann die Zeichnungen, die vor ihm audem Tisch liegen.

    »Hallo«, sage ich schüchtern, denn ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Dann versucheich es mit: »Ja, die Zeichnungen sind wirklich sehr schön.« Dabei stottere ich und spüre, wiemir die Röte auf die Wangen steigt. Ich möchte einfach nur weg, flüchten, raus aus dem Café.

    »Nicht wahr? Sie sind wirklich unglaublich gelungen!«, jauchzt Babette begeistert undscheint zum Glück nicht zu bemerken, wie durcheinander ich bin, was für ein Gefühlschaosin mir tobt.

    »Ähm, wo soll ich die Sachen eigentlich hinstellen?«, frage ich eilig, in der Hoffnung, dannendlich dieser unangenehmen Situation entfliehen zu können.

    »Ach genau, entschuldige, die Kiste muss schwer sein. Stell sie doch dort drüben ab,gleich an der Tür. Und wenn du möchtest, kannst du sie auch schon ausräumen und zu den

    anderen Sachen auf den Tisch stellen.«Ganz benommen nicke ich. »Ja, ich gehe dann mal. Hat mich gefreut.« Ich mache auf demAbsatz kehrt, und als ich mich von den beiden entferne, spüre ich Leos Blicke in meinemRücken und drücke den Karton noch ein wenig fester an mich.

    Da sitzt er, einfach so. Leo, meine erste große Liebe. 

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    Zufall oder Schicksal

     Ich glaube es nicht, kann nicht fassen, dass er wirklich hier ist. Das kann doch nicht wahr sein.Oh Gott. Ich muss aufhören, daran zu denken, wie es damals war, wenn er mich berührt hat.

    Innerlich bin ich aufgewühlt, durcheinander und weiß nichts mit mir anzufangen, alsoversuche ich, mich abzulenken, so gut es geht, und fange an, die Gegenstände aus den nochunausgepackten Kisten auszuräumen und zu sortieren. Ich stelle Geschirr zu Geschirr,Plüschtiere zu Plüschtieren, aber so richtig funktioniert das mit dem Ablenken nicht. Immer wieder werfe ich einen kurzen Blick zu den beiden.

    Dann ermahne ich mich: Lass das jetzt, Elli. Und eine Zeit lang schaffe ich es tatsächlich –  bis mir jemand von hinten auf die Schulter tippt. Ich fahre herum, und da ist er wieder, stehtdirekt vor mir.

    »Hey Elli«, sagt er und lächelt. Dieses freche, schiefe Lächeln, in das ich mich damals

    haltlos verliebt habe. Das ich vermisse, seit ich mich vor fünf Jahren von ihm getrennt habe.Er mustert mich von oben bis unten. »Störe ich dich? Ich dachte, ich komme einfach maleben zu dir.«

    »Nein, schon gut, du störst nicht«, sage ich, weil mir gerade nichts Besseres einfällt.»Du arbeitest also hier?«»Ähm, ja also, ich helfe bei dem Basar mit.«Das Ganze kommt mir so unwirklich vor. Es ist das totale Gefühlschaos, und ich suche

    nach weiteren Worten. Was gar nicht so einfach ist, denn allein sein Anblick reicht, um alldie Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit wieder an die Oberfläche zu wuchten.

    Seine vollen Lippen, die ich vor langer Zeit küssen durfte, die bei mir immer diesesPrickeln auslösten, als hätte ich Brause im Mund, die nach Abenteuer schmeckten, formen

    etzt ein Lächeln, das Schnee schmelzen lässt und über die Jahre nichts von seiner Schönheiteingebüßt hat.Er hat sich wirklich kaum verändert. Seine Gesichtszüge sind etwas markanter geworden,

    winzige Bartstoppeln lassen ihn männlicher wirken. Doch er hat immer noch etwas von diesefrechen, rebellischen Jungen, der damals mein Herz gestohlen hat.

    Auch seine Augen sind noch immer umrahmt von diesen hübschen, dichten Wimpern. Dieschmale Nase, die kleine Narbe am Auge, die er sich vor Jahren bei einem Sturz vom Fahrradzugezogen hat. Er hat es mir erzählt, als wir zusammen waren.

    »Mit dir hätte ich hier wirklich nicht gerechnet«, sage ich schließlich. Es kommt mir einfachso über die Lippen, und ich merke, wie leise meine Stimme ist, fast nur ein Flüstern. Gernewürde ich irgendwas richtig Tolles sagen, würde am liebsten so vieles fragen, so vieles

    wissen, so vieles erklären. Aber es gibt Momente, da fehlen einem einfach die Worte. Mankann sich noch so vieles ausmalen, was man sagen und tun wird. Doch wenn es dann so weitist, bleibt davon nicht mehr viel übrig. Und so ein Moment ist das gerade.

    Er hebt die Mundwinkel, und die kleinen Fältchen um seine Lippen vertiefen sich. Dannstreicht er sich verlegen über das Haar. »Wie lange ist es her?«

    Mein Herz pocht heftig gegen meinen Brustkorb, klopft im Takt der Weihnachtslieder, diedas Café berieseln.

    »Fast fünf Jahre«, antworte ich. Und unzählige Tage, Stunden, Minuten …Meine Stimme hört sich zittrig an. Ich muss mich jetzt wirklich zusammenreißen.»Das ist unglaublich. Wenn ich dich so sehe, kommt es mir vor, als wäre es erst gestern

    gewesen, als wir uns …« Er schluckt die letzten Worte hinunter und blickt mir 

    gedankenverloren in die Augen.Woran er wohl gerade denkt? An die Trennung, den Schmerz? Ob es ihm geht wie mir?

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    »Elli, du bist ja schon ziemlich weit.« Babettes Stimme reißt mich aus meinen Gedankenzurück ins Café.

    »Ähm, ja«, stammle ich.»Alles in Ordnung bei euch?«Leo nickt. »Ja, ja, natürlich. Es ist nur so, Elli und ich, ja, wir kennen uns von früher.« Er 

    lächelt leicht, und Babette wirft freudig die Arme nach oben.»Ach ehrlich? Das ist aber schön. Wenn das mal kein Zufall ist.«Ihre Worte reißen mir beinahe den Boden unter den Füßen weg. Zufall, Schicksal.»Dann kannst du ja mit Herrn Freitag den Ablauf besprechen. Was meinst du?«»Ja, ich, also …«»Super!«, ruft Babette, drückt mir einen Block in die Hand und wendet sich dann lächelnd

    neuen Gästen zu, die gerade ankommen.»Na gut, dann lass uns also den Ablauf besprechen«, sage ich ganz profimäßig und gebe Leo

    ein Zeichen, sich mit mir an den Tisch zu setzen, doch er bleibt stehen.»Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Wenn das mal kein Zufall ist, Elli«, flüstert er, und ich

    zucke zusammen.

    Da sind sie, diese wenigen Worte, die mich zurückwirbeln in die Vergangenheit, zurück zudem Tag, als er mir schon einmal diese Worte gesagt hat.

    Unsere erste Begegnung. Wie kalt es damals war. Ich weiß noch ganz genau, wie ichmeine Jacke ganz eng vor meiner Brust zusammengezogen habe. Gerade nach dem Trainingwollte ich mich nicht erkälten.

    Zusammen mit Stefanie lief ich gerade zur Bushaltestelle, vorbei an dem kleinen Spielplatzneben der Schule, als sie mich plötzlich am Ärmel zupfte. »Schau mal, da drüben steht schonwieder dieser merkwürdige Leo Freitag und starrt dich an«, sagte sie und rollte mit den Augen.

     Neugierig drehte ich mich um. Tatsächlich, er war schon wieder da, wie fast jeden Tag seitzwei Wochen. Zuerst war er dazu verdonnert worden, die Wände zu säubern, die er wieder malmit seinen »Kunstwerken«, wie er sie nannte, beschmiert hatte, doch das war nur an den ersten

     beiden Tagen gewesen. Und danach?»Ich glaube ja wirklich, der hat ein Auge auf dich geworfen, Süße.« Stefanie grinste. »Ich

    meine, gut sieht er ja aus, aber sein Ruf …«Plötzlich tauchte er direkt neben uns auf. »Hey Elli, warte mal.« Noch heute spüre ich, wie

    mir mein Herz in die Hose gerutscht ist.»Was willst du, Freitag?« Stefanie bedachte ihn mit einem herausfordernden Blick, und

    ich hätte ihr am liebsten einen Schubs in die Seite gegeben.»Von dir gar nichts, Heimgärtner!«, antwortete er schlagfertig und wandte sich wieder mir 

    zu. »Elli, sag mal, hättest du Lust, mal was mit mir trinken zu gehen?«In meinem Bauch fing es an, wild umherzuflattern. So wie gerade eben.

    »Ich meine, es ist doch kein Zufall, dass du jeden Tag hier bist, genau wie ich.« Er grinstemich frech an.»Ich trainiere hier.«Er nickte. »Das sage ich doch, kein Zufall. Aber wenn es kein Zufall ist, dann ist es wohl

    Schicksal. Also überlege es dir. Morgen bin ich wieder da und hoffe auf eine Antwort.«Für einen kurzen Moment sahen wir uns einfach nur an.»Aber wenn es kein Zufall ist, dann ist es eben Schicksal«, flüstere ich jetzt ganz benommen

    und spüre seinen Blick auf mir. Ob er weiß, woran ich gerade gedacht habe?Es ist nur eine Sekunde, eine unbedeutende Sekunde, will man meinen, doch mit einem Mal

    wird diese eine Sekunde zu einer goldenen Ewigkeit. Und genau in dieser einen Sekundescheint es, als wäre die Zeit zwischen damals und heute stehen geblieben.

     

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    Zu viel Gefüh l

     Da sitzen wir uns also gegenüber, nach all den Jahren, auf den wunderschönen alten Bänken,die diesen gewissen Charme von Vergangenheit verströmen, und mein Kopf schwirrt nochimmer. Ich fühle mich, als hätte ein heftiger Schneesturm alles in meinem Bauch komplettdurcheinandergewirbelt.

    »Also, morgen geht es bereits um neun los«, fange ich an. »Es werden Lose verteilt undSpenden gesammelt. Der Erlös geht dann an die Aktion Sternstunden. Habt ihr schon Bilder ausgewählt?«

    Er nickt. »Ja, ich habe an diese hier gedacht. Was meinst du?« Er reicht mir eine Mappe.Wieder wandert die Erinnerung an unsere erste Begegnung durch meinen Kopf. Aber ich

    versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Stattdessen greife ich nach der Mappe und betrachteseine Zeichnungen, gehe sie Blatt für Blatt durch.

    »Wow, die sind sehr wirklich unbeschreiblich. Wie du die Gefühle aufs Papier bringst«,sage ich anerkennend. Jedes Bild hat diesen ganz unverwechselbaren Leo-Stil, diese besondereArt, etwas auszudrücken. Abstrakt, aber gefühlvoll. Schon ein Baum wird zu etwas unsagbar Besonderem.

    »Ich denke, das hier passt auch sehr gut.« Er deutet auf ein Bild, das ein altes Café zeigt.Flüchtig berühren sich unsere Finger, seine Haut auf meiner, und sofort wandert eineHitzewelle durch meinen Körper. Viel zu vertraute Erinnerungen jagen mir durch den Kopf.

    Über ein Jahr waren wir zusammen, mit allem Drum und Dran. Es war eine aufregende Zeitvoller Abenteuer. Wir haben jede Minute, die möglich war, miteinander verbracht, habenherumgealbert, gestritten und uns versöhnt. In seiner Nähe bin ich aufgeblüht, zum Lebenerwacht. Jeder Tag mit ihm war aufregend.

    Stürmisch und wild haben wir uns geliebt – bis der Schneesturm unser Glück verschluckteund nichts als gebrochene Herzen zurückließ.Dieser Sturm war ich.Und jetzt sitzen wir beide hier in diesem kleinen Café, in dem es so herrlich nach

    Gewürzen, Nürnberger Lebkuchen und Früchtebrot duftet. So unwirklich.»Du bist tatsächlich echt«, sage ich gedankenverloren. Doch im nächsten Moment schäme

    ich mich schon wieder dafür und halte mir die Hand vor den Mund.Er lacht. Ein kehliges Lachen. »Ja, was hast du denn gedacht?« Er zwinkert mir zu, und das

    Blut pocht mir in den Schläfen.»Tut mir leid, das ist mir so rausgerutscht.« Sicher werde ich gerade unglaublich rot. »Das

    Ganze ist nur so … merkwürdig.« Dann spreche ich die eine Frage aus, die mir auf der Zunge

     brennt: »Was machst du hier in Nürnberg?«Ja, was macht er hier? In dieser Stadt, in der es überall Orte gibt, die mich an ihn und

    unsere Zeit erinnern, die ich seit unserer Trennung gemieden habe.Er fährt sich durchs Haar. Himmel, er sieht immer noch so gut aus. »Na ja, also ehrlich

    gesagt, das ist eine lange Geschichte.«»Tut mir leid, es geht mich auch nichts an«, sage ich rasch. »Aber dass wir uns nach all der 

    Zeit plötzlich wiedersehen, damit hätte ich nicht gerechnet.«Er nickt nur.Hasst er mich denn nicht? Er muss mich doch hassen.Was ist alles passiert in den letzten Jahren? Wo war er?Er zeichnet also.

    Wieder diese vielen Fragen.Kurz starre ich auf seine Hände, und in meinen Gedanken sehe ich wieder Bilder. Seine

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    Hand auf meinem Bauchnabel, seine Lippen auf meinen. Ich schüttle die Gedanken weg.»Ich versuche mal, die lange Geschichte kurz zu halten«, sagt er schließlich. »Ich zeichne,

    und einige meiner Bilder werden sogar ausgestellt. Zudem arbeite ich in Zukunft auch noch ineiner Nürnberger Galerie und habe gerade den Mietvertrag für ein Zimmer unterschrieben. Ichwerde wohl wieder öfter hier sein.«

    »Du ziehst wieder nach Nürnberg?« Ich kann nicht glauben, was er da gerade gesagt hat.Er nickt. »Ja, so ist es.«Sehr oft habe ich daran gedacht, wie es ihm wohl nach unserer Trennung ergangen ist. Ob er 

    sich seinen Traum erfüllen konnte. Wie sein Weihnachten damals verlaufen ist, nachdem ich ihnweggestoßen hatte. Damals, als er vorhatte, seine Lehre zu schmeißen und zu dieseZeichenwettbewerb zu fahren. Hat er es wirklich getan?

    »Dann bist du damals also zu diesem Zeichenwettbewerb gegangen?«, traue ich michschüchtern zu fragen.

    »Damals, nachdem wir …« Doch er winkt ab. »Ja, ich bin dort gewesen.« Er räuspert sichkurz und beugt sich zu mir herüber.

    Oh Gott, er riecht immer noch so gut. Nach Freiheit, Holz und Abenteuer. Eine wilde

    Mischung, die mich daran hindert, klar zu denken.»Du hast da was.« Ich zucke zusammen, als er einen kleinen Fussel von meinem Pullover 

    abzieht.»Oh, danke schön.« Ich will noch mehr sagen, aber es gelingt mir nicht.»Alles okay?«»Ja klar, alles gut.«Er nickt.»Und deine Eltern? Wie haben sie es aufgenommen, dass du die Lehre geschmissen hast?«

    Ich erinnere mich daran, wie er mir damals von seiner Entscheidung erzählt hat.»Na ja, was glaubst du? Es gab natürlich Streit, Tränen, aber ich bin trotzdem gefahren.«»Und wie war’s? Hast du gewonnen?«Er schüttelt den Kopf. »Nein, leider nicht, aber ich habe trotzdem danach ein super Angebot

     bekommen. Ein Typ namens Volker Rothmann war von meiner Art zu zeichnen sehr angetan,dann ging es langsam seinen Weg, und ich bin in seine Agentur in Hamburg gekommen. Ich habemich weiterentwickelt, hart gearbeitet, es dann wieder versucht, und na ja, es hat geklappt.Mittlerweile sind meine Bilder in einigen Katalogen gelistet.«

    »Das heißt also, du warst die letzten Jahre in Hamburg?«»Zuerst war ich in Hamburg, aber die Agentur ist groß, und ich bin auch viel im Ausland

    gewesen. London, Amerika …«»Das hört sich aufregend an.«»Ja, es war wirklich aufregend, das ist es noch immer.«

    »Und jetzt kommst du zurück ins kleine Nürnberg. Kaum zu glauben. Warum denn das?«Seine Augen liegen sanft auf mir. Ein ganz klein wenig fühlt es sich gerade wie früher an.Sein Blick ist zärtlich – oder bilde ich mir das nur ein?

    »Nürnberg ist eine schöne Stadt. Aber jetzt genug von mir. Wie ist es dir ergangen?«,wechselt er das Thema. »Was ist aus Elli geworden, dem Mädchen, das Schnee schmelzenlässt?«

    Seine Frage trifft mich unvorbereitet, dabei wusste ich doch, dass sie kommen würde.Ja, was ist aus mir geworden?»Nun ja, ich tanze noch, im Theater und … nichts Besonderes.« Meine Lüge fühlt sich

    falsch an, schlingt sich eng um meine Brust.»Okay, hört sich nicht so begeistert an«, stellt er fest.

    »Doch, doch, alles gut.« Lächle, Elli, schnell, lächle.Ob er mich durchschaut? Zumindest habe ich kurz das Gefühl.

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    »Dann hilfst du hier also nur ab und zu aus?«»Ähm, ja, genau«, murmle ich in mich hinein.Seit ich fünf Jahre alt war, habe ich getanzt, habe Ballettunterricht bekommen. Wie oft habe

    ich mir vorgestellt, eine große Tänzerin zu sein.Wie soll ich ihm das jetzt erklären, ohne meine Lüge aufzudecken? Denn was passiert, wenn

    Träume, die man hat, nicht wahr werden?Plötzlich taucht Babette neben uns auf, und ich atme auf.»Na, konntet ihr alles klären?«»Ja, alles wunderbar«, antwortet Leo und lächelt.»Prima. Elli, bist du jetzt morgen da oder nicht? Was ist eigentlich mit diesem Vortanzen?«Mich durchzuckt ein Blitz. »Ich, ich … Ach nichts, ich bin hier.« Hastig stehe ich auf.»Oh gut. Aber du weißt, dass du gehen kannst …«»Nein«, fahre ich dazwischen. »Alles gut, Babette. Ich räume jetzt den Rest aus den Kisten,

    a? War schön, dich zu sehen, Leo. Ich muss dann mal weiter.«Rasch mache ich mich auf in Richtung Theke. Dort angekommen atme ich erst mal tie

    durch.

    Erst jetzt spüre ich diesen Druck, diese Belastung, die noch immer auf mir liegt. Ihn nach allder Zeit wiederzusehen, verwirrt mich mehr, als ich gedacht habe.

    Meine Kiste ist schon zur Hälfte ausgepackt.»Die Schneekugel ist hübsch.« Svenja, eine Kollegin, stupst mich in die Seite, betrachtet

    kurz die Kugel und stellt sie dann auf den Verkaufstisch. »Ist die von dir?«Ich versuche, mir den Schmerz nicht anmerken zu lassen, und spüre, wie der Druck noch

    schwerer auf mir liegt. »Ja, schon, aber sie funktioniert nicht mehr.«»Trotzdem sehr schön«, sagt sie, und ich nicke.»Ja, das ist sie«, murmle ich in mich hinein. Plötzlich wird mir heiß, viel zu heiß. »Ich muss

    noch mal eben weg. Kannst du das bitte Babette sagen?«Svenja mustert mich mit einem merkwürdigen Blick. »Ja klar, du hast doch eh frei. Geht’s

    dir nicht gut? Du wirkst auf einmal so blass.«»Nein, alles okay, ich bin nur etwas müde und …« Ich winke ab.»Ja klar, kein Problem, ich sage es ihr. Du kannst ruhig gehen, ich packe den Rest aus.«»Danke«, sage ich nur noch, dann laufe ich zur Tür. Ich muss raus, einfach nur raus! Weg

    von hier, von ihm. Ich schiebe Panik, ja, das merke ich auch gerade, aber ich kann nichts gegenmeine Gefühle machen.

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    Keinen Plan

     Mir wird leichter, als ich die kalte Luft in meine Lungen einatme. Doch mein Herz rast nochimmer, lässt sich nicht so schnell beruhigen.

    Was ist nur mit mir los?Das Ganze war einfach zu viel.Völlig unüberlegt, einfach meinem Impuls folgend, habe ich mich vor die Tür geschleppt.

    Und jetzt weiß ich nicht, wohin ich soll und was ich hier soll.Ich will einfach nur weg.Auf wackeligen Beinen suche ich Halt und lehne mich erst mal an eine der Säulen neben

    dem Eingang. Alles in mir pocht. Was passiert hier nur mit mir?»Elli?«In meinem Bauch kribbelt es, und ich drehe mich suchend zu der Stimme um, die mir so

    vertraut ist, immer noch.»Was ist los? Bist du einfach vor mir weggelaufen?«Einfach war das nicht, denke ich mir, sage es aber nicht.»Nein, ich, ich … habe nur ein bisschen frische Luft gebraucht.« Wieder eine Lüge.Er durchschaut mich sicher, denn er zieht eine Augenbraue nach oben und fixiert mich mit

    seinem Blick. »Hör mal, unsere Begegnung wühlt mich auch auf.«Ein Paar mit einem Kind läuft an uns vorbei, und ich blicke ihnen nach. Sie halten sich an

    den Händen. Wie gerne würde ich auch seine Hände spüren, ihn umarmen. Aber das geht nicht.»Also, wenn du willst, dann … Ich würde wirklich gerne noch etwas Zeit mit dir 

    verbringen«, höre ich ihn sagen.Ich starre ihn einfach nur an. »Aber hasst du mich denn nicht?« Die Frage kommt mir 

    einfach so über die Lippen.»Was meinst du?«»Na ja, unsere Trennung und wie das damals alles gelaufen ist. Ich …«Er schüttelt den Kopf. »Es war nicht schön, Elli, aber es ist lange her und … Ich meine, ich

    freue mich, dich zu sehen, und wenn du gerade nicht noch etwas anderes vorhast, dann wäre esschön, wenn wir etwas zusammen unternehmen. Und ehrlich gesagt …« Er lächelt verlegen.

    »Ehrlich gesagt was?«»Na ja, ich dachte da gerade an ein Versprechen, das wir uns vor langer Zeit gegeben

    haben. Oder hast du das schon vergessen?«Ich weiß, was er meint, worauf er anspielt, und in meinem Inneren bricht ein Sturm los.

    Damals, als er mir gesagt hat, dass er seine Lehre schmeißen will, als klar war, dass er 

    fortgehen möchte, um an diesem Zeichenwettbewerb teilzunehmen, da haben wir unsgeschworen, noch einen unvergesslichen, zauberhaften Tag zusammen zu verbringen. Doch dazuist es nie gekommen.

    »Also was meinst du? Bist du dabei?« Er lächelt, versprüht diese Unbeschwertheit, die sovoller Leben ist. Wie ich sie vermisst habe.

    »Also gut, ja. Was hast du vor? Was ist der Plan?«Er blickt mir ernst in die Augen. »Kein Plan, schon vergessen? Das Leben macht seinen

    eigenen Plan.«Mit diesem winzigen Satz reißt er mich zurück, zurück in der Zeit.Was mich nun erwartet? Ich weiß es nicht, es gibt keinen Plan, den gab es damals nicht, und

    auch jetzt will ich keinen haben.

     

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    Ei n Tanz

     Gedankenverloren streiche ich mir über die Lippen, während wir durch die weihnachtlicheStadt schlendern, vorbei an geschmückten Fenstern und dekorierten Geschäften. Kühle Luftweht uns um die Nase. Die kleinen Fachwerkhäuser und Wirtshäuser, an denen wir vorbeigehen, sehen aus, als würden sie in kleine Schneekugeln gehören.

    Als Leo in eine kleine Gasse abbiegt, weiß ich sofort, wohin er uns bringt. ZuChristkindlesmarkt. Dorthin, wo wir damals waren.

    Sofort greifen die Erinnerungen nach mir, sie sind ganz nah.Unseren Abend wollten wir genau hier beginnen, an dem Ort, wo wir uns das erste Mal

    geküsst haben. Wir redeten übers Tanzen und übers Zeichnen. Und schließlich hat er michgezeichnet. Es war so unglaublich.

    »Sieh nur, wie wunderschön du bist.« Seine Worte von damals werden in meinem Kop

    wieder lebendig, hallen durch meine Gedanken und treffen mich wie ein Pfeil mitten in dieBrust.Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, aber ich erinnere mich, wie rot meine Wangen

    geworden sind. Da war so viel Glück in meinem Bauch. Und gerade eben habe ich das Gefühl,ein wenig davon zu spüren.

    Dann haben wir uns geküsst. Einfach so sind seine Lippen auf meinen gelandet.Kurz greife ich mir an den Mund, fasse mich dann aber wieder, denn schon befinden wir uns

    am Hauptmarkt mitten im Getümmel.Obwohl es noch hell ist, strahlt der Markt mit seinen zahlreichen Holzbuden und den

    hübschen rot-weiß dekorierten Stoffdächern im Glanz von tausend Lichtern. Als wir in einender vielen Gänge einbiegen, kommen uns ein paar Kinder mit selbst gebastelten Laternen

    entgegen, lachen und kichern. Es duftet herrlich nach Gewürzen, Nürnberger Lebkuchen undBratwürsten. Eine Randkulisse, denn eigentlich habe ich nur Augen für Leo.Zwischendurch huscht mein Blick immer wieder zu den vielen Weihnachtsartikeln wie

    Rauschgoldengeln, Krippen und Schmuck, die es hier zu bewundern gibt, und ich denke daran,wie wir hier inmitten von all diesen Dingen die Schneekugel gefunden haben.

    Wir stoppen an einer Glühweinbude, sichern uns einen der Stehtische, und Leo stellt sicham Stand an, um uns zwei Tassen zu besorgen. Als er zurückkommt und mir eine Tasse reicht,

     berühren sich unsere Finger wieder ganz kurz, und eine Hitzewelle wandert durch meinenKörper.

    Ich denke daran, wie viel wir damals miteinander gelacht haben, wie aufgeregt ich war, hier mit ihm zu sein, und wie der Glühwein mich beschwipst hat.

    Und jetzt, so viele Jahre später, stehen wir also wieder hier.»Dass du uns hierherbringst«, sage ich gedankenverloren.»Ja, es war ein so lustiger Tag, Karussell zu fahren … Wir hatten viel Spaß.« Ich nehme

    einen Schluck aus meiner Tasse, und sofort wird mir warm im Bauch.Leo tritt näher an mich heran. »Ich weiß noch, als ich dich das erste Mal gesehen habe, wie

    du mit deiner Sporttasche aus der Turnhalle gekommen bist.«»Ja, du hattest wieder mal Ärger und eine Strafe bekommen wegen deiner Schmierereien.

    Hatte der alte Hausmeister – ich glaube, er hieß Herr Hubrecht – deine Bilder nicht sogenannt?«

    Er lacht. »Ja, allerdings.«»Wenn die wüssten, wie wertvoll diese Bilder jetzt sind.«

    Er sieht mich ernst an. »Seit diesem Tag hatte ich nur noch einen Gedanken: mit dir auszugehen.«

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    »Damals dachte ich, du wärst verrückt, jeden Tag vor der Halle aufzutauchen. Alle habenmich vor dir gewarnt.«

    »Ja, aber du bist mir verfallen.«»Ein wenig vielleicht«, sage ich mit einem Lächeln.»Trotzdem hast du erst gezögert, als ich dich gefragt habe, ob wir zusammen was trinken

    gehen wollen.«»Ich musste dich doch ein bisschen zappeln lassen, aber nachdem du, na ja, dieses Bildgemalt hattest …« Einen kurzen Moment warte ich ab, bis ich die Frage stelle, die mir auf der Zunge liegt. »Glaubst du, sie ist noch da?«

    »Du meinst die Zeichnung?«Ich nicke.»Wie wäre es, wenn wir nachher einfach nachsehen?«Ja, warum eigentlich nicht?Aber in mir tobt ein Sturm. Denn dieser Ort bedeutet so viel. Dort sind wir immer gewesen.

    Und ich war nicht mehr da, seit wir uns getrennt haben. Weil ich nicht konnte.Dann stehen wir eine Weile einfach nur da.

    »Wie muss ich mir das denn vorstellen? Zeichnest du den ganzen Tag?«, will ich schließlichwissen.

    Er lacht. »Nicht nur. Ich suche immer Inspiration, und da ist ja auch noch die Arbeit in der Agentur.«

    »Du hast es geschafft, Leo. Du hast dir deine Träume erfüllt. Du zeichnest, du reist …«Einfach so kommen mir die Worte über die Lippen.

    »Ja, manchmal kann ich es selbst nicht glauben. Eigentlich ist fast alles wahr geworden,was wir vor Jahren aufgeschrieben haben. Erinnerst du dich daran?«

    Die Frage versetzt mir einen Stoß.Der Abend, an dem wir an unserem Ort gesessen und unsere Träume und Wünsche

    aufgeschrieben haben, wird wieder lebendig.»Was ist mir dir, Elli? Was ist aus deinen Träumen geworden? Tanzen, Sterne sehen, au

    Rentieren reiten …«Was soll ich antworten? »Das war doch albern«, sage ich, und er sieht mich mit weit

    geöffneten Augen an.»Ich fand es nicht albern. Also? Erzähl mir, wie es dir ergangen ist. Hast du viele

    Tanzaufführungen?«Der Strick um meinen Hals zieht sich immer enger. »Momentan nicht wirklich.« Was ja auch

    die Wahrheit ist.»Und trainierst du viel? Was machst du, wie ist dein Tagesablauf?«Warum will er das wissen?

    »Lass uns über was anderes reden«, versuche ich, das Thema zu wechseln.»Du hast ein Vortanzen in London?«Ich zucke zusammen. Er hat es vorhin also mitbekommen. Natürlich, er saß ja direkt

    daneben.»Ja.«»Das ist doch toll, erzähl mir davon!«»Es ist nichts. Ich weiß noch nicht, ob ich hingehe. Können wir jetzt über was anderes

    reden?« Ich schüttle den Kopf und nehme einen Schluck von meinem Glühwein.»Tut mir leid«, sagt Leo nur, und ich fühle mich schlecht, weil ich ihn so forsch angegangen

    habe.»Schon okay.«

    Dann stehen wir eine Weile da, Leos Blick ruht auf mir, und ich spüre, wie es in seineInneren vibriert, sehe die Fragen in seinen Augen.

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    »Warum tanzt du nicht mehr?«, fragt er plötzlich.Ich zucke zusammen und weiß nicht, was ich darauf antworten soll. »Was meinst du damit?

    Ich tanze doch noch, nur nicht heute, ich …«»Elli, halt mich nicht zum Narren. Damals war dir nichts wichtiger als das Tanzen.« Er 

    stockt. Ich weiß, worauf er anspielt. Auf unseren Streit, unsere Trennung. Wenn er wüsste, wie

    es wirklich gewesen ist.»Damals«, flüstere ich fast schon in mich hinein, »damals ist schon ziemlich lange her. Eshat sich vieles verändert, das Leben, die Träume von damals, Prioritäten …«

    Wir sehen uns an. Schweigen. Doch ich spüre, wie mich die angespannte Stimmung fasterdrückt.

    Er greift nach meiner Hand. »Du tanzt also wirklich nicht mehr?«»Nein.« Ich schüttle den Kopf, und meine Stimme ist nicht mehr als ein Hauch.»Ich verstehe das nicht, Elli. Damals wolltest du, dass ich gehe, weil ich dich dabei störte,

    deinen Traum zu leben, weil du dich auf das Tanzen konzentrieren wolltest. Und jetzt erzählstdu mir, dass du gar nicht mehr tanzt. Du bist mir eine Antwort schuldig.« Er fixiert mich mitseinem Blick, und ich habe den beunruhigenden Verdacht, dass er mich längst durc