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DER BÜRGER IM STAAT 56. Jahrgang Heft 2 2006 Die arabische Welt und der Westen

Die arabische Welt und der Westen - Landeszentrale …Für die islamisch-arabische Welt geht es zukünf-tig auch darum, wie sie ihre kulturelle und reli-giöse Substanz mit den politischen

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DER BÜRGER IM STAAT

56. Jahrgang Heft 2 2006

Die arabische Weltund der Westen

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DER BÜRGERIM STAAT

56. Jahrgang Heft 2 2006

Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg

Redaktion:Siegfried FrechRedaktionsassistenz:Barbara BollingerStafflenbergstraße 38, 70184 StuttgartFax (0711) [email protected]@lpb.bwl.de

Inhaltsverzeichnis

Die arabische Welt und der Westen

Prinz El Hassan bin TalalBrücken und Wege zu Dialog und Verständigung 84

Hans KüngDer Westen und der Islam 86

Stefan SchreinerZwischen den Welten – Zur Geschichte der Juden in der arabischen-islamischen Welt 94

Karl-Josef KuschelDie „Weihnachtsgeschichte“ im Koran (Suren 3,35–51; 19,1–36) 102

Renate KreileFrauenbewegungen in der arabischen Welt – Gemeinsamkeiten und Konfliktlinien 110

Nasser El AnsaryInterkulturelle Begegnung und Kulturaustausch – das Institut du Monde Arabe 116

Sebastian KörberVorreiter im Kulturdialog – das Institut für Auslandsbeziehungen 120

Manar OmarZur deutschsprachigen Literatur arabischstämmiger Schriftsteller 122

Viola ShafikDer belagerte Film oder Europas arabisches Filmschaffen 131

Buchbesprechungen 136

Einzelbestellungen und Abonnements bei der Landeszentrale (bitte schriftlich)

Impressum: Seite 93

Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel mit dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte Kunden-Nr. an.

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Die arabische Welt und der Westen

BRÜCKEN UND WEGE ZU EINEM DIALOG ERFORDERN GEGENSEITIGEN RESPEKT UND SETZEN EINBLICKE IN DIE KULTUR DER ARABISCHEN WELT VORAUS. picture alliance / dpa

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Über die Vielfalt der Kulturen wird seit geraumerZeit ernsthaft nachgedacht und diskutiert. Eu-ropa besinnt sich auf sein abendländisch-christliches Erbe und die arabische Welt streitetmit sich und mit anderen über ein angemessenesVerständnis islamisch geprägter Werte. So for-dert der Westen von der arabisch-islamischenWelt den Anschluss an die Moderne, die Etablie-rung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeitund die Achtung der Menschenrechte. Der Islamhingegen nimmt eine Verteidigungshaltung ein,muss stets sein Verhältnis zum Westen sowiedas Verständnis seiner Religion und kulturellenIdentität definieren. Unter dem Eindruck ak-tueller Ereignisse wächst die Neigung, Konflikt-konstellationen als Bedrohungsszenario zu be-werten. Der Begriff „Kulturkampf“ findet immerhäufiger Verwendung. Bei genauerem Hinsehenzeigt sich jedoch, dass in dieser Debatte ein Un-gleichgewicht der Kräfte zutage tritt. Die Dis-kussion über die Unterschiedlichkeit der Kultu-ren ist nicht frei von dem Anspruch, die Defini-tionsmacht über Werte, Weltbilder und die„richtigen“ Lebensweisen zu besitzen. Und hin-gewiesen sei auch auf die Tatsache, dass es den Islam als monolithischen Block in der poli-tischen Wirklichkeit gar nicht gibt. Immerhinmeint man damit mehr als 1,2 Milliarden Men-schen, von denen eben nicht die Mehrheit imMittleren und Nahen Osten, sondern in Süd- undSüdostasien lebt.Brücken und Wege zu einem Dialog der Kulturensind also gefragter denn je. Angesichts zahlrei-cher und in naher Zukunft nicht zu lösender Kon-flikte in der arabischen Region mutet dieser Ge-danke zunächst vielleicht naiv an. Gleichwohlkann Dialogen die Möglichkeit der Konfliktregu-lierung zugesprochen werden, wenn drei Grund-sätze Beachtung finden: (1.) Jeder ernst gemein-te Dialog erkennt das Gegenüber als gleichwerti-gen Partner an. (2.) Tritt man in einen Dialog mitanderen Kulturen ein, öffnet sich der eigene Ho-rizont, das Wissen um die andere Kultur verän-dert sich und führt zu einem perspektivenreiche-ren Blick auf die „eigene“ und auf die „fremde“Kultur. (3.) Erst diese gegenseitige und von Res-pekt getragene Kenntnis ermöglicht die Besin-nung auf einen beiderseitig zu akzeptierendenWertekanon. Die Überführung dieses Gedanken-gangs in die politische Realität steht noch aus,bleibt aber angesichts der politischen Situationin der arabisch-islamischen Welt ein dringendesAnsinnen.

Gerade dieses Ansinnen ist das verbindende Mo-ment der Beiträge in diesem Heft der Zeitschrift„Der Bürger im Staat“. Die beiden einleitendenBeiträge stellen eine politisch interessante Hy-pothese zur Diskussion: Wenn der Westen nichthilflos zusehen will, wie in den arabischen Staa-ten unter dem Druck der Globalisierungsprozes-se islamistische Fundamentalisten an Macht undEinfluss gewinnen, muss er in einen aktiven Dia-log mit der arabischen Welt treten. Dies heißtfreilich auch, dass islamische Länder, die für einedemokratische Reform ihrer Staatensysteme dieHilfe des Westens benötigen, zu Zugeständnis-sen bereit sind, abwehrende und fordernde Posi-tionen zurückstellen und den Dialog ernsthaftaufzunehmen bereit sind (vgl. die Beiträge vonPrinz El Hassan bin Talal und Hans Küng). Gegenwärtig steht die internationale Staaten-gemeinschaft vor der entscheidenden Frage, wiesich die Beziehungen zwischen den drei großenReligionen Judentum, Christentum und Islam in Zukunft gestalten werden. Die Optionen sind nur allzu deutlich geworden: Entweder Rivali-tät und Zusammenprall oder friedfertiger Dia-log zwischen den Religionen und Kulturen. Alle drei Religionen bewegen sich in einem stetenSpannungsfeld zwischen Bewahrung und In-fragestellung und haben in der Vergangenheitstets Antworten auf neue historische Herausfor-derungen gefunden. Extrempositionen könnendann vermieden und überbrückt werden, wenneine Besinnung auf die wahre Substanz, auf denKern der jeweiligen Religion erfolgt (vgl. den Bei-trag von Hans Küng). Die alleinige Konzentration auf die Gegenwartverstellt den Blick auf die Vergangenheit, in derdie friedliche Koexistenz von Religionen und Kul-turen zu kreativen Symbiosen und gegenseitigerBereicherung führte. Gerade die Geschichte derjüdisch-arabischen Beziehungen zeigt, dass dieMehrheit der Juden in der islamischen Welt überviele Jahrhunderte hinweg an der kulturellen,wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entfal-tung dieser Region ihren Anteil hatte. Juden undMuslime lebten im Laufe ihrer gemeinsamen Geschichte weithin in Frieden miteinander undschufen kulturelle und wissenschaftliche Quel-len, aus denen das christliche Europa schöpfenkonnte (vgl. den Beitrag von Stefan Schreiner). Die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubensund seine muslimische Nachgeschichte zeigensich exemplarisch an der „Weihnachtsgeschich-te“ im Koran. Im Koran finden sich zwei Suren, die

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Parallelen zu den Ereignissen und Figuren imNeuen Testament aufweisen. In dieser Betrach-tungsweise kann die „Weihnachtsgeschichte“ alsGrundlage für einen Dialog zwischen Christenund Muslimen gelesen werden. Ein Dialog, derdas Gemeinsame im Lichte des Trennenden unddas Trennende im Lichte des Gemeinsamen kom-munizierbar macht und Respekt vor dem jeweili-gen Glauben fordert (vgl. den Beitrag von Karl-Josef-Kuschel).Für die islamisch-arabische Welt geht es zukünf-tig auch darum, wie sie ihre kulturelle und reli-giöse Substanz mit den politischen Herausfor-derungen des 21. Jahrhunderts verbinden kann.Hinsichtlich der politischen Dimension ist dieFrage entscheidend, wie Islam und moderne De-mokratie zueinander finden. Stellvertretend fürdie vielen Hemmnisse, die es in arabischen Ge-sellschaften noch zu beseitigen gilt, wird dies an der politischen, sozialen und ökonomischenDiskriminierung der Frauen aufgezeigt. Arabi-sche Frauen haben in orientalischen Gesell-schaften schon früh versucht, ihre Interessenund Rechte als eigenständige Akteurinnenwahrzunehmen und zu verteidigen (vgl. den Bei-trag von Renate Kreile). Der gegenwärtig pro-pagierte Islamismus scheint allerdings den po-litischen und sozialen Spielraum der Frauen in arabisch-islamischen Gesellschaften einzu-schränken. Je nach politischer und/oder religiö-ser Ausrichtung der Frauenbewegungen führtdies zu unterschiedlichen Strategien, Allianzenund Kontroversen. Kultureller Austausch und interkulturelle Be-gegnungen brauchen Orte, Foren und Anlässe.Am Beispiel zweier wegweisender Einrichtungen,dem Institut du Monde Arabe (Paris) und dem In-stitut für Auslandsbeziehungen (Stuttgart), wer-den Möglichkeiten und Formen der Begegnung,des Kulturaustausches und der Pflege der kultu-rellen Partnerschaft zwischen dem Westen undder arabischen Welt aufgezeigt. Erklärte Absichtbeider Institute ist es, durch die wechselseitigeVermittlung von Kultur fassbare „Außenpolitik“zu betreiben, eine Brücke zu anderen Ländern zuschlagen und den interkulturellen Dialog zu för-dern (vgl. die Beiträge von Nasser El Ansary undSebastian Körber).Kulturschaffende verstehen sich als Botschafterihres Landes, wollen Einsichten in und Verständ-nis für andere Lebenswelten vermitteln. Obwohldie deutschsprachige Literatur arabischstämmi-ger Schriftstellerinnen und Schriftsteller sprach-

lich und inhaltlich äußerst vielseitig ist, müssendie Autorinnen und Autoren gegen die ihnennoch heute zugedachte Rolle des fabulierendenGeschichtenerzählers aus dem „märchenhaftenOrient“, der das Exotische, Sinnliche und Fantas-tische thematisiert, ankämpfen. Das themati-sche Interesse arabischstämmiger Autoren giltvielmehr der konfliktbehafteten Realität, der Zer-störung traditioneller Lebensformen bzw. kultu-reller Praktiken durch den sozialen Wandel undder alltäglichen Gewalt, die mit den militärischenAuseinandersetzungen in der Region einher geht.Im Gegensatz zu den Projektionen und Sehn-süchten des westlichen Publikums entpuppt sichdie scheinbare Idylle des Orients als bedrohlicherOrt (vgl. den Beitrag von Manar Omar).Das (Wunsch-)Bild vom Orient wird in starkemMaße von der Medienrezeption geprägt. Enga-gierte Filmschaffende aus arabischen Ländernmüssen sich nicht nur mit der Konkurrenz von„Hollywood“, sondern auch mit der lokalen, kommerziellen Filmindustrie messen. Außerdembringen es Mechanismen der Filmförderung mitsich, dass arabische Filme nur dann den Weg zumeuropäischen Publikum finden, wenn sie in denGenuss von Fördergeldern kommen. Wenn in die-sen Filmen zuweilen der exotische Blick bedientwird, kommt er der „Leseweise“ des westlichenPublikums entgegen, weil er „ihr“ Bild der arabi-schen Region bestätigt. Europa fördert zwar denarabischen Film, läuft jedoch Gefahr, das Bildvom so genannten „fremden Orient“ zu reprodu-zieren (vgl. den Beitrag von Viola Shafik).Die Beiträge dieser Ausgabe der Zeitschrift „DerBürger im Staat“ gehen auf die Vorlesungsreihe„Die Westen und die arabische Welt. Brücken undWege zu Dialog und Verständigung“ zurück, diefederführend vom Verein arabischer Studentenund Akademiker an der Eberhard Karls Univer-sität in Tübingen veranstaltet wurde. Allen Auto-rinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen de-taillierte Informationen vermitteln, für Einblickein die arabische Welt sorgen und für einen Dialogder Kulturen werben, sei an dieser Stelle gedankt.Besonderer Dank gebührt Herrn Adwan Talebvom Verein arabischer Studenten und Akademi-ker für seine Bemühungen und Übersetzungsar-beiten, die maßgeblich zum Zustandekommender Veröffentlichung beigetragen haben. Dankgebührt weiterhin Robin Bär für die Bildauswahlund nicht zuletzt dem Schwabenverlag für diestets gute und effiziente Zusammenarbeit.

Siegfried Frech

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Mit Bedauern und gleichzeitig mit Freude grü-ße ich Sie heute anlässlich der Vorlesungsrei-he „Der Westen und die arabische Welt: Brü-cken und Wege zu Dialog und Verständigung“- mit Bedauern, da mein Terminplan es mirnicht erlaubt, heute in Tübingen anwesend zusein, und dennoch mit Freude darüber, dass dieeinleitenden Worte in meinem Namen gespro-chen werden. Der Dialog und der Versuch, den „Anderen“ imKontext einer westlich-arabischen Welt zuverstehen, sind keine neuen Unterfangen. DieInteraktion zwischen den beiden Regionenwar über einen Zeitraum von mehr als tau-send Jahren immer ein steter Fluss, ein Aus-tausch von Waren, Ideen und Menschen, diezu einem gemeinsamen mediterranen Erbebeigetragen haben. Seit dem 11. Septemberhat der Dialog allerdings eine neue Dimensionangenommen. Die Themen Zivilisation, Kulturund Globalisierung sind zu Schlüsselfaktorengeworden bei der Auseinandersetzung mitMenschen, die aus so genannten „fremden“Ländern stammen.Professor Mircea Malitza von der Black SeaUniversity sprach kürzlich von „einer Welt und10.000 Kulturen“. Das ist auch mein Verständ-nis von Kultur: ein weltweites Teilen von Wer-ten. In diesem Zusammenhang sehe ich Kulturauch als einen Mechanismus, der Konflikte ver-meiden hilft. Ich möchte also gern dazu anre-gen, dass wir uns mit vereinten Kräften um ei-ne gemeinsame Geisteshaltung bemühen - ichsage dies vor dem Hintergrund meiner bisheri-gen Arbeit am Dialog zwischen Kulturen undZivilisationen. Ich glaube an eine Interaktionzwischen meiner Kultur und Ihrer Kultur, dennwenn Sie zurückblicken auf die Keilschriftenund auf Mesopotamien, werden Sie auf dasBuch des tugendhaften Märtyrers („Book of theVirtuous Sufferer“) und das Buch Hiob stoßenund Sie werden erkennen, dass es vieles gibt,das uns verbindet. Ich möchte allerdings vor-schlagen, dass wir heute nicht über Meta-physik sprechen, sondern darüber, wie wir einegemeinsame Denkweise fördern können, mitder wir Armut, Rassismus, Terrorismus, Un-gleichheit, Hass und Intoleranz bekämpfenkönnen – als einen unumgänglichen morali-schen Imperativ für jeden von uns. In dem Be-streben, ein Forum zu schaffen, das solche

kulturellen Fragen an die erste Stelle setzt, ha-be ich im Juni dieses Jahres das „Parlament der Kulturen“ in Istanbul mitbegründet. MeineHoffnung ist es, dass diese Initiative den Impulsgibt für weitere Projekte wie zum Beispiel die„School of Mediterranean Humanities“.1

Das mächtige und komplexe Phänomen derGlobalisierung hat die Möglichkeiten des Dia-logs, der Verständigung und Koexistenz gewal-tig erweitert, wobei ein bisher ungeahntes Maßan Verbundenheit erreicht wurde. Globalisie-rung ist ein Faktum. Ein Faktum, dem wir unsvoll und ganz stellen müssen. Das soll jedochnicht heißen, dass wir uns mit der Idee einerlangweiligen homogenen Welt abfinden soll-ten, die von einer einzigen kulturellen Perspek-tive geprägt ist, im Gegenteil. Die gemäßigtenStimmen jeder Kultur und Gesellschaft zu-sammenzubringen, war in den letzten Jahreneine größere Herausforderung, nicht nur dieStimmen gegen den Extremismus, der alle Zivi-lisation bedroht, sondern auch die Stimmen füreine lebenswerte Zukunft.Globalisierung suggeriert, dass eine Kultur un-weigerlich alle anderen dominieren wird, und

besagte Kultur ist ein westlicher, säkularer Ma-terialismus, der vielen Völkern fremd ist. Hu-manitäre Ziele können jedoch nur dann er-reicht werden, wenn wir uns auf die Werte vonMenschen einlassen. Diese sind keine unverän-derlichen Abstrakta, sondern stützen sich in ih-rer Identität auf ein Gefühl von kultureller undtraditioneller Sicherheit, auf ihre „soft secu-rity“ – und diese schließt ihre religiöse Kul-tur mit ein. Die Wirtschaft ist dabei durchaus von Bedeutung, doch sie hängt von politi-schen Schwankungen ab, und Politik wiederumist häufig von Eigennutz gesteuert. Ich setze mich daher schon seit längerem für eine Rich-tungsänderung ein: weg von der „Ökonopoli-tik“ oder „Petropolitik“ hin zu einer „Anthropo-litik“ – einer Politik, die das Wohlergehen deseinzelnen Menschen zum Ziel hat. Der israeli-sche Regierungsberater Yehezkel Dror schreibtin ähnlicher Weise von einer notwendigen Be-wegung von der „Staatskunst“ hin zur „Men-schenkunst“, von „raison d'état“ zu „raison d'-humanité“. Ich glaube an eine Globalisierung von Werten -nicht nur an eine Globalisierung von Politik und

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GELEITWORT

Brücken und Wege zu Dialog und VerständigungPRINZ EL HASSAN BIN TALAL

KONFESSIONEN

ÜBERSCHREITENDES

FESTHALTEN AN

GEMEINSAMEN

HUMANITÄREN WERTEN

IST EINE NOTWENDIGE

VORAUSSETZUNG FÜR

EINE FUNKTIONIERENDE

BÜRGERGESELLSCHAFT.MIT EINEM GEMEIN-SAMEN GEBET

GEDENKEN CHRISTEN

UND MUSLIME DER

OPFER, DIE BEI DEN

TERRORANSCHLÄGEN

AM 11.9.2001 UMS

LEBEN GEKOMMEN SIND.picture alliance / dpa

Anlässlich der Vorlesungsreihe „Der Westen und die arabische Welt: Brücken und Wege zu Dialog und Verständigung“formulierte Prinz El Hassan bin Talal vonJordanien ein Gruß- und Geleitwort. DasGrußwort wurde von Dr. Ibrahim Ashary(Verein Arabischer Studenten und Aka-demiker Tübingen) auf Englisch vorge-tragen.Die Übersetzung aus dem Englischen be-sorgten Jessica Kneissler und Ute Bech-dolf (Deutsch-Amerikanisches InstitutTübingen).

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Wirtschaft. Wenn der 11. September eine neueWeltordnung verursacht hat, glaube ich, dasses eine Ordnung ist, die einer bestimmten Rich-tung und bestimmten Zielen unterworfen ist, sowie es jede menschliche Weltordnung seinmuss. Nur wenn wir global denken und regio-nal handeln, können wir das Universale aufwer-ten und gleichzeitig unsere Unterschiede res-pektieren. Als ich im letzten Jahr in Paris von derSorbonne eine Ehrendoktorwürde erhielt,sprach ich über die Bedeutung einer „conscien-ce universelle et valeurs partagés“ - eines glo-balen Bewusstseins und gemeinsamer Werte.Übertragen wir diese Denkweise auf die inter-nationalen Beziehungen, beispielsweise aufden Nahen Osten oder andere konfliktreicheRegionen, brauchen wir einen Verhaltenskodexfür staatliche wie auch für nicht-staatliche Ak-teure. Wir sollten uns alle auf eine internatio-nal anerkannte Richtlinie von Normen undMaßstäben einigen.Ein Dialog der Zivilisationen sollte nicht auto-matisch mit einem „clash of civilisations“, ei-nem Zusammenprall der Kulturen in Verbin-dung gebracht werden. Samuel Huntingtonsieht Kulturen letztendlich vor allem durch Re-ligion definiert. Sprechen wir dann also von ei-nem Dialog der Religionen? Dialog zwischenden verschiedenen Glaubensgemeinschaftenist meiner Meinung nach tatsächlich von gro-ßer Bedeutung. Aber dieser stellt nur einen Teildes ausgedehnten Dialogs zwischen und inner-halb von Kulturen dar.Aus meiner Sicht beginnt jeder Dialog mit derÜberwindung von drei Ängsten: die Angst vordem „Anderen“, die Angst vor den eigenen Leu-ten in der Heimat - jeder von uns ist darauf be-dacht, wie unsere Äußerungen zuhause aufge-fasst werden -, und die Angst vor Frieden - wieeine Art Agoraphobie (d.h. eine Angst vor offe-nen Plätzen). Aus diesem Grund habe ich ge-nauso wie Sadruddin Aga Khan [Anm. desÜbers. UN-Hochkommissar für Flüchtlinge1965-77] und viele andere bedeutende Philan-thropen einen Beitrag zur Publikation „Winningthe Human Race“2 von 1988 geleistet, in der wirzur Gründung einer „Neuen InternationalenHumanitären Ordnung“3 aufriefen. Dieser Vor-schlag wurde der UN-Generalversammlungseit 1987 jedes Jahr aufs Neue vorgelegt undwurde jedes Mal einstimmig befürwortet.„To know is to love“ - kennen heißt lieben:Wenn wir einfach mehr übereinander heraus-finden und uns kennen lernen, gewinnen wirEmpathie und verlieren das Potential für ge-waltsame Konflikte. Aber die Fakten zeigen,dass dieses Prinzip nur teilweise gilt. Wir dür-fen nicht vergessen, dass viele der furchtbar-sten Konflikte in Gemeinschaften ausgetragenwurden, die viele Jahre oder Generationen langzusammen gelebt hatten, und dass es Konfron-tationen nicht nur zwischen, sondern auchinnerhalb von Religionen und ethnischenGruppen gibt. Nachdem die „Konferenz gegenRassismus“ in Durban4 gescheitert war, wurdeich vom Generalsekretär der UN mit einerGruppe von bedeutenden Experten nach Genfeingeladen. Eine unserer Empfehlungen wardie eines „Racial Equality Index“, ein Index zurGleichstellung der Rassen, der eine wesentlicheGrundlage für den Kampf gegen Diskriminie-rung liefern soll - aber ich fürchte, es ist nochnicht genug daran gearbeitet worden.

Im Kaukasus beispielsweise unterstützte daschristliche Russland das muslimische Abcha-sien gegen das christliche Georgien, währendder islamische Iran das christliche Armeniengegen das muslimische Aserbaidschan aus-spielte. Im Libanon kannten sich die Muslime,Christen und Drusen gut; sie bekämpften sichdennoch gegenseitig und auch untereinander,innerhalb einzelner Sekten. Auf dem Balkankam auf jeden Konflikt zwischen Muslimen undChristen ein weiterer zwischen den Glaubens-genossen selbst: Die Moldawier bekämpftendie Russen, die Ungarn die Rumänen, die Ma-zedonier die Griechen und die Serben bekämpf-ten die Kroaten.Gegenseitige Vertrautheit reicht also nicht aus.Menschen können sich kennen und hassen.Unsere Anstrengungen, Bildung und Wissen zuverbessern, müssen weitergehen, in der Hoff-nung, dass dies zur Verbesserung der Lage bei-trägt, aber auch in dem Bewusstsein, dass Mei-nungsverschiedenheiten ebenfalls auftretenmüssen und auftreten werden. Daher ist eindauerhafter Frieden nicht machbar ohne er-lernten Umgang mit zwangsläufig auftreten-den Meinungsverschiedenheiten und Konflik-ten, die in einem zivilisierten Rahmen bereinigtwerden müssen. Aus diesem Grund glaube ichfest daran, dass das „Forum 2000“ in Prag, dieHelsinki-Konferenz und auch die ständigeKommunikation der Bürger untereinander, so-zusagen kleine Bürger-Konferenzen, unter-stützt und ausgebaut werden sollte. Einen derermutigendsten Momente in diesem Jahr er-lebte ich, als ich auf einen Austausch zwischenzwei Männern hingewiesen wurde, in dem esum Schafzucht ging - und zwar zwischen ei-nem Navajo-Indianer aus Albuquerque in NewMexico und einem jordanischen Beduinen ausder Gegend um Azraq. Das ist echtes „citizen'sconferencing“, das ist wahrer Dialog.Ein zivilisierter Rahmen für Uneinigkeiten kannnicht durch den Geist von Toleranz allein be-gründet werden, denn, wie mein Freund Ken-neth Cragg [Anm. des Übers. Religionswissen-schaftler und ehemaliger anglikanischer Bi-schof] erklärt hat: Toleranz ist trügerisch. Tole-ranz kann Intoleranz nicht tolerieren. Ich möch-te nicht von Ihnen toleriert werden, und ichmöchte Sie nicht tolerieren. Ich würde Sie ger-

ne respektieren; und ich möchte gerne, dass Sie,wenn schon nicht mich, dann wenigstens das,wofür ich stehe, respektieren. Das Papier derUnabhängigen Kommission für InternationaleMenschenrechte, in dem auf die Notwendigkeiteiner neuen internationalen Menschenrechts-ordnung hingewiesen wird, umreißt Empfeh-lungen für den Fortschritt in Bereichen wie Be-völkerung, Umwelt, Armut, Terrorismus, Bür-gerrechtsbewegungen, Frauen, Jugend, Tech-nologie, Medien, bedrohte Minderheiten, be-waffnete Gewalt und anderes mehr. Als Grund-prinzip haben wir im Schlussparagraphen fest-gelegt, dass „die Anerkennung des grundsätz-lichen Werts des Einzelnen und der moralischenWerte, die von allen Gesellschaften geteilt wer-den, die entscheidende Kraft hinter der An-strengung aller zum Wohle aller sein muss.“Vor vielen Jahren hielten wir in Windsor über-konfessionelle Gespräche zwischen Juden,Christen und Muslimen ab. Über einen Zeit-raum von 25 Jahren haben wir wiederholt un-sere gemeinsamen Erfahrungen und Arbeits-kräfte zusammengebracht, um eine einzigeSeite mit Prinzipien für einen abrahamischenDialog zu verfassen. Wir erkannten, dass sehrwohl ähnliche Werte in den unterschiedlichenreligiösen Traditionen existieren. Zusammen-arbeit ist der einfachste Weg, um die Metaphy-sik zur Seite zu stellen und eine gemeinsameBasis zu schaffen. Politisch und ökonomischgesehen bedeutet dies, dass die Beteiligung jedes Einzelnen an der Bürgergesellschaft ei-ne notwendige Voraussetzung ist für gesell-schaftliche Identität und für einen starken ge-meinschaftlichen Widerstand gegen Gewalt. Sura 11 (Sura Hud), Vers 118, besagt: „Und hät-te dein Herr es gewollt, so hätte Er die Men-schen alle zu einer einzigen Gemeinde ge-macht; doch sie wollten nicht davon ablassen,uneins zu sein“.Die Themen, die Sie in dieser Reihe diskutierenwerden, sind immens wichtig für das Strebennach einer friedlichen und harmonischen Welt,und es gibt keine bessere Gruppe in der Gesell-schaft als gerade unsere Jugend, um diese Din-ge zu erforschen: Ich wünsche gerade Ihnen ei-ne sehr erfolgreiche und fruchtbare Ausein-andersetzung und freue mich darauf, bald vonIhren Diskussionen und Befunden zu hören.

ANMERKUNGEN1 Dies ist eines der drei Projekte, die das „Parlament derKulturen“ zur Förderung in Betracht zieht. Die Idee einer„School of Mediterranean Humanities“ könnte als Mög-lichkeit betrachtet werden, die intellektuelle und kulturel-le Lücke zwischen Westeuropa und dem Mittelmeerraumsowie dem Mittleren Osten und Osteuropa mithilfe einesneuen Curriculums zu „Terra Media Studies“ zu schlie-ßen. Dieses Curriculum soll auf einer sorgfältigen Aus-wahl von Texten beruhen, die die gemeinsamen Wurzelnder mediterranen Zivilisation beleuchten.2 Bericht der Unabhängigen Kommission für Humanitä-re Angelegenheiten: Winning the Human Race. London1988.3 Resolution for a New International Humanitarian Or-der. Eingebracht von Jordanien und unterstützt von Al-gerien. 42. Sitzung der Generalversammlung der Verein-ten Nationen (UNGA), 9. Dezember 1987.4 Bericht der Gruppe der unabhängigen Experten für dieUN-Kommission für Menschenrechte über die Umsetzungder Erklärung von Durban und das Aktionsprogramm.Verabschiedet während des ersten Treffens vom 16. bis18. September 2003 in Genf. Für weitere Informationen:http://www.unhchr.ch

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Brücken und Wege zu Dialog und Verständigung

UNSER AUTOR

Prinz El Hassanbin Talal ist einherausragenderFörderer der Bezie-hungen zwischender arabischenund westlichenWelt. Die Katho-lisch-TheologischeFakultät der Eber-hard Karls Univer-sität Tübingen

verlieh Prinz El Hassan bin Talal 2001 dieEhrendoktorwürde und würdigte so seineVerdienste, die er sich im interreligiösen Dia-log zwischen Judentum, Christentum undIslam erworben hat.

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HUNTINGTONS GEGENPROGRAMM

Ein Gegenprogramm entwarf zehn Jahre spä-ter der US-Politologe Samuel Huntington – zu-erst vorsichtig in Frageform, später aber pro-grammatisch als neues Paradigma der Au-ßenpolitik: „A Clash of Civilizations – ein Zu-sammenprall der Zivilisationen“ (1993). Alsoein Kampf der Kulturen als unabwendbaresWeltszenario? Der Pentagon-Berater Hunting-ton hatte sich offenbar mit der inneren Dyna-mik und Vielgestaltigkeit der einzelnen Kultu-ren wenig beschäftigt, und komplexe histori-sche Zusammenhänge, fließende Übergänge,gegenseitige Befruchtung und friedliches Zu-sammenleben waren ihm weithin unbekannt.

So prognostizierte er den Zusammenprall zwi-schen „dem Westen“ und „dem Islam“ als be-sonders gefährlich. Damit leistete er ideologi-sche Schützenhilfe, um nach dem Ende des Kal-ten Krieges das Feindbild Kommunismus durchdas Feindbild Islam zu ersetzen, weiterhin eineamerikanische Hochrüstung zu rechtfertigenund, gewollt oder ungewollt, eine günstigeAtmosphäre für weitere Kriege zu schaffen. Schon ein Jahr vor Huntingtons Artikel – 1992unmittelbar nach dem unrühmlichen Ende desersten Irakkrieges unter Präsident Bush seniorund ein Jahrzehnt vor dem zweiten – hatte inden USA eine kleine Gruppe „neokonservativer“Ideologen und Machtpolitiker begonnen, ei-nen möglichen Präventivkrieg – um Ölreserven,amerikanische Hegemonie und Israels „Sicher-heit“ – ideologisch vorzubereiten. Nach demAmtsantritt von Präsident Bush junior 1999wurde der Krieg exakt geplant und der uner-hörte Massenmord vom 11. September 2001 alsAnlass genutzt, um einen Angriff zuerst gegenAfghanistan zu führen und ihn auch dem – anden Anschlägen unbeteiligten – Irak anzudro-hen. Nach vergeblicher Bemühung um eine Zu-stimmung des Weltsicherheitsrates und nacheiner geradezu Orwellschen Lügenkampagnebezüglich Kriegsgründen und -zielen beganndie Bush-Administration, von GroßbritanniensPremierminister Tony Blair unterstützt, am 18.März 2003 gegen Völkerrecht und Weltöffent-lichkeit den Krieg gegen den Irak mit massivermilitärischer Gewalt und gewann ihn schonbald scheinbar.

DIE OPTIONEN SIND DEUTLICHGEWORDEN

Aber statt den Terror zu besiegen, wurde ihm inAfghanistan, im Nahen Osten und in der gan-zen Welt erst recht zur Ausbreitung verholfen.Weitere Tragödien folgten: auf Bali, in Casa-blanca, Riad, Istanbul und Madrid. Hier kam esam 11. März 2004 zum ersten Mal auf europä-ischem Boden zu einem Massaker diesen Aus-maßes, welches durch die Parlamentswahlenzwei Tage darauf zur Abwahl der am Irakkriegbeteiligten spanischen Regierung führte, aberauch für die am Krieg nicht beteiligten LänderEuropas ein Fanal für eine dramatisch ver-schärfte Weltlage aufrichtete. Denn der Krieggegen zwei islamische Länder, aber auch dieseit Jahrzehnten vom Westen praktizierten„Double Standards“ hinsichtlich der men-schenverachtenden Besatzungspolitik Israelsunter Missachtung sämtlicher UN-Resolutio-nen haben die ganze islamische Welt in unsäg-liche Wut, Verbitterung und Verhärtung ge-stürzt. Der „Clash of Civilizations“ erscheintjetzt als „Self-fulfilling prophecy“.Wir befinden uns zweifellos in einer heiklenSchlüsselphase für die Neugestaltung derinternationalen Beziehungen, des Verhältnis-ses Westen-Islam und auch der Beziehungenzwischen den drei abrahamischen ReligionenJudentum, Christentum und Islam. Die Optio-nen sind deutlich geworden: Entweder Riva-lität der Religionen, Zusammenprall der Kultu-

ren, Krieg der Nationen – oder Dialog der Kul-turen und Frieden zwischen den Religionen alsVoraussetzung für Frieden zwischen den Na-tionen! Sollten wir angesichts der tödlichenBedrohung der gesamten Menschheit nichtanstatt neue Dämme des Hasses, der Rache undFeindschaft aufzurichten, lieber die Mauerndes Vorurteils Stein um Stein abtragen und da-mit Brücken des Dialogs bauen, Brücken gera-de auch zum Islam? Weder eine Verwischungder Gegensätze, noch eine synkretistische Ver-mischung erscheinen sinnvoll. Vielmehr ist nureine redliche Annäherung und Verständigungangezeigt, die in beidseitigem Selbstbewusst-sein, in Sachlichkeit und Fairness und im Wis-sen um das Trennende wie das Verbindendegründet.

STATT „CLASH“ DIALOG MIT DEM ISLAM

Nur wenn es gelingt, die gewalttätigen Extre-misten zu isolieren und die gemäßigten Musli-

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DIALOG STATT KONFRONTATION

Der Westen und der IslamHANS KÜNG

Es sind nun fast 25 Jahre her, dass HansKüng das von ihm und Walter Jens neubegründete Studium Generale an derUniversität Tübingen mit einer Vorle-sung über „Ökumenische Theologie.Perspektiven für einen Konsens der Zu-kunft“ eröffnete. In dieser Vorlesungplädierte er für eine „Ökumene derWeltreligionen“, auch mit dem Islam,ohne Leugnung der Differenzen, jedochim Bewusstsein der großen Gemeinsam-keiten. Nach dem 11. September 2001und dem zweiten Irakkrieg steht dieinternationale Staatengemeinschaft vorder Schlüsselfrage, wie sich die Bezie-hungen zwischen den drei ReligionenJudentum, Christentum und Islam in Zu-kunft gestalten werden. Die Optionensind nur allzu deutlich geworden: Ent-weder Rivalität der Religionen und Zu-sammenprall der Kulturen oder Dialogder Kulturen und Frieden zwischen denReligionen. Alle drei Religionen be-wegen sich in einem steten Spannungs-feld zwischen Bewahrung und Infrage-stellung und haben in der Vergangen-heit stets Antworten auf neue welthis-torische Herausforderungen gefunden.Die beiden Extrempositionen „Bewah-rung“ und „Infragestellung“ können nurdann überbrückt werden, wenn eine Be-sinnung auf die wahre Substanz, aufden Kern der jeweiligen Religionen er-folgt. Mehr noch: In Bezug auf den Islamgeht es darum, diese Substanz mit denpolitischen und religiösen Herausforde-rungen des 21. Jahrhunderts zu verbin-den. Hinsichtlich der politischen Dimen-sion ist die Frage entscheidend, wie Is-lam und moderne Demokratie zueinan-der finden.

Kein Friede unter den Nationenohne Frieden unter den Religionen.Kein Friede unter den Religionenohne Dialog zwischen den Religionen.

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me zu stärken, wenn es gelingt, Brücken desVertrauens zu bauen und die Beziehungen zwi-schen der westlichen und der islamischen Weltwieder zu stabilisieren, nur wenn sich Israelis,Araber und „Westler“, Juden, Christen undMuslime nicht mehr als Gegner, sondern alsPartner verstehen und behandeln, können dieunüberwindbar scheinenden politischen, wirt-schaftlichen, sozialen und kulturellen Proble-me der Gegenwart gelöst werden und kann soein Beitrag zu einer friedlicheren Weltordnunggeleistet werden.Deshalb fordern heute viele: Kein Rückfall indas von den europäischen Nationen in der Mo-derne praktizierte, aber nach dem ZweitenWeltkrieg erfreulicherweise überwundene Pa-radigma der politisch-militärischen Konfron-tation, Aggression und Revanche! Vielmehr eine entschiedene Realisierung des in der UN-Charta festgehaltenen und im Rahmen der Eu-ropäischen Union am weitesten fortgeschritte-nen neuen, „nach-modernen“ Paradigmas derpolitischen, wirtschaftlichen, kulturellen Ver-ständigung, Kooperation und Integration. Frie-

den und Freiheit können auf Dauer nur auf derBasis von Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, Men-schenrechten und ethischen Standards er-reicht werden.1 Zum Dialog sind nicht die Zivi-lisationen oder Kulturen als solche aufgefor-dert, die ja keine Subjekte und keine geschlos-senen Einheiten sind, sondern die einzelnenMenschen und ganz bestimmte Gruppen, dieaus unterschiedlichen kulturellen Prägungenkommen, vor allem aber die politisch, wirt-schaftlich und kulturell verantwortlichen Eli-ten.

WORIN LIEGT EIGENTLICH DIE KRAFT DES ISLAM?

Im Blick auf den Islam sollten sich Christen wieNichtchristen die Frage stellen: Warum beken-nen sich 1,2 Milliarden Menschen mit steigen-der Tendenz in den mittleren Regionen unsererErde von der Atlantikküste Afrikas bis zu denindonesischen Inseln, von den Steppen Zen-tralasiens bis nach Mosambik zu dieser einenReligion? Ja, die große Frage ist: Worin eigent-lich liegt die Kraft des Islam, worin liegt seineFaszination?2 Ein zentraler Gesichtspunkt sollherausgehoben werden: Der Islam scheint bisanhin weniger vom religiösen Substanz- undProfilverlust betroffen zu sein als Judentumund Christentum. Jedenfalls kann jeder Muslimauch heute noch ohne hoch komplizierte dog-matische Formeln ausdrücken, was Botschaft,Wesen und konstitutive Elemente des Islamsind.

ZWISCHEN BEWAHRUNG UNDINFRAGESTELLUNG

Die Frage nach dem, was Substanz, Fundament,Zentrum einer Religion ist, stellt sich allerdingsheute für alle drei prophetischen Religionen inrecht grundsätzlicher Weise, und darauf möch-te ich im Folgenden genauer eingehen.

Was soll in unserer je eigenen Religion unbe-dingt bewahrt werden? Da gibt es in allen dreiprophetischen Religionen extreme Positionen:Manche sagen: „Nichts soll bewahrt werden!“,die anderen hingegen: „Alles soll bewahrt wer-den!“:� „Nichts“ soll bewahrt werden, sagen gänz-

lich säkularisierte Christen: Sie glauben oftweder an Gott noch an einen Sohn Gottes,sie ignorieren die Kirche und verzichten aufPredigt und Sakramente. Bestenfalls schät-zen sie das kulturelle Erbe des Christen-tums: die Kathedralen oder Johann Sebas-tian Bach, die Ästhetik orthodoxer Liturgieoder auch paradoxerweise den Papst, dessenSexualmoral und Autoritarismus sie selbst-

verständlich ablehnen, als eine Säule deretablierten Ordnung.

� „Nichts“ soll bewahrt werden, sagen auchvöllig säkularisierte Juden: Sie halten nichtsvom Gott Abrahams und der Väter, sie glau-ben nicht an dessen Verheißungen, ignorie-ren synagogale Gebete und Riten und lä-cheln über die Ultraorthodoxen. Für ihr reli-giös entleertes Judentum haben sie vielfacheine moderne Ersatzreligion gefunden: denStaat Israel und die Berufung auf den Ho-locaust, was auch säkularisierten Judenimmerhin eine jüdische Identität und Soli-darität verschafft, nicht selten aber auchden menschenverachtenden Staatsterrorgegen Nichtjuden zu rechtfertigen scheint.

� „Nichts“ soll bewahrt werden, sagen aberauch säkularisierte Muslime: An einen Gottglauben sie nicht, den Koran lesen sie nicht,Muhammad ist für sie kein Prophet und dieScharia lehnen sie rundweg ab; die fünfPfeiler des Islam spielen für sie keine Rolle.Bestenfalls ist der Islam, freilich religiös ent-leert, zu gebrauchen als Instrument für ei-nen politischen Islamismus und arabischenNationalismus.

Es ist verständlich, dass als Gegenreaktion aufdieses „Nichts bewahren!“ der umgekehrte Ruflaut wird: „Alles bewahren!“. Alles soll so blei-ben, wie es ist und angeblich immer war:� „Kein Stein des großartigen katholischen

Dogmengebäudes darf herausgebrochenwerden, das Ganze würde wanken“, posau-nen römische Integralisten.

� „Kein Wort der Halacha darf vernachlässigtwerden; hinter jedem Wort steht der Willedes Herrn (Adonaj)“, protestieren ultraor-thodoxe Juden.

� „Kein Vers des Koran darf ignoriert werden,jeder ist in gleicher Weise unmittelbar Got-tes Wort“, insistieren viele islamistischeMuslime.

Hier überall sind Konflikte vorprogrammiert,nicht nur zwischen den drei, sondern vor allemin den drei Religionen, wo immer diese Positio-nen kämpferisch oder aggressiv vertreten wer-den. Oft schaukeln sich die extremen Positio-nen gegenseitig hoch.

EXTREMPOSITIONEN BILDEN NICHT DIE MEHRHEIT

Doch die Wirklichkeit sieht nicht ganz so düs-ter aus. Denn die Extrempositionen bilden inden meisten Ländern, wenn sie nicht geradedurch politische, wirtschaftliche, soziale Fakto-ren aufgeladen werden, nicht die Mehrheit.Noch immer gibt es – je nach Land und Zeit ver-schieden groß – eine erhebliche Zahl von Ju-den, Christen und Muslimen, die – wiewohl inihrer Religion oft gleichgültig, träge oder igno-rant – doch keinesfalls alles in ihrem jüdischen,christlichen oder muslimischen Glauben undLeben aufgeben möchten. Die andererseitsaber auch nicht bereit sind, alles zu bewahren:Als Katholiken sämtliche Dogmen und Moral-lehren Roms zu schlucken oder als Protestan-ten jeden Satz der Bibel wortwörtlich zu neh-men, oder als Juden sich in allem an die Hala-cha zu halten, oder als Muslime sämtliche Ge-bote der Scharia streng einzuhalten.

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Der Westen und der Islam

WORIN LIEGT DIE KRAFT DES ISLAM? DER ISLAM SCHEINT

BIS HEUTE WENIGER VOM RELIGIÖSEN SUBSTANZ- UND

PROFILVERLUST BETROFFEN ZU SEIN ALS JUDENTUM UND

CHRISTENTUM. JEDER MUSLIM KANN AUSDRÜCKEN, WAS

BOTSCHAFT UND WESEN DES ISLAM SIND.picture alliance / dpa

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DIE GLAUBENSSUBSTANZ MUSSERHALTEN WERDEN

Wie auch immer: Blickt man nicht auf ir-gendwelche spätere geschichtliche Ausgestal-tungen und Ausprägungen, sondern besinntsich auf die Ur-Kunden, ursprünglichen Zeug-nisse, auf die „Heiligen Schriften“ der jeweili-gen Religion – Hebräische Bibel, Neues Testa-ment und Koran –, so kann kein Zweifel sein,dass das „Bleibende“ (was bleiben muss) in derbetreffenden Religion nicht einfach identischist mit dem „Bestehenden“ (was zur Zeit be-steht) und dass das, was den „Kern“, die „Sub-stanz“, das „Wesen“ dieser Religion ausmacht,von den „Heiligen Schriften“ der betreffendenReligion her bestimmt werden kann. Es geht al-so hier um eine ganz praktische Frage: Was sollin unseren Religionen, in der je eigenen Reli-gion das bleibend Gültige und ständig Ver-pflichtende sein? Erhalten bleiben muss nichtalles, wohl aber die Glaubenssubstanz, das Zen-trum und Fundament der jeweiligen Religion,ihrer Heiligen Schrift, ihres Glaubens. Die Glau-benssubstanz der jeweiligen Religion lässt sichin aller Kürze wie folgt darstellen.

Was also muss im Christentum bewahrt wer-den, wenn es nicht die „Seele“ verlieren soll?� Was immer eine historische, literarische

oder soziologische Bibelkritik kritisieren,interpretieren und reduzieren mag: Von denmaßgeblichen und geschichtsmächtig ge-wordenen christlichen Glaubensurkundenher, vom Neuen Testament (gesehen imKontext der Hebräischen Bibel) her ist derzentrale Glaubensinhalt Jesus Christus: Erals der Messias und Sohn des einen GottesAbrahams, er, wirksam auch heute durchdenselben Gottesgeist. Kein christlicherGlaube, keine christliche Religion ohne dasBekenntnis: „Jesus ist der Messias, Herr,Sohn Gottes!“ Der Name Jesus Christus be-zeichnet die (keineswegs statisch zu verste-hende) „Mitte des Neuen Testaments“.

Was muss im Judentum bewahrt bleiben, wennes nicht sein „Wesen“ verlieren soll?� Was immer eine historische, literarische

oder soziologische Kritik kritisieren, inter-pretieren und reduzieren mag: Von denmaßgeblichen und geschichtsmächtig ge-wordenen Glaubensurkunden, von der He-bräischen Bibel her sind der zentrale Glau-bensinhalt der eine Gott und das eine VolkIsrael. Kein israelitischer Glaube, keine He-bräische Bibel, keine jüdische Religion ohnedas Bekenntnis: „Jahwe (Adonaj) ist der GottIsraels und Israel sein Volk!“

Und was soll schließlich im Islam bewahrt blei-ben, wenn er noch „Islam“ im wörtlichen Sinnder „Hingabe“, der „Unterwerfung unter Gott“bleiben soll?� Wie langwierig auch der Prozess des Sam-

melns, Ordnens und Edierens der verschie-denen Suren des Koran war, so ist doch füralle gläubigen Muslime klar, der Koran istGottes Wort und Buch. Und wenn Muslimeauch durchaus einen Unterschied sehenzwischen den Suren von Mekka und denenvon Medina und den Offenbarungshinter-grund für die Auslegung in Betracht ziehen,

so ist doch die zentrale Botschaft des Koranvöllig eindeutig: „Es gibt keinen Gott außerGott, und Muhammad ist sein Prophet“.

Von daher sind auch die unterscheidendenStrukturelemente und bleibenden Leitideen desislamischen Glaubens und Lebens für alle Mus-lime sehr deutlich: Das Glaubensbekenntnis istdie zentrale Botschaft des Islam, der Eckstein,auf dem er ruht, sein erster „Pfeiler“. Dazu kom-men noch vier weitere: das tägliche Pflicht-gebet, die alljährliche Sozialabgabe, die alljähr-liche Zeit des Fastens und, womöglich, einmalim Leben die große Wallfahrt nach Mekka. Diessind die konstitutiven Elemente des Islam.Zentrum, Grundlage, Glaubenssubstanz desIslam war freilich wie die des Christentumsoder Judentums nie abstrakt-isoliert gegeben,sondern ist in den wechselnden Erfordernissender Zeit immer wieder neu interpretiert undpraktisch realisiert worden – in der heutigenUmbruchzeit mehr denn je.

EPOCHALE KONSTELLATIONEN UNDPARADIGMENWECHSEL

Der Islam hat wie auch Judentum und Chris-tentum immer wieder neue epochale Konstel-lationen durchgemacht – in Antwort auf im-mer wieder neue welthistorische Herausfor-derungen eine ganze Reihe grundlegender re-ligiöser Veränderungen, die man mit Recht alsrevolutionäre Paradigmenwechsel versteht.

Was das Christentum (vgl. S. 90) betrifft, so sindsich viele Christen nicht bewusst, � dass das Christentum in einem judenchrist-

lichen Paradigma entstanden ist;� dass dieses freilich schon früh von einem

griechisch-hellenistischen und später sla-wischen Paradigma (der östlichen Orthodo-xie) überlagert wurde;

� dass aber im Westen in den Jahrhundertennach der Konstantinischen Wende ein latei-nisches, typisch römisch-katholisches Para-digma von den Päpsten durchgesetzt wur-de, das, übersteigert, im 11. Jahrhundert zurSpaltung von West- und Ostkirche führte;

� dass im 16. Jahrhundert dieses mittelalter-liche römisch-katholische Paradigma in ei-ner revolutionären Umwälzung in weitenTeilen Europas, dann Amerikas abgelöstwurde durch die reformatorisch-protestan-tische Konstellation;

� dass aber auch dieses reformatorisch-pro-testantische Paradigma wie das römisch-katholische herausgefordert wurde durchdas aufgeklärte Paradigma der Moderne in Philosophie, Naturwissenschaft, Staats-und Gesellschaftsauffassung;

� dass wir nach den beiden Weltkriegen undden Totalitarismen im Übergang begriffensind in eine noch nicht eindeutig beschreib-bare nach-moderne Konstellation.

In der Geschichte des Islam lassen sich folgen-de Makroparadigmen (vgl. S. 91) heraus arbei-ten:� (1.) das ur-islamische Gemeinde-Paradigma

von Mekka und Medina zur Zeit des Prophe-ten Muhammads und der ersten vier Kalifen;

� (2.) das arabische Reichs-Paradigma derUmayyaden in Damaskus (661-750);

� (3.) das klassisch-islamische Weltreligions-Paradigma der Abbasiden mit Zentrum inBagdad (750-1258; die Herrschaft der Ab-basiden erlosch nach dem Mongolensturm);

� (4.) das Paradigma der Ulama und Sufis nachdem Mongolensturm im Zeitalter der Regio-nalisierung und später der drei islamischenGroßreiche (der türkischen Osmanen, persi-schen Safawiden und der indischen Groß-mogule);

� (5.) das islamische Modernisierungs-Para-digma, eingeleitet vor allem in Indien, inÄgypten und im Osmanischen Reich;

� (6.) das ökumenische Paradigma der Nach-Moderne: die große Frage für die Zukunft.

DIE GLEICHZEITIGKEIT DER PARADIGMEN

So erscheint also jede Religion nicht als einestatische Größe, wo angeblich alles schon im-mer so war, wie es heute ist, sondern vielmehrals lebendig sich entwickelnde Wirklichkeit, dieverschiedene epochale Gesamtkonstellationendurchgemacht hat. Dabei gilt eine erste ent-scheidende Einsicht: Auch die früheren Para-digmen des Islam können sich (außer das aller-erste) bis in die Gegenwart durchhalten! An-ders in den „exakten“ Naturwissenschaften: dakann das alte Paradigma (etwa das des Ptole-mäus) mit Hilfe der Mathematik und des Expe-riments empirisch verifiziert oder falsifiziertwerden; da kann die Entscheidung zugunstendes neuen Paradigmas (des Kopernikus) auflängere Sicht durch Evidenz „erzwungen“ wer-den. Im Bereich der Religion (wie der Kunst) je-doch ist dies anders: In Fragen des Glaubens,der Sitten und Riten kann nichts mathema-tisch-experimentell entschieden werden. Zwi-schen West- und Ostrom, oder zwischen Romund Luther ebenso wenig wie zwischen Sunni-ten und Schiiten, Fundamentalisten und Mo-dernisten. Und so verschwinden denn in denReligionen alte Paradigmen keineswegs not-wendigerweise. Vielmehr können sie nebenneuen Paradigmen durch Jahrhunderte hin-durch fortbestehen: das neue (das reformato-rische oder das moderne) neben dem alten(dem altkirchlichen oder dem mittelalter-lichen).

PERSISTENZ UND KONKURRENZ DER PARADIGMEN

Zur Beurteilung der Lage der Religionen ist die-se Persistenz und Konkurrenz unterschied-licher Paradigmen von größter Bedeutung. Diesführt zu der zweiten wichtigen Einsicht: Bisheute leben Menschen derselben Religion inverschiedenen Paradigmen! Sie sind von fort-bestehenden Grundbedingungen geprägt undbestimmten gesellschaftlichen Mechanismenunterworfen. So gibt es zum Beispiel im Chris-tentum noch heute römische Katholiken, diegeistig im 13. Jahrhundert (gleichzeitig mitThomas von Aquin, den mittelalterlichen Päp-sten und der absolutistischen Kirchenordnung)leben. Es gibt manche Vertreter östlicher Or-thodoxie, die geistig im 4./5. Jahrhundert ge-blieben sind (gleichzeitig mit den großen Kon-zilien und griechischen Kirchenvätern). Und fürmanche evangelikale Protestanten ist nach wie

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vor die vorkopernikanische Konstellation des16. Jahrhunderts (mit den Reformatoren vorKopernikus, vor Darwin) maßgebend. In ähnlicher Weise träumen manche Arabernoch dem großen arabischen Reich der Umay-yaden nach und wünschen sich die Vereinigungder arabischen Völker zu einer einzigen arabi-schen Nation („Panarabismus“). Andere abersehen nicht im Arabertum, sondern im Islamder Abbasiden das Völkerverbindende und ge-ben einem „Panislamismus“ den Vorzug. Gerade dieses Andauern, diese Persistenz undKonkurrenz früherer religiöser Paradigmen imHeute dürfte eine der Hauptursachen der Kon-flikte innerhalb der Religionen und zwischenden Religionen sein, Hauptursache der ver-schiedenen Richtungen und Parteiungen, derSpannungen, Streitigkeiten und Kriege.

MITTELALTER UND MODERNE

Als dritte wichtige Einsicht stellt sich sowohlfür das Judentum wie das Christentum wie denIslam die zentrale Frage: Wie verhält sich dieseReligion zu ihrem eigenen Mittelalter (zumin-dest in Christentum und Islam als die „großeZeit“ angesehen) und wie zur Moderne, wo mansich in allen drei Religionen in die Defensive ge-drängt sieht. Das Christentum hat nach der Re-formation einen weiteren Paradigmenwechsel,den der Aufklärung, durchmachen müssen. DasJudentum aber machte zuerst die Aufklärungdurch und erlebte im Anschluss daran zumin-dest im Reformjudentum eine religiöse Refor-mation. Der Islam aber machte keine religiöseReformation durch und hat von daher auch mitder Moderne bis auf den heutigen Tag ganz be-sondere Probleme.

Viele Juden, Christen und Muslime, die das mo-derne Paradigma bejahen, verstehen sichuntereinander besser als mit den eigenen Glau-bensgenossen, die in anderen Paradigmen le-ben. Umgekehrt können dem Mittelalter ver-haftete Römisch-Katholische sich zum Beispielin Fragen der Sexualmoral mit den „Mittelalter-lichen“ im Islam und im Judentum verbünden.

PARADIGMENANALYSE ZEIGT DIE WAHRE SUBSTANZ

Wer Versöhnung und Frieden will, wird um ei-ne kritisch-selbstkritische Paradigmenanalysenicht herumkommen. Nur so lassen sich Fragenbeantworten wie diese: Wo sind in der Ge-schichte des Islam (und natürlich auch der an-deren Religionen) die Konstanten und wo dieVariablen, wo Kontinuität und wo Diskontinu-ität, wo Übereinstimmung und wo Widersprü-che? Dies ist eine vierte Einsicht: Zu bewahrenist vor allem das Wesen, das Fundament, derKern, die Substanz einer Religion und von da-her die vom Ursprung her gegebenen Konstan-ten. Nicht unbedingt zu bewahren ist alles das,was vom Ursprung her nicht wesentlich ist, wasSchale und nicht Kern, was Ausbau und nichtFundament ist. Aufgegeben (oder auch umge-kehrt entwickelt) werden können, wenn es sichals notwendig erweist, alle die verschiedenar-tigen Variablen. So verhilft denn eine Paradig-menanalyse angesichts all des religiösen Wirr-warrs gerade im Zeitalter der Globalisierung zueiner globalen Orientierung.

DIE SCHICKSALSFRAGE FÜR DEN ISLAM

Im letzten Abschnitt soll zu dem weit verbrei-teten Feindbild des Islam ein Hoffnungsbildskizziert werden, das freilich nicht mit einemIdealbild verwechselt werden soll. Sozusagengegen das wohlbekannte „Worst Case-Scena-rio“ des Samuel Huntington ein „Best Case-Scenario“, das als anspornende Vision für dieZukunft realistisch hoffen lässt.Die entscheidende Frage bleibt: Wird es früheroder später in einigen islamischen Schlüssel-

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HANS KÜNG

UNSER AUTOR

Prof. Dr. HansKüng, geb. 1928;Studium der Phi-losophie und The-ologie u. a. in Romund Paris; 1960-63 OrdentlicherProfessor der Fun-damentaltheolo-gie an der Katho-lisch-Theologi-schen Fakultät der

Universität Tübingen; 1962-1965 OffiziellerBerater des Zweiten Vatikanischen Konzils,ernannt von Papst Johannes XXIII.; wegenseiner Infragestellung der Unfehlbarkeit desPapstes wurde ihm 1979 vom Vatikan diekirchliche Lehrbefugnis entzogen; 1963–1980 Ordentlicher Professor der Dogmatikund ökumenischen Theologie und Direktordes Instituts für ökumenische Forschung derUniversität Tübingen; seit 1995 ist HansKüng Präsident der Stiftung Weltethos;1996 Professor Emeritus der ökumenischenTheologie.

VERFASSUNGSREFERENDUM

IM IRAK (15.10.2005):DIE ENTSCHEIDENDE FRAGE

WIRD SEIN, OB ES FRÜHER

ODER SPÄTER IN ISLAMI-SCHEN LÄNDERN DEN

NOTWENDIGEN FREIRAUM

GIBT, UM DIE SUBSTANZ DES

ISLAM MIT DER MODERNEN

DEMOKRATIE ZU VERBINDEN

UND EIN DEMOKRATISCHES

SYSTEM MIT GEWALTEN-TEILUNG ZU ETABLIEREN.picture alliance / dpa

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ländern den notwendigen Freiraum geben, dieSubstanz des Islam mit den Herausforderun-gen des 21. Jahrhunderts zu verbinden? Ent-scheidend ist dies nicht nur für eine zukunfts-orientierte Interpretation und Diskussion desIslam, sondern auch für eine ehrliche Anwen-dung und konsequente Umsetzung der Ergeb-nisse, was für Wissenschaft und Gesellschaftüberhaupt von allergrößter Bedeutung ist. Welche Tendenzen werden sich – in Rechtswis-senschaft und Rechtsprechung, Umma undStaat, Wissenschaft und Gesellschaft –schließlich politisch durchsetzen? Welcheswerden die für die heutige Zeit relevanten Er-ben einer 1400-jährigen Religion und Kultursein: (1.) die orthodoxen Traditionalisten, (2.)die ideologischen Säkularisten oder (3.) die re-ligiös wie politisch Innovativen? Die – mit kla-rem Blick für die inzwischen vollzogenen Para-digmenwechsel – gegenüber allem Beharrenauf der Tradition eine Öffnung des seit Jahr-hunderten geschlossenen Tors der eigenstän-digen Interpretation praktizieren, die eine„Übersetzung“ der ursprünglichen islamischenBotschaft ins Heute vornehmen, um so einedemokratische Gesellschaft und kreative Kul-tur mit innovativer Wissenschaft und leis-tungsfähiger Wirtschaft zu ermöglichen? Insofern schauen heute Muslime in aller Weltauf die Türkei, früher Vorreiterin eines radika-len Säkularismus: Ob dieses Laboratorium fürislamische Demokratie unter MinisterpräsidentErdogan erfolgreich sein wird. Wo keine aktiveIslamisierungspolitik betrieben wird und Reli-gion durchaus Privatsache bleibt, wo aber docheine persönliche muslimische Glaubenshal-tung und Glaubenspraxis sich indirekt auch inder Öffentlichkeit auswirken darf. Wie immerman zur schwierigen Frage der Aufnahme derTürkei in die Europäische Union steht, man soll-te dieses historische Experiment mit größtemWohlwollen unterstützen.Denn gerade so könnte der Islam seinen Beitragzur Weltgesellschaft leisten, in der trotz allerkulturellen Unterschiede Menschenrechte undMenschenpflichten als gemeinsame Basis ge-sehen würden.

DER POLITISCHE ASPEKT DERSCHICKSALSFRAGE

Die Frage nach dem Freiraum halte ich geradeangesichts der zahlreichen Widerstände undZwänge für die Schicksalsfrage für den Islam;sie ist zugleich politischer wie theologischerNatur:

Was erstens die politische Dimension betrifft,so hoffen viele Muslime von Marokko bis Iran,von Afghanistan bis Indonesien mehr oder we-niger offen, dass � Islam und moderne Demokratie sich finden:

Sie haben die Hoffnung, dass der Islam, dertheoretisch (schon im sunnitischen Kalifatwie im schiitischen Imamat) auf die musli-mische Brüderlichkeit verpflichtet ist, in derpolitischen Praxis nicht weiterhin autoritärbleibt. Also keine Art theokratischer Klerikal-staat, wo selbst ernannte Stellvertreter Got-tes auf Erden sich anmaßen, als Herrscher,Gesetzgeber und Richter zugleich aufzutre-ten, angeblich allein Gott und nicht auchdem Volke verantwortlich; und auch keine„Heilige Schrift“, welche die nationale Ver-fassung ersetzt oder völlig determiniert (bishin zum allgemeinen Schweinefleisch- undAlkoholverbot und zur Erlaubnis der Polyga-mie);

� ein demokratisches System mit Gewalten-teilung errichtet wird: Eine von der Geist-lichkeit unabhängige Regierung sowie un-abhängige Parteien, Glaubens- und Gewis-sensfreiheit, Widerstandsrecht und legaleOpposition. Für die Frauen das Recht der Ei-genverantwortung und der Teilnahme an al-len Bereichen des öffentlichen Lebens, an al-len Stufen der Bildung und allen politischenEntscheidungen, also gleiche Menschen-rechte wie für die Männer. Ein Staat, in wel-chem Nichtmuslime nicht nur die (im frühenMittelalter gewiss vorbildhafte) Position ei-ner geduldeten Minderheit, sondern volleBürgerrechte besitzen.

DIE RELIGIÖSE DIMENSION DERSCHICKSALSFRAGE

Was zweitens die religiöse Dimension betrifft,so hoffen viele entsprechend gebildete Musli-me, aufgeschlossene Ulama ebenso wie inter-essierte „Laien“, � dass ihr Streben nach einer heutigen Er-

kenntnissen und Erfordernissen entspre-chenden und so verantwortlichen Inter-pretation des Koran endlich mehrheitsfähigwird;

� dass die Muslime des 21. Jahrhunderts nichtan der Ungeschaffenheit und deshalb Voll-kommenheit, Unfehlbarkeit und Unverän-derlichkeit der 78.000 Worte des Koran (undmittelbar auch der Sunna des Prophetenund der Scharia überhaupt) festhalten müs-sen;

� dass sie vielmehr den geschichtlichen Cha-rakter der göttlichen Offenbarung (GottesWort im Prophetenwort, Gottes Wort be-zeugt durch Menschenwort) ernst nehmendürfen. Also in der Praxis keine buch-stabenfixierte Auslegung und traditionsfi-xierte Argumentationsmuster, sondern eineAuslegung nach Geist und Sinn des gesam-ten prophetischen Buches. Kein legalistischüberwuchertes, sondern ein nach den Maß-stäben des Ur-Islam geläutertes und für un-sere Zeit neu interpretiertes religiöses Erbe.Islam als Fundament, nicht fundamentalis-tisch, sondern zeitgemäß verstanden.

DREIFACHE HOFFNUNG

Ich bin nicht „blauäugig“. Ich bin Realist undmache mir keine Illusionen. Doch meine ganzeDialogarbeit zu Judentum, Christentum und Is-lam ist und bleibt trotz aller Enttäuschungenund Rückschläge getragen von einer dreifa-chen unerschütterlichen Hoffnung:� dass jede der drei prophetischen Religionen

aufgrund ihres spirituellen und ethischenReichtums ein wirkmächtiges Zukunftspo-tential besitzt;

� dass alle drei in Verständigung und Zu-sammenarbeit zu größerer Gemeinsamkeitgelangen können und

� dass alle drei Weltreligionen gemeinsam ei-nen unverzichtbaren Beitrag zu einer fried-licheren und gerechteren Welt leisten wer-den.

ANMERKUNGEN1 Zur spezifisch politischen Problematik habe ich 2003zusammen mit Dieter Senghaas und mehreren kompeten-ten Politikwissenschaftlern und Ethikern Stellung bezo-gen. Vgl.: Küng, Hans/Senghaas, Dieter (Hrsg.): Friedens-politik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehun-gen. München 2003. In meiner Einleitung habe ich früh-zeitig eine genaue historische Analyse „Wie es zumIrakkrieg kam“ gegeben, die sich in der Folge vielfach be-stätigt hat. 2 Darauf habe ich unlängst in einer Veröffentlichungeine umfassende Antwort gegeben; vgl. Küng, Hans: DerIslam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. München 2005.

LITERATURKüng, H.: Das Judentum. Die religiöse Situation der Zeit.München 1991Küng, H.: Das Christentum. Wesen und Geschichte. Mün-chen 1994Küng, H.: Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft.München 2004

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Der Westen und der Islam

Die Zeitschrift „Der Bürger im Staat“ wird herausgegeben von der LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Baden-Württemberg.Direktor der Landeszentrale: Lothar FrickRedaktion: Siegfried Frech, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax (07 11) 16 40 99-77.Herstellung: Schwabenverlag media gmbh, Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern (Ruit),Telefon (07 11) 44 06-0, Telefax (07 11) 44 23 49Vertrieb: Verlagsgesellschaft W. E. Weinmann mbH, Postfach 12 07, 70773 Filderstadt,Telefon (07 11) 7 00 15 30, Telefax (07 11) 70 01 53 10.Preis der Einzelnummer: € 3,33, Jahresabonnement € 12,80 Abbuchung.Die namentlich gezeichneten Artikel stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion dar. Für unaufgefordert eingesandteManuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung.Nachdruck oder Vervielfältigung auf Papier und elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mitGenehmigung der Redaktion.

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VORBEMERKUNG

Ein Thema wie dieses auf wenigen Seiten zu be-handeln, verlangt nachgerade die Kühnheit derIgnoranz. Im Folgenden kann es daher auchnicht einmal um einen Überblick über die Ge-samtgeschichte gehen, sondern allein um ei-nen Hinweis auf Themen und Fragestellungen,die im Kontext der jüdisch-arabischen Gesamt-geschichte zu bedenken wichtig sind.

WAS IST GESCHICHTE? WAS GESCHICHTSSCHREIBUNG?

Geschichte ist eine Funktion der Gegenwart.Geschichtsschreibung sagt mehr über die je-weilige Gegenwart aus als über die Vergangen-

heit, von der sie erzählt. Was einmal gewesenist oder gar „wie es eigentlich gewesen ist“, wieLeopold von Ranke (1795-1886) einst wollte,wissen wir nicht und werden es auch nie wis-sen können. Historiker sind Fachleute fürs Vor-hersagen der Vergangenheit für die Gegen-wart. Sie sagen uns nicht nur, was und wie vielan Vergangenheit im Gedächtnis zu behaltennötig ist, um Orientierung für die Gegenwart zuhaben. Sie sagen uns auch, wie die Vergangen-heit zu erinnern ist; dient sie doch der Erklä-rung, gar der Legitimation der Gegenwart.Kaum eine Geschichte illustriert dies anschau-licher als die Geschichte der Juden in der ara-bisch-islamischen Welt und die Darstellungdieser Geschichte innerhalb der letzten ein-hundertfünfzig Jahre. Das gilt im Blick auf de-ren Gesamtgeschichte nicht anders als im Blickauf einzelne ihrer Abschnitte.

AUF DER SUCHE NACH DEM „GOLDENEN ZEITALTER“

Das klassische Beispiel dafür liefert die Ge-schichte der Juden im islamischen Spanien desMittelalters, die bis heute nur allzu oft und ger-ne als convivencia, als Musterfall gelungenenZusammenlebens von Muslimen, Juden undChristen beschrieben wird und das Bild des judío feliz, des „glücklichen Juden“ hervorge-bracht hat. Übersehen wird dabei zumeist, dasses sich bei dieser Sicht der Dinge wesentlich umeine Projektion des 19. Jahrhunderts handelt,die ihren Ursprung zum einen in der Historio-graphie der frühen Wissenschaft des Juden-tums und zum anderen in der Geschichtsschaujüdischer politischer Romantik hat.1

Politische Romantiker wie Benjamin Disraeli(1804–1881) träumten von einer (neuen) Alli-anz von Juden und Muslimen, wie sie seinerMeinung nach vorbildhaft im islamischen Spa-nien existiert hatte. Im mittelalterlichen Spa-nien sah er jene Zivilisation, in „der die KinderIsmaels den Kindern Israels dieselben Rechteund Privilegien gewähren wie sich selbst (…)und es schwer ist, die Anhänger des Mose vonden Anhängern Muhammads zu unterschei-den. Beide bauten gleichermaßen ihre Palästeund legten Gärten und Brunnen an, hatten diehöchsten Ämter im Staat inne und wetteifer-ten miteinander in ‘extensive and enlightenedcommerce’ und waren Rivalen nur im Ringenum die besten Universitäten.“2

Dass ein solches Geschichtsbild entstehenkonnte, ist weniger Resultat historischer For-schung als vielmehr der Erfahrung wachsen-den Antisemitismus im christlichen Europa inder zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. DieMischung aus Verbitterung und Enttäuschungüber den Gegensatz zwischen aufgeklärtenIdeen einerseits und verwehrten Bürgerrech-ten für Juden in vielen europäischen Ländernandererseits hatte jüdische Historiker wie bei-spielsweise Heinrich Graetz (1817-1891) daherdie islamische Welt im Mittelalter, Spanien zu-

mal, als „goldenes Zeitalter“, als Zeit kulturellerSymbiose erscheinen – und verklären – lassen,einer Symbiose, die für das Verhältnis von Ju-den und Muslimen ein im Wesentlichen gutes,um nicht zu sagen: harmonisches Miteinanderannimmt, während für das Verhältnis zu denChristen ein von permanenter Feindschaft ge-tragenes Gegeneinander unterstellt wird.

VORSCHUB DURCH CHRISTLICHEVERSCHWÖRUNGSTHEORIEN

Vorschub geleistet hatte dieser Betrachtungs-weise übrigens die christliche Geschichts-schreibung im Mittelalter mit ihrer Verschwö-rungstheorie, die nicht nur von einem jü-dischen Anteil an den arabisch-islamischen Eroberungen, insbesondere Spaniens sprach,sondern das Vordringen des Islams in ehemalschristliche Länder insgesamt als Verschwörungvon Juden und Muslimen zum Sturz des Chris-tentums interpretierte. Eine späte Bestätigungdieser christlichen Verschwörungstheorie lie-fert nicht zuletzt das Ausweisungsedikt von1492, das die Vertreibung der Juden aus Spa-nien mit der Vertreibung der Muslime (Mauren)verbunden hat: Wenn die einen das Land zuverlassen haben, müssen ihnen die anderenfolgen.3 Allan Harris und Helen Elmquist Cutlerhat dies übrigens zu der These geführt, dass diechristliche Judenfeindschaft eigentlich Anti-Islamismus gewesen ist, jedenfalls sei sie letzt-lich aus der christlichen Islamophobie erwach-sen, der zufolge die Juden als Verbündete derMuslime gleichsam stellvertretend für sie zubüßen hatten.4 Wie eine bittere Ironie der Ge-schichte nimmt es sich da aus, wenn heute inder arabisch-islamischen Welt von einer christ-lich-jüdischen (zionistischen) Verschwörunggesprochen wird, die die arabisch-islamischeWelt in ihrer Existenz bedroht.

DIE INFRAGESTELLUNG DESROMANTISCHEN BILDES

Ohne auf die Geschichtsschreibung hier weitereinzugehen, ist gleichwohl bemerkenswert:Während im 19. und frühen 20. Jahrhundert,auf dem Hintergrund der langen Traditionchristlicher Judenfeindschaft und im Kontextwachsenden, zunehmend rassisch begründe-ten Antisemitismus in Europa das Bild der con-vivencia, des erwähnten einträchtigen Mitein-anders der verschiedenen Völker, Kulturen undReligionen in der islamischen Welt vorab desMittelalters entworfen wurde, setzte sich mitzunehmendem arabisch-israelischen Konfliktin der jüdischen und vor allem israelischen His-toriographie mehr und mehr die Infragestel-lung dieser convivencia durch, bis sie am Ende,wie Mark R. Cohen gezeigt hat, nicht nur ganzbestritten worden ist, sondern ihrem GegenteilPlatz machen musste, und die Geschichte derJuden in der arabisch-islamischen Welt, von

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VON FRIEDLICHEM NEBENEINANDER ZU ERBITTERTEM GEGENEINANDER

Zwischen den Welten – Zur Geschichte der Judenin der arabisch-islamischen WeltSTEFAN SCHREINER

Der oftmals vorschnelle Blick auf dieGegenwart verstellt die Rückbesinnungauf die Vergangenheit. Von Anbeginn anist die Geschichte der arabisch-islami-schen Welt auch ein Teil der jüdischen Ge-schichte gewesen – so wie umgekehrtdie jüdische Geschichte immer auch indie arabisch-islamische Welt hineinge-spielt hat. Gerade die Geschichte der jüdisch-arabischen Beziehungen zeigt,dass die wechselseitige Bezogenheit bei-der Geschichten und Kulturen eine krea-tive Symbiose zeitigte. Das friedlicheMiteinander und die gegenseitige Berei-cherung trugen dazu bei, dass die Mehr-heit der Juden in der islamischen Weltüber viele Jahrhunderte hinweg an der kulturellen, wissenschaftlichen undwirtschaftlichen Entfaltung dieser Re-gion ihren Anteil hatte, bevor sich dieZentren jüdischer Kultur und Wissen-schaft allmählich ins christliche Europaverlagerten. Zu Ende gegangen sind dieanderthalb Jahrtausende jüdischer Dia-sporageschichte in der arabisch-islami-schen Welt erst im 20. Jahrhundert, be-ginnend mit den politischen Verände-rungen im Nahen Osten, der Gründungdes Staates Israel 1948 und der damit ein-hergehenden Einwanderung Zehntau-sender Juden aus den arabisch-islami-schen Ländern. Stefan Schreiner ver-mittelt anhand ausgewählter Fragestel-lungen und zeitgenössischer Quelleneinen Einblick in diese beinahe vergesse-ne kulturelle Symbiose. Angesichts ge-genwärtiger Konflikte in der arabischenWelt wird der Blick für die Tatsache ver-stellt, dass Juden und Muslime im Laufeihrer gemeinsamen Geschichte weithinmiteinander in Frieden gelebt haben,kulturelle und wissenschaftliche Quellenschufen, aus denen das christliche Euro-pa später schöpfen konnte.

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Ausnahmen abgesehen, nur noch als historialacrimosa, als durchgängige Leidens- und Ver-folgungsgeschichte gesehen und so dargestelltwird.5 Die dem gegenüber „ausgewogenste Be-urteilung der Stellung der Juden unter islami-scher Herrschaft“, und daher auch hier nach-drücklich empfohlen, ist nach Mark R. Cohennoch immer Bernard Lewis’ Buch „Die Juden inder islamischen Welt.“6

Unterschiedliche Wahrnehmung und Darstel-lung der Geschichte ist indessen nicht erst einProblem von heute. In seinem um 1080 auf Ara-bisch verfassten „Buch der Hinführung zu dieHerzenspflichten“ schrieb der andalusischeneuplatonische jüdische Philosoph Bah.ya benJosef ibn Paquda: „Wenn heutzutage jemandähnliche Wunder (wie sie in der Bibel erzähltwerden) sucht, soll er nur ganz nüchtern unse-re Geschichte unter den Völkern studieren, vomAnbeginn der Diaspora an, und die Art undWeise, in der unsere Angelegenheiten geregeltworden sind, trotz der verborgenen wie offe-nen Unterschiede zwischen uns und ihnen, die

allen wohl bekannt sind. Dann wird er sehen,dass unsere Situation (hier in Andalusien), so-fern Alltagsleben und Lebensunterhalt betrof-fen sind, ebenso sind wie ihre oder in Zeiten vonKrieg und Not sogar noch besser. Dann wird ersehen, wie sowohl ihre Führungsschicht alsauch die einfachen Leute sich vielmehr abmü-hen müssen als die mittleren und unterenSchichten bei uns, wie es uns unser Herr in derSchrift angekündigt hat (…)“ (Kap. II).Die Feststellung, dass es den Juden unter mus-limischer Herrschaft besser ergeht als derMehrheit der anderen, in diesem Falle der Mus-lime, erschien bereits Ibn Paqudas ÜbersetzerJehuda ibn Tibbon aus Granada, der das Buch1160 ins Hebräische übersetzt hat, so unan-nehmbar, dass er diese Passage kurzerhandnicht übersetzte. Zu sehr hatten sich zwischen1080 und 1160 offenbar die Lebensverhältnisseder Juden geändert, als dass man noch davonreden könnte, es geht ihnen besser als den an-deren. Und so haben bis heute alle Ausgabendes Buches mit Ausnahme der hier zitierten

Edition nach einer jemenitischen HandschriftIbn Paqudas Text in der vom Übersetzer zen-sierten Form.

WECHSELBEZIEHUNGEN ZWISCHENISLAM UND JUDENTUM

Von ihrem Anfang an ist die Geschichte der ara-bisch-islamischen Welt Teil auch jüdischer Ge-schichte gewesen, wie umgekehrt die jüdischeGeschichte immer auch in die Geschichte derarabischen/arabisch-islamischen Welt hinein-gespielt hat. Entsprechend vielfältig sind dennauch Judentum und Islam wechselseitig auf-einander bezogen. Wie eng beide Geschichtennachgerade ineinander verwoben sind, zeigtsich nicht zuletzt darin, dass die Juden in denarabisch-islamischen Ländern an deren Auf-stieg ebenso wie an deren Niedergang seit demausgehenden Mittelalter Anteil hatten.1377 schrieb der aus Tunesien stammende Geschichtsphilosoph und Soziologe ‘Abd ar-

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IN DER SYNAGOGE:AUSZUG AUS EINER AUF

DAS JAHR 1350 DATIERTEN

HAGGADAH (HEBRÄISCH:„ERZÄHLTES“) AUS NORD-SPANIEN. DIE HAGGADAH

UMFASST IN FORM VON

GLEICHNISHAFTEN

ERZÄHLUNGEN GESONDERTE

WERKE (MIDRASCH) UND

TEILE AUS DEM TALMUD.IN ZAHLREICHEN ANTHO-LOGIEN FAND SIE SEIT DEM

13. JAHRHUNDERT WEITE

VERBREITUNG. SO ERZÄHLT

Z.B. DIE „HAGGADAH

AUS SARAJEWO“, DIE ALS

EINES DER SCHÖNSTEN

KUNSTWERKE DER JUDEN

AUS DEM 14. JAHR-HUNDERT GILT, U. A.VON DER SKLAVEREI IN

ÄGYPTEN UND DEM

AUSZUG IN DIE FREIHEIT.picture alliance / dpa

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Rah.man Ibn Khaldun: „Das Reich der Araber istvollständig dahin, und die Macht liegt jetzt inden Händen von Nichtarabern, solchen wie denTürken im Osten (…) und den Franken (Euro-päern) im Norden.“Und dies sollte Folgen nicht nur für die islami-sche Welt, die Araber zumal, sondern ebensoauch für die in ihrer Mitte lebenden Juden ha-ben und bis ins 20. Jahrhundert so bleiben. Wiees seit dem hohen Mittelalter bis zum ErstenWeltkrieg keinen einzigen arabischen Staatmehr gab, und selbst die Existenz von so etwaswie einer arabischen Nation in der Welt kaum,wenn überhaupt noch wahrgenommen wor-den ist, so verschwanden auch die Juden derarabisch-islamischen Länder allmählich ausder jüdischen Geschichte und wurden selbstvon der Mehrheit der Juden, die seit Beginn derNeuzeit in den so genannten christlichen Län-dern Europas lebte, mit der Zeit vergessen.Als 1867 im damals ostpreußischen Lyck (heu-te: E«k/Polen) der erste, und 1874 in Mainz derzweite Band des Reiseberichtes des aus Litau-en gebürtigen Jakob Saphir (1822-1885) überseine Reise zu den Juden des Nahen Ostens unddes Jemen erschienen war,7 löste er damit un-ter den Juden Europas ebensolches Erstaunenaus, wie es wenige Jahre zuvor bereits Israel benJosef Benjamin (1818–1864) aus Moldawienmit seinem Buch über seine Reise zu den Judenin den Ländern Asiens und Afrikas getan hatte.8

Das Erstaunen, das die Nachrichten über die Ju-den in der arabisch-islamischen Welt hervor-rief, dokumentiert zugleich, wie weit die Judenin jenen Ländern, ihre Geschichte und ihreGegenwart aus dem Blickfeld verschwundenwaren, wenn man von den vergleichsweise we-nigen absieht, die in Jerusalem, S. efat (Safed)und einigen anderen Städten des heiligen Lan-des lebten und durch die Jerusalempilger undihre Berichte im Gedächtnis geblieben sind.Nicht dass es in der arabisch-islamischen Weltsonst nur noch wenige Juden gab, die deshalb

der Aufmerksamkeit entgangen sind. Doch werinteressierte sich bis um die Mitte des 19. Jahr-hunderts schon für die Juden im Jemen, im Irak,in Libyen oder in Marokko?

CHRONOLOGIE DER GEMEINSAMKEITEN

Dabei haben mit Ausnahme des Nordens derarabischen Halbinsel (Saudi-Arabien und Jor-danien) in allen arabisch-islamischen Ländernzu allen Zeiten immer auch Juden gelebt. Zu-gegeben, ihr Anteil an der jüdischen Weltbevöl-kerung insgesamt hat seit dem Beginn derNeuzeit, verglichen mit dem wachsenden An-teil, den die Juden in den so genannten christ-lichen Ländern zunächst Europas und dannAmerikas daran hatten, kontinuierlich abge-nommen und betrug am Beginn des 20. Jahr-hundert kaum mehr als zehn bis zwölf Prozent.Zu Ende gegangen, jedenfalls weithin zu Endegegangen sind die anderthalb Jahrtausende jü-discher Diasporageschichte in der arabisch-is-lamischen Welt dennoch erst im 20. Jahrhun-dert, beginnend mit den politischen Verände-rungen im Nahen Osten vor und nach dem Er-sten Weltkrieg, der zionistischen Bewegungund der Gründung des Staates Israel 1948 undder damit einhergehenden EinwanderungZehntausender Juden aus den arabisch-islami-schen Ländern. Und es war diese Geschichte,die Einwanderung der Juden aus den arabisch-islamischen Ländern in den eben gegründetenStaat Israel, die den Blick auch wieder neu aufdie Juden der arabisch-islamischen Welt, aufihre Geschichte und auf ihre Kultur lenkte.Shmuel Dov Goitein, der sich wie kaum ein an-derer mit der Geschichte und Kultur der Judenin der arabisch-islamischen Welt insbesonderedes Mittelalters befasst hat,9 hat für die ge-meinsame Geschichte von Juden und Arabernvor Jahren schon das folgende chronologischeSchema entworfen:10

Ohne das Für und Wider dieser Periodisierungder Geschichte der jüdisch-arabischen Bezie-hungen und der Charakterisierung ihrer Perio-den hier zu diskutieren, recht hat Goitein nichtnur mit seinem Hinweis auf die wechselseitigeBezogenheit beider Geschichten aufeinanderund das gemeinsame Schicksal, sondern eben-so auch und gerade mit dem Hinweis auf das,was er creative symbiosis genannt hat, jenesMiteinander, das dazu beigetragen hat, dassviele Jahrhunderte hindurch die Mehrheit derJuden nicht nur in der arabisch-islamischenWelt gelebt, sondern an ihrer kulturellen, wis-senschaftlichen und wirtschaftlichen Entfal-tung tätigen Anteil gehabt hat und sich überJahrhunderte gerade dort, in den großen Städ-ten des Irak und Tunesiens, Marokkos und Spa-niens ebenso wie des Iran und Usbekistans dieZentren jüdischer Kultur und Wissenschaft be-funden haben, bevor sie sich seit dem ausge-henden Mittelalter allmählich ins christlicheEuropa zu verlagern begannen.

ANFÄNGE JÜDISCH-ARABISCHERGESCHICHTE

Wann die Geschichte der Juden auf der Arabi-schen Halbinsel begonnen hat, wissen wirnicht. Legenden der jemenitischen Juden füh-ren ihre Anfänge auf die Zeit der Zerstörungdes ersten Tempels unter dem babylonischenKönig Nebukadnezar (587/6 v. u. Z.) und die be-ginnende Diaspora, die Zerstreuung der Juden,zurück. Doch sind alle Nachrichten, die wir überdiese frühen Jahrhunderte haben, mit einer ge-wissen Vorsicht zu genießen.11

Doch nicht nur über die vorislamische Zeit,auch über die Zeit des Propheten Muhammadund die ersten Jahrzehnte des Islams, die für dieweitere Gestaltung jüdisch-arabischer Bezie-hungen von größter Bedeutung waren, habenwir kaum Quellen zur Verfügung. Die arabisch-islamische Historiographie beginnt erst imzweiten Jahrhundert des Islam, und die weni-gen jüdischen Quellen aus jener Zeit sind in ih-rer Datierung umstritten. Dass indessen nebendem christlichen gerade das jüdische Erbe derarabischen Halbinsel an der Entstehung undEntfaltung des Islam als Religion in biblischerTradition deutlichen Anteil hatte, bestätigt diearabisch-islamische Literatur in vielfältigerWeise; und die vergleichende Religionsfor-schung hat mehr als einmal gezeigt, dass sichIslam und Judentum in ihren grundlegendenreligiösen Ideen und philosophisch-theologi-schen Anschauungen ebenso wie in ihren Vor-stellungen von der Gestaltung ihrer jeweiligenReligionsgemeinschaft auf der Grundlage ei-nes theonomen Rechts, hier der Halakha, dortder Shari‘a, weitaus ähnlicher sind als Juden-tum und Christentum es je waren, obwohl siedoch von ihrer Geschichte her weit enger mit-einander verwandt sind.Was die Entstehung und Ausbreitung des frü-hen Islam im Allgemeinen und das (politische)Wirken Muhammads und seiner Nachfolger imBesonderen für die Juden der damaligen Zeitbedeutet hat, dokumentiert eine Rückschauaus etwa einem Jahrhundert Abstand, die in einem anonymen hebräischen Text mit dem Titel Nistarot de-Rabbi Sim‘on bar Joh. ai („DieGeheimnisse des Rabbi Schim‘on bar Jochai“)

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STEFAN SCHREINER

a. Common OriginsMyths: Semitic Race. Israel an Arab Tribe.Facts: Common social patterns (“Primitive Democracy”) and

religious traditions (“Cousins”).b. Recorded Contacts as from 853 B.C.E.

1. Biblical period.2. Maccabean, Herodian, and Roman periods.3. Talmudic times.

a. The origin and early development of Islam in its Jewish environment: “Islam an Arab recast of Israel’s religion”.

b. The influence of Islam on Jewish thought and that of Arab language and literature on Hebrew.

a. of Arabs from World History;b. of Oriental Jews from Jewish History.c. The common heritage of suffering.

a. The coincidence of Arab and Jewish revivals in the nineteenth and twentieth centuries:Similarities and differences.

b. Israel in Palestine:1. A Western intrusion into the East.2. An Eastern intrusion into a Western society.

a) Immigrants from Arab countries.b) Arab citizens of Israel.

c. The Future:The parallel tasks of two peoples.

I. Prehistory1500 B.C.E. – 500 C.E.

II. Creative Symbiosis500 – 1300

III. Fading out1300 – 1900

IV. The New Confrontation1900 – …

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überliefert ist. In Gestalt einer Vision blickt derText auf die Zeit des Propheten und der ihm fol-genden Kalifen bis zur Mitte der Umayyaden-zeit zurück und deutet ihr Wirken – und damitdas erste Jahrhundert islamischer Geschichte –als einen nachgerade messianischen Akt, derder Befreiung der Juden vom Joch des byzanti-nischen Christentums dient. Noch Jahrhunder-te später erschienen den Juden der Siegeszugdes Islams und seine Ausbreitung in die einstchristlichen Länder Nordafrikas und des byzan-tinischen Reiches als eine Art Gottesurteil überdas Christentum. Und wie einst christlicheantijüdische Polemik in der Zerstörung des(zweiten) Tempels in Jerusalem durch die Rö-mer im Jahre 70 als Zeichen der göttlichen Ver-werfung der Juden erkannte, so sieht die jüdi-sche antichristliche Polemik in der Zerstörungder Grabeskirche in Jerusalem 1009 durch dieMuslime unter dem Fatimidenkalifen al-Hakimein Gottesurteil über das Christentum.Wenn wir auch weder wissen, wann, noch vonwem die eben erwähnten „Geheimnisse desRabbi Schim‘on bar Jochai“ geschrieben wor-den sind, ist ihre Geschichtsschau dennoch be-merkenswert. Widerspricht sie doch dem Bild,das uns sonst über die Anfänge der Geschich-te jüdisch-arabischer Beziehungen aus Koranund Sira, der „Geschichte des Propheten“, so-wie der (frühen) arabischen Geschichtslitera-tur bekannt ist. Darin ist von Auseinanderset-zung, von religiöser Polemik bis hin zur Anwen-dung von physischer Gewalt gegen die Judendie Rede, die bekanntlich in der Vertreibungund Vernichtung der drei großen jüdischenStämme Medinas (Banu Nadır, der Banu Qu-raiz. a und der Banu Qainuqa‘) kulminierte.12

Als Grund dafür wird in der Literatur denn auchimmer wieder ein Zerwürfnis zwischen Mu-hammad und den Juden Medinas konstatiert,in dessen Folge die qibla, die Gebetsrichtungvon Jerusalem nach Mekka geändert wordensei. Folgt man indessen dem Koran (Sure 2,142–152) und den Angaben, die sich dazu im frühenHadith, der normsetzenden außerkoranischenÜberlieferung des Propheten finden, war es ge-nau umgekehrt: Die Änderung der Gebets-richtung 18 Monate nach der Higra, der FluchtMuhammads und seiner Anhänger von Mekkanach Medina im Sommer 622, war es, die amBeginn des Zerwürfnisses mit den Juden stand.Wie dem auch sei: Das koranische Fazit derFrühzeit dieser Geschichte lautet: „Du wirstganz gewiss finden, dass diejenigen Menschen,die den Gläubigen, d. i. den Muslimen ammeisten feind sind, die Juden und diejenigensind, die Gott etwas beigesellen. Und du wirstganz gewiss finden, dass diejenigen, die denGläubigen in Freundschaft am nächsten ste-hen, die sind, die sagen: Wir sind Christen“ (Sura 5,82). Umso erstaunlicher ist es da, dasstrotz dieses koranischen Diktums die nachfol-gende Geschichte zwischen Juden und Arabern(Muslimen) weithin anders verlaufen ist.

DIE DHIMMA – JUDEN ALSSCHUTZBÜRGER DES ISLAMS

Die rasante Ausbreitung des Islams bzw. diearabischen Eroberungen in den Jahrzehntennach dem Tod des Propheten vereinten in kur-zer Zeit nicht nur eine Vielzahl von Ländern von

Spanien und Marokko im Westen bis Zentral-asien im Osten (und darüber hinaus) unter demBanner des Propheten, sondern hatten zu-gleich zur Folge, dass damit auch die überwie-gende Mehrheit der Juden nun nicht mehr aufverschiedene miteinander konkurrierende Rei-che verteilt war, sondern unter einer – der ara-bisch-islamischen Herrschaft lebte. Für die Ju-den (und analog für die Christen) bedeutetedies, dass ihnen nach geltendem islamischemRecht gegen Zahlung einer im Koran (Sure9,29) vorgeschriebenen Steuer (gizya) die d_im-ma, eine Art Schutzverhältnis gewährt wurde,das den d_immıs, den „Schutzbürgern des Islam“persönliche Sicherheit und das Recht des Be-kenntnisses und der Religionsausübung, ein-schließlich der Organisation des Gemeindele-bens und seiner Strukturen nach eigenemRecht garantierte.Wie die Juden aufgrund des aus dem 3. Jahr-hundert stammenden Prinzips dına de-mal-khuta dına („das Gesetz der Regierung ist Ge-setz“) diese d_imma anerkannten, akzeptiertedie islamische Seite ihren Status als d_immıs. Ineinem Hadith heißt es: „Ihre Gesetze sind un-sere Gesetze, ihre Pflichten sind unsere Pflich-ten. Was sie von den Muslimen unterscheidet,ist ihre Religion. Das was sie mit den Muslimenverbindet, sind ihre Gesetze, insbesondere be-züglich Ehe und Familie, Erbschaftsregeln etc.“Die für das Leben von Juden (und Christen) imislamischen Staat – und damit das Zusammen-leben von Muslimen und Juden (und Christen)bis heute gleichsam grundlegenden Bestim-mungen enthalten zum einen die so genannte„Gemeindeordnung von Medina“, und zum an-deren die surut. al- ‘umarıya, die „Bedingungen‘Umars“, der so genannte ‘Umar-Vertrag. Mitder „Gemeindeordnung von Medina“13 – Mu-hammad Hamidullah nannte sie die „erste ge-schriebene Verfassung der Welt“14 – hatte Mu-hammad nach der Vertreibung der drei großenjüdischen Stämme aus Medina die vertraglicheGrundlage für eine neue Gemeinschaft (umma)geschaffen, die aus den verbliebenen jüdischenUnterstämmen, den zuvor verfeindeten medi-nensischen Clans und den eingewanderten An-hängern Muhammads bestand und Stammes-loyalitäten als gegenüber der Zugehörigkeit zudieser neuen Gemeinschaft zweitrangig erach-tete.

VON RECHTLICHER GLEICHSTELLUNGKONNTE KEINE REDE SEIN

Dass von rechtlicher Gleichstellung von Mus-limen, Juden und Christen innerhalb dieserneuen Gemeinschaft gleichwohl keine Redesein kann, belegt das zweite Dokument, die in 33 Versionen überlieferten „Bedingun-gen ‘Umars“.15 Ursprünglich nur für Christenbestimmt, sind die Bestimmungen des so genannten ‘Umar-Vertrags alsbald auf alled_immıs ausgedehnt worden. Die Reihe dieserBestimmungen, zu denen u. a. die Kennzeich-nungspflicht (giyar) der d_immıs durch be-sondere Kleidung (zunar – Gürtel, qalansuwa –spezielle Kopfbedeckung) etc. gehörte, schließtsie aus dem islamischen Gemeinwesen zwarnicht aus, dokumentiert aber ihre rechtli-che – und damit zugleich gesellschaftliche –Inferiorität innerhalb des islamischen Gemein-

wesens und macht sie zu Bürgern zweiter Klas-se. In der Praxis bedeutete die d_imma dennauch oft nichts anderes als bloße Duldung, was gegenüber der Lage der Juden in der christ-lichen Welt allerdings schon außerordent-lich viel war. Nicht zu übersehen ist indessen,dass die Bestimmungen der d_imma im Laufeder Geschichte, je nach Ort, Zeit und Regie-rung, höchst unterschiedlich ausgelegt undangewandt worden sind. Das Spektrum reichtvon Akzeptanz bzw. allgemeiner Duldung derd_immıs bis hin zu ihrer Ausgrenzung, Dis-kriminierung, ja, Verfolgung und Zwangsbe-kehrung.Anschaulich illustrieren lässt sich die Ambi-valenz der d_imma allein schon am Beispiel der Lebenserfahrungen Mose ben Maimons(Abu ‘Imran Musa ibn Maimun ‘Abdallah/Mai-monides) (1138–1204), des Arztes und Philoso-phen aus Córdoba, der vor etwas mehr als 800Jahren im ägyptischen Fustat starb. Wie Ibn AbıUs. aibi‘a in seinem „Handbuch der Ärzte“ be-richtet, gehörte Mose ben Maimon einerseitszu den acht jüdischen Ärzten am Hofe SultanSalah. ad-Dıns (Saladins), von dem er zudem einordentliches Jahresgehalt bezog. Dies veran-lasste ihn, in einem Brief an seinen Hebräisch-übersetzer Samuel ben Jehuda ibn Tibbon improvenzalischen Lunel den Reichtum der ara-bischen Sprache und die Überlegenheit derarabisch-islamischen Kultur und Wissenschaftzu preisen, an der die Juden tätigen Anteil ha-ben. Andererseits klagte er im Rückblick aufseine Erfahrungen im almohadischen Marokkoin seinem „Brief an die Juden Jemens“ (IggeretTeman) von 1172: „Ihr wisst, meine Brüder, dassGott uns um unserer Sünden willen mitten un-ter dieses Volk zerstreut hat, das Volk des Is-mael, das uns unnachsichtig verfolgt und aufWege sinnt, uns zu schaden und uns zu ent-würdigen (…) Kein Volk hat jemals Israel mehrLeid zugefügt. Keines hat es ihm gleichgetan,uns zu erniedrigen und zu demütigen. Keineshat es vermocht, uns so zu unterjochen, wie siees getan haben.“ Eine Erfahrung übrigens, diezu dem jüdischen Sprichwort geführt hat:„Besser unter Edom (= Christen) als unter Is-mael (= Muslime)“.In völliger Umkehrung dieses Sprichworteskonnte Isaak Zarfati, der im 15. Jahrhundert alsRabbiner im türkischen Edirne amtierte, 1454in einem offenen Brief an die Juden im christ-lichen Europa u. a. schreiben: „Ich, Isaak Zarfa-ti, der ich aus Frankreich stamme, in Deutsch-land geboren bin und dort zu Füßen von Leh-rern gesessen habe, rufe euch zu: dass die Tür-kei ein Land ist, in dem nichts fehlt. (…) Ist esdoch besser unter Muslimen, als unter Christenzu wohnen! Hier dürft ihr euch in die feinstenStoffe kleiden. Hier kann jeder unter seinemFeigenbaum und unter seinem Weinstock inRuhe leben. Unter der Christenheit dagegendürft ihr es nicht einmal wagen, eure Kinder inRot oder Blau zu kleiden, ohne sie auszusetzen,zerbläut oder rot geschunden zu werden.“ Under schließt seinen Brief mit den Worten: „Undnun Israel, warum schläfst du? Auf und verlas-se dieses verfluchte Land!“Angesichts solcher einander widersprechenderErfahrungen und Aussagen – und deren Reiheließe sich mühelos um ein Vielfaches verlän-gern –, ist es denn auch einfach, die Geschich-te der Juden (und der dhimmıs überhaupt) un-

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Zwischen den Welten – Zur Geschichte der Juden in der arabisch-islamischen Welt

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ter islamischer Herrschaft als durchgängigeLeidens- und Verfolgungsgeschichte zu schrei-ben, wie dies beispielsweise Frau Bat Ye’or inmehreren Büchern getan hat.16 Ebenso einfachwäre es allerdings auch, das genaue Gegen-teil zu tun und eine durchgängige Erfolgsge-schichte vorzulegen.

SCHUTZ VOR DER NÖTIGUNG ZURKONVERSION

Ohne weiter positive und negative Beispiele der Auslegung und Anwendung der d_immagegeneinander aufzurechnen und auszuspie-len, kann und muss man freilich festhalten,dass die d_imma Juden (und Christen) rechtlichverbrieft hat, Juden (und Christen) bleiben zudürfen und sie damit – im Grundsatz – vor derNötigung zur Konversion zum Islam geschützthat (vgl. Koran Sure 2,256). Damit war die(rechtliche) Lage der Juden unter islamischer(zunächst arabischer und später türkischer)Herrschaft, von den Umayyaden über die Abba-siden bis zu den Osmanen, oft ungleich besserals in den Ländern des byzantinischen oder la-teinischen Christentums, jedenfalls bis an denBeginn der Neuzeit, wie nicht zuletzt Mark R.Cohen in seinem oben erwähnten Buch deut-lich gemacht hat.17

Nicht verhindert hat die d_imma jedoch, dass esimmer wieder zu Konflikten zwischen Musli-men und Juden (ebenso wie zwischen Musli-men und Christen) im Alltag kam. Dabei war derKonflikt zwischen Muslimen und Juden freilichvon anderer „Qualität“ als der Konflikt zwischenChristen und Juden. Denn wenn Juden Feind-seligkeit seitens der Muslime erlebten, handel-te es sich nicht, wie Mark R. Cohen mit Rechtbetont hat, um einen „essentiellen“ oder gar„ideologischen Konflikt“, da das Judentum demIslam gegenüber niemals eine dem Christen-tum vergleichbare Herausforderung darstellte.Vielmehr handelte es sich hier um „das üblicheVerhalten der Herrschenden gegenüber Unter-gebenen, der Mehrheit gegenüber der Minder-heit“. Und selbst in Zeiten der Auseinanderset-zung war der rechtlich geschützte Status vonJuden (und Christen) als d_immıs grundsätzlichnie in Frage gestellt, solange sie nur „die Ober-herrschaft des islamischen Staates und die Vor-rangstellung der Muslime“ akzeptierten.18

WIRTSCHAFTLICHER UNDGESELLSCHAFTLICHER AUFSTIEG

Zur gegenüber dem christlichen Europa ver-gleichsweise besseren rechtlichen Situationhinzu kam alsbald eine Verbesserung der sozi-alen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Ju-den in der islamischen Welt. Unter der Herr-schaft des Islams, der sehr schnell, wie FernandBraudel gezeigt hat,19 eine ausgesprocheneStadtreligion geworden ist, erlebte die jüdischeBevölkerung, die zuvor mehrheitlich Landbe-völkerung und in der Landwirtschaft tätig war,seit dem 8. Jahrhundert eine soziale Transfor-mation, die sie in der Folge, vor allem ab dem9./10. Jahrhundert teilhaben ließ an dem, wasShmuel Dov Goitein die „Entstehung einer mer-kantilen Zivilisation“ genannt hat. In den auf-blühenden Städten der islamischen Welt ent-

wickelte sich jetzt ein Judentum, dass nicht nuran Kultur und Wissenschaft, sondern vor alleman der Politik und Wirtschaft seinen Anteil hatte:20 Inbegriff dieser Teilhabe sind die jüdi-schen Kaufleute,21 vor allem die Fernhändler,die unter dem Namen radaniyyun Geschichtegemacht und u. a. von Ibn Khurdad_bıh in sei-nem „Buch der Straßen und Länder“ beschrie-ben worden sind, die fernerhin wesentlich dieVermittlung im internationalen Handel über-nahmen, der die Zentren der arabisch-islami-schen Welt alsbald mit vielen Ländern in Euro-pa und Asien, aber auch Afrika verbinden soll-te. Zu ihren gleichsam letzten Nachkommengehören die fast schon legendären irakisch-indischen Kaufmannsdynastien der Sassoon,H.ardoon und Kadoori, die nach 1850 u. a. diejüdische Gemeinde in Shanghai ins Leben ge-rufen haben.In diesem Zusammenhang zu erwähnen sindauch die zahlreichen Politikerkarrieren, die Ju-den in der arabisch-islamischen Welt möglichwaren. In vielen arabisch-islamischen Ländernfinden wir Juden bis in höchste Regierungs-ämter aufsteigen, ganz zu schweigen von denzahlreichen jüdischen Leibärzten an bald allenHerrscherhöfen und Juden als Dolmetschernund/oder Vermittlern in diplomatischen Dien-sten. Am Anfang einer langen Reihe solcherVermittler und Dolmetscher steht Isaak, der imAuftrage Karls des Großen die beiden Lothrin-gischen Gesandten Lantfried und Sigismundnach Bagdad an den Hof Harun ar-Raschidsbegleitet hat.22 Die Karrieren einzelner Judenund ihr Aufstieg bei Hofe sorgten zugleich da-für, dass die Juden auch als gesellschaftlicheGruppe wahrgenommen wurden, denen eineeigene Repräsentanz auch gegenüber der je-weiligen Regierung zuerkannt wurde. Die Ge-schichte der Ämter des Resh Galuta („Ober-haupt der Diaspora“) im Irak, des Nagid („Fürst“)in Spanien oder des Ra’ ıs al-Yahud („Ober-haupt der Juden“) im fatimidischen und ayyu-bidischen Ägypten belegen dies anschaulich.Der wirtschaftliche Aufschwung bildet darüberhinaus den Hintergrund für das Aufblühen derStätten und Zentren jüdischer Gelehrsamkeit,der Akademien in Sura, Bagdad, Qairuan, Fes,Córdoba, San‘a.

ARABISIERUNG DER JUDEN

Hand in Hand mit der Eingliederung der Judenin die arabisch-islamische Gesellschaft ging ih-re zunehmende Arabisierung. Während die Is-lamisierung der von den Muslimen erobertenLänder stets ein längerfristiger Prozess war,vollzog sich ihre Arabisierung oft erstaunlichschnell. Für Spanien beispielsweise hat RichardW. Bulliet nachgewiesen, dass der Anteil derMuslime an der Gesamtbevölkerung in al-An-dalus um die Mitte des 8. Jahrhunderts geradeeinmal 10 Prozent; hundert Jahre später 20Prozent; Mitte des 10. Jahrhunderts 50 Pro-zent; am Anfang des 11. Jahrhunderts 80 Pro-zent und erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts90 Prozent erreicht hat. Was hingegen die Ara-bisierung betrifft, also die Übernahme der ara-bischen Sprache und Kultur, so klagte schon853 der Bischof Álvaro von Córdoba, dass sichdie jungen Leute mit Begeisterung der arabi-schen Kultur und Wissenschaft zuwenden,

Arabisch lernen und arabische Literatur lesen,aber nicht mehr in der Lage sind, auch nur ei-nen Brief in einem halbwegs lesbaren Latein zuschreiben.23 Und gleiches gilt mutatis mutan-dis für die Juden.Welche Sprache auch immer Juden in den Län-dern gesprochen haben, die zum nachmaligenarabisch-islamischen Kulturkreis gehörten,sehr bald haben sie das Arabische übernommenund es in Gestalt des Judaeo-Arabischen zu ih-rer Sprache gemacht.24 Während das Lateini-sche, die Sprache des christlichen Europa, nie-mals eine jüdische Sprache bzw. Sprache derJuden wurde, ist es das Arabische sehr schnell

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geworden und zudem in alle Bereiche jüdi-schen Lebens vorgedrungen, selbst in das Ge-betbuch und den synagogalen Gottesdienst.Für manche hebräische Philologen des Mit-telalters waren Hebräisch, Aramäisch und Ara-bisch auch keine verschiedenen Sprachen, sondern galten ihnen als drei Dialekte einerSprache bzw. Ausdruck von Triglossia, Drei-sprachigkeit in einer Sprache. So genannteDreisprachengedichte (die erste Zeile auf He-bräisch, die zweite auf Aramäisch, die dritte aufArabisch etc.) gehören denn auch zum feinsten,was die jemenitische und andalusische jüdi-sche Poesie zu bieten hat.

Dass Sa‘adja ben Josef al-Fajjumi (892-942),Oberhaupt der Akademie im irakischen Sura,am Anfang des 10. Jahrhunderts die hebräischeBibel ins Arabische übersetzte, war keineswegsseiner persönlichen Neigung geschuldet, son-dern entsprach einem Bedürfnis, das die Heili-ge Schrift in der Umgangssprache brauchte.Unter jemenitischen Juden wird diese Überset-zung (at-tag, „die Krone“, genannt) übrigensbis heute während des Gottesdienstes nachdem hebräischen Text gelesen. Von einer wech-selseitigen Beziehung zwischen jüdischer Bi-bel- und islamischer Koranwissenschaft zeugtderen Auslegungsgeschichte ebenso wie vorallem die Vokalisierung des kanonischen Textes,die gewiss nicht zufällig annähernd zeit- undortsgleich entstanden ist.Dass gleichfalls an der Wende vom 10. zum 11.Jahrhundert der aus Córdoba stammende, dannin Damaskus lebende Josef ben Isaak ibn Abitur,wie der Historiker Abraham ibn Da’ud (um 1110-1180) berichtet, den Talmud ins Arabisch zuübersetzen begonnen hat, und wenig späterIsaak ben Jehuda ibn Gayyat (1038–1089) imandalusischen Lucena (die Araber nannten dieStadt nicht ohne Grund Alisana al-Yahud, „dasjüdische Lucena“) Talmudkommentare auf Ara-bisch schrieb, weil seine Schüler sie sonst nicht(mehr) verstanden, zeigt, wie weit die Arabisie-rung in vergleichsweise kurzer Zeit gegangenist. Spätestens seit dem beginnenden 11. Jahr-hundert ist denn auch Arabisch unter den Ju-den der arabisch-islamischen Welt die linguafranca gewesen. Dass seither alle wichtigen jü-dischen theologisch-philosophischen und na-turwissenschaftlichen Werke in eben dieserSprache verfasst worden sind, kann nicht mehrüberraschen, auch nicht, dass Mose ben Mai-mon seine berühmten 13 „Grundlehren“, in de-nen er zentrale philosophisch-theologischeAussagen der jüdischen Tradition zusammen-fasste und damit zugleich auch wesentliche De-markationslinien zu Islam und Christentummarkiert, gleichfalls auf Arabisch schrieb.Den Grad der Arabisierung dokumentiertschließlich auch die Entstehung der hebräisch-aramäischen Philologie, die von Anfang anganz unter dem Eindruck des Arabischen undder arabischen Philologie gestanden hat. Sie istdurch das Arabische und vor allem die arabischePhilologie nicht nur geprägt, sondern so sehrdavon abhängig, dass nicht nur alle grammati-schen Termini aus dem Arabischen ins Hebräi-sche übernommen bzw. wörtlich übersetztworden sind, sondern in der Grammatik Para-digmen verwendet wurden, die für das Hebräi-sche ungeeignet sind. Die Reihe solcher Bei-spiele ließe sich mühelos verlängern.

„ISLAMISIERUNG“ UND JÜDISCHEIDENTITÄT

Wenn von Arabisierung und damit Inkultura-tion der Juden in die arabisch-islamische Kul-tur gesprochen wird, muss auch von ihrer Isla-misierung die Rede sein. Denn mit der Über-nahme der Sprache des Islam einher ging auchdie Übernahme von islamischen Vorstellungenund Ideen, die der eigenen Tradition freilich an-gepasst wurden. Ablesbar ist dies zunächst ander Sprache, am Judaeo-Arabischen, das nichtnur eine bemerkenswert lange Reihe von he-bräischen Worten, Formen und syntaktischenStrukturen ins Arabische eingebracht,25 son-dern – umgekehrt – zahlreiche arabisch-isla-mische Begriffe übernommen hat. Um nur ei-nige Beispiele zu nennen, die seit dem 9./10. Jahrhundert in der judaeo-arabischen Lite-ratur belegt sind: qad. ı für dayyan „Richter“;imam für kohen „Priester“, manchmal auch fürh. azan „Vorbeter“; s.alat für tefillat ha-‘amida„Hauptgebet“; sura für parasa „Perikope“; ayafür pasuq „Schriftvers“ (und umgekehrt al-fasuq/pl. al-fawasıq); h. agg für ‘aliyya la-regel„Wallfahrt nach Jerusalem“; qibla für mizrah. zurBezeichnung der Gebetsrichtung (nach Jerusa-lem); mad_hab „Rechtsschule“ zur Bezeichnungder Karäer; nuzul / tanzıl für mattan tora „Ga-be der Tora / Offenbarung“; ar-rasul „der Ge-sandte [Gottes“] für Mose; sarı ‘a für halakha„Religionsgesetz“ bzw. für mis. wa „Gebot“ (pl.sara’i‘ für mis. wot); al-qur’an für ha-miqra„Heilige. Schrift” etc. Als der schon genannte Sa‘adja al-Fajjumı inseiner arabischen Bibelübersetzung den vier-buchstabigen Gottesnamen YHWH der hebräi-schen Bibel mit dem arabischen Allah wieder-gab, hatte er damit zugleich eine folgenschwe-re theologische Entscheidung getroffen, wieunschwer erkennbar ist. Wie stark die islami-sche Theologie, angefangen von der rationalis-tischen Schule des Kalam, auf die jeweils zeit-genössische jüdische Theologie eingewirkt hat,belegt die spätere theologiegeschichtliche Ent-wicklung nicht minder eindrücklich als die Ent-wicklung der Halacha (Religionsgesetz) undihre Kodifizierung, deren Abhängigkeit von derEntwicklung der Shari ‘a allerdings erst ansatz-weise erforscht ist.26

MOTIVE, DIE ZUR KONVERSION FÜHRTEN

Nicht vergessen werden darf dabei, dass dieBotschaft des arabischen Propheten auch aufzahlreiche Juden anziehend gewirkt und vonder Frühzeit des Islam bis in die Gegenwart im-mer wieder Konversionen zum Islam angeregthat. Entsprechend lang ist die Reihe der be-kannten und weniger bekannten Konvertiten,die in der Geschichte des Islam und der jüdisch-arabischen Beziehungen eine besondere Rollegespielt haben. Sie waren es auch, die dafür ge-sorgt haben, dass in die islamische Überliefe-rung vieles Eingang gefunden hat, was aus jü-dischen Quellen stammt und unter der Bezeich-nung isra’ıliyyat weitergegeben worden ist.27

Die Motive bzw. Gründe, die zur Konversionführten, werden dabei ebenso vielfältig gewe-sen sein, wie sich Juden (und/oder Christen)zum Religionswechsel veranlasst sahen. Daswar früher nicht anders, als es heute ist. Um

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Zur Geschichte der Juden in der arabisch-islamischen Welt

DIE SCHRIFTEN DES MAIMONIDES (1135–1204): MAIMONIDES WAR EIN JÜDISCHER PHILOSOPH, ARZT

UND RECHTSGELEHRTER. MAIMONIDES VERFASSTE

BEDEUTENDE INTERPRETATIONEN DER THORA UND

DER HALACHA (RELIGIONSGESETZE) UND GILT ALS DIE

WICHTIGSTE RABBINISCHE AUTORITÄT SEINER ZEIT.picture alliance / dpa

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hier nur zwei besonders interessante Selbst-zeugnisse zu nennen:28 das ist zum einen dasSelbstzeugnis des Samau’al ibn Yah. ya al-Maghribı (12. Jahrhundert) und zum anderendas Selbstzeugnis des Sa‘d ibn Mans. ur IbnKammuna (2. Hälfte 13. Jahrhundert):Der erste, ein aus einer marokkanisch-jüdi-schen Familie stammende, später in Syrien,dann im Irak und in Iran ansässige Arzt, Mathe-matiker und Philosoph Samau’al al-Maghribıberichtet in seiner Autobiographie29 sehr frei-mütig, dass und wie ihn das Studium der isla-mischen Geschichte, des Koran und der islami-schen Theologie und Philosophie und die da-raus gewonnenen Einsichten von der Richtig-keit des Islam überzeugt und zum Übertritt zumIslam bewogen haben. Ganz anders hingegender Arzt und Philosoph Ibn Kammuna aus Bagdad, der zwar ebenfalls zum Islam übertrat,dafür aber ganz andere Gründe nannte. Erschreibt: „Bis heute sehen wir niemanden zumIslam übertreten, außer dass (1) Furcht auf ihmlastet, (2) er nach Macht strebt, (3) er unter derSteuerlast leidet, (4) er der Erniedrigung entrin-nen will, (5) er in Gefangenschaft geraten ist(und freikommen will) oder (6) er sich in eineMuslimin verliebt hat oder sonst irgend einenGrund hat. Wir sehen jedoch keinen, der in sei-ner Religion und der Religion des Islam versiertist, noch dazu, wenn er reich und anerkanntund ein religiöser Mensch ist, den Islam anneh-men, ohne dass einer der genannten oder ähn-liche Gründe vorliegen.“30 Während Samau’alvon Überzeugung spricht, sind es nach IbnKammuna äußerliche Gründe, die für (s)eineKonversion maßgebend waren.Handelt es sich hier auch um individuelle Zeug-nisse, so dürfen wir doch annehmen, dass esauch andernorts oft keine anderen Gründe wa-ren, die Juden (und Christen) zum Religions-wechsel veranlasst haben. Dass tatsächlichnicht zuletzt wirtschaftliche Argumente undsozialer Status dabei eine Rolle spielten, Kon-version nachgerade als Steuersparmodell dien-te – zum Islam übergetretene d_immıs brauch-ten keine gizya mehr zu zahlen –, erfahren wirzumindest indirekt aus dem Emirat Córdoba, indem bereits gegen Ende des 8. JahrhundertsÜbertritte zum Islam förmlich verboten wur-den, weil sie ein solches Ausmaß angenommenhatten, dass es dem Fiskus an Steuereinnah-men fehlte.Islamisierung hatte indessen nicht immer mitFreiwilligkeit zu tun. Es gab auch Zeiten, in de-nen es – unter Missachtung geltenden Rechts– zu Zwangskonversionen kam, wie dies bei-spielsweise unter der Herrschaft der Almo-haden in Marokko und Spanien (1130–1223)der Fall war, die sich nicht um das überlie-ferte Recht scherten. Diese Zwangskonversio-nen sind nach den anerkannten islamischenRechtsschulen allerdings nicht gültig gewesen.Als Mose ben Maimon, der unter dem Druck derAlmohaden in seiner Heimat mit seiner Familiezum Schein zum Islam übergetreten war, später in Fustat (Alt-Kairo), wie Ibn al-Qiftı inseinem Gelehrtenlexikon berichtet, von demebenfalls aus al-Andalus stammenden JuristenAbu l-‘Arab ibn Ma’isa beschuldigt wurde, vomIslam abgefallen (und zum Judentum zurück-gekehrt) zu sein und deshalb die auf Apostasiestehende Todesstrafe verdiene, verhindertedies der Richter ‘Abd ar-Rah. ım ibn ‘Alı al-

Fad. il und erklärte: “Wenn jemand unter Zwangzum Islam übergetreten ist, ist sein Übertrittrechtlich ungültig”.

MEHRHEIT HIELT AN IHRER RELIGION FEST

Trotz aller Konversionen zum Islam, die Mehr-heit der Juden war und blieb jedoch davonüberzeugt, dass ihre Religion die richtige, weilwahre Religion ist, wie die reiche und gleicher-maßen vielgestaltige polemisch-apologetischeLiteratur belegt, deren opus classicum Jehuda(Abu l-H. asan) ben Samuel ha-Lewis (1075-1141) arabisch, in Form eines Religionsdialogesgeschriebenes „Buch des Beweises und der Ver-teidigung einer verkannten Religion“ (hebrä-isch als Sefer ha-Kuzarı bekannt) ist.Wie dieser theologisch-philosophischen Lite-ratur zu entnehmen ist, bezog die jüdischeIdentität wesentliche Elemente ihrer Ausprä-gung aus der Begegnung mit dem Anspruchdes Islam, die letztgültige Offenbarung Gottesin der Geschichte der Menschheit zu sein. Die-sem Anspruch begegnete man durchaus nichtnur mit Ablehnung und Zurückweisung. Dennder Ablehnung und Zurückweisung dieses An-spruches stand des Öfteren auch der Versucheiner Anerkennung und positiven Würdigungdes Islam gegenüber. So finden sich immer wie-der Versuche, die Legitimität des arabischenPropheten auch aus jüdischen Quellen nachzu-weisen und zu verteidigen bis dahin, dem Islameine positive Rolle in der Geschichte Gottes mitden Menschen einzuräumen, wie dies u. a. dereben schon genannte Jehuda ha-Lewi, Moseben Maimon oder Nethan’el al-Fajjumi und an-dere getan haben, die im Islam (neben demChristentum) eine Art praeparatio messianica,einen Beitrag zur Ausbreitung des Wissens umden Einen Gott, den Gott der Bibel, in der Weltgesehen haben.

BLÜTEZEIT DER JÜDISCH-ARABISCHENKULTURSYMBIOSE

Ihren eigentlichen Höhepunkt indessen er-reichte die jüdisch-arabische Kultursymbioseohne Zweifel in der (judaeo-arabischen) Phi-losophie, der Medizin und den Naturwissen-schaften einerseits und der (judaeo-arabi-schen) Poesie und Literatur des Mittelalters an-dererseits. Davon zu sprechen, wäre freilich eineigenes Thema.31 Nur Anmerkungen dazu seiendaher hier angebracht.Wie die entsprechenden arabischen Wissen-schaften, entstanden auch jüdische Philoso-phie, Medizin und Naturwissenschaften ausder Begegnung mit dem klassischen griechi-schen Erbe unter dem Einfluss des Islam.32

Dabei unterschieden sich islamische und jüdi-sche Philosophie und Philosophen, Medizinerund Naturwissenschaftler, sofern sie philoso-phisch, medizinisch oder naturwissenschaft-lich arbeiteten und argumentierten, in ihrenAnsichten durchaus nicht wesentlich vonein-ander, wie den entsprechenden Kapiteln derWissenschaftsgeschichte zu entnehmen ist.Das gilt für den arabisch-jüdischen Kalam undden Aristotelismus nicht anders als für den ara-bisch-jüdischen Neuplatonismus und den ihninspirierenden Sufismus.

Waren es anfänglich durchweg syrische Chris-ten – wie H. unain ibn Is.h. aq (809-874)33 und sei-ne Übersetzerschule in H. ıra, später in Raqqa, u. a. –, die das klassische griechische Erbe an dieAraber vermittelten, übernahmen ab dem 10.Jahrhundert vornehmlich Juden ihre Aufgabeund leisteten hier als Dolmetscher und Über-setzer ebensolche Vermittlungsdienste, wie siees später dann auch an das christliche Europagetan haben:34 Moritz Steinschneider hat dieÜbersetzungs- und Vermittlungsleistung derJuden in seinem mehr als 1000 Seiten umfas-senden opus magnum vor mehr als 100 Jahrenbereits dokumentiert und gebührend gewür-digt. Beispielhaft genannt sei dafür hier nur die„Übersetzerschule von Toledo“ (12./13. Jahr-hundert).35

POESIE ALS INBEGRIFF DERKULTURSYMBIOSE

Inbegriff der jüdisch-arabische Kultursymbio-se jedoch ist ohne Zweifel die unter arabischemEinfluss entstandene judaeo-arabische Poesie,zunächst in Spanien und Nordafrika, dann inÄgypten und später im Irak und im Jemen.36

Und diese Poesie sollte weit über das Ende derjüdisch-arabischen Kultursymbiose hinaus derInbegriff von Poesie bleiben, wie nicht zuletztall jene Gedichte belegen, die, im christlichenEuropa des hohen Mittelalters entstanden,zwar hebräisch abgefasst sind, jedoch von nos-talgischer Sehnsucht nach der Welt ihrer ju-daeo-arabischen Vorbilder geprägt sind, wieAngel Sáenz-Badillos in einem Aufsatz gezeigthat.37

Dass die jüdischen Gelehrten von ihren arabi-schen Kollegen tatsächlich wahrgenommenworden und der Nachwelt in Erinnerung ge-blieben sind, belegt ein Blick in die einschlägi-gen arabischen Gelehrtenlexika wie Ibn al-Qiftıs Ta’rih

˘al-h. ukama’ oder Ibn Abı Us.aibi‘as

biographisches „Handbuch der Ärzte“ (‘Uyunal-anba’ fı tabaqat al-at.ibba’) und andere, dienicht nur muslimischen, sondern auch jüdi-schen Gelehrten Artikel gewidmet haben. Frei-lich blieb diese wechselseitige Wahrnehmungim Wesentlichen begrenzt auf den Bereich derNaturwissenschaften, der Philosophie und derMedizin sowie weltlichen Literatur und Poesie.Dennoch sind gerade diese am Ausgang des Mittelalters entstandenen Gelehrtenlexikawichtig. Haben sie doch zu einer Zeit zumindestdie Erinnerung an jüdische Gelehrte und ihre

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STEFAN SCHREINER

UNSER AUTOR

Prof. Dr. Stefan Schreiner lehrt Religions-wissenschaft und Judaistik und ist Direktordes Institutum Judaicum der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er ist Autor zahl-reicher Arbeiten zur Geschichte und Kultur-geschichte der Juden vor allem in Mittel-und Osteuropa. Außerdem war er Kurator ei-niger Ausstellungen über Wissenschaft undKultur jüdischer Künstler und Forscher. Stefan Schreiner ist Chefherausgeber der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift „Judaica – Beiträge zum Verstehen des Ju-dentums“ und Mitherausgeber der StudiaJudaica Cracoviensia.

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Werke bewahrt, in der sie andernorts, unter denJuden im christlichen Europa, in Vergessenheitzu geraten begannen. Denn in dem Maße, indem sich die Juden im christlichen Europa an-schickten, die Vorrangstellung innerhalb derjüdischen Gemeinschaft einzunehmen, und dieZentren jüdischer Kultur und Bildung sich ausder arabisch-islamischen Welt in eben dieseschristliche Europa verlagerten, in dem Maßefiel die jüdisch-arabische Kultur, Wissenschaftund Geschichte dem Vergessen ebenso anheimwie diejenigen, die ihre Schöpfer und Trägerwaren, und was nicht ins Hebräisch übersetztworden war, war alsbald aus dem kollektivenGedächtnis verschwunden, bevor es mit Be-ginn der Haskala, der jüdischen Aufklärung im19. Jahrhundert mühsam wieder entdeckt wur-de. Viele arabisch geschriebene Werke jedochsind verloren gegangen, und von nicht weni-gen haben wir nur fragmentarische Kunde.Nur die Juden in den arabischen Ländern, diejemenitischen Juden zumal, haben das judaeo-arabische Erbe in Handschriften und seit demausgehenden 19. Jahrhundert auch in Druckenbewahrt.38 Allerdings sorgte auch hier der all-gemeine Niedergang der arabischen Kultur undWissenschaft seit dem ausgehenden Mittelal-ter dafür, dass das Interesse der Juden in derarabisch-islamischen Welt an ihrem eigenenwissenschaftlichen und literarischen Erbe ver-kümmerte.39

SCHATTENSEITEN UND GLANZZEITEN

Die Wiederentdeckung des judaeo-arabischenErbes seit dem 19. Jahrhundert stand indessenunter keinem günstigen Stern. Während die Ju-den in der arabisch-islamischen Welt gegen-über den Juden Europas längst ins Hinter-treffen geraten und weithin dem Vergessen anheim gefallen waren – neben den eingangs genannten Reisenden waren es vor allem phil-anthropischen Organisationen wie die AllianceIsraelite Universelle,40 die die Juden in der isla-mischen Welt gleichsam wiederentdeckten,auf ihr Schicksal aufmerksam machten und vorallem durch Bildungsarbeit und karitative An-strengungen zu verbessern suchten –, begeg-neten sich Juden und Araber seit dem ausge-henden 19. Jahrhundert unter anderem Vorzei-chen, nämlich unter dem Vorzeichen des bei-derseitigen Versuchs, ihre nationalen Ideenund daraus erwachsenden Ansprüche, von de-nen sie unter dem Eindruck und Einfluss des imEuropa des 19. Jahrhunderts aufgekommenenNationalismus erfasst waren, immer stärkergegeneinander durchzusetzen und zu verwirk-lichen, wie die Geschichte des bis heute unge-lösten so genannten Nahostkonflikts belegt.Und es scheint, als würde der nach wie vor un-gelöste Konflikt zwischen Israel und seinenarabischen Nachbarn, zwischen Israelis und

Palästinensern zumal, zunehmend mehr denBlick dafür zu versperren, dass Juden und Mus-lime, Juden und Araber im Laufe ihrer gemein-samen Geschichte, wenn auch zumeist eherneben- als miteinander, so doch weithin in Frie-den gelebt haben und vielleicht deshalb jenejüdisch-arabische Kultur und Wissenschaftschaffen konnten, deren Leistungen bis heutenicht nur beeindrucken, sondern zu den Quel-len gehören, aus denen das christliche Europaspäter geschöpft hat. Daran, dass die jüdischeGeschichte in der arabisch-islamischen Weltnicht nur Nachtseiten, sondern ebenso auchund gerade Glanzzeiten kennt, verdient dennauch heute mehr denn je erinnert zu werden.

ANMERKUNGEN1 S. Schreiner: Auf der Suche nach einem „GoldenenZeitalter“. Juden, Christen und Muslime im mittelalter-lichen Spanien. In: Concilium – Internationale Zeitschriftfür Theologie, 39 (2003), S. 419–432.2 Zit. nach B. Lewis: Islam in History – Ideas, Men, andEvents in the Middle East. Chicago/La Salle, 2. Auflage1993, S. 147–148.3 Eine vollständige deutsche Übersetzung des „General-edikts über die Ausweisung der Juden aus Spanien, ge-geben zu Granada am 31. März 1492“ findet sich in: Ju-daica 48 (1992), S. 3–6.4 A. Harris/H. Elmquist Cutler: The Jews as Ally of theMuslims. Medieval Roots of Anti-Semitism. Oxford 1986.5 Siehe dazu M. R. Cohen: Unter Kreuz und Halbmond.Die Juden im Mittelalter. München 2005, bes. S. 17–32(= Under Crescent and Cross. The Jews in the MiddleAges. Princeton N. J. 1994, gekürzt).6 B. Lewis: The Jews of Islam. Princeton 1984; deutsch:Die Juden in der islamischen Welt. Vom frühen Mittel-alter bis ins 20. Jahrhundert. dt. L. Julius. München 1987(Neuausgabe 2004).7 J. Saphir: Even Sappir. 2 Bände. Lyck/Mainz 1866–1874 (reprint: Jerusalem 1967).8 Israel b. Josef Benjamin: Acht Jahre in Afrika undAsien. Hannover 1858.9 Davon zeugt nicht zuletzt auch sein Magnum opus: AMediterranean Societey. 6 Bände. Berkeley/Los Angeles/London 1967–1993 (2. Auflage 1999).10 S. D. Goitein: Jews and Arabs – their contacts throughthe ages. New York 1955 (3. Auflage 1974), S. 11–12.11 G. D. Newby: A History of the Jews of Arabia. From an-cient times to their eclipse under Islam. Columbia. SC1998 (= Studies in comparative religion).12 N. A. Stillmann: The Jews of Arab Lands. A History andSource Book. Phildadelphia 1979, S. 3–21; S. 199–123; S. 129–151.13 Texte u. a. in N. A. Stillmann: The Jews of Arab Lands.A History and Source Book. Philadelphia 1979, S. 115–188 und S. 157–158.14 M. Hamidullah: The First Written Constitution in theWorld. Lahore, 2. Auflage 1968.15 M. R. Cohen: Unter Kreuz und Halbmond, S. 68–87;Under Crescent and cross, S. 52–74; S. 232–237 undders.: What was the Pact of Umar? A Literary-HistoricalStudy. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam, 23(1999), S. 100-157.16 B. Ye’or: The Dhimmi: Jews and Christians under Is-lam. With a preface by Jacques Ellul. Rutherford 1985;dies.: Juifs et chrétiens sous l’Islam: les dhimmis face audéfi intégriste. Parids 1994; dies.: Der Niedergang desorientalischen Christentums unter dem Islam 7.–20. Jahr-hundert. Gräfelfing 2002; dies.: Islam und Dhimmitude:where civilizations collide. Madison. NJ 2002. So neuer-dings auch: Moshe Gil: Jews in Islamic. Countries in theMiddle Ages. Leiden-Boston 2004 (= Etudes sur le Ju-daisme Médiéval. Band 28).

17 Vgl. dazu auch sein in der FAZ vom 25.10.2003 veröf-fentlichtes Fazit: Zustände wie im alten Andalusien (http://www.qantara.de/webcom/schow_article.php/_c-469/_nr-98/i.html).18 M R. Cohen: Under Crescent and Cross., S. 161.19 F. Braudel: A History of Civilizations. Transl. R. Mayne.New York, 2. Auflage 1995, S. 50ff. u. S. 62-80.20 W. Fischel: Jews in the economic and political life ofmediaeval Islam. London 1937 (repr. with a new introduc-tion on the court Jew in the Islamic world: New York1969).21 S. D. Gotein: Letters of medieval Jewish traders. Trans-lated form the Arabic with introductions and notes. Prin-ceton, N. J. 1973.22 U. a. an ihn erinnerte die Ausstellung „Ex Oriente. Is-sak und der weiße Elefant: Bagdad – Jerusalem – Aachen“in Aachen (30.6.–28.9.2003); s. dazu auch den dreibän-digen Ausstellungskatalog.23 Vgl. J. Vernet: Die spanisch-arabische Kultur in Orientund Okzident. Zürich/München 1984, S. 290–291.24 J. Blau: The Emergence and Linguistic Background ofJudaeo-Arabic. Jerusalem, 3. Auflage 1999.25 Beispiele in: J. Blau: The Emergence and LinguisticBackground of Judaeo-Arabic., S. 133–166.26 Siehe dazu u. a. H. Lazarus-Yafeh: Some differencesbetween Judaism and Islam as two religions of law. In:Religion 14 (1984), S. 175–191.27 B. Lewis: Die Juden in der islamischen Welt., S. 67-100.28 Weitere Beispiele dazu bietet die Homepage von „Jewsfor Allah“ (http://www.jews-for-allah.org).29 Arab. Text in: Islam Samau al al-Maghribi. Ed. M.Perlmann. In: Proc. of the Amercian Academy of JewishResearch 32 (1964), S. 94–120 (arab. Zählung); engl.Übersetzung: M. Perlmann: The Conversion to Ilsma ofSamau’al ibn Yaya al-Maghribi. In: Proc. Of the AmericanAcademy of Jewish Research 32 (1964), S. 75–87.30 Arab. Text in: Said b. Manur Ibn Kammuna’s Examina-tion of the Inquiries into Three Faiths. A Thirteenth-Cen-tury Essay in Comparative Religion, ed. M. Perlmann, Ber-keley/Los Angeles 1967 (= Univ. of California Publ., NearEastern Studies no. 6), S. 102; engl. Übersetzung: M. Perl-mann: Ibn Kammuna’s Examination of the Three Faiths.A thirteenth-century essay in the comparative study of re-ligion. Berkeley/Los Angeles/London 1971, S. 149.31 Übersicht: H. Lazarus-Yafeh: Judeo-Arabic culture. In:Encyclopaedia Judaica Year Book 1977-1978, S. 101–109.32 F. Rosenthal: Das Fortleben der Antike im Islam. Zü-rich 1965; Erwin I. J. Rosenthal: Griechisches Erbe in derjüdischen Religionsphilosophie des Mittelalters. Stuttgart1960 (= Franz-Delitzsch-Vorlesungen 1957).33 D. Gutas: Greek Thought – Arabic Culture. The Grae-co-Arabic translation movement in Baghdad and earlyAbbasid society. London 1998.34 M. Steinschneider: Die hebräischen Übersetzungen desMittelalters und die Juden als Dolmetscher. Berlin 1893(repr. Graz 1956).35 J. Vernet: Die spanisch-arabische Kultur in Orient undOkzident. Zürich/München 1984, S. 80–86, S. 89–116, S. 125–128, S. 167–169 sowie S. 188–193. u. ö.36 M. Steinschneider: Die arabische Literatur der Juden:ein Beitrag zur Literaturgeschichte der Araber. Frankfurtam Main 1902 (repr. Hildesheim 1986); G. Bossong (ed.):Das Wunder von al-Andalus. München 2005.37 Hebräische Dichtung im christlichen Spanien. Dichterund ihre Absichten. In: Judaica 57 (2001), S. 2-19, S. 82-93.38 R. Ahroni: Yemenite Jewry: Origins, Culture, and Lite-rature. Bloomington 1986.39 A. Chouraqui: Les Juifs d’ Afrique du Nord: marchevers l’Occident. Paris 1952; ders.: Histoire des Juifs enAfrique du Nord. 2 Bände. Monaco 1998; R. Spector Si-mon/M. M. Laskier/S. Reguer (eds.): The Jews of theMiddle East and North Africa in modern times. New York2003.40 A. Chouraqui (ed.): Cent ans d'histoire: l'alliance isra-élite universelle et la renaissance juive contemporaine(1860–1960). Paris 1965; M. M. Laskier: The Alliance Is-raélite Universelle and the Jewish communities of Moroc-co 1862–1962. Albany 1983 (= Publications of the Dia-spora Research Institute; Bd. 45); A. Rodrigue: FrenchJews, Turkish Jews: the Alliance Israélite Universelle andthe politics of Jewish schooling in Turkey, 1860–1925.Bloomington 1990.

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Zwischen den Welten – Zur Geschichte der Juden in der arabisch-islamischen Welt

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JÜDISCHE VORGESCHICHTE UNDMUSLIMISCHE NACHGESCHICHTE

Erst nach Bewusstwerden der antisemitischenHolocaust-Ereignisse, die ohne einen jahrhun-dertelangen christlichen Antijudaismus un-denkbar gewesen wären, haben Christen neudas theologische Gespräch mit dem lebendigenJudentum gesucht und gelernt, zumindest die-jenige jüdische Welt wieder neu in den Blickund ernst zu nehmen, der die neutestament-lichen Texte überhaupt ihre Entstehung ver-danken. Gelernt, gerade auch in der Geburtsge-schichte Jesu auf Signale zu achten, die ohneKenntnisse der Geschichte Israels gar nicht zuverstehen sind. Der damals selbstverständlichgegebene und bleibend prägende jüdischeWurzelgrund des Christus-Ereignisses rückteins Zentrum der Aufmerksamkeit.Es ist an der Zeit, sich einen zweiten Komplexbewusst zu machen, der auch bei der jüdisch-christlichen Re-Lektüre der neutestamentli-chen Geburtsgeschichte bisher außerhalb desBlickfeldes lag: die Nachgeschichte biblischerEreignisse und Figuren im Koran. Gerade dieGeschichten um Jesu Geburt haben nicht nureine jüdische Vor-Geschichte, sondern auch ei-ne muslimische Nach-Geschichte. Im Koranfinden sich in zwei Suren relativ ausführlicheBeschreibungen (mit Vorereignissen, Empfäng-nis, Nachereignissen), die starke Parallelen zuden neutestamentlichen Überlieferungen ent-halten, immer aber aus der dem Koran spezifi-schen theologischen Axiomatik gedeutet sind.

Daraus folgt: Gerade Muslime werden von ih-rer Heiligen Schrift aufgefordert, theologischüber das „Geheimnis“ der Geburt Jesu nachzu-denken, ähnlich wie Christen, wenn sie mit denentsprechenden Texten des Neuen Testamen-tes konfrontiert werden. Ein bemerkenswertesFaktum: Christen sind nicht nur auf Mithilfevon Juden angewiesen, wenn es um das Ver-ständnis ihrer eigenen heiligen Texte geht, son-dern auch herausgefordert, das zu hören, wieMuslime - die sich nicht weniger als Christenund Juden auf den Gott Abrahams berufen -diese Überlieferungen deuten. Gerade die Ge-schichten um Jesu Geburt können und könn-ten schon durch ihre Existenz im Koran einentrialogische Kommunikation zwischen Juden,Christen und Muslimen eröffnen. Einige Ansät-ze dazu zu zeigen am Beispiel der Geburtsge-schichte im Koran (zahlreiche andere Jesus-Texte oder christologisch relevante Aussagendes Koran bleiben hier außen vor), ist Sinn undZweck der folgenden Ausführungen.

DIE GEBURTSTEXTE IM NEUEN TESTAMENT

Vieles ist an Überlieferungen noch im Fluss, anTraditionen noch nicht fest, an Berichten nochnicht zementiert, wenn es im Neuen Testamentum die Geburt des Nazareners geht. Die Evan-gelisten Markus und Johannes kennen keineGeburtsgeschichten, auch der Apostel Paulusnicht. In der gesamten neutestamentlichenBriefliteratur dazu kein Wort. Nur die Evange-lien des Matthäus und des Lukas kennen Ge-burts-Überlieferungen, präsentieren sie aber ineiner Weise, welche den Bewegungscharakterder Überlieferungen noch erkennen lassen.Schon die Tatsache, dass es zwei unterschied-liche Geburtsgeschichten gibt, unterstreichtdas.Religiöse Unterweisung freilich hat in der Ver-gangenheit aus praktischen Zwecken sehr oftdiese sehr unterschiedlichen Geschichten har-monisiert und synthetisiert, d.h. die verschie-denen Berichte in eine harmonische Abfolgegebracht, bei der der eine Text den anderen aufsBeste ergänzte. Was bei Matthäus fehlte, er-setzte Lukas, wo Lukas etwas nicht tradierte,sprang Matthäus ein. So ergab sich ein angeb-lich gesichertes, gefestigtes Ganzes: Von Lukasnahm man die Vorgeschichte der Geburt Jesu:Ereignisse um Johannes den Täufer und dessenEltern Elisabeth und Zacharias (des ZachariasBestrafung durch Stummheit wegen Unglau-ben). Dann die Erscheinung des Erzengels Ga-briel in Nazareth vor Maria mit der Ankündi-gung der Geburt. Anschließend Marias Besuchim Hause Elisabeths. Dann die Geburt des Jo-hannes und die Lösung von Zacharias' Strafe.Dann die Volkszählung unter Augustus, da-durch Wanderung Marias und Josephs von Na-zareth nach Bethlehem. Jesu Geburt, die En-gelserscheinung vor den Hirten, die Huldigungder Hirten. Von Matthäus werden jetzt einge-schoben die Huldigung der Sterndeuter, die

Flucht nach Ägypten und der Kindermord inBethlehem, dann der Tod des Herodes sowie dieRückkehr aus Ägypten und Wohnsitz in Naza-reth. Nach Lukas kommt es acht Tage nach derGeburt zur gesetzlich vorgeschriebenen Be-schneidung des Kindes, gut vier Wochen späterzur Reinigung Marias im Jerusalemer Tempelmit dem Auftritt eines alten Mannes namensSimeon und einer Prophetin namens Hanna,bevor die Familie nach Nazareth zurückkehrt.

KONSTRUIERTE „EVANGELIENHARMONIE“UNTERSCHLÄGT DIE DIFFERENZEN

Diese künstlich konstruierte „Evangelienhar-monie“ unterschlägt freilich die Differenzenzwischen beiden neutestamentlichen Überlie-ferungen, ja die Widersprüche untereinander,vor allem aber auch das jeweilige theologischeProfil. Denn bei genauer Lektüre ist ja unüber-sehbar, dass beide Berichte in vielen Details er-heblich voneinander abweichen. Unterschiedegibt es bei der Geographie und Chronologie(auf die ich nicht im Einzelnen hinweisen wer-de). Unterschiede auch im kompositorischenAufbau – mit Konsequenzen für das jeweiligetheologische Profil.� Matthäus setzt einen Stammbaum Jesu ganz

an den Anfang seiner Geburtsgeschichte(1,1–17), Lukas dagegen an das Ende, kurz vordem öffentlichen Auftreten Jesu, als er schon30 Jahre alt ist (3,23–38). Während Matthäusals Judenchrist aus messialogischen Grün-den das Interesse hat, Jesus mit den Haupt-trägern der göttlichen Verheißung, Abrahamund David, und mit der davidischen Nach-kommenschaft zu verbinden, ist der Stamm-baum von Lukas, dem Heidenchristen, er-kennbar universalistischer. Von Abraham istbei ihm nicht die Rede, wohl aber führt er dieAbstammung Jesu auf Adam, je letztlich aufGott zurück (Lk 3,23–38). Ist Jesus bei Matt-häus als Davids- und Abrahamssohn qualifi-ziert, so bei Lukas als Nachkomme Adams, derwie Adam (ohne irdischen Vater) aus GottesInitiative heraus ein neues Menschenge-schlecht begründen soll.

� Die Täufergeschichten um Johannes, Sohnvon Zacharias und Elisabeth, baut Lukas großaus. Er setzt die Ankündigung der Geburt desJohannes vor die von Jesus, verknüpft beideGeschichten durch die Figuren Maria und Eli-sabeth und gibt dem Vater von Johannes, Za-charias, durch einen theologisch und sprach-lich präzise komponierte Hymnus (1,67–79)starkes Profil, bevor er nach der Geburt Jesuauf den Täufer noch einmal zurückkommt,um über sein öffentliches Auftreten zu be-richten (3,1–22). Matthäus dagegen kenntkeine Geburtsgeschichten um Johannes. Fürihn ist der Täufer erst kurz vor dem öffent-lichen Auftreten Jesu interessant, in einerkurzen Szene (3,1–17), die den Täufer nochmehr als Lukas als reine Kontrastfigur zu Je-sus macht (ohne wie Lukas am Schicksal des

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MÖGLICHKEITEN EINES DIALOGS ZWISCHEN CHRISTEN UND MUSLIMEN

Die „Weihnachtsgeschichte“ im Koran (Suren 19,1–38; 3,35–49)KARL-JOSEF KUSCHEL

Die neutestamentliche Geburtsgeschich-te hat nicht nur jüdische Wurzeln, son-dern auch eine muslimische Nachge-schichte. So finden sich im Koran zweiSuren, die in ausführlichen Beschreibun-gen Parallelen zu den Ereignissen und Fi-guren im Neuen Testament aufweisen.Karl-Josef Kuschel arbeitet eng an diesenQuellen und zeigt so Übereinstimmun-gen, aber auch trennende Unterschiedezwischen christlichem und islamischemGlauben. Gerade die Geschichten um dieGeburt Jesu könnten schon durch ihreExistenz im Koran eine Kommunikationzwischen Juden, Christen und Muslimeneröffnen. Die „Weihnachtsgeschichte“im Koran kann in dieser Betrachtungs-weise als Basis für einen Dialog vonChristen und Muslimen gelesen werden.Sie kann – so die These von Karl-Josef Kuschel – das Gemeinsame im Lichte desTrennenden und das Trennende im Lich-te des Gemeinsamen kommunizierbarmachen. Ein solcher Dialog erfordertgegenseitigen Respekt vor den jeweili-gen Glaubensentscheidungen.

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Täufers weiter interessiert zu sein: Lk 3,19f.),zum bloßen Vor-Läufer also, der anschlie-ßend von dem überboten wird, der „mit demHeiligen Geist und mit Feuer taufen“ wird (Mt 3,11; Lk 3,16).

� Bedeutende Unterschiede auch hinsicht-lich der Geburtsgeschichte selbst. Nach Prä-sentierung seines Stammbaums kommtMatthäus ohne weitere Überleitung undZwischenschritte gleich zur Sache. Schonsein Vorgeburts-Bericht ist in seiner lapida-ren Kürze kaum noch zu unterbieten:

Lukas dagegen baut die Szene narrativ aus undgibt seinen Lesern mehr Informationen. Bei ihmbleibt der Engel nicht anonym, sondern trägteinen Namen: Gabriel. Bei ihm erscheint derEngel nicht Joseph (wie bei Matthäus durchge-hend), sondern Maria. Bei ihm bleibt der Ort derBegegnung Engel-Maria nicht unbekannt, son-dern wird konkret: eine Stadt in Galiläa namensNazareth. Bei ihm bleibt die narrative „Kamera-führung“ bei Maria, der Frau: Von ihrer Aus-zeichnung wird berichtet, ihr wird die Größe ih-res künftigen Sohnes geschildert, ihre Reaktionbleibt im Blick („Wie soll das geschehen, da ichkeinen Mann erkenne?“).Woran Matthäus offensichtlich das größteInteresse hat, darüber bei Lukas kein Wort.Matthäus lässt seinen Engel Joseph gegenübersofort auf die soziale Problematik kommen, imWissen darum, dass eine Frau, die noch nichtverheiratet ist und ein Kind erwartet, sozialskandalträchtig ist. Joseph muss - gewisser-maßen auf göttlichen Eingriff hin - ruhig ge-stellt werden: „Fürchte dich nicht, Maria alsdeine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, dassie erwartet, ist vom Heiligen Geist“. Matthäusweiß also, dass die Verwendung des MotivsGeistzeugung und Jungfrauengeburt sozialprekär ist, deshalb muss er das Hindernis theo-zentrisch beseitigen. Diesen göttlichen Eingriffum sozialpsychologischer Krisenprophylaxewillen findet Lukas offensichtlich nicht nötig.Er kennt von alldem nichts. Das Gefühl, etwas

„Mit der Geburt Jesu Christi war es so: Maria,seine Mutter, war mit Joseph verlobt; noch be-vor sie zusammengekommen waren, zeigtesich, dass sie ein Kind erwartete – durch dasWirken des Heiligen Geistes. Joseph, ihr Mann,der gerecht war und sie nicht bloßstellen woll-te, beschloss, sich in aller Stille von ihr zu tren-nen. Während er noch darüber nachdachte, er-schien ihm ein Engel des Herrn im Traum undsagte: Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht,Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denndas Kind, das sie erwartet, ist vom HeiligenGeist. Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollstdu den Namen Jesus geben; denn er wird seinVolk von seinen Sünden erlösen. Dies alles ge-schieht, damit sich erfüllte, was der Herr durchden Propheten gesagt hat: ‚Seht, die Jungfrauwird ein Kind empfangen, einen Sohn wird siegebären, und man wird ihm den Namen Imma-nuel geben, das heißt übersetzt: Gott ist mituns.' Als Joseph erwachte, tat er, was der Engeldes Herrn ihm befohlen hatte, und nahm sei-ne Frau zu sich. Er erkannte sie aber nicht, bissie ihren Sohn gebar. Und er gab ihm den Na-men Jesus.“ (1,18–25)

Unmögliches zu erwarten, bleibt bei ihm ganzin der intimen Szene zwischen Engel und Ma-ria. Während also Matthäus ganz aus der Per-spektive des Mannes und der Öffentlichkeit er-zählt, erzählt Lukas ganz aus der Perspektiveder Frau und der Intimität. Unterschiedlicherkönnten die Perspektiven kaum sein. Ähnlichbei der Geschichte der Geburt selber.

ÜBEREINSTIMMENDE THEOLOGISCHEGRUNDBOTSCHAFTEN

Und doch - trotz aller unterschiedlichen, zumTeil widersprüchlichen Informationen in Ein-zelfragen: beide neutestamentlichen Geburts-Geschichten stimmen in der theologischenGrundbotschaft durchaus überein:� Mit der Geburt Jesu ist von Gott her eine neue

Initiative erfolgt. Gott handelt wieder neu -rettend, erlösend. Der Himmel ist gewisser-maßen durchlässiger geworden, durchlässi-ger jedenfalls als früher, ja durchlässig wiefrüher zu Zeiten Abrahams, bei dem ebenfallsEngel ein- und ausgingen und eine alte Frauwieder fruchtbar wird. Elisabeth ist erkenn-bar als Sarah-Figur konzipiert, Zacharias alsAbraham-Figuration (Gen 18,11; 15,8). Esherrscht Frühzeit-Stimmung in dieser Spät-zeit. Deshalb können in beiden GeschichtenEngel wieder wie selbstverständlich als Bo-ten Gottes ein- und ausgehen. Sie sind Figu-ren der Deutung und der Führung des Ge-schehens. Deshalb können kosmische Zei-chen am Himmel Menschen den Weg zu demneuen Ereignis weisen. Deshalb kann der na-türliche Ablauf im Fall einer Geburt theozen-trisch unterbrochen werden. Beide Evange-listen legen Wert darauf: Gottes Geist zeugtdieses Kind, nicht ein Mensch. Göttliche Kraftist hier am Werk, nicht männliche Potenz.Symbolkräftiger kann man den Zäsurcharak-ter dieses Ereignisses kaum herausstellen.Nicht menschliche Geschichte und mensch-liche Physis zählen in diesem Moment, son-dern Gottes Geist, Gottes Handlung, GottesZeichen - entsprechend dem Satz des Engelsan Maria aus dem Lukas-Evangelium:

Dies ist in der Tat die theozentrische Pointe bei-der Geburtsgeschichten. Durch Jesu Geburtwird Unfruchtbares wieder fruchtbar, Abge-storbenes wieder kraftvoll, Totgeglaubtes wie-der lebendig.

DIE INITIATIVE GOTTES GILT SEINEM VOLK

� Die mit Jesu Geburt sichtbar gewordene In-itiative Gottes gilt vor allem seinem Volk: Is-rael. Und über Israel hinaus (aber immer mitIsrael und durch Israel) der Welt der Heiden-

„Der Heilige Geist wird über dich kommen, unddie Kraft des Höchsten wird dich überschatten.Deshalb wird auch das Kind heilig und SohnGottes genannt werden. Auch Elisabeth, deineVerwandte, hat noch in ihrem Alter einen Sohnempfangen; obschon sie als unfruchtbar galt,ist sie jetzt schon im sechsten Monat. Denn fürGott ist nichts unmöglich.“ (1,35–37)

völker. Mit dem Neugeborenen ist der Messi-as Israels endlich erschienen: an dieser Über-zeugung lassen beide Texte keinen Zweifel.Ja, sie tun durch ein fein gesponnenes Netzvon textlichen Deutungssignalen viel, umdies unabweisbar zu machen. Deshalb spie-len Prophetenworte in beiden Texten einegroße Rolle: ob Jesaja im Blick auf die jungeFrau, die ein Kind empfangen wird; ob derProphet Micha im Blick auf Bethlehem, derProphet Hosea im Blick auf Ägypten, der Pro-phet Jeremia im Blick auf den Kindermord.Gerade Matthäus ist in höchstem Maße dar-an interessiert, das Erscheinen Jesu einzu-betten in die Geschichte des Volkes Israel unddessen messianische Erwartungen. Von da-her zu Beginn seines Evangeliums derStammbaum: Jesus Christus programma-tisch herausgestellt als „Sohn Davids, SohnAbrahams“. Zwar deutet auch Matthäus mitder Sterndeuter-Huldigung die BedeutungJesu für die Heidenvölker wenigstens an, seinSchwerpunkt aber bleibt das Volk Israel, wieseine Engel-Szene mit Joseph deutlich ma-chen soll:

Ähnlich Lukas, der im Blick auf seine Adressa-ten (Heidenchristen) stärker noch Jesu Bedeu-tung nicht nur für Israel, sondern auch für dieVölkerwelt betont. Durch kunstvoll komponier-te Hymnen, die entweder Maria („Magnificat“),Zacharias („Benedictus“) oder Simeon („Nuncdemittis“) in den Mund gelegt werden, wird dieDoppelperspektive Stück für Stück vorbereitet.Im Lobgesang der Maria hieß es noch, Gott ha-be sich seines „Knechtes Israel“ angenommenund an sein „Erbarmen“ gedacht, das er den„Vätern verheißen“ habe: „Abraham und seinenNachkommen auf ewig“ (1,54f.). Auch bei Za-charias, immerhin Priester im Tempel zu Jeru-salem, dieselbe innerjüdische Perspektive: Gotthabe Israel „errettet“ vor seinen „Feinden“ undhabe das “Erbarmen mit den Vätern“ jetzt „voll-endet“. Er habe an „seinen heiligen Bund“ ge-dacht, an den Eid, den er dem Vater Abraham„geschworen“ habe. Er, Jesus, werde „sein Volkmit der Erfahrung des Heils beschenken in derVergebung der Sünden“ (1,71–73; 77). Bei Si-meon dann vollends:

Neben die theozentrische Perspektive („Dennfür Gott ist nichts unmöglich“, Lk 1,37) tritt beibeiden Evangelisten die „christozentrische“: Esist Jesus, der das geistgewirkte Zeichen Gottesist, „der Messias, der Herr“ (Lk 1,11), „Sohn Got-tes“, „Sohn des Höchsten“ (Lk 1,32; 1,35), mitdem ein neues Zeitalter beginnt. Das „Unmög-liche“, das Gott neu zu tun imstande ist, ge-

„Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du ge-sagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Au-gen haben das Heil gesehen, das du vor allenVölkern bereitet hast, ein Licht, das die Heidenerleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Is-rael.“ (2,29–32)

„Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst duden Namen Jesus geben; denn er wird sein Volkvon seinen Sünden erlösen.“ (1,21)

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Die „Weihnachtsgeschichte“ im Koran (Suren 19,1–38; 3,35–49)

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schieht also nach den neutestamentlichen Be-richten an Jesus, durch Jesus und mit Jesus.Seine Person, seine Botschaft, sein Geschicksteht jetzt und künftig im Zentrum, wenn sievon Gottes Handeln an seinem Volk und an denVölkern berichten wollen.

EINE SYSTEMATISCHE „CHRISTOLOGIE“LIEGT NICHT VOR

Und doch ist das Nachdenken über das Ge-heimnis des Nazareners in den Geburtsge-schichten noch so im Fluss wie die Überliefe-rung selbst. Schaut man sich nur die christolo-gischen „Titel“ an, so erkennt man, dass je nachjüdischer oder juden- bzw. heidenchristlicherPerspektive die Akzente anders gesetzt seinkönnen. Mehrere Titel stehen nebeneinander,schließen sich nicht aus. Eine abgeschlossene,gar systematisierte „Christologie“ liegt nichtvor. Matthäus kann Jesus „Kind vom HeiligenGeist“, „König der Juden“, „Messias“ nennen.Bei Lukas stehen nebeneinander: „Sohn desHöchsten“, „Davidssohn“, „Gottessohn“, „Herr“oder „Messias“. Ja, gerade die jüdischen Gestal-ten in der Geburtsgeschichte des Lukas benut-zen eine auffällige Titulatur. Der Vertreter derJerusalemer Priesterklasse, Zacharias, erblicktin dem Kind einen „Prophet des Höchsten“, derdie „barmherzige Liebe unseres Gottes“ verkör-pere, denn er werde „dem Herrn vorangehenund ihm den Weg bereiten“ sowie „sein Volk mitder Erfahrung des Heils beschenken in der Ver-gebung der Sünden“ (1,76f.). Und ein Mann wieSimeon erblickt in dem Neugeborenen nichtnur „den Messias des Herrn“ (2,26), sondernauch ein „Zeichen“ (2,34). Ein Zeichen Gottes inIsrael, dem widersprochen werde! Diese Signa-le wollen wir im Kopf behalten, wenn wir nundie Geburtsgeschichten im Koran uns anschau-en: Prophet des Höchsten, der die „barmherzi-ge Liebe unseres Gottes“ verkörpert, und „Zei-chen“ Gottes, dem widersprochen werdenwird!

DIE GEBURTSGESCHICHTEN IM KORAN

Wie im Neuen Testament gibt es auch im Koranzwei Texte zur Geburt Jesus, und zwar in Sure 3und Sure 19. Sure 19 ist nach der relativenChronologie von Nöldeke/Schwally (1861) derjüngere Text: in der zweiten Periode von Mekkageoffenbart (615-620). Sure 3 kommt später inMedina hinzu. Unsere Aufmerksamkeit giltdeshalb zunächst dem früheren Text.

DAS NARRATIVE UND THEOLOGISCHEPROFIL VON SURE 19

Wenn Sure 19 in den Blick kommt, muss zu-gleich im Blick bleiben, dass ihr 57 Suren derBotschaft von Mekka bereits vorausgehen.Grundthemen der prophetischen Botschaftsind damit längst eingeführt und breit entfal-tet: die Attacke des Propheten auf die sozialeRücksichtslosigkeit und Diesseitsorientiertheitder polytheistisch orientierten Mehrheitsge-sellschaft Mekkas; darunter der Stamm der Quraisch, dem auch Mohammed angehörteund aus dem sich das politisch einflussreichste

und wirtschaftlich hochprofitable Establish-ment rekrutierte. Dagegen stellt Mohammeddie immer wieder erneut eingeschärfte Erinne-rung an die Macht des einen und einzigen Got-tes, des Schöpfers der Welt und jedes einzelnenMenschen: So wie Gott die Welt und den Men-schen geschaffen hat, kann er die Welt und denMenschen zerstören und wieder zu neuem Le-ben erwecken. Es gibt eine Auferstehung derToten, es gibt ein Gericht über des MenschenTaten und Untaten, die genau aufgezeichnetsind durch eine Lebens-Schrift bei Gott. Und esgibt für die Glaubenden und sozial Sensiblennach dem Gericht das Paradies, für die Unglau-benden, Rücksichtslosen, Diesseitsverliebtendie Hölle. Dass Mohammed mit einer solchenBotschaft, die nicht nur soziale Besitzstände,sondern die ganze Existenz des Menschenschöpfungs- und gerichtstheologisch in Fragestellte, auf Misstrauen, Verspottung, Ableh-nung, ja Anfeindung durch das Establishmentvon Mekka stieß, kann man ohne weitere Erläu-terungen nachvollziehen.

ERINNERUNGSBOTSCHAFT, WARN- UNDGERICHTSREDE

In diesem Kontext muss auch Sure 19 verstan-den werden. Auch sie ist hineingesprochen indie konkrete Kampfsituation des Propheten inMekka und lässt erkennen, wie sehr die kleinemuslimische Urgemeinde (70-80 Personenumfassend) im Konflikt lebt mit einer sie ab-lehnenden, verspottenden, marginalisierendenund befeindenden Mehrheitsgesellschaft inMekka. So endet denn Sure 19 ebenfalls mit derfür die Verkündigung von Mekka charakte-ristischen Erinnerungsbotschaft in Form einerWarn-, Droh- und Gerichtsrede:

Ein Instrument, diese Erinnerungs-, Warn- undGerichtsrede zu konkretisieren, ist die aktua-lisierende Bewusstmachung früher erfolgterBotschaften, früher bereits von Gott gesandterPropheten. Sie alle haben dieselbe Botschaftverkündet: Glaube an den einen und einzigenGott, den Schöpfer und Richter von Welt und

„Der Mensch sagt (in seinem Unverstand):‚Werde ich (etwa), wenn ich (erst einmal) ge-storben bin, lebendig (aus der Erde wieder)hervorgebracht werden?' Bedenkt er dennnicht, dass wir ihn vorher geschaffen haben,während er (bis dahin) nichts war? Bei deinemHerrn! Wir werden sie (d.h. die Menschen) unddie Satane (dereinst) (...) versammeln. Hieraufwerden wir sie rings um die Hölle auf den Knienliegend (zum Gericht) vorführen (...). Wasmeinst du wohl von dem, der an unsere Zei-chen nicht glaubte und sagte: ‚Ich werde be-stimmt (viel) Vermögen und Kinder bekom-men'. Hat er etwa in das Verborgene Einblickgewonnen? Oder hat er beim Barmherzigenein (bindendes) Versprechen erhalten? Nein!Wir werden (zu seinen Lasten) aufschreiben,was er sagt, und ihm die Strafe noch verlän-gern (oder: erhöhen?). Und wir werden vonihm erben, was er sagt (das er bekommen wer-de). Und er wird einzeln zu uns (zum Gericht)kommen.“ (19,66-68; 77–80)

Mensch. Und: Ermahnung zu einem Gott ent-sprechenden sozialen Verhalten, zu einemEthos, konkretisiert in regelmäßigem Gebet, re-gelmäßigem Fasten und verbindlicher Rück-sicht auf die Armen und Schwachen. Von daherist es kein Zufall, dass Sure 19 auf eine ganzeReihe von großen prophetischen Figuren derVergangenheit verweist, die denn auch nachder Geburtsgeschichte Jesu angeführt werden:auf Adam, Noah, Abraham, Ismael und Mose.Programmatisch aber beginnt Sure 19, die so-gar im „Titel“ den Namen „Maria“ trägt, mit derGeburt Jesu, der (parallel zum Evangelisten Lu-kas) die Geschichte von der Geburt des Johan-nes vorgeschaltet ist:

DIE GEBURT DES JOHANNES

Wie das Evangelium des Lukas schaltet derKoran also vor die eigentliche Geburtsge-schichte Jesu die des Johannes, und wie derEvangelist ist auch der Koran am überra-schenden Eingreifen Gottes schon im Fall des

„Gedacht sei (in dieser Verkündigung) derBarmherzigkeit, die dein Herr seinem DienerZacharias bezeigt hat! (Damals) als er im Stil-len seinen Herrn anrief! Er sagte: ‚Herr! Das Ge-bein ist mir schwach geworden, und der Kopfaltersgrau. Und ich hatte, wenn ich zu dir, Herr,betete (noch) nie Misserfolg (w. ich war beimGebet zu dir, Herr, nicht unglücklich). Ichfürchte nun, dass die weiteren Verwandtenund Angehörigen (als einzige) mich überle-ben werden (w. Ich fürchte die Maula–s nachmir). Meine Frau war (ja) unfruchtbar. Darumschenk mir von dir einen Nächstverwandten(Walı–), der mich beerben, und der (auch etwas)von der Sippe Jakobs erben wird! Und machihn, Herr, (dir) wohlgefällig!“ (Gott sagte:)‚ Za-charias! Wir verkünden dir einen Jungen mitNamen Johannes, wie wir vor ihm noch keinengenannt haben.' Zacharias (w. Er) sagte: ‚Herr!Wie soll ich (noch) einen Jungen bekommen,wo meine Frau unfruchtbar war und ich (mei-nerseits) steinalt geworden bin (w. und ich vomhohen Alter Auszehrung (?) erreicht habe)? Er(d.h. Gott) sagte: ‚So (ist es, wie dir verkündetwurde). Dein Herr sagt: (oder: So hat dein Herr(es an)gesagt.) Es fällt mir leicht (dies zu be-werkstelligen), wo ich dich doch vorher ge-schaffen habe, während du (bis dahin) nichtswarst.' Zacharias (w. Er) sagte: ‚Herr! Mach mirein Zeichen (zum Beweis dessen, was du mirverkündet hast)!' Gott (w. Er) sagte: ‚Dein Zei-chen sei, dass du drei Tage ohne Unterbre-chung (?) (w. gleichmäßig) nicht mit den Leu-ten sprichst!' Da kam er aus dem Tempel zu sei-nem Volk heraus und gab ihm (durch Zeichen)zu verstehen (w. gab ihnen ein): ‚Preiset (Gott)morgens und abends!'‚Johannes! Halte die Schrift fest (in deinem Be-sitz)!' Und wir gaben ihm (d.h. dem Johannes)(schon) als (kleinem) Knaben Urteilsfähigkeit,Zuneigung (oder: Erbarmen) von uns und Lau-terkeit. Er war gottesfürchtig und pietätvollgegen seine Eltern, nicht gewalttätig undwiderspenstig. Heil sei über ihm am Tag, da ergeboren wurde, am Tag, da er stirbt, und amTag, da er (wieder) zum Leben auferwecktwird!“ (Sure 19,1–15)

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KARL-JOSEF KUSCHEL

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Johannes interessiert. Doch ein genauer Ver-gleich von Sure 19,1-15 mit Lukas 1,5-25 er-gibt ein sehr unterschiedliches theologischesProfil:� Lukas hatte die Johannes-Geschichte an-

schaulich lokalisiert und präzise verge-schichtlicht: Vater Zacharias ist ein Priesterim Jerusalemer Tempel, gehört zur Priester-klasse Abija; die Mutter von Johannes heißtElisabeth und stammt aus dem GeschlechtAarons; der erscheinende Engel heißt Ga-briel; die Erscheinung vor Zacharias findetkonkret an einem Ort statt, in Jerusalem, prä-zise im Tempel. Der Koran dagegen entloka-lisiert, entgeschichtlicht. Als handelnde Per-sonen braucht er nur noch Zacharias und Jo-hannes. Elisabeth taucht namentlich schonnicht mehr auf, nur in der Spiegelung ihresMannes („meine Frau unfruchtbar“). Undstatt des Engels Gabriel redet Gott selbst zuZacharias. Ein Ort ihrer Begegnung ist nichterwähnt. Die ganze Szene scheint wie feinstilisiert, wie zurückgenommen, wie ausge-dünnt, wie entweltlicht.

� Unterstrichen wird diese narrativ inszenierteWelt-Zurücknahme dadurch, dass Zachariasfür den Koran nicht als konkrete Person ausdem Judentum interessant ist, sondern als Ty-pus, und zwar als Typus eines Gott vertrauen-den Beters, dessen Gebetswunsch von Gott er-hört wird: konkret die Geburt eines Sohnestrotz hohen Alters des Mannes, trotz Un-fruchtbarkeit der Frau. Auffällig ist: Währendbei Lukas Zacharias diesen seinen Wunschschon lange vorgetragen hatte (so dass er andessen Erfüllung angesichts des fortgeschrit-tenen Alters kaum noch glauben kann),scheint im Koran die Bitte des Zacharias zumersten Mal geäußert - ganz im Bewusstsein,dass Zacharias, wenn er zu Gott betete, noch„nie Misserfolg“ gehabt hat. Bei Lukas bleibtdenn auch Zacharias psychologisch konse-quent bei seiner Skepsis, selbst als der Engelerscheint - und wird für diesen Akt des Un-glaubens mit Stummheit bestraft, was ganzeneun Monate bis zur Geburt Johannes' andau-ern wird. Im Koran sind daraus drei TageStummheit geworden, und dieses „Zeichen“ist nicht Ausdruck der Bestrafung durch Gott,sondern des Vertrauens in Gottes Macht. Sowie der Schöpfergott einem alten, unfrucht-baren Elternpaar neues Leben schenken kann(„Es fällt mir leicht, dies zu bewerkstelligen, woich dich doch vorher geschaffen habe, wäh-rend du (bis dahin) nichts warst.“), so kann der-

selbe Gott auch ein anderes Zeichen geben: ei-nen Menschen kurze Zeit verstummen lassen.

� Während der Evangelist Lukas (in Überein-stimmung mit Matthäus) Johannes alsKontrastfigur für Jesus funktionalisiert, alsVor-Läufer, der anschließend umso wir-kungsvoller durch Jesus überboten werdensoll, so gebraucht der Koran Johannes offen-sichtlich als Parallelfigur, an der Gott schonvollbracht hat, was er dann im Falle Jesuwiederholt. Auffällig ist: Während Lukas Jo-hannes zwar durch einen Engel Gottes ange-kündigt sein lässt, aber die Empfängnis nichtdurch den Heiligen Geist, sondern durch denoffensichtlich auf wundersame Weise wie-der fruchtbar gewordenen Zacharias vor-nehmen lässt (1,23f.), lässt der Koran keinenZweifel, dass schon Johannes Gottesge-schöpf ist wie anschließend Jesus. Auffälligferner die parallelen Aussagen über Johan-nes und Jesus, wie wir sehen werden: Lauter-keit bei beiden, Pietät gegen Eltern bzw. Mut-ter, nicht gewalttätig, im Besitz der Schrift,ganz offensichtlich die Tora, die nach demKoran die „Entscheidung Gottes“ beinhaltet(5,43). Johannes soll offensichtlich die Anlie-gen dieses Buches erfüllen. Und da ihm „Ur-teilsfähigkeit“ (schon als kleinem Kind) attes-tiert wird, kann es sich dabei nur um das Wis-sen religiöser Dinge handeln: Zeichen desProphetenamtes! Von Jesus wird es gleich

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Die „Weihnachtsgeschichte“ im Koran (Suren 19,1–38; 3,35–49)

DER UNTERSCHIED ZWISCHEN CHRISTENTUM UND

ISLAM IST: „FÜR CHRISTEN IST GOTTES WORT IN JESUS

MENSCH GEWORDEN. IM ISLAM IST GOTTES WORT IM

KORAN BUCH GEWORDEN“ (KARL-JOSEF KUSCHEL).picture alliance / dpa

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anschließend ebenfalls heißen, Gott habeihm „die Schrift gegeben“ und ihn „zu einemPropheten gemacht“! Ja, auch die abschlie-ßende Segensformel wird dann im Jesus-Teilwortwörtlich wiederholt werden: „Heil seiüber ihn am Tage, da er geboren wurde, amTag, da er stirbt und am Tag, da er (wieder)zum Leben auferweckt wird!“

In summa: Während das Neue Testament Jo-hannes als Kontrastfigur (zum Zwecke spä-terer Überbietung) zu Jesus braucht, ist die Johannes-Geschichte im Koran eine weitereExempelgeschichte für die Macht des Schöp-fergottes, der, wenn er will, aus Unfrucht-barem und Abgestorbenem neues Leben er-wecken kann.

DIE GEBURT JESU

Und doch sind mit der Person Jesus selber nocheinmal andere Akzente verbunden, wie die nunfolgende Geburtsgeschichte zeigt:

„Und gedenke in der Schrift der Maria! (Da-mals) als sie sich vor ihren Angehörigen an ei-nen östlichen Ort zurückzog! Da nahm sie sicheinen Vorhang (oder: eine Scheidewand) (umsich) vor ihnen (zu verbergen). Und wir sand-ten unseren Geist zu ihr. Der stellte sich ihr darals ein wohlgestalteter (w. ebenmäßiger)Mensch. Sie sagte: ‚Ich suche beim ErbarmerZuflucht vor dir. (Weiche von mir) wenn du got-tesfürchtig bist!' Er sagte: ‚(Du brauchst keineAngst vor mir zu haben.) Ich bin doch der Ge-sandte deines Herrn. (Ich bin von ihm zu dir geschickt) um dir einen lauteren Jungen zuschenken.' Sie sagte: ‚Wie sollte ich einen Jungen bekommen, wo mich kein Mann (w.Mensch) berührt hat und ich keine Hure bin?(oder: ... berührt hat? Ich bin (doch) keine Hu-re!)' Er sagte: ‚So (ist es, wie dir verkündet wur-de). Dein Herr sagt: (oder: So hat dein Herr [es an]gesagt.) Es fällt mir leicht (dies zu be-werkstelligen). Und (wir schenken ihn dir) da-mit wir ihn zu einem Zeichen für die Menschenmachen, und weil wir (den Menschen) Barm-herzigkeit erweisen wollen (w. aus Barmher-zigkeit von uns). Er ist eine beschlossene Sa-che.' Da war sie nun schwanger mit ihm (d.h.dem Jesusknaben). Und sie zog sich mit ihm aneinen fernen Ort zurück. Und die Wehen ver-anlassten sie, zum Stamm der Palme zu gehen.Sie sagte: ‚Wäre ich doch vorher gestorben undganz in Vergessenheit geraten!' Da rief er (d.h.der Jesusknabe) ihr von unten her zu: ‚Sei nichttraurig! Dein Herr hat unter dir (d.h. zu deinenFüßen?) ein Rinnsal (voll Wasser) gemacht.Und schüttle den Stamm der Palme (indem duihn) an dich (ziehst)! Dann lässt sie saftige, fri-sche Datteln auf dich herunterfallen. Und ißund trink und sei frohen Mutes (w. kühlen Au-ges)! Und wenn du (irgend)einen von den Men-schen siehst, dann sag: Ich habe dem Barmher-zigen ein Fasten gelobt. Darum werde ich heutmit keinem menschlichen Wesen sprechen.'Dann kam sie mit ihm zu ihren Leuten, indemsie ihn (auf dem Arm) trug. Sie sagten: ‚Maria!Da hast du etwas Unerhörtes begangen.Schwester Aarons! Dein Vater war doch keinschlechter Kerl (w. Mann) und deine Mutter

Parallelen zu christlichen Überlieferungen sindmit Händen zu greifen: � Parallelen zur Geburtsgeschichte des Lukas

mit Gottesbotschaft an Maria (Lukas: durchden Engel Gabriel; Koran: durch Gottes Geist),Zweifelsmotiv (bei Matthäus: Joseph; bei Lukas: Maria) und Prädikation des angekün-digten Kindes („lauterer Junge“, „Zeichen fürdie Menschen“ von Gottes Barmherzigkeit),schließlich die gottgewirkte Zeugung desKindes, wobei Sure 19 auffälligerweise den vi-sionären Charakter der Gottesbegegnung beiMaria betont: Der Geist Gottes „stellt sich ihrdar ‚als' ein wohlgestalteter Mensch“.

� Parallelen aber auch zu außerkanonischenchristlichen Überlieferungen, auf welche diereligionsvergleichende Forschung schon vorvielen Jahrzehnten aufmerksam gemachthat (nachzulesen im Koran-Kommentar vonKhoury oder bei Bauschke). Zum Rückzug aneinen „fernen Ort“ gibt es eine gewisse Paral-lele im vorkoranischen apokryphen Evange-lium des Jakobus'. Zum „Quell- und Palm-wunder“ (Tränkung und Speisung durchQuelle und Baum, Rede des Neugeborenen)gibt es Parallelen im Pseudo-Matthäus-Evangelium, das dieses Ereignis im Zu-sammenhang mit der Ägypten-Flucht schil-dert, aber aus nachkanonischer Zeit stammt.

EIGENSTÄNDIGE EXEGESE DERGEBURTSGESCHICHTE IM KORAN

Christliche Koran-Interpreten haben sich in derVergangenheit gerne auf den Aufweis solcherParallelisierungen beschränkt und waren dannmit Korantexten rasch fertig - nach der Devise:Alles, was der Koran theologisch zu bieten hat,steht entweder in der Hebräischen Bibel, imNeuen Testament oder in sonstigen jüdischenoder christlichen Quellen, ein Konglomerat ausVerstandenem und Unverstandenem, eine Mi-schung aus Gewusstem und Nichtgewusstem.Originell ist der Koran schon von daher nicht,theologisch ernst zu nehmen schon gar nicht.Eine solche Haltung schreibt nicht nur einejahrhundertelange fatale Geschichte christ-licher Superiorität über den Islam fort, sondernist auch wissenschaftlich-hermeneutisch un-seriös. Sie blendet jegliches Selbstverständnisdes Koran aus und spart sich jede Mühe umAuslegung eines Textes nach den ihm imma-nenten Kriterien: literarischen Formentschei-

keine Hure.' Da wies sie auf ihn (d.h. den Jesus-knaben). Sie sagten: ‚Wie sollen wir mit einemsprechen, der als kleiner Junge (noch) in derWiege liegt?' Er sagte: ‚Ich bin der Diener Got-tes. Er hat mir die Schrift gegeben und mich zueinem Propheten gemacht. Und er hat ge-macht, dass mir, wo immer ich bin, (die Gabedes) Segen(s) verliehen ist, und mir das Gebet(zu verrichten) und die Almosensteuer (zu ge-ben) anbefohlen, solange ich lebe, und (das ich)gegen meine Mutter pietätvoll (sein soll). Under hat mich nicht gewalttätig und unselig ge-macht. Heil sei über mir am Tag, da ich gebo-ren wurde, am Tag, da ich sterbe, und am Tag,da ich (wieder) zum Leben auferweckt werde!'Solcher Art (w. Dies) ist Jesus, der Sohn der Ma-ria ...“ (Sure 19,16–34)

dungen, rhetorischen Stilmitteln, situativemGebrauch und theologischer Programmatik.Unterzieht man sich dieser Mühe aber, erkenntman, dass der Koran eine sowohl literarisch alsauch eine theologisch eigenständige Exegeseder Geburtsgeschichte Jesu betreibt. Sie exaktzu profilieren, in Übereinstimmungen und Dif-ferenzen im Lichte der jeweiligen theologi-schen Axiomatik, ist Voraussetzung jedesernsthaften Dialogs. Ich fasse das Wesentlicheknapp zusammen: � Schon formalästhetisch ähnelt der Geburts-

text im Koran (wie schon im Fall des Johan-nes) mehr einer feinen Skizze als einer ausge-arbeiteten Szene. Andeutungen, Abbreviatu-ren, knappste Angaben genügen ihm. Plötz-lich ist Maria eingeschaltet, ohne weitereÜberleitung, Vorbereitung, Umstände - mitder für den Koran charakteristischen Leser-oder Höreradresse: „Und gedenke“. Der Textwill also - gemäß der im Koran generell ge-nutzten Verfahrensweise - nicht nur Vergan-genes zitieren, sondern aktualisieren. Er willerinnern, bewusst machen und damit zu Kon-sequenzen für heute aufrufen. Deshalb be-schränkt sich der Koran in dieser Szene aufknappst mögliche Angaben. Nicht auf Detailskommt es an, sondern auf das Wesentlicheder Sache.

� Maria hat sich an einen „östlichen Ort“ zu-rückgezogen, der nicht näher benannt wird,auch nicht näher benannt werden muss.Denn es geht um die Bewegung „Rückzug“ alssolche, die Struktur der Reduktion. Diese istzum einen sozial motiviert als Rückzug Ma-rias vor ihren „Angehörigen“, deren negativeReaktion im zweiten Teil dieses Textes damitschon angedeutet ist. Sie ist zum zweitentheologisch-symbolisch motiviert, verstärktim nächsten Vers durch den erwähnten „Vor-hang“. Auch er nimmt die Rückzugs-Bewe-gung auf. Vorhang bedeutet ein Sich-Verber-gen, Sich-Abschließen vor der gewohntenUmwelt. Der Selbstzurücknahme im Raumentspricht die Selbstzurücknahme des Kör-pers. Erzählerisch entspricht beiden die be-wusste Entwirklichung der hier beschriebe-nen Welt, die durch Verknappung der Reali-tätsdetails wie durchsichtig erscheint.

� Szenisch-gestisch wird damit Gottesbegeg-nung vorbereitet, die hier in Gestalt des En-gels erfolgt. Nachdem die Welt selber trans-parent geworden ist wie ein dünner Vorhang,kann sie nun für Gott durchlässig sein, istGottesbegegnung vorbereitet. „Die sich wie-derholende Erwähnung des Rückzugs betontdie schlechthinnige Empfänglichkeit Marias.Nur so, fern von allen Menschen, mithin vonallen menschlichen Möglichkeiten - etwa ei-ner zeugenden Mitwirkung –, kann sie demEngel begegnen, die Verheißung hören, Jesusjungfräulich empfangen und dann zur Weltbringen“ (Bauschke 2000, S. 16). Auch der Dialog Engel - Maria wird auf das Wesentli-che reduziert: Angst auf Seiten Marias – Be-ruhigung der Angst durch den Gottesbo-ten – Ankündigung der Geburt – Zweifel beiMaria, wobei der Hinweis auf „keine Hure“wiederum ein Verweis nach vorn ist - auf dieSituation, die Maria dann mit ihrer sozialenUmwelt bestehen muss. Die erste Hälfte die-ses Textes also lebt ganz von zwei Rückzugs-bewegungen Marias, zwei Selbstzurücknah-

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men, die so die Empfangende für Gottes Geistwerden kann. Der zurückgenommene Raumals objektives Korrelat der Offenheit der Weltfür die Begegnung mit dem Göttlichen.

� Der Vorgang der Selbstzurücknahme desRaums wird auch im folgenden Vers nocheinmal wiederholt. Wieder heißt es, Mariahabe sich zurückgezogen, diesmal an einen„fernen Ort“. Zu denken ist an eine Wüsten-szenerie, was die Erwähnung des zweitenRaumdetails plausibler macht: „Stamm derPalme“. Die Wüste ist der nackte Raumschlechthin, Symbol der Leere, der Ort ohneEigenpotenz, der so seinerseits zum objekti-ven Korrelat für die Fülle Gottes, Gottes Prä-senz, Gottes Zur-Welt-Kommen ist. Dabei istder Koran an den Geburtsvorgängen und -umständen so wenig interessiert wie derEvangelist Matthäus. Er lenkt den Blick sofortauf das neugeborene Kind und seine wun-dersame Fähigkeit, zu sprechen, seine Mut-ter zu trösten und ihr in ihrer Todesangst(„Wäre ich doch vorher gestorben und ganzin Vergessenheit geraten“) zu helfen.

� Damit ist deutlich, wie kunstvoll der Koran indiesem Text mit Kontrasten arbeitet. Einer-seits die Entweltlichung der Welt, anderer-seits der Realismus der Welt: das ganz und garrealistisch geschilderte Erstaunen der Um-welt Marias über das Kind einer unverheira-teten Frau, der Verdacht der Hurerei. DemWunsch Marias, völlig vergessen zu werden,entspricht das fürsorgliche Wunder Gottes.Marias Todessehnsucht steht das lebendigeQuellwasser gegenüber. Die Bitterkeit ihrerSchmerzen bei der Geburt kontrastiert mit derwundersamen Labung durch süße Datteln.Dem Schweigegelübde der Erwachsenen ent-spricht das zweimalige Reden des Neugebo-renen. Der Text arbeitet also mit einem litera-risch bewusst gesetzten Kontrast zwischenRealismus und Stilisierung, zwischen Alltags-niedrigkeit und prophetischer Hoheit, zwi-schen konkreten Details der menschlichenGeschichte und Entwirklichung zum Zweckeder Transparenz für das Göttliche.

� Die Erinnerung an die Geburtsgeschichte vonJohannes und Jesus steht im Kontext derAuseinandersetzung Mohammeds mit dem„Unglauben“ in Mekka. Die Erinnerung istkein Selbstzweck, sondern ein Kampfmittel:„Und gedenke in der Schrift der Maria!“ - sohatte der Jesus-Text begonnen. Mit einerSpiegelung des aktuellen Kampfes Glaube -Unglaube endet er denn auch. Seine Fortset-zung lautet:

„Solcher Art (w. dies) ist Jesus, der Sohn der Ma-ria - um die Wahrheit zu sagen, über die sie (d.h.die Ungläubigen [unter den Christen?]) (immernoch) im Zweifel sind. Es steht Gott nicht an,sich irgendein Kind zuzulegen. Gepriesen seier! (Darüber ist er erhaben). Wenn er eine Sa-che beschlossen hat, sagt er zu ihr nur: ‚Sei!',und dann ist sie. Und (Jesus sagte:) ‚Gott istmein Herr und euer Herr. Dienet ihm! Das ist eingerader Weg.' Aber dann wurden die Gruppenuntereinander uneins. Wehe denen, die un-gläubig sind: Sie werden einen gewaltigen Tagerleben (w. Wehe denen, die ungläubig sind, im Hinblick auf das Erlebnis eines gewaltigen

� Die theologisch relevanten Fremd- undSelbstbestimmungen Jesu in Sure 19 werdenzunächst denen des Johannes parallel ge-führt. Wie Johannes ist Jesus Gottes Ge-schöpf (ohne Beteiligung eines irdischen Va-ters). Wie Johannes ist Jesus gekennzeichnetdurch Lauterkeit, Pietät, Gewaltlosigkeit. WieJohannes hat er von Gott „die Schrift“ über-antwortet bekommen. Aber im Unterschiedzu Johannes kann Jesus direkt sagen, er seiein „Diener Gottes“, er sei ein „Prophet“ Got-tes, ihm sei „die Gabe des Segens“ verliehen,ja er sei ein „Zeichen Gottes“ für die Men-schen, ein Zeichen von „Gottes Barmherzig-keit“! Wir erinnern uns an dieser Stelle an das,was wir aus dem Lukas-Evangelium vernah-men an Titeln, die Juden wie Zacharias undSimeon gebrauchten: „Prophet des Höchs-ten“ und damit Repräsentant der barmher-zigen Liebe unseres Gottes oder „Zeichen“Gottes, dem widersprochen werden wird.

DAS NARRATIVE UND THEOLOGISCHEPROFIL VON SURE 3

Was kommt in Sure 3 hinzu, geoffenbart in Me-dina, in der der Koran noch einmal auf die Ge-schichten um Zacharias, Johannes, Maria undJesus zurückkommt? Die Sure trägt den Titel„Die Sippe Imrans“, ein Name, der auf Amramhinweist, der in Numeri 26,59 als der Vater vonMoses, Aaron und Mirjam bezeichnet wird. Ergilt als Vorfahre, ja Urahne Jesu. Die 3. Sure ver-weist überdies auf die Ereignisse in derSchlacht bei Badr (März 624) im zweiten Jahrnach der Hidschra, der Übersiedlung Moham-meds und seiner Anhänger von Mekka nachMedina, als die Muslime überraschend eineüberlegene Armee aus Mekka schlagen – ein Ereignis von größter politischer und religiöserTragweite – auch für die Beziehungen zu Judenund Christen in der Region. Das nochmaligeAufgreifen der Geschichte Jesu (nicht nur derGeburt, sondern auch der Botschaft, der Praxisund des Geschicks) wird man deshalb auch auf den politischen Zusammenhang beziehenmüssen. In Medina ist in dieser Zeit eine Ge-sandtschaft von Christen aus Nadjran (Nordje-men) aufgetaucht. Unter dem Eindruck des sichausbreitenden Islam sehen diese sich in ihrerFreiheit bedroht und schicken eine Delegationzu Mohammed. Zwar kommen sie seiner For-derung, sich dem Islam zu unterwerfen, nichtnach, aber nach langen Verhandlungen undchristologischen Kontroversen wird ein Kom-promiss gefunden: Mohammed sichert ihnenSchutzgarantien zu. Sure 3 spiegelt denn aucheindringlich die Auseinandersetzung des Koranmit den „Leuten der Schrift“ wider.Wir bleiben hier auf die Auslegung der Geburts-Geschichte konzentriert und haben zu konsta-tieren: Was Maria angeht, so hat deren Ge-schichte jetzt in Sure 3 sichtlich einen Zuwachserfahren. Wir hören mehr von der Vorgeschich-te Marias (3,35-37). Gleich anschließend wirddie Johannes-Szene noch einmal berichtet

Tages)! Wie gut werden sie am Tag (des Ge-richts), da sie zu uns kommen werden, hörenund sehen! Aber die Frevler befinden sich heu-te offensichtlich im Irrtum.“ (19,34–38)

(3,38-41), die von Sure 19 kaum abweicht.Dann folgt ein eindrückliches Marienlob (3,42-44). Danach kommt es zu Aussagen über JesusGeburt, die in Sure 19 so keine Parallele haben:

Anders als in der aus Mekka stammenden Fas-sung hat Maria in diesem Bericht keine Vision,sondern eine Audition. Ihr erscheint nicht derGeist Gottes, zu ihr redet eine Mehrzahl wohlunsichtbar bleibender Engel. Die Übereinstim-mungen zwischen beiden Koran-Versionensind in der Sache aber unübersehbar: Jesus istkraft des schöpferischen Wortes Gottes undmittels des göttlichen Geistes erschaffen wor-den. Doch zwei theologisch wichtige Akzentewerden hier deutlicher gesetzt: � Die Schöpfermacht Gottes wird noch deut-

licher hervorgehoben. Was in Sure 19 nur re-lativ schwach ausgedrückt wird mit: „Es fälltmir leicht (dies zu bewerkstelligen)“, wird inSure 3 stark profiliert: „Das ist Gottes Art (zuhandeln). Er schafft, was er will. Wenn er ei-ne Sache beschlossen hat, so sagt er zu ihrnur: ‚Sei!', dann ist sie“.

� Jesus wird als „Wort“ (kalimah) Gottes bzw.„Wort von Gott“ bezeichnet. In muslimischerExegese versteht man darunter, dass sich inJesus Gottes allmächtiger Schöpferwille ma-nifestiere. Allein durch das Wort und den Be-fehl Gottes tritt er ins Dasein (und nichtmittels männlicher Potenz). Andere verste-hen Jesu Wort-Sein ebenso wie sein Geist-Sein auch in dem Sinne, dass er als Person diefrohe Botschaft von Gottes Barmherzigkeitverkörpert. Der Koran illustriert diesen sich inJesus manifestierenden göttlichen Schöp-ferwillen dadurch, dass er das Vögel-Wundereinführt. Parallelen dazu gibt es im außerka-nonischen Kindheitsevangelium des Tho-mas. Doch abgesehen von der Anzahl der Vö-gel besteht dort der Unterschied zur Darstel-lung des Wunders im Koran darin, dass Jesusan einem Sabbat durch Klatschen in die Hän-de und Zuruf das Wunder selber vollbringt,wohingegen Jesus im Koran – ob als Knabeoder Erwachsener, ob an einem Sabbat oder

„(Damals) als die Engel sagten: ‚Maria! Gottverkündet dir ein Wort von sich, dessen NameJesus Christus, der Sohn der Maria, ist! Er wirdim Diesseits und im Jenseits angesehen sein,einer von denen, die (Gott) nahe stehen. Under wird (schon als Kind) in der Wiege zu denLeuten sprechen, und (auch später) als Er-wachsener, und (wird) einer von den Recht-schaffenen (sein).' Sie sagte: ‚Herr! Wie sollteich ein Kind bekommen, wo mich (noch) keinMann (w. Mensch) berührt hat?' Er (d.h. der En-gel der Verkündigung, oder Gott?) sagte: ‚Dasist Gottes Art (zu handeln). Er schafft, was erwill, Wenn er eine Sache beschlossen hat, sagter zu ihr nur: sei!, dann ist sie. Und er wird ihndie Schrift, die Weisheit, die Thora und dasEvangelium lehren.' Und als Gesandter (Got-tes) an die Kinder Israels (wies Jesus sich ausmit den Worten:) ‚Ich bin mit einem Zeichenvon eurem Herrn zu euch gekommen (das dar-in besteht?), dass ich euch aus Lehm etwasschaffe, was so aussieht, wie Vögel. Dann wer-de ich hinein blasen, und es werden mit Got-tes Erlaubnis (wirkliche) Vögel sein.“ (3,45–49)

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Die „Weihnachtsgeschichte“ im Koran (Suren 19,1–38; 3,35–49)

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nicht - durch seinen Atem und aufgrund dergöttlichen Erlaubnis das Wunder tut. DieTheozentrik des Koran' wirkt sich auch hiernoch einmal konsequent aus.

DIE GEBURTSGESCHICHTEN IMVERGLEICH

Im Vergleich der neutestamentlichen und derÜberlieferungen im Koran ergeben sich bemer-kenswerte Übereinstimmungen, aber auchentscheidende Differenzen. Zunächst zu denÜbereinstimmungen:� Wie das Neue Testament so verbindet auch

der Koran mit der Geburt Jesu eine wunder-same Tat Gottes zugunsten der Menschen.Bemerkenswert ist: Beschränkt sich im Neu-en Testament die Ausgestaltung des Wun-derhaften vor allem auf die Engelserschei-nungen vor Zacharias, Maria und den Hirtensowie auf die Führung der Sterndeuter durcheine kosmische Erscheinung, kennt der Ko-ran über all das hinaus wundersame Redendes Neugeborenen. Der Koran hat offen-sichtlich nicht die geringsten Schwierigkei-ten, dem gerade geborenen Jesuskind Trost-worte an seine Mutter und prophetischeSelbstaussagen in den Mund zu legen. Wa-rum nicht? Weil er wie im Fall des Johannesauch die Geburtsgeschichte Jesu dazu be-nutzt, den ihm wichtigsten theologischenGrundgedanken kraftvoll zu illustrieren:Gott hat Macht über das unmöglich Schei-nende; Gott ist frei in seinem Handeln unddurchbricht alle irdischen Begrenzungenund menschlichen Plausibilitäten. Alte, un-fruchtbare Frauen werden wieder fruchtbar;junge Frauen werden ohne Zutun eines Man-nes schwanger; im toten, leeren Raum einerWüste schafft Gott neues Leben; ein neuge-borenes Kind spricht kraftvoll und selbst-bewusst wie ein erwachsener Mensch. DiePointe ist überall dieselbe: Skepsis, Zweifel,Unglaube von Menschen werden von Gotther durchbrochen. Gerade die Geburt Jesuunterstreicht noch einmal, dass Gott dieMacht hat, aus Unfruchtbarem Fruchtba-res, aus Abgestorbenem Lebendiges, ausNichts neues Sein zu schaffen. Theozentrikalso verbindet beide Geburtsgeschichten. ImNeuen Testament ist sie mit dem Satz um-schrieben: „Denn für Gott ist nichts unmög-lich“ (Lk 1,37), im Koran mit dem Satz: „Wenner eine Sache beschlossen hat, sagt er zu ihrnur: sei! dann ist sie“. (Sure 3,47)

� In den neutestamentlichen und koranischenGeburtsüberlieferungen ist Jesus nicht Pro-dukt der irdischen Geschichte, nicht Men-schengeschöpf, er ist Geistgeschöpf, Gottes-geschöpf: „Geist von Gott“, wie er auch in Su-re 4,171 genannt wird. Es ist Gott selbst, derihn vom Nichts ins Sein ruft. Dass Jesus insLeben tritt, verdankt er ausschließlich GottesRatschluss, Gottes Tat. Von daher erklärensich auch andere „Titulaturen“ für Jesus imKoran: „Zeichen“ Gottes für die Menschen,Zeichen von „Gottes Barmherzigkeit“, „Die-ner Gottes“, „Prophet Gottes“, „Wort Gottes“.Alle diese „Titel“ drücken denselben Grund-gedanken aus: Jesus ist ein von seiner Emp-fängnis an von Gott Ausgezeichneter.Gegenüber anderen Dienern und Propheten

Gottes unterscheidet ihn sogar eine Be-sonderheit: Er ist geschaffen von GottesGeist, um dann zu Lebzeiten aus der Kraft die-ses Geistes als Gottes Gesandter zu wirken.Von allen im Koran erwähnten Personen istdies das Besondere an Jesus. Nur Adam über-trifft ihn noch im Blick auf den Ursprung, ister doch für den Koran sogar ohne Mithilfe ei-ner irdischen Mutter ins Leben getreten. AberGottesgeschöpflichkeit und Jungfrauenge-burt unterscheiden Jesus im Koran von allenanderen Propheten, einschließlich dem Pro-pheten Mohammed, dessen irdische Vater-schaft der Koran an keiner Stelle in Fragestellt.

� Die Geburtstexte im Neuen Testament undKoran stimmen in der Grundüberzeugungüberein: Jesus ist der Gesegnete Gottes unddas Kontrastbild zu allen „unglückseligenGewaltherrschern“, ja, er ist ein Mann desFriedens, und zwar seine ganze menschlicheExistenz hindurch: von der Geburt bis zumTod, ja bis zum neuen Leben bei Gott. Die For-mulierungen von Sure 19,32-33 („Und er hatmich nicht gewalttätig und unselig gemacht.Heil sei über mir am Tag, da ich geboren wur-de, am Tag, da ich sterbe, und am Tag, da ich(wieder) zum Leben auferweckt werde“) we-cken für Christen Erinnerungen an den Lob-gesang Marias („Magnificat“) und das En-gelslob vor den Hirten (Lk 1,46-55; 2,14).Schon dort war Jesus das Kontrastbild zu den„Mächtigen“ und „Reichen“. Schon dort ver-körperte er den „Frieden“ Gottes, der auchnach Aussagen des Koran auf Jesus ruht.

Ein Vergleich der Texte zeigt also, wie eigen-ständig Mohammed gerade biblische Überlie-ferungen von seiner theologischen Axiomatikher zu deuten verstand. Er nimmt sie auf, spitztsie zu, interpretiert sie stringent und ordnet sieein unter sein großes theologisches Pro-grammwort: Theozentrik. Gott im Zentrum vonWelt und Geschichte; von seinem Willen her istalles durchdrungen, von ihm her muss die gan-ze Wirklichkeit neu interpretiert werden.

DIE ENTSCHEIDENDE DIFFERENZ IMGLAUBEN VON CHRISTEN UND MUSLIMEN

Dieses Spezifikum der prophetischen Botschaftlässt sich gerade am entscheidenden Unter-schied zwischen der neutestamentlichen undder koranischen Geburtsgeschichte erhärten.Auch er muss nun in aller Klarheit herausgear-beitet werden:� In den neutestamentlichen Überlieferungen

ist die Geburt Jesu eingebettet in die Ge-schichte Gottes mit seinem auserwähltenVolke. Jesu Auftreten ist ein geistgewirkterNeuanfang, ja ein messianischer Aufbruchfür Israel und ein Zeichen für die Bekehrungder Heidenvölker. Die neutestamentlichenTexte vergeschichtlichen also den Neuan-fang Gottes in Jesus. Deshalb ist die Geburtin Bethlehem wichtig, werden die politischenHerrscher der Zeit erwähnt, werden konkre-te Details der Geburtsgeschichte geschicht-lich ausgemalt (Huldigung der Sterndeuterund Hirten). Der Koran dagegen „entge-schichtlicht“. Weder ist er interessiert amkonkreten Geburts- oder Wohnort Jesu (kei-ne Erwähnung von Bethlehem oder Naza-

reth) noch an der konkreten Zeit (keine Er-wähnung damaliger politischer Herrscheroder Verhältnisse), noch erwähnt er Joseph,den biblischen irdischen Vater Jesu. Alles istauf Gottes Handeln an Einzelpersonen wieZacharias, Maria und Jesus konzentriert. Wodas „Volk“ erwähnt wird, wie in Sure 19, dannnicht im Sinne einer „heilgeschichtlichen“Einbettung, sondern unter dem Gesichts-punkt psychologischer Reaktion auf das an-geblich „unerhörte“ Verhalten einer jungenFrau. Oder wie in Sure 3 als „Ort“ der Ausein-andersetzung Glaube - Unglaube.

� Für die neutestamentlichen Quellen ist JesuGeburt die endgültige Erfüllung einer uraltenErwartungsgeschichte seines Volkes, derendzeitliche Höhepunkt in Gottes Selbstzu-wendung an sein Volk Israel. Im Koran istGottes Tat an Jesus eine unter vielen TatenGottes in der Geschichte. Gewiss: Auch imKoran hat Gott an Jesus in besonderer, aus-zeichnender Weise gehandelt. Aber der SohnMarias ist trotz allem ein Zeichen Gottes, her-ausgehoben zwar, aber eines unter vielen.Seine Geistzeugung macht ihn gerade nichtzu einem göttlichen oder halbgöttlichen We-sen. Deshalb reagiert der Koran hier und ananderen Stellen in Sachen Christusglaubenbestimmter Christen polemisch-zurückwei-send: „Es steht Gott nicht an, sich ein Kind zunehmen“. Dies ist gegen spätere vulgär-christliche Vorstellungen einer übernatür-lichen Gottessohnschaft gesagt, die im zeit-genössischen Christentum des Prophetenverbreitet gewesen sein mögen. Geistzeu-gung und Jungfrauengeburt unterstreichenalso nicht die Einzigartigkeit Jesu, sonderndie Einzigartigkeit Gottes.

� Auch als Gottesgeschöpf bleibt Jesus nur einMensch, wie Adam, Noah, Abraham, MoseMenschen waren. Als Gottesgeschöpf bleibtJesus ein „Zeichen“, eines in der großen Rei-he der „Zeichen“ der Barmherzigkeit Gottes,in einer Reihe, die nach muslimischemSelbstverständnis erst abgeschlossen istdurch den letzten Propheten, der denn auchnach dem Koran das „Siegel der Propheten“genannt wird. Für die christliche Urkunde istJesus aus Nazareth gegenüber Israel und derHeidenwelt die endgültige, definitive Offen-barung Gottes, auf den ein Prophet wie Jo-hannes der Täufer nur hinweist. Für Muslimeist die definitive Offenbarung Gottes im Ko-ran gegeben, auf den alle Propheten, ein-schließlich Johannes und Jesus hinweisen.Christologie und Koranologie entsprechensich. Der Fundamentalunterschied zwischenChristentum und Islam ist und bleibt: FürChristen ist Gottes Wort in Jesus Mensch ge-worden. Im Islam ist Gottes Wort im KoranBuch geworden.

� Je genauer man an und mit den Quellen ar-beitet, so sehr sieht man tief greifende Über-einstimmungen zwischen christlichem undislamischem Glauben, aber auch bleibendetrennende Unterschiede, Wahrheitsansprü-che, die in letzter Konsequenz zu einer Glau-bensentscheidung herausfordern. Beidesmuss in einem Dialog zur Sprache kommen,der seinen Namen verdient. Die „Weih-nachtsgeschichte“ im Koran wäre als Urmo-dell eines solchen Dialogs von Christen undMuslimen zu lesen. Sie fordert beide heraus,

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über das Geheimnis des Handelns Gottes inder Geschichte Jesu vertieft nachzudenkenund so das Gemeinsame und das Trennendekommunikabel zu machen. Sie wäre nicht dasEnde des Dialogs, sondern die Basis des Dialogs. Sie kann lehren, das Gemeinsame imLichte des Trennenden, das Trennende imLichte des Gemeinsamen zu lesen. Sie könn-te trialogische Kommunikation stiften – dieumso tiefer gehen kann, als sich Juden, Chris-ten und Muslime stets bewusst sind, dass sieGottes Geheimnis nicht schon „haben“ oder„verwalten“ oder „besitzen“, sondern dass sieim Glauben und Denken es je tiefer erkennenwollen. Kommunikation – im gegenseitigenRespekt vor Letztentscheidungen und Letzt-überzeugungen.

SYMBOLGESCHICHTE ZU BEGEGNUNGUND DIALOG

Zum Schluss will ich dies an einer Symbolge-schichte erläutern, die uns aus der ersten Bio-graphie des Propheten Mohammed entgegen-tritt. Eine berühmte Szene, in ihrer Historizitätungesichert und doch von tiefer symbolischerBedeutung: die Begegnung eines christlichenHerrschers, des Negus von Äthiopien, mit Mus-limen aus der Urgemeinde von Mekka. Nichtum ihrer angeblichen Geschichtlichkeit, son-dern um ihrer theologisch-symbolischen Weis-heit willen (was den Umgang Christen - Musli-me betrifft) sei sie hier am Ende unserer Über-legungen in Erinnerung gerufen und für diePraxis des Dialogs fruchtbar gemacht. Die Sze-ne findet sich bei Ibn Ishaq, von dem eine ersteBiographie des Propheten geschrieben wurde(um 750), die wir aber nur in einer hundert Jah-re später durch Ibn Hisham herausgegebenenFassung haben.Der frühe Biograph berichtet von der erzwun-genen Expedition von Angehörigen der musli-mischen Urgemeinde an den Hof des Negusvon Äthiopien, als die Bedrückung durch dasEstablishment von Mekka unerträglich zu wer-den begann. Als die Mekkaner freilich ihrerseitseine Delegation zum Negus schicken, um ihnaufzufordern, die „Flüchtlinge“ zurückzuschi-cken, lässt sich der Negus auf einen Disput mitihnen ein. Er möchte wissen, welcher Vergehendie Auswanderer beschuldigt werden. Er lässtBischöfe holen, die die Heiligen Schriften vorihm ausbreiten. Dann befragt er die Muslimenach ihrer neuen Religion. Als diese sich aufnichts als die Offenbarung ihres Propheten be-rufen, fragt der Negus sie nach einer Kostpro-be daraus. Darauf rezitiert einer der Muslimeeinen Abschnitt aus der Sure „Maria“ (Sure 19).Die Reaktion? „Der Negus weinte, bis sein Bartfeucht war. Und auch seine Bischöfe weinten,bis Tränen ihre Heiligen Schriften benetzten.“Dann wendet sich der Negus an die Abgesand-ten aus Mekka:

„‚Diese Offenbarung und die Offenbarung Je-su kommen aus derselben Nische. Geh! BeiGott, ich werde sie euch nicht ausliefern undsie nicht hintergehen!' Als die beiden den Ne-gus verließen, sagte Amr zu Abdallah: ‚Morgenwerde ich ihm etwas erzählen, womit ich sie

Die Szene ist sichtlich stilisiert und von denInteressen der Muslime her konzipiert. Aber essteckt in ihr vieles an „Weisheit“ im Umgangvon Christen mit Muslimen. Die Figur des Ne-gus nimmt in dieser Geschichte ja ganz gezielteine Mittelstellung ein: zwischen verbissenerchristlicher Orthodoxie (die raunenden Feld-herrn) und dem Unglauben (die Abordnung ausMekka). Die Haltung des Negus „in der Mitte“

an der Wurzel vernichte!' Abdallah, der got-tesfürchtigere der beiden, wandte ein: ‚Tu esnicht! Auch wenn sie sich uns widersetzt ha-ben, bleiben sie doch unsere Stammesgenos-sen.' Amr aber beharrte darauf und sprach: ‚Ichwerde ihm von ihrer Behauptung berichten,Jesus, der Sohn Mariens, sei nur ein Menschgewesen.'Am nächsten Morgen ging Amr zum Negusund sagte: ‚O König, sie behaupten Ungeheu-erliches von Jesus. Lass sie holen und frage siedanach!' Der Negus folgte seinen Worten.Noch nie war uns dergleichen geschehen. DieAuswanderer versammelten sich wieder undberieten, was sie über Jesus antworten sollten,wenn man sie danach fragte. Dann beschlos-sen sie: ‚Wir werden sagen, was Gott sagte undwas uns unser Prophet geoffenbart hat, magkommen, was will'.Als sie zum Negus kamen und er sie nach ihrerMeinung zu Jesus fragte, antwortete ihm Dja-far: ‚Wir sagen über ihn, was unser Prophet unsgeoffenbart hat, nämlich dass er der DienerGottes, sein Prophet, sein Geist und sein Wortist, das Er der Jungfrau Maria angegeben hat-te.'Der Negus nahm einen Stock vom Boden aufund sprach: ‚Wahrlich, Jesus ist nicht um dieLänge dieses Stockes mehr als das, was dusagst.' Ein Raunen ging durch die ihn umge-benden Feldherrn, doch er fuhr fort: ‚Wenn ihrauch raunt' - und an die Muslime gewandt -,‚geht, ihr seid sicher in meinem Land. Wer euchbeschimpft, wird Strafe zahlen; wer euch be-schimpft, wird Strafe zahlen; wer euch be-schimpft, wird Strafe zahlen! Nicht für einenBerg aus Gold würde ich einem von euch Un-recht tun. Gebt den beiden ihre Geschenke zu-rück. Ich brauche sie nicht. Gott hat kein Be-stechungsgeld angenommen, als Er mir meineHerrschaft zurückgab; warum sollte ich nungegen Ihn Bestechungsgeld annehmen! Er istdamals nicht den Leuten gegen mich gefolgt,weshalb sollte ich nun ihnen gegen Ihn fol-gen.'“

drückt Entschiedenheit und Toleranz zugleichaus. Er verkörpert die Art von Christ-Sein, dieweiß, dass man Menschen anderer religiöserÜberzeugungen nicht mit der Elle eigener Or-thodoxie messen oder gar pressen kann. Wennetwa Muslime ein Grundbekenntnis zu Jesusabgeben wie dies, er sei „der Diener Gottes, seinProphet, sein Geist und sein Wort, das Er derJungfrau Maria eingegeben“ habe, dann ge-nügt das diesen Christen. Genügt, um sie alsGäste in seinem Lande zu beherbergen. Mehrverlangt er von ihnen nicht. Er presst sie nicht,urteilt sie nicht ab, verlangt nicht das Äußerste.Christen mögen weiter gehen in Sachen Chris-tologie, mehr von Jesus als dem Christus Got-tes sagen, andere Formeln benutzen. Für Mus-lime ist es bereits viel, wenn sie sagen können:In diesem besonderen Menschen hat Gott aufeine besondere Weise gehandelt. Er ist deshalbzum Zeichen Gottes für die Menschen gewor-den, zum Zeichen von Gottes „Barmherzigkeit“.

LITERATUR

I. QUELLEN

1. Benutzte Ausgaben:Der Koran. Übersetzung R. Paret. Bd. I (Text), Bd. II (Kom-mentar und Konkordanz). Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz1971, 2. Aufl. 1977Der Koran. Arabisch-Deutsch. Übersetzung und wissen-schaftlicher Kommentar von A.Th. Khoury/M.S. Abdullah.Bd. I-XII. Gütersloh 1990-2001Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit demKommentar der Jerusalemer Bibel. Freiburg/Br. 1985Schneemelcher, W.: Neutestamentliche Apokryphen indeutscher Übersetzung Bd. I (Evangelien). 5. Aufl., Tübin-gen 1987.

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II. SEKUNDÄRLITERATUR:

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3. Zum Dialog Christentum - Islam:Kuschel, K.-J.: Streit um Abraham. Was Juden, Christenund Muslime trennt - und was sie eint. Düsseldorf 2001Küng, H.: Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft.München 2004

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Die „Weihnachtsgeschichte“ im Koran (Suren 19,1–38; 3,35–49)

UNSER AUTOR

Prof. Dr. Dr. h.c.Karl-Josef Kuschellehrt Theologie derKultur und desinterreligiösen Dialogs an der Ka-tholisch-Theologi-schen Fakultät derUniversität Tübin-gen und ist Vize-präsident der Stif-tung Weltethos.

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DISKRIMINIERUNG VON FRAUEN ALSENTWICKLUNGSHEMMNIS

Die eklatante Benachteiligung von Frauen inökonomischer, politischer, gesellschaftlicherund rechtlicher Hinsicht ist ein zentrales Ent-wicklungshemmnis arabischer Gesellschaften.Zu diesem aufrüttelnden Befund kommt einBericht der Entwicklungsorganisation der Ver-einten Nationen, der im Juli 2002 veröffentlichtwurde. Arabische Wissenschaftler und Wis-senschaftlerinnen aus verschiedenen Ländernliefern darin eine ungeschminkte Analyse derEntwicklungslage der arabischen Welt vomMaghreb bis zu den Golfstaaten (vgl. AHDR2002). Mit seinen Ausführungen zur Stellungder Frauen fokussierte der Entwicklungsberichtein in der arabischen Welt politisch höchst sensibles und brisantes Thema. Historisch wieaktuell ist die Frauenfrage nicht nur ein leiden-schaftlich umkämpftes und symbolträchtigaufgeladenes Terrain innergesellschaftlicherpolitischer Auseinandersetzungen, sondern im-mer wieder auch Anschlussstelle für externeEinflussbestrebungen.

DIE WIEDERKEHR KOLONIALER MUSTER

Bereits vor über hundert Jahren diente dieFrauenfrage für die Kolonialmächte als wichti-ges ideologisches Instrument, ihre Unterwer-

fungspolitik als „zivilisatorische Mission“ zu le-gitimieren, die angeblich „die orientalischeFrau“ aus ihrem düsteren Gefängnis von Unter-drückung und Rückständigkeit befreien sollte.In dreister Doppelzüngigkeit forderte damalsbeispielsweise der britische Generalkonsul inÄgypten, Lord Cromer, der sich in seiner engli-schen Heimat als entschiedener Gegner derFrauenrechtsbewegung hervortat, die – wie ersagte – „islamische Degradierung der Frauen zubeenden“ und den Schleier abzuschaffen, da erdem „Fortschritt“ und der „Zivilisierung dermuslimischen Gesellschaften“ entgegenstün-de (vgl. Kreile 1997, S. 232f).In jüngster Zeit erleben wir eine beklemmendeWiederkehr einschlägiger kolonialer Legitima-tionsmuster. In der normativen Zielsetzung,Menschen- und Frauenrechte weltweit durch-zusetzen, finden militärische Interventionenim Interesse der hegemonialen Weltordnungs-politik der US-Administration ihre ideologischeRechtfertigungsformel. Auf den Spuren LordCromers und der britischen Kolonialpolitik stilisieren sich heute die Neokonservativen inWashington, die für die US-Gesellschaft einedurchaus konservative Frauenpolitik verfech-ten, ironischerweise zu Vorkämpfern für Frau-enrechte in der islamischen Welt. Mit ihrem paternalistischen Anspruch, die arabischenFrauen von außen und womöglich militärischflankiert zu befreien, knüpfen sie an verbreite-te essentialistische Diskurse und Projektionenin der westlichen Öffentlichkeit an, in der dieFrauen in den arabischen Gesellschaften alsbedauernswerte unterdrückte Opfer, als passivund unmündig konstruiert werden.

ARABISCHE FRAUEN ALS EIGENSTÄNDIGEAKTEURINNEN

Ausgeblendet und unsichtbar gemacht wurdenund werden in derartigen Diskursen die Frauendes Orients selbst als eigenständige Akteurin-nen, die sich im Kontext wechselvoller gesell-schaftlicher Rahmenbedingungen vielstimmigzu Wort melden. Sie sollen im Folgenden sicht-barer gemacht werden.Am Beispiel der arabischen Frauenbewegun-gen möchte ich zeigen, wie die Frauen in denorientalischen Gesellschaften selbst ihre Ge-schichte mitgestalten, wie sie mit gemeinsa-men, unterschiedlichen oder auch konfligie-renden Strategien ihre Interessen wahrneh-men und ihre Rechte und Handlungsspielräu-me zu verteidigen oder zu erweitern suchen. Zunächst gebe ich einen Überblick über die for-mative Periode der arabischen Frauenbewe-gungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-derts, die bemerkenswerte Parallelen zu denAnfängen der europäischen Frauenbewegun-gen aufweist. Daran anschließend gehe ichknapp auf die Ära des so genannten „Staatsfe-minismus“ ein, eine Zeit, in der Modernisie-rungseliten in verschiedenen Staaten desOrients im Zuge des Nation-building den Frau-

en mehr Rechte gewährten. Der dritte Teil mei-ner Ausführungen untersucht die unterschied-lichen politischen Orientierungen, Schwer-punkte und Strategien der arabischen Frauen-bewegungen seit dem letzten Viertel des 20.Jahrhunderts. Dabei werden insbesondere dieAntworten der Frauenbewegungen auf die He-rausforderungen durch Globalisierung und is-lamistische Bewegungen beleuchtet. Schluss-endlich frage ich nach Perspektiven und Aus-strahlungspotential der arabischen Frauenbe-wegungen innerhalb ihrer Gesellschaften.

DIE ANFÄNGE – BEWUSSTSEIN DURCHBILDUNG

Wenig bekannt ist es hierzulande, dass Frauen-bewegungen in der arabischen Welt auf eineweit zurückreichende eigene Tradition zurück-blicken können. Bereits seit Mitte des 19. Jahr-hunderts begannen Frauen dort ihre spe-zifische Situation als Frauen öffentlich zurSprache zu bringen, die bestehenden patriar-chalischen Strukturen infrage zu stellen, vor-gegebene Grenzen zu überschreiten und kol-lektiv im öffentlichen Raum politische Forde-rungen zu erheben. Unter den wachsenden kul-turellen Einflüssen des Westens und vor demHintergrund sozioökonomischer Transforma-tionsprozesse und staatlicher Modernisie-rungspolitik erhielten sozial privilegierte Frau-en verstärkt Zugang zu einer vielseitigen Bil-dung. In den Harems der kosmopolitisch orien-tierten oberen Schichten wurde es modern,Gouvernanten aus Europa zu beschäftigen. Solernte etwa die Ururenkelin des ägyptischenHerrschers Muhammad Ali, Emine Fuat Tugay,zusammen mit ihren Brüdern bei ihrer deut-schen Gouvernante Deutsch und allgemeinbil-dende Fächer, eine Schottin und eine Französinkamen zum Englisch- und Französischunter-richt. Ein türkischer Lehrer unterrichtete sie inTürkisch, Persisch und Arabisch sowie in Kalli-graphie und islamischer Geschichte. Außerdemerteilten europäische Lehrerinnen Gymnastik-und Klavierstunden.

DER EINFLUSS CHRISTLICHERMISSIONSSCHULEN

Von erheblicher Bedeutung für die Ausbreitungder Frauenbildung außerhalb der häuslichenSphäre und weit in die Mittelschichten hineinwar der Einfluss christlicher Missionsschulen.Noch bevor die Großmächte durch die Koloni-alherrschaft direkten politischen Einfluss in derRegion ausübten, waren protestantische undkatholische Missionsgesellschaften aus Europaund Amerika im Vorderen Orient aktiv gewor-den. Die Schulen, die sie in den großen Städtenund auf dem Land errichteten, waren nicht nurfür die Angehörigen der christlichen Gemein-schaften gedacht, sondern es wurden aus-drücklich auch Angehörige anderer Glaubens-

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IM SPANNUNGSFELD VON GLOBALISIERUNG UND ISLAMISTISCHEN BEWEGUNGEN

Frauenbewegungen in der arabischen Welt –Gemeinsamkeiten und KonfliktlinienRENATE KREILE

Die politische, soziale und ökonomischeDiskriminierung von Frauen ist eines der zentralen Entwicklungshemmnissein der arabischen Welt. Der Beitrag vonRenate Kreile zeigt am Beispiel arabi-scher Frauenbewegungen, dass Frauenin orientalischen Gesellschaften ihreInteressen und Rechte als eigenständigeAkteurinnen wahrnehmen, verteidigenund zu erweitern versuchen. Ausgehendvon der sich formierenden arabischenFrauenbewegung im 19. Jahrhundertspannt sich der Bogen der Erörterungüber die Ära des so genannten „Staatsfe-minismus“ bis zu den unterschiedlichenpolitischen Orientierungen und Strate-gien, die sich im letzten Viertel des 20.Jahrhunderts entwickelten. Ein besonde-res Augenmerk wird dabei auf die Her-ausforderungen der Globalisierung undislamistischen Bewegungen gerichtet,die je nach politischer und/oder religiö-ser Ausrichtung der Frauenbewegungenzu unterschiedlichen Strategien, Gegen-reaktionen, Allianzen und Kontroversenführen. Erörtert wird auch die Frage nach den Perspektiven und dem Verän-derungspotential innerhalb arabischerGesellschaften.

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gemeinschaften ermutigt, sie zu besuchen.Während in einigen dieser Schulen ein aktiverMissionierungseifer waltete, verfolgten vieleein liberaleres Konzept bei der Erziehung vonKindern anderer Religion und beschränktensich ideologisch allgemein auf die Verbreitung„christlicher Werte“. Für wohlhabende muslimi-sche Familien im Libanon, in Palästina, in Ägyp-ten wurde es allmählich üblicher, ihre Töchterin die Missionsschulen zu schicken, um ihneneine umfassendere Ausbildung zu ermög-lichen.

HORIZONTERWEITERUNG STELLTRESTRIKTIONEN INFRAGE

Die erweiterten Bildungsangebote und die gei-stige Horizonterweiterung ermöglichten esden privilegierten Frauen, die davon Gebrauchmachen konnten, die Restriktionen, denen sieals Frauen ausgesetzt waren, infrage zu stellen.Oftmals schmerzlich erlebte Widersprüchezwischen neuen Bildungsidealen und -wün-schen und altem Rollenverständnis beförder-ten die Herausbildung eines feministischen Be-wusstseins, wie es die Erfahrungen von HudaShaarawi, einer der Begründerinnen der ägyp-tischen Frauenbewegung anschaulich deutlichmachen. Als Angehörige der Oberschicht wur-de Huda Shaarawi zuhause unterrichtet, mitneun Jahren kannte sie den Koran auswendig.Ihr Wunsch, Unterricht in arabischer Gramma-tik zu nehmen, stieß auf entschiedene Ableh-nung. Das geschriebene klassische Arabischwurde als die Sprache der öffentlichen Angele-genheiten und somit als Domäne der Männerbetrachtet und dementsprechend als unpas-send für Frauen. In ihren Memoiren kommen-tiert Huda Shaarawi die Bedeutung dieser Ein-schränkung für ihre persönliche Entwicklung:„Ich wurde deprimiert und begann meine Stu-dien zu vernachlässigen und hasste es, einMädchen zu sein, weil es mich von der Bildungfernhielt, nach der ich verlangte. Später wurdedie Tatsache, eine Frau zu sein, zu einer Barrie-re zwischen mir und der Freiheit, nach der ichmich sehnte“ (Shaarawi 1986, S. 40).Durch die neuen Bildungsmöglichkeiten wur-den Frauen auch in die Lage versetzt, vertiefteKenntnisse ihrer Religion zu erlangen. Damitvermochten sie die Legitimierung der Be-schränkungen, denen sie ausgesetzt waren, alsangeblich „islamisch“ zu kritisieren. Die neuenIdeen, die im Einklang mit dem islamisch-mo-dernistischen Diskurs Muhammad Abduhs undanderer Reformer standen, wurden in neu ent-standenen Frauenzeitschriften öffentlich ge-macht (vgl. Kreile 1997, S. 236ff.).1928 veröffentlichte eine knapp 20-jährige Li-banesin, Nazira Zain ad-Din, eine Aufsehen er-regende Schrift „Entschleiern und Verschleiern:Über die Befreiung der Frau und die Erneue-rung der islamischen Welt“. Nazira Zain ad-Dinwar die erste arabische Frau, die eine längeretheoretische Abhandlung veröffentlichte. Siehatte eine Missionsschule und das Kolleg derAmerikanischen Universität von Beirut be-sucht. In Koran-Exegese und religiösem Rechtwar sie von ihrem Vater, der erster Präsident desAppellationsgerichts der République Libanaisewar, unterrichtet worden. Auf dem Boden desislamisch-modernistischen Diskurses betrach-

tet sie es als selbstverständlich, dass der Geist,der aus Koran und Sunna spricht, immer auchmit den Postulaten der Vernunft und des ge-sunden Menschenverstandes in Einklang steht.Sie argumentiert, dass die Frau dem Mann inreligiöser, moralischer und intellektueller Hin-sicht gleichgestellt sei. Die Ungleichbehand-lung von Frauen und Männern im Koran imHinblick auf Erbrecht, Zeugenschaft, Polyga-mie und Scheidung solle keineswegs die Über-legenheit der Männer anerkennen. Vielmehrhandle es sich dabei um Zugeständnisse desPropheten an die noch aus der vorislamischenZeit, der jâhiliyya, stammende Hartherzigkeitund Brutalität der Männer. Prinzipiell würdenim Koran Mann und Frau gleich viel gelten (vgl.Paret 1981, S. 30f.). Das Beispiel Nazira Zain ad-Dins zeigt, dass Frauen in intellektuellen Zirkelnim Rahmen ihrer eigenen kulturellen und reli-giösen Traditionen ihre Handlungsspielräumezu erweitern suchten. In ihrer Suche nach neu-en Selbstbildern waren sie augenscheinlichdurchaus nicht auf den Westen fixiert (vgl. Gra-ham-Brown 1988, S. 233).

DAS PRIVATE WIRD POLITISCH

Die Horizonterweiterung durch Bildung und diedamit verbundenen Chancen, interkulturelleVergleiche anzustellen, eröffneten die Mög-lichkeit, eigene schmerzliche private Erfahrun-gen und Konflikte nicht als quasi „naturgege-ben“ und unveränderlich oder als individuellesSchicksal zu begreifen, sondern als strukturel-le Unterdrückungsverhältnisse und Benachtei-ligungen als Frau. Führende Frauenrechtlerin-nen der arabischen Welt des ausgehenden 19.Jahrhunderts schildern in ihren Memoiren ei-gene schmerzhafte Erlebnisse aus dem famili-ären Patriarchat. Ein weiteres Mal mag HudaShaarawi als Beispiel dienen. Als Kind litt sie un-ter der Bevorzugung ihres Bruders und mit drei-zehn wurde sie gezwungen, ihren um dreißigJahre älteren Vormund zu heiraten. Die ägypti-sche Dichterin Malak Hifni Nasif erlebte leidvolldie Konflikthaftigkeit einer polygamen Ehe.Mit der „veröffentlichten“ Benennung der Lei-den am Patriarchat wurde das Private politisch,wurden die vom religiösen und staatlichen Es-

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Frauenbewegungen in der arabischen Welt – Gemeinsamkeiten und Konfliktlinien

IN KUWAIT UND SAUDI-ARABIEN WIRD FRAUEN

IMMER NOCH DAS WAHL-RECHT VORENTHALTEN.DIE POLITISCHE, SOZIALE

UND ÖKONOMISCHE

DISKRIMINIERUNG VON

FRAUEN IST EINES DER

ZENTRALEN ENTWICK-LUNGSHEMMNISSE IN

DER ARABISCHEN WELT.picture alliance / dpa

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tablishment legitimierten patriarchalischenStrukturen infrage gestellt. Radikal und selbst-bewusst heißt es in einem 1909 veröffentlich-ten Gedicht von Aischa at-Taimuriya: „Ich ha-be die Tradition und meine absurde Lage her-ausgefordert und bin hinausgegangen überdas, was Zeit und Ort gestatten“ (zit. nach Ba-dran/Cooke 1992, S. 20).

VOM BEWUSSTSEIN ZUR BEWEGUNG

Ein wichtiger Schritt hin zur Organisierung ei-nes kollektiven frauenrechtlichen Bewusst-seins waren Freitagsvorlesungen von Frauenfür Frauen, die 1908 an der neu gegründetenÄgyptischen Universität abgehalten wurden. Inden Vorlesungen wurden die Lebensbedingun-gen der ägyptischen Frauen thematisiert undes wurden Vergleiche mit der Situation derFrauen in Europa angestellt. Diese Vorlesungensind deshalb besonders bemerkenswert, weilsie die erste gemeinsame Aktivität von Frauender Mittel- und Oberschicht darstellten undaußerhalb des Harems stattfanden. Wider-stand blieb nicht aus. Eine 1909 eröffnete Frau-en-Sektion an der Universität wurde wegen öf-fentlicher Opposition 1912 wieder geschlos-sen. Das eingesparte Geld wurde an drei Män-ner vergeben, die mit Regierungsstipendien inEuropa studieren sollten. Erst 1929 wurdenFrauen wieder an der Universität zugelassen.Der Phase der kollektiven frauenrechtlichenBewusstseinsbildung folgte die Herausbildungeines „sozialen Feminismus“ (Badran 1993, S.133). Frauen aus der Ober- und Mittelschichtgründeten Wohltätigkeitsvereinigungen, diesich um notleidende arme Frauen und Kinderkümmerten und deren Lage durch eine medizi-nische und bildungsmäßige Grundversorgungzu verbessern suchten. Die Überschreitung derherkömmlichen Klassen- und Geschlechter-grenzen durch das Engagement für Frauen derunteren Schichten und das Betreten des öffent-lichen Raums wurde als Akt der Philanthropieund als religiöse Pflicht legitimiert. Mit denWohltätigkeitsorganisationen knüpften dieFrauen der oberen Schichten an die traditionel-le Mutterrolle an, weiteten diese aber auf dieGesellschaft aus. Die Frauen machten die Türauf zum öffentlichen Raum, der bislang die Do-mäne der Männer gewesen war, aber sie betra-ten ihn in ihrer traditionellen Rolle als „Mütter“.Ähnliche Emanzipationskonzepte der „sozialenMütterlichkeit“ wurden auch anderswo, etwain den Anfängen der bürgerlichen Frauenbe-wegung in Deutschland, vertreten. Sie lassensich als Kompromiss zwischen traditionellenGeschlechterkonzepten und neuen Emanzipa-tionsbestrebungen lesen. Den formativen An-fangsphasen, die sich mit den Stichworten „Be-wusstsein durch Bildung“, „das Private wirdpolitisch“ und „soziale Mütterlichkeit“ be-schreiben lassen, folgte der Auftritt der Frauenauf der politischen Bühne.

DER AUFTRITT AUF DER POLITISCHENBÜHNE

Im Rahmen der antikolonialen Bewegung tra-ten Frauen aus den mittleren und oberenSchichten erstmalig unmittelbar als politische

Akteurinnen in Erscheinung und nahmen anMassenprotesten teil, an der Organisierungvon Boykottaktionen und Streiks. Wie in ande-ren antikolonialen Befreiungskämpfen wurdendie militanten politischen Aktivitäten der Frau-en etwa in Ägypten von den Männern ange-sichts der Ausnahmesituation durchaus aner-kannt. Für ihre Hingabe an die „nationale Sa-che“ wurden sie lauthals gepriesen. Als die(partielle) Unabhängigkeit erkämpft war undsie politisch nicht mehr gebraucht wurden, än-derte sich das Bild. Das ägyptische Wahlgesetzvon 1923 garantierte nur den Männern dasWahlrecht.Die ägyptischen Frauenrechtlerinnen fandensich mit dem Ausschluss aus der formalen po-litischen Sphäre keineswegs ab. Bei der Rück-kehr von einer internationalen Frauenkonfe-renz legten Huda Shaarawi und eine Mitstrei-terin 1932 auf dem Kairoer Bahnhof öffentlichihren Gesichtsschleier ab. Mit dieser dramati-schen Geste bekundeten sie ihre Entschlossen-heit, die Beschränkung der Frauen auf denhäuslichen Bereich zu beenden. Kurz zuvor warunter Führung Huda Shaarawis die ÄgyptischeFeministische Union1 gegründet worden. Sieforderte politische Rechte für Frauen, Verände-rungen im Personenstandsrecht zugunsten derFrauen (insbesondere bezüglich Scheidung undPolygamie), gleiche Bildungschancen für Frau-en, bessere Beschäftigungsmöglichkeiten, Ar-beitsschutzregelungen für Arbeiterinnen so-wie Kinderbetreuung und Gesundheitsversor-gung. Die letztgenannten Forderungen machendeutlich, dass die ägyptische Frauenbewegung,die wesentlich eine Bewegung von Frauen derstädtischen Ober- und Mittelschicht war, zu-nehmend versuchte, auch die Interessen derFrauen der Arbeiterklasse und der unterenSchichten zu vertreten und ihre Basis zu ver-breitern. Allerdings gelang es ihr kaum, über diestädtische Elite hinaus Mitglieder zu gewinnen,wenngleich sie erfolgreich soziale Programmewie Kliniken und Schulen für Frauen der unte-ren Schichten auch in den Provinzen initiierte.Bereits 1935 kam es zu einer ideologischenAusdifferenzierung der ägyptischen Frauenbe-wegung, wie sie bis heute in der gesamten ara-bischen Welt fortdauert. Zainab al-Ghazali, ei-ne der führenden Persönlichkeiten der ägypti-schen Muslim-Bruderschaft und bis heute Vor-bild für viele islamistische Frauen, verließ 1935die eher säkular orientierte Ägyptische Femi-nistische Union, weil diese ihrer Meinung nachwestliche Werte auf die ägyptischen Frauenübertragen wolle. Dem setzte sie die Forderungnach einer „kulturell authentischen“ Befreiungder Frauen auf dem Boden des Islam entgegenund gründete zu diesem Zweck die „Vereini-gung Muslimischer Frauen“. Ausgehend von ei-nem Konzept wesensmäßiger Verschiedenheitund Komplementarität von Frauen und Män-nern, betonte sie insbesondere die familiärenVerpflichtungen der Frauen als Ehefrauen undMütter (vgl. Badran 1991, S. 210).

DIE ÄRA DES STAATSFEMINISMUS

Viele der Forderungen der frühen Frauenbewe-gungen wurden unter der Herrschaft reform-orientierter politischer Eliten seit der zweitenHälfte des 20. Jahrhunderts „von oben“ erfüllt.

Im Interesse von Nation-building und Moder-nisierung sollten die Geschlechterverhältnissetransformiert und die familiären und religiösenPatriarchen geschwächt werden. Die Loyalitä-ten der Menschen sollten umgelenkt werdenauf den Staat. Indem der modernisierende Staatdie Frauen der Kontrolle durch die Gemein-schaften teilweise entzog, versuchte er seineHegemonie über die Gesellschaft durchzuset-zen.In verschiedenen Ländern der Region kam esnun zu einer massenhaften Einbeziehung vonFrauen in den Arbeitsmarkt. Die Frauen er-hielten mehr soziale und politische Rechte. InÄgypten unter Nasser erhielten sie zum Bei-spiel das Recht, außerhalb des Hauses zu ar-beiten und an Wahlen teilzunehmen. In dieserPhase des ägyptischen „Staatsfeminismus“ er-hielten Frauen auch per Gesetz Anspruch aufgleichen Lohn für gleiche Arbeit; an Arbeits-plätzen mit vielen weiblichen Beschäftigtenwurden Betreuungszentren für Kinder einge-richtet. Frauen konnten wie Männer eine kos-tenlose Universitätsausbildung erhalten mit einer staatlichen Ausbildungsgarantie nachdem Abschluss.Derartige geschlechtsegalitäre Reformen er-öffneten vielen Frauen neue Rollen und Ent-faltungsmöglichkeiten und machten sie öko-nomisch unabhängiger von ihren Familien. Jedoch ließen auch die progressiven Moderni-sierungseliten die familienrechtliche Unter-ordnung der Frauen unangetastet und verzich-teten darauf, diese letzte Bastion der familiä-ren und religiösen Patriarchen zu attackieren.Dass die Frauenpolitik in der Ära des Staatsfe-minismus wesentlich ein Instrument darstellte,die Kontrolle des Staates über die Gesellschaftauszuweiten, zeigt sich nicht zuletzt daran,dass autonome politische Initiativen von Frau-en unterbunden wurden. So verbot Nasser inÄgypten, unmittelbar nachdem den Frauen1956 das Wahlrecht gewährt worden war, allefeministischen und sonstigen autonomen Or-ganisationen.

HERAUSFORDERUNGEN: GLOBALISIERUNGUND ISLAMISTISCHE BEWEGUNGEN

Die krisenhaften Transformationsprozesse inder arabischen Welt seit Ende der 1970er-Jah-re stellten die Frauenbewegungen vor neueHerausforderungen, brachten Ausdifferenzie-rungen und neue Allianzen mit sich. Globalisie-rungsprozesse und das verbreitete Strebennach politisch-kultureller Selbstbehauptungprägen zu Beginn des 21. Jahrhunderts auchdie Agenda der Frauenbewegungen. Im Folgen-den skizziere ich zunächst die Bedeutung derFrauenfrage im Konzept der islamistischen Be-wegungen; anschließend gehe ich auf diemehrstimmigen Antworten der Frauenbewe-gungen auf die neuen Herausforderungen ein.

FRAUENFRAGE UND ISLAMISTISCHEBEWEGUNGEN

Mit dem Aufstieg des politischen Islam im letz-ten Viertel des 20. Jahrhunderts rückte einmalmehr die Geschlechterfrage ins Zentrum ge-sellschaftlicher und politischer Auseinander-

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RENATE KREILE

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setzungen. Kontroversen über Stellung undangemessenes Verhalten der Frauen prägenseitdem gesellschaftliche Diskurse, definierenpolitische Zugehörigkeiten und markieren ide-ologische Grenzlinien nach innen wie nach au-ßen. Körper und Sexualität der Frauen, symbo-lisch manifestiert in der Schleier- bzw. Kopf-tuchfrage, sind zu Metaphern geworden; übersie werden Themen wie Globalisierung undSelbstbehauptung, Authentizität und Verwest-lichung, Religion und Moderne, Gemeinschaftund Individuum artikuliert und umkämpft.Nicht selten liegen den politisch-kulturellenAuseinandersetzungen soziale Konflikte zu-grunde. In den Zeiten der Globalisierung wie zuZeiten des Kolonialismus scheint die Ausein-andersetzung über die Frauenfrage, die in kul-turellen und moralischen Termini geführt wird,eine „große kulturelle Trennlinie zwischen denNutznießern und Verlierern der sich wandeln-den sozioökonomischen Ordnung“ (Kandiyoti1991, S. 8) zu markieren, und dies auf nationa-ler wie auf globaler Ebene.Die materiellen und politischen Glücksverspre-chen der Globalisierungsdynamik erfüllen sichheute – ähnlich wie in der Kolonialzeit – zu-meist nur für die Eliten der Region. Für großeTeile der Bevölkerung, die zu den sozialen Ver-lierern gehören, wird der Islam zum Symbol vonZusammengehörigkeit und Selbstbehauptung.Dieses Symbol wird der als übermächtig emp-fundenen westlichen Durchdringung entge-gengesetzt (vgl. Müller 2002). Unter der Parole„Der Islam ist die Lösung“ versprachen die isla-mistischen Bewegungen einen Ausweg aus derbedrängenden Gesellschaftskrise mit Sympto-men wie Arbeitslosigkeit, Verelendung, ka-tastrophaler Wohnungsnot. Zwar konnten dieIslamisten ihre Vision eines „gerechten” islami-schen Staates nirgendwo verwirklichen. Wäh-rend ein kleinerer Teil sich durch die Hinwen-dung zu terroristischen Strategien zunehmendvon breiten Bevölkerungsschichten entfrem-dete und isolierte, kam es in verschiedenenStaaten der Region zu einer politischen Mäßi-gung der meisten islamistischen Bewegungenund zu ihrer Einbindung in das politische Sys-tem, wo sie aber weiterhin einen ernstzuneh-

menden politischen Faktor darstellen. Mit ihrenWohlfahrtsorganisationen füllen sie das sozi-alpolitische Vakuum, das die Staaten unter demDruck neoliberaler Globalisierung und Struk-turanpassung hinterlassen haben (vgl. Pawel-ka 2002, S. 443).Ungeachtet politischer Ausdifferenzierungenund Anpassungsprozesse blieb die Frauenfrageein Schlüsselthema in den Diskursen des poli-tischen Islam in allen seinen Facetten und Aus-prägungen. Die krisenhafte soziale Entwick-lung wird wesentlich als „moralische Krise“ ge-deutet, die mit der Wiederherstellung der„gottgewollten Ordnung“ behoben werden soll.Für die Wiederherstellung dieser ersehnten„gottgewollten Ordnung“ gewinnt die Ord-nung der Geschlechter zentrale Bedeutung.Diese ist in den Augen der Islamisten offenkun-dig aus den Fugen geraten, gleichsam als Sym-bol und Indikator einer als chaotisch erlebtenGesellschafts- und Weltordnung. Mit der Re-Formulierung und Politisierung des traditio-nellen patriarchalischen Geschlechterdiskur-ses sollen der vermeintliche moralische Verfallund die heillosen gesellschaftlichen Zuständebekämpft werden.

KONTROLLE DURCH DIE „ÜBER-FAMILIE“DER GLÄUBIGEN

Die Abkehr zahlreicher Frauen von ihrer tradi-tionellen Rolle und ihre außerhäusliche Prä-senz ist aus der Perspektive von Traditionalis-ten und Islamisten nicht nur Ausdruck der Ab-wendung von der göttlichen Ordnung, sondernwesentlich auch für die Erosion der traditionel-len Familienstrukturen verantwortlich. Hierbieten die islamistischen Organisationen sichnun als „Supra- und Super-Familien“ an. Siestellen nicht nur soziale Dienstleistungen zurVerfügung in einer Situation, in der der Staatsozialpolitisch abwesend ist. Sie versprechenauch, die durch den soziokulturellen Wandelgefährdete patriarchalische Autorität von Vä-tern, Ehemännern, Brüdern auf einer neuenEbene wiederherzustellen, indem die Kontrolleüber die Frauen nun durch alle Männer der um-

ma, der „Über-Familie“ der Gläubigen, garan-tiert wird.Die Politisierung der Geschlechterordnung imislamistischen Diskurs vermag zudem den ein-zelnen Frauen und Männern das Gefühl ver-mitteln, durch eine „moralische“ Lebensfüh-rung einen Beitrag zur angestrebten „wahrhaftislamischen Ordnung“ zu leisten und damit denalltäglichen Erfahrungen der Ohmacht eigeneEinflussmöglichkeiten entgegenzusetzen.Angesichts des dramatischen Vertrauensver-lustes der herrschenden Eliten kann es wenigverwundern, dass die geschlechterpolitischeRe-Orientierung in die staatlichen Versuchedes Krisenmanagements ebenfalls weithin Ein-gang gefunden hat. Hier versucht der Staat,sich kostengünstig bei Konservativen, Traditio-nalisten und Islamisten zu legitimieren sowiebei zahllosen Männern, die sich durch sozialenStatusverlust im Zuge der Krisenentwicklung inihrem Selbstwertgefühl bedroht sehen.

GEGENREAKTIONEN DERFRAUENBEWEGUNGEN

Wie reagieren nun die Frauenbewegungen inder arabischen Welt auf die alten Einschrän-kungen und die neuen Herausforderungen? ImZuge der Globalisierungsdynamik haben diearabischen Frauenbewegungen auf nationalerwie auf transnationaler Ebene enorm an Mobi-lisierungsfähigkeit gewonnen. Tausende vonFrauen mit Bildung und Erfahrungen in der Ar-beitswelt engagieren sich heute in Frauen-Nicht-Regierungs-Organisationen als Antwortauf fortdauernde und sich verschärfende Pro-bleme für Frauen in den verschiedensten Berei-chen, so etwa in wohlfahrtspolitischen Projek-ten, für Menschenrechte und Frauenrechte, infrauenzentrierten Forschungs- und Bildungs-projekten. Auch das traditionelle Tabu-Thema„Gewalt gegen Frauen“ im privaten Bereichwird zunehmend öffentlich diskutiert.2

Zwischen den einzelnen nationalen Frauenbe-wegungen finden verstärkt regionale Vernet-zungs- und Austauschprozesse statt, nicht zu-letzt mithilfe der neuen Informations- und

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ISLAMISTISCHE BEWE-GUNGEN VERSPRECHEN DIE

AUFRECHTERHALTUNG

DER PATRIARCHALISCHEN

AUTORITÄT VON VÄTERN,EHEMÄNNERN UND

BRÜDERN, INDEM DIE

KONTROLLE ÜBER DIE

FRAUEN DURCH ALLE

MÄNNER DER „ÜBER-FAMILIE“ DER GLÄUBIGEN

GARANTIERT WIRD.picture alliance / dpa

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Kommunikationstechnologien. Die arabischenFrauenbewegungen sind heute eingebunden indie globalen Diskurse über Frauen- und Men-schenrechte, Demokratisierung und Zivilge-sellschaft und auf den Weltfrauenkonferenzen(etwa Peking und Huairou) zahlreich und orga-nisiert vertreten.In ihren eigenen Gesellschaften sehen sich dieFrauenbewegungen der Region gleichwohl miteiner extrem widersprüchlichen und ungünsti-gen Situation konfrontiert: Sie sind einge-zwängt zwischen den identitätspolitisch legiti-mierten restriktiven Loyalitätsansprüchen reli-giöser, ethnischer und familialer Gemeinschaf-ten einerseits und dem repressiven Staatandererseits, der die Zivilgesellschaft ein-schließlich unabhängiger Frauenorganisatio-nen einer weitreichenden Kontrolle unterwor-fen hat. So verbietet beispielsweise das ägypti-sche Vereinsgesetz von 1999 den Nicht-Regie-rungs-Organisationen gewerkschaftliche undpolitische Aktivitäten. Da alle Aktivitäten, dieaus Regierungssicht „die nationale Einheit, dieallgemeine Ordnung und die guten Sitten be-drohen“, verboten sind, ist es undenkbar, dasssich eine Frauengruppe etwa der Probleme vonunehelichen Müttern oder lesbischen Frauenannimmt (vgl. Lübben/Fawzi 1999, S. 29ff.). An-gesichts der vielfältigen Zwänge und Restrik-tionen verfolgen die Frauenrechtlerinnen derRegion uneinheitliche Strategien, die ideolo-gisch verschiedenartig legitimiert und sozialunterschiedlich verankert sind.

ISLAMISTISCHE UND MUSLIMISCHEFRAUENBEWEGUNGEN

Zahlreiche islamische Frauenrechtlerinnenmachen sich daran, auf der Basis einer Re-Interpretation der islamischen Tradition imSinne einer „feministischen Theologie“ den tra-ditionellen religiös legitimierten sozialen undrechtlichen Handlungsrahmen auszuweitenund die Definitionsmacht der männlichen Pa-triarchen in Frage zu stellen. Gleichzeitig öff-nen manche von ihnen damit die Tür zu Allian-zen mit säkular orientierten Frauenrechtlerin-nen in den eigenen Gesellschaften wie auch zurglobalen Frauenbewegung.Allerdings vertreten die Frauenrechtlerinnen,die sich unter Berufung auf den Islam legiti-mieren, durchaus nicht einheitliche Konzepte.Azza Karam unterscheidet in ihrer einschlägi-gen Studie zu Ägypten terminologisch zwi-schen „islamistischen Feministinnen“ und„muslimischen Feministinnen“. Während mus-limische Feministinnen nachzuweisen ver-suchten, dass das Prinzip der Gleichheit vonMann und Frau im Einklang mit dem Islam ste-he, beharrten islamistische Feministinnen aufder gottgegebenen wesensmäßigen Verschie-denheit und Komplementarität der Geschlech-ter. Diese seien zwar gleichwertig, hätten aberverschiedene Rollen auszufüllen. MuslimischeFeministinnen unterstützen internationaleFrauenrechts-Konventionen wie CEDAW (Kon-vention zur Beseitigung jeglicher Diskriminie-rung von Frauen). Viele islamistische Femi-nistinnen (etwa einige Mitglieder der Muslim-Bruderschaft) hingegen betrachten die ge-nannte UN-Konvention als Ausdruck einerkulturellen Dominanz des Westens und als

überflüssig angesichts der Lehren des Islam. So erklärte eine islamistische Aktivistin: „Werbraucht alle diese Verträge, wo wir doch denKoran haben?“ (zit. nach Karam 1997, S. 27).Während zahlreiche religiös orientierte Frau-enrechtlerinnen also auf unterschiedlicheWeise darum ringen, ihre Rechte durch eine„frauenfreundlichere“ Re-Interpretation derreligiösen Quellen auszuweiten, fordern die sä-kular orientierten Frauenrechtlerinnen unterBerufung auf Demokratie und Menschenrech-te gleiche Rechte als Individuen ein. Zum stra-tegischen Dreh- und Angelpunkt wird dabeidas Familienrecht.

DAS FAMILIENRECHT ALS DREH- UND ANGELPUNKT

Während die Demokratisierungsrhetorik auchim Vorderen Orient um sich greift, bleiben dieFrauen in den meisten Ländern der Region hin-sichtlich ihrer demokratischen Rechte nämlichdoppelt blockiert. Sie sind nicht nur – wie auchdie meisten Männer – den allgemeinen staat-lichen Beschränkungen hinsichtlich bürger-licher Freiheitsrechte und politischer Partizipa-tion unterworfen. Gleichzeitig ist ihnen dasfundamentale Recht versagt, in so wichtigenFragen wie Eheschließung, Scheidung, Arbeit,Mobilität, Sorgerecht für die Kinder eigenstän-dige Entscheidungen zu treffen, da sie im reli-giös verankerten Familienrecht den männlichenVerwandten untergeordnet sind. Der Wider-spruch zwischen der an Individuen gerichtetenGleichheitszusage in den meisten Verfassungender Region und der fortdauernden Unterwer-fung unter das durch die verschiedenen religi-ösen Gemeinschaften kodifizierte Familien-recht macht die Frauen zu Staatsbürgerinnenzweiter Klasse (vgl. Joseph 2000a).Eine Gleichstellung im Familienrecht wäre –aus der Perspektive säkular orientierter Frauen-rechtlerinnen – zumindest eine der zentralenVoraussetzungen für mehr Gestaltungsspiel-räume für Frauen wie auch für Demokratisie-rungsprozesse. Die familienrechtliche Gleich-stellung würde die Frauen aus der Vormund-

schaft der Väter, Ehemänner und jeweiligen re-ligiösen Gemeinschaften entlassen und direktund ohne patriarchalische Vermittlung zu Ver-tragspartnerinnen des Staates und zu Staats-bürgerinnen aus eigenem Recht machen. Aller-dings könnte eine derartige Entwicklung dieMacht und den Zusammenhalt der Gemein-schaften empfindlich schwächen.An diesem Punkt treten nun neben die erwähn-ten Allianzen der islamisch und der säkularorientierten Frauenbewegungen, die weltan-schauliche Differenzen teilweise überbrücken,gegensätzliche Interessenlagen und Loyalitäts-konflikte. Auf der einen Seite stehen diejenigenTeile der Frauenbewegungen, die sich nach-drücklich für die Ausweitung der Rechte derFrauen als Individuen engagieren, damit abervielfach den Kontrollanspruch der patriarcha-lisch strukturierten Gemeinschaften infragestellen. Auf der anderen Seite artikulieren sichFrauenrechtlerinnen, die bestrebt sind, ihre Ge-staltungsmöglichkeiten im Rahmen verwandt-schaftlicher und religiöser Gemeinschaftenauszuweiten, auf deren Rückhalt und Fürsorgesie nicht verzichten können und wollen und de-ren Kontrollansprüchen und Anpassungsfor-derungen sie sich somit kaum entziehen kön-nen (vgl. Joseph 2000b, S. 18ff.). Die weltan-schaulichen und politischen Differenzen zwi-schen den verschiedenen Frauengruppen füh-ren nicht selten zu erbitterten Konflikten, in de-nen nicht zuletzt die Argumentationsfigur des„kulturellen Verrats“ breite Verwendung findet.Im Hinblick auf die ägyptische Situation notiertAl-Ali: „Meine eigenen Forschungsergebnissezeigen eine weit verbreitete Praxis innerhalb derheutigen Frauenbewegung, dass eine bestimm-te Gruppe (...) durch die Beschuldigung delegi-timiert wird, dass sie ‚dem Westen’ nach demMund rede“ (Al-Ali 1997, S. 186).

DIE SITUATION DER FRAUENBEWEGUNGIM IRAK

Besonders verzweifelt und widersprüchlichstellt sich die Situation für die Frauenbewe-gung im heutigen Irak dar. Vor dem Hinter-grund fortdauernder gewaltsamer Ausein-andersetzungen am Rande des Bürgerkriegsund einer katastrophalen Sicherheits- und Ver-sorgungslage in weiten Teilen des Landes set-zen Frauenrechtlerinnen aus unterschied-lichen ideologischen und politischen Lagernauf höchst kontroverse Strategien zur Durch-setzung ihrer Interessen.Zwar betrauern nur wenige irakische Frauen-rechtlerinnen das Ende des extrem repressivenBaath-Regimes. Gleichwohl ist es unbestritten,dass der Bildungs- und Beschäftigungsgradvon Frauen unter der Herrschaft Saddam Hus-seins weit höher lag als in den meisten anderenarabischen Staaten und dass Frauen von weit-reichenden sozial-, arbeits- und familienpoliti-schen Rechten profitierten.Im „neuen Irak“ drohen den irakischen Frauenunter dem massiven Druck des dominantenschiitischen Machtblocks der Verlust ihrer bis-herigen Rechte und die Unterwerfung unter diefamilienrechtlichen Regelungen der Scharia imSinne des Deutungsmonopols von konserva-tiv-religiösen Patriarchen und islamistischenHardlinern. Mitgetragen und befördert wird

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RENATE KREILE

UNSERE AUTORIN

Prof. Dr. RenateKreile lehrte amInstitut für Politik-wissenschaft derEberhard KarlsUniversität in Tü-bingen und hatseit 2003 einenLehrstuhl für Poli-tikwissenschaftund politische Bil-dung an der Päda-

gogischen Hochschule Ludwigsburg. 1996habilitierte sie sich in Politikwissenschaft miteiner Habilitationsschrift über „PolitischeHerrschaft, Geschlechterpolitik und Frauen-macht im Vorderen Orient“. Ihre Forschungs-und Publikationsschwerpunkte sind Trans-formationsprozesse im Vorderen Orient, po-litischer Islam sowie Genderforschung.

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dieser frauenpolitische Rollback von konserva-tiven schiitischen Frauen, die ihre Rechte alsFrauen im Rahmen der Scharia ausreichend ge-währleistet glauben. Sie sehen die Moscheenund religiösen Gemeinschaften als die einzigensozialen Institutionen, die während und seitdem Krieg eine gewisse Versorgung, Ordnungund Sinnstiftung geboten haben. Ihre vorran-gige Sorge gilt der Wiederherstellung des fami-liären und sozialen Zusammenhalts und Frie-dens und des durch Diktatur, Krieg und Besat-zung gedemütigten Selbstwertgefühls derMänner, die dazu befähigt werden sollen, ihretraditionellen Rollen als Versorger und respek-tierte Familienoberhäupter wieder zu überneh-men. Dieses Projekt, das nicht zuletzt die extre-me Kriminalität und Gewalt in der Gesellschaftbeenden soll, lässt sich ihrer Auffassung nachrealistisch nur im Rahmen und Geltungsbe-reich des religiösen Rechts verwirklichen (vgl.Goetz 2005).Die säkular orientierten Frauenrechtlerinnen,für die eine Gleichstellung auch im Familien-recht unverzichtbar ist, stehen weithin mit demRücken zur Wand. Angesichts alltäglicherMorddrohungen seitens islamistischer Terror-gruppen ist ihre persönliche Bewegungsfrei-heit wie auch ihre politische Partizipations-und Mobilisierungsfähigkeit extrem einge-schränkt. Zudem können sie im Hinblick auf ih-re soziale Ausstrahlungskraft kaum mit den Ka-pazitäten der Frauen aus den konservativen re-ligiösen Organisationen konkurrieren, die sozi-ale Dienstleistungen gewährleisten und einreligiös fundiertes Gemeinschaftsgefühl zuvermitteln vermögen. Die bekannte säkularorientierte Frauenrechtlerin Yanar Moham-med, die fortlaufend Todesdrohungen erhält,kommentiert die für säkular orientierte Frau-enrechtlerinnen wie für eine durchsetzungsfä-hige Frauenbewegung fatale politische Dyna-mik: „Ich fürchte mich nicht vor Männern, dienicht an Frauenrechte glauben. Aber ich binentsetzt über Frauen, die aus freien Stückenund unter dem Vorzeichen von Demokratie ge-gen Frauenrechte arbeiten“ (zit. nach Goetz2005).Die unterschiedlichen Strategien der verschie-denen Strömungen der Frauenbewegung inden arabischen Gesellschaften spiegeln nichtzuletzt heterogene soziale Zugehörigkeitenund Interessenlagen wider. Funktionaler Aus-gangspunkt ist dabei die Frage: Wer vermag inder globalisierten und fragmentierten Risiko-gesellschaft oder unter den Bedingungen vonStaatszerfall und Bürgerkrieg existenziellenSchutz und Rückhalt zu bieten? Auch in denwestlichen Gesellschaften sehen sich im Zugesozialstaatlicher Abbaumaßnahmen zuneh-mend mehr Frauen vor diese Frage gestellt.Interessanterweise konstatiert der eingangserwähnte UN-Report zur Entwicklung in derarabischen Welt bei aller Kritik an den entwick-lungspolitischen Defiziten in der Region, dassdort krasseste Armut weniger verbreitet ist alsin allen anderen Entwicklungsregionen (vgl.AHDR 2002, S. III). Dies mag nicht zuletzt in derfortdauernden besonderen Bedeutung ver-wandtschaftlicher und gemeinschaftlicherStrukturen in den orientalischen Gesellschaf-ten begründet liegen, die weithin die einzigensozialen Netze darstellen (vgl. Joseph 2000b, S.18ff).

PERSPEKTIVEN DER ARABISCHENFRAUENBEWEGUNGEN

Im Hinblick auf die Perspektiven der geschlech-terpolitischen Dynamik im Vorderen Orientzeichnen sich widersprüchliche, in sich gegen-läufige und sozial unterschiedlich akzentuierteTendenzen ab. Solange sich soziale Polarisie-rungen und existenzielle Gefährdungen weitervertiefen, dürfte auch die Nachfrage in den är-meren sozialen Schichten nach Schutz, Absi-cherung und sozialmoralischer Orientierungdurch die familiären und religiösen Gemein-schaften ungebrochen bleiben. Sie bieten man-gels Alternativen und angesichts eines repres-siven, sozialpolitisch abwesenden Staates fürviele Frauen und Männer existenziell notwen-dige Zufluchtsbastionen, deren Zusammenhaltdurch die traditionellen patriarchalischen Ver-hältnisse aufrechterhalten und den Autono-mieansprüchen der Individuen übergeordnetwird.Parallel dazu bringt der soziale Wandel eineAusdifferenzierung der Mittelschichten und ei-ne Pluralisierung von Lebensformen mit sichund schafft in den privilegierten Teilen das Potential für Individualisierungsschübe undSelbstverwirklichungsambitionen. Damit wer-den auch für eine Minderheit von Frauen auto-nomere Gestaltungsspielräume und alternati-ve Rollenkonzepte eröffnet. Wer materiell ab-gesichert ist, kann am ehesten auf den Rück-halt der familiären oder religiösen Gemein-schaft verzichten, die Sicherheit gewährt, aberAnpassung fordert. Die Forderung vieler Frauenrechtlerinnen nachgleichen Rechten, auch im „privaten“ Bereichund im Personenstandsrecht, mag diesen Pro-zess widerspiegeln. In Marokko, wo mittlerwei-le ein Drittel der Erwerbstätigen Frauen sind,hatten die Frauenrechtlerinnen Grund zum Ju-bel. Am 10. Oktober 2003 verkündete der ma-rokkanische Monarch Mohammed VI., dergleichzeitig Regierungschef, Oberbefehlshaberder Armee, Führer der Gläubigen, obersterRechtsgelehrter und laut Verfassung heilig undunantastbar ist, eine radikale Reform des Fami-lienrechts. Darin wurde u. a. festgelegt, dassEhemann und Ehefrau gleichberechtigt undgemeinsam für Familie und Haushalt verant-wortlich sind. Die bisherige Pflicht der Frau,dem Mann zu gehorchen, wurde abgeschafft.Männer und Frauen können gleichberechtigt,eine Ehe schließen; die Frau braucht keinenVormund mehr. Die Polygamie wird stark ein-geschränkt, den Frauen wird die Scheidung er-leichtert (vgl. Sabra 2004, S. 68).Perspektivisch dürfte die soziale Ausstrah-lungskraft und die politische Mobilisierungsfä-higkeit der arabischen Frauenbewegungennicht zuletzt davon abhängen, wie weit es denFrauenrechtlerinnen gelingt, die soziale Fragezum Thema zu machen und die Forderungennach individuellen Freiheitsrechten und nachsozialen Rechten zu verknüpfen. Ein Beispielaus Ägypten mag dies abschließend verdeut-lichen: Bei einer Konferenz über die rechtlicheStellung von Frauen, die 1994 in Minya statt-fand, wurde über die UN-Konvention zur Besei-tigung aller Formen der Diskriminierung gegenFrauen diskutiert. Während der Debatte erhobsich eine junge Frau mit ihrem Baby auf derHüfte und bemerkte, dass die Konvention und

die einschlägigen Diskussionen den Frauen inOberägypten wenig Hilfe in ihren alltäglichenKämpfen böten. „Ich bin hierher gekommen,um praktische Lösungen zu finden“, sagte sie.„Ich möchte beispielsweise sicherstellen, dassin meinem Dorf eine schwangere Frau nichtschwere Wasserkrüge auf dem Kopf tragenmuss“ (zit. nach Masonis El-Gawhary 2000, S. 40).

LITERATURAl-Ali, Nadje Sadig: Feminism and Contemporary Deba-tes in Egypt. In: Chatty, Dawn/Rabo, Annika (ed.): Orga-nizing Women. Formal and Informal Women’s Groups inthe Middle East. Oxford, New York 1997, S. 173–194.Arab Human Development Report (AHDR) 2002 (im Auf-trag des United Nations Development Programme)Badran, Margot: Competing Agenda: Feminists, Islam andthe State in 19th and 20th Century Egypt. In: Kandiyoti,Deniz (ed.): Women, Islam and the State. London and Ba-singstoke 1991, S. 201–236.Badran, Margot: From Consciousness to Activism: Femi-nist Politics in Early Twentieth Century Egypt. In: Spag-nolo, John P. (ed.): Problems of the Modern Middle Eastin Historical Perspective. Oxford 1992, S. 27-48.Badran, Margot: Independent Women. More Than a Cen-tury of Feminism in Egypt. In: Tucker, Judith (ed.): ArabWomen. Old Boundaries, New Frontiers. Washington D. C.1993, S. 129–148.Badran, Margot/Cooke, Miriam (Hrsg.): Lesebuch der„Neuen Frau“. Araberinnen über sich selbst. Reinbek beiHamburg 1992Chatty, Dawn/Rabo, Annika (ed.): Organizing Women.Formal and Informal Women’s Groups in the Middle East.Oxford, New York 1997Goetz, Anne Marie: Against Daunting Odds: WomenFight for Gender Equality Rights in Iraq’s New Constitu-tion. In: IDS news (Institute of Development Studies, Uni-versity of Sussex) vom 5. 08. 2005 (http://www.ids.ac.uk/ids/newsAnneMarieIraq.html)Graham-Brown, Sarah: Images of Women. A Portrayal ofWomen in Photography of the Middle East 1860-1950.London 1988Joseph, Suad (ed.): Gender and Citizenship in the Midd-le East. New York 2000 (Joseph 2000a)Dies.: Gendering Citizenship in the Middle East. In: Jo-seph, Suad (ed.): Gender and Citizenship in the MiddleEast. New York 2000, S. 3-30. (Joseph 2000b)Kandiyoti, Deniz (ed.): Women, Islam and the State. Lon-don and Basingstoke 1991 (Introduction, S. 1-21)Karam, Azza M.: Women, Islamisms, and State: Dynamicsof Power and Contemporary Feminisms in Egypt. In: Af-khami, Mahnaz/ Friedl, Erika (ed.): Muslim Women andthe Politics of Participation. Implementing the BeijingPlatform. New York 1997, S. 18-28.Kreile, Renate: Politische Herrschaft, Geschlechterpolitikund Frauenmacht im Vorderen Orient. Pfaffenweiler 1997Lübben, Ivesa/Fawzi, Issam: Rückfall in die Unterta-nengesellschaft: Das neue ägyptische Vereinsgesetz. In:INAMO, Nr. 19/1999, S. 29–33.Masonis El-Gawhary, Krista: Egyptian Advocacy NGOs.Catalysts for Social and political Change? In: Middle EastReport, No. 214/2000, S. 38-41.Müller, Jochen: Im Schatten der Vergangenheit. In: Kul-turAustausch, Heft 1/2002, S. 24-29.Paret, Rudi: Schriften zum Islam. Volksroman – Frauen-frage – Bilderverbot. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1981Sabra, Martina: Frauenrechte von Königs Gnaden. In: E+Z (Entwicklung und Zusammenarbeit), Heft 2/2004, S. 68-71.Shaarawi, Huda: Harem Years. The Memoirs of an Egyp-tian Feminist (Translated and Introduced by Margot Ba-dran). London 1986

ANMERKUNGEN1 Ich folge hier der Terminologie von Badran (1992, S. 208): Die Begründerinnen der Union verwendeten denfranzösischen Begriff „feministe“.2 Zu den Aktivitäten formeller und informeller Frauen-gruppen im Vorderen Orient, ihren Möglichkeiten undProblemen vgl. den informativen, von Chatty/Rabo 1997herausgegebenen Sammelband.

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Frauenbewegungen in der arabischen Welt – Gemeinsamkeiten und Konfliktlinien

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INTERNATIONALEGRÜNDUNGSANSTRENGUNGEN

Das Institut du Monde Arabe (IMA) entstand1980 als kulturelle Einrichtung dank einesinternationalen Abkommens zwischen Frank-reich und den arabischen Ländern1 und ist seitDezember 1987 für die Öffentlichkeit zugäng-lich.2 Durch seine Aktivitäten und das vielfälti-ge Programmangebot leistet es eine wichtigeAufgabe: die arabische und islamische Kultur inder westlichen Welt bekannt und verständlichzu machen.

ARCHITEKTUR ZWISCHEN TRADITION UND MODERNE

Das im Zentrum von Paris errichtete und vonnamhaften Architekten (Jean Nouvel, PierreSoria, Gilbert Lézènes) konzipierte Gebäudekommt in seinem formvollendeten Baustil ei-nem Museum gleich und versteht sich als Fo-rum für den Dialog zwischen arabischer undwestlicher Kultur. Stilelemente der arabisch-is-lamischen Kultur wurden in ein modernes Ar-chitekturdesign integriert. Besonders zu er-wähnen sind die subtilen Details – so die ver-feinerten und vollendeten muscharabieh (mo-zarabische Fenster), um die 240 an der Zahl,deren Öffnungen sich wie bei einer Kamera andie Stärke des Sonnenlichtes anpassen. Der Bü-cherturm am Ende der Bibliothek erinnert andas berühmte Minarett in Samarra (Irak), derPatio und die Säulenhalle an die Mezquita inCórdoba.Moderne Architektur ist überall im Gebäude inverschiedenen Formen und Spielarten zu fin-den. Die erklärte Absicht des Dialogs – auchzwischen dem historischen und dem modernenParis – kommt in der nördlichen Fassade mitBlick auf die Île Saint-Louis und die Seine, in dersüdlichen Fassade, die das moderne Paris re-

flektiert, sowie im freien Blick auf Notre Damezwischen den Fassaden beider Gebäudeteilezum Tragen.

PARITÄTISCHE BESETZUNG DER GREMIEN

Die Gremien des Institut du Monde Arabe sindvon Vertretern Frankreichs und der arabischenLänder paritätisch besetzt. Das Institut wirdvon einem Verwaltungsrat (Le Conseil d’Admi-nistration) geführt, der aus zwölf Mitgliedernbesteht; sechs seiner Mitglieder repräsentierendie arabischen Länder, die andere Hälfte sindFranzosen. Der Präsident des Instituts sowie diefranzösischen Vertreter werden auf französi-schen Vorschlag, der Generaldirektor hingegenauf Vorschlag der arabischen Länder – reprä-sentiert im Rat der arabischen Botschafter inParis – eingesetzt.3 Die weiteren arabischenVertreter sind vom Rat der arabischen Bot-schafter für eine Dauer von drei Jahren zu be-nennen, ein Drittel der Vertreter wird jedes Jahrneu besetzt. Ein Vertreter jedes Gründungslan-des, Mitglieder des Verwaltungsrates und wei-tere sechs Persönlichkeiten des öffentlichenLebens – von französischer Seite ernannt – bil-den den so genannten „Obersten Rat“ (Haut-Conceil) des Institut du Monde Arabe.Auf der Arbeits- und Verwaltungsebene sind ca.160 Personen aus zwölf verschiedenen Natio-nen tätig – unter ihnen 75 Experten für die Kul-tur und Geschichte der arabischen Länder so-wie 83 Verwaltungsangestellte. In diesem Zu-sammenhang ist auch der 1995 gegründete„Verein der Freunde des Institut du Monde Ara-be“ zu nennen, der das Institut in seinen Ziel-setzungen und seiner Arbeit unterstützt. DerVerein hat es sich zur Aufgabe gemacht, neueMitglieder zu gewinnen, den Kontakt der Mit-glieder untereinander zu pflegen und regelmä-ßig über die verschiedenen Aktivitäten des In-stituts zu informieren.

ZIELE UND AUFGABEN DES INSTITUTS

Das Institut du Monde Arabe wurde gegründet,um die interkulturelle Verständigung zwischenFrankreich und der arabischen Welt zu fördernund somit die Kenntnis über die arabische Kul-tur in Europa zu vertiefen. Das Institut setztsich für folgende Ziele und Aufgaben ein:� das Verständnis für die arabische Kultur, Zi-

vilisation und Sprache zu entwickeln und dieKenntnisse über die arabische Welt in Frank-reich zu vertiefen;

� den kulturellen Austausch, die Kommunika-tion und Kooperation zwischen Frankreichund den arabischen Ländern zu unterstüt-zen, besonders auf den Gebieten Wissen-schaft und Technik;

� einen Beitrag für die Förderung und Ent-wicklung der Beziehungen zwischen derarabischen Welt und Frankreich sowie Euro-pa zu leisten.

Um diese Zielsetzungen zu erreichen, werdendem Institut du Monde Arabe von verschiede-nen Seiten Finanzmittel zur Verfügung gestellt:vom französischen Außenministerium und vonarabischen Ländern. Des Weiteren wird dasBudget durch Einnahmen aus den Veranstal-tungen des Instituts aufgestockt.

DAS „MUSEUM DER ARABISCHEN MUSEEN“

Seit seiner Entstehung baut das Institut eine ei-gene Kunstsammlung auf, die das Verständnisfür die arabische und islamische Kunst weckenund fördern soll. Um diese Kunstsammlung zuvervollständigen, hat das Institut Museen derarabischen Gründungsländer aufgefordert, sichan der so genannten Aktion „Das Museum derarabischen Museen“ zu beteiligen und reprä-sentative Exponate als Leihgaben zur Verfügungzu stellen. Um den Umfang der Dauerausstel-lung zu erweitern, werden themenorientierteAusstellungen mit privaten und öffentlichen Institutionen organisiert. Einige Sammlungendes Museums wurden und werden in Koope-ration mit anderen Museen und Institutionenauch in arabischen Ländern ausgestellt.

DIE BIBLIOTHEK DES INSTITUTS

Die auf drei Etagen verteilte Bibliothek bestehtaus drei Lesesälen, einem Zeitschriftenlesesaalund bietet den Besuchern über 150 Arbeitsplät-ze an.4 Die gut sortierte Bibliothek, die im Durch-schnitt täglich etwa 600 Besucher verzeichnet,hat einen Bestand von über 70.000 Werken inarabischer Sprache (ca. 35.000 Bücher) sowie inmehreren europäischen Sprachen – hauptsäch-lich Französisch – und umfasst die SachgebieteReligion, Philosophie, Linguistik, Literatur, Kul-tur und Sozialwissenschaften. Im Angebot fin-den sich zudem über 1.405 Zeitschriften und 40 Tages- und Wochenzeitungen. Die 1994 er-öffnete Mediothek für Kinder und Jugendlicheverfügt über 3.000 Kinder- und Jugendbücher –ein Drittel davon auf Arabisch. Im Rhythmus von zwei Jahren wird eine ara-bisch-europäische Buchausstellung mit zahl-reichen Schriftstellerinnen, Schriftstellern undetwa 250 arabischen, französischen und euro-päischen Verlagen im Foyer des Instituts orga-nisiert, um neue Publikationen, die sich mitarabischen Ländern, deren Kultur und Zivilisa-tion befassen, vorzustellen. Außerdem publi-ziert die Bibliothek regelmäßig Bibliographienund Dokumentationen zu einschlägigen The-men und pflegt zudem Partnerschaften zufranzösischen und arabischen Bibliotheken.

TON- UND BILDARCHIVE

Die Abteilung „Bild und Ton“(„L’Espace Image etSon) verfügt über verschiedene Archive, wel-che die arabische Kultur in all ihren Aspekten

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KULTURELLE PARTNERSCHAFT ZWISCHEN ARABIEN UND DEM WESTEN

Interkulturelle Begegnung und Kulturaustausch –das Institut du Monde ArabeNASSER EL ANSARY

Kultureller Austausch und interkulturel-le Begegnungen brauchen Orte, Forenund Anlässe. Nasser El Ansary, ehemali-ger Generaldirektor des Institut du Mon-de Arabe (Institut der Arabischen Welt),beschreibt in seinem Beitrag Möglich-keiten der interkulturellen Begegnung,des Kulturaustausches und der Pflegeder kulturellen Partnerschaft zwischendem Westen und der arabischen Weltam Beispiel des in Paris ansässigen Insti-tuts. Dieses weltweit einzigartige Insti-tut, außerhalb der arabischen Welt gele-gen, dient nicht nur als Kulturbrückezwischen Frankreich und der arabischenWelt – es will auch eine kulturelle Brückenach Europa schlagen und den interkul-turellen Dialog fördern.

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darstellt: Architektur, Kunst, Handwerk, dasMeer, die Umwelt, Agrarwirtschaft, Industrie,Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Archäo-logie. Die Abteilung stellt u. a. folgendes Mate-rial zur Verfügung, das die Besucher in eigensdafür eingerichteten Vorführkabinen besichti-gen können:� etwa 70.000 Photographien und mehr als

750 Filme; � Musiksammlungen in audiovisuellen Archi-

ven, die 2.550 Titel und zwei Musikkatalogeumfassen. Die Sammlung „TARAB“ enthält2.300 in Indizes und nach Titeln aufgeliste-te Platten und CDs. Die Sammlung „QAYNA“bietet über 1.160 archivierte Musikstückean, die nach musikalischen Genres klassifi-ziert sind;

� es besteht weiterhin die Möglichkeit, Fern-sehprogramme von 24 arabischen Kanälenzu verfolgen, die von den Satelliten Arabsatund Eutelsat ausgestrahlt werden.

SPRACHKURSE UND LANDESKUNDE

Das „Zentrum für arabische Sprache und Zivi-lisation“ bietet Arabisch-Sprachkurse für An-

fänger und Fortgeschrittene auf verschiedenenNiveaustufen an. Etwa 800 Erwachsene und imSchnitt 100 Kinder und Jugendliche nahmen inden vergangenen Jahren an diesen Kursen teil.In den Sprachkursen erhalten die Teilnehmen-den selbstverständlich auch landeskundlicheInformationen.Weiterhin organisiert das „Zentrum für arabi-sche Sprache und Zivilisation“ Fortbildungs-kurse und Workshops für Arabischlehrer, die inFrankreich leben und arbeiten, sowie Studien-aufenthalte in arabischen Ländern, mit denendas Institut enge partnerschaftliche Beziehun-gen pflegt – vor allem in Marokko, Ägypten undim Jemen. Erwähnenswert ist auch, dass Kurs-und Unterrichtsmaterialien erarbeitet undInteressierten zur Verfügung gestellt werden.In Zusammenarbeit mit dem „Centre nationald’enseignement à distance“ (CNED)5 hat das„Zentrum für arabische Sprache und Zivilisa-tion“ ein Buch für das Fernstudium der arabi-schen Sprache entwickelt und veröffentlicht.Das Zentrum gibt zudem eine pädagogischeZeitschrift – „Al-Moukhtarat“ – heraus, die Le-serinnen und Leser mit Informationen über diearabische Welt und geeigneten Unterrichtsma-terialien versorgt.

AUSSTELLUNGEN ALS BESTANDTEIL DESKULTURPROGRAMMS

Die Ausstellungen sind ein wichtiger Bestand-teil des vielfältigen Kulturprogramms des Insti-tuts. Intention dieser Ausstellungen ist es, dieKunst eines arabischen Landes oder einen aus-gewählten Aspekt der arabischen Zivilisationdarzustellen, indem nicht nur auf die Exponateaufmerksam gemacht wird, die sich in den Mu-seen des jeweils ausgewählten Landes befin-den, sondern auch auf Kunstwerke, die in fran-zösischen, europäischen, amerikanischen Mu-seen sowie in Privatsammlungen zu findensind.Jahrelange Erfahrungen, ausgewiesene fachli-che Kenntnisse, die Themenauswahl, ein an-spruchsvolles Begleitprogramm und letztlichdie Exponate selbst machen aus den Ausstel-lungen kulturelle Ereignisse, die internationaleBeachtung und Anerkennung finden. So habenfranzösische, europäische und amerikanischeStädte einzelne dieser Ausstellungen in ihr Kul-turprogramm übernommen und präsentiert.Die Ausstellung „Soudan, Royaumes sur le Nil“wurde in Toulouse, Amsterdam, Mannheim,München, Turin, New York und São Paulo ge-

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Interkulturelle Begegnung und Kulturaustausch – das Institut du Monde Arabe

DAS IM ZENTRUM VON PARIS GELEGENE GEBÄUDE DES INSTITUT DU MONDE ARABE ZEIGT DIE GELUNGENE VERBINDUNG VON STILELEMENTEN DER ARABISCH-ISLAMISCHEN KULTUR

MIT DER KONZEPTION EINER MODERNEN ARCHITEKTUR. picture alliance / dpa

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zeigt. Die Ausstellung „Yémen, au pays de la rei-ne de Saba“ war in Berlin, Rom und Wien zuGast. Die Ausstellung „Bahrein, la civilisationdes deux mers“ konnte in London und Kopen-hagen gezeigt werden.

VIEL GEFRAGTE WANDERAUSSTELLUNGEN

Das Institut du Monde Arabe ist auch mit Wan-derausstellungen außerhalb der eigenen vier

Wände präsent. So in über 30 Ausstellungen inGemeinden, Kulturzentren und in Bibliothekenverschiedener französischer Städte. Die Wan-derausstellungen sind bereits seit 1983 – alsovier Jahre vor der offiziellen Eröffnung des In-stituts im Jahre 1987 – ein wesentlicher Be-standteil des Veranstaltungsprogramms. DieseAusstellungen beschäftigen sich mit den ver-schiedensten Themen aus dem historischen,politischen, kulturellen oder sozialen Bereich.Sie können gemietet werden, sind aus leichtem

Material und einfach aufzubauen, so dass sieohne weiteres von Ort zu Ort transportiert wer-den können.6

MUSIKALISCHE VERANSTALTUNGEN

Mit Musikabenden und einem jährlich statt-findenden Musikfestival stellt sich das Institutdie Aufgabe, das musikalische Erbe Arabiens in seiner ganzen Vielfalt darzustellen: Dazugehört avantgardistische, mystische, ländlich-folkloristische oder urbane Musik. So hat das Institut in den vergangenen Jahren dazubeigetragen, kulturell interessierten Menschendie Volksmusik verschiedener arabischer Län-der näher zu bringen: die Volks- und Pop-musik aus Ägypten und Algerien oder Liederaus der libyschen Wüste, die fröhliche Musikaus dem Sudan und die mystischen Lieder aus Damaskus – auch arabische Musikinstru-mente, vor allem die Blasinstrumente Ney,Gasba, Ghaita und Satara, werden dadurchvertrauter.

ARABISCHES KINO UND FILMSCHAFFEN

Die 1988 gegründete Filmabteilung hat folgen-de Zielsetzungen:� das arabische Kino in Frankreich durch Re-

trospektiven und Hommagen auf arabischeRegisseure oder Schauspieler bekannt zumachen;

� den arabisch-europäischen Dialog zu för-dern, indem Filme arabischer und/oder eu-ropäischer Persönlichkeiten aus dem Film-milieu ausgestrahlt werden;

� die Bindungen der in Frankreich leben-den Araber zu ihrer ursprünglichen Kultur zu erhalten, indem Filme präsentiert werden, welche die Lebenswelt der Mi-granten in Frankreich und Europa themati-sieren;

� ein breiteres Publikum für den arabischenFilm zu interessieren und zu gewinnen, in-dem mit anderen Filmfestivals in Frankreich,Europa, in den arabischen Ländern, Amerikaund selbst in Japan Kooperationen einge-gangen werden.

Zwei Projekte sind in diesem Zusammenhangzu erwähnen: Das Cine-IMA und die „Bien-nale des arabischen Kinos“ (Biennale des cinémas arabes à Paris). Unter dem MottoCine-IMA werden arabische Filme, in verschie-dene Programm- und Themenschwerpunkteeingebettet, im Institut vorgestellt und aucham Wochenende vorgeführt. Außerdem fin-den Filmpremieren (Avant-première) statt. Die„Biennale des arabischen Kinos“ (www.bien-nalecinemarabe.org) ist ein wichtiger Anlass, um neue arabische Filmproduktionen in derwestlichen Welt vorzustellen und bekannt zumachen. Auf der alle zwei Jahre stattfin-denden Biennale werden dem interessiertenPublikum in vier Sektionen (Spiel- und Kurzfil-me, Dokumentarfilme usw.) über 200 Filmevorgestellt. Die Biennale stellt ein arabischesGastland und dessen filmisches Schaffen inden Mittelpunkt, bietet stets auch eine Hommage für interessierte Cineasten undkann mit international besetzten Kolloquienaufwarten.

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NASSER EL ANSARY

1989 Ägypten – Meisterwerke aus allen Zeiten

1993-1994 Syrien – Geschichte und Zivilisation

1995 Delacroix – Reise nach Marokko

1996 Sudan – Königreich am Nil

1997 Die Medizin zur Zeit der Kalifen

1997 Jordanien – auf den Spuren der Archäologen

1998 Jemen – im Land der Königin von Saba

1998 Schätze der Fatimiden in Kairo

1998 Libanon – das andere Ufer

1999 Bahrain, la civilisation des deux mers

1999-2000 Matisse in Marokko

2000 Die Magie der Orte in Marokko

2000 Retrospektive Jacques Majorelle

2000 Koptische Kunst in Ägypten – 2000 Jahre Christentum

2000-2001 Andalusien von Damaskus bis Córdoba (Les Andalousies, de Damas a Córdoba)

2001-2002 Saladin und der Orient – die Kunst der Ayyubiden

2002-2003 Arabische Pferde und Ritter in den Künsten des Orients und Okzidents

2003 Arabische Ikonen – christliche Kunst in der Levante (Icônes arabes, art chrétien du Levant)

2003 Algerien – Kunst und Geschichte

2003 Das Algerien der Maler – von Delacroix bis Renoir

2004-2005 Pharao

2005-2006 Das goldene Zeitalter der arabischen Wissenschaften

geplant Venedig und der Orient (Oktober 2006 – Februar 2007); Die Phönizier und das Mittelmeer (2007–2008); Petra und die Nabatäer (2008–2009).

VOM INSTITUT DU MONDE ARABE ORGANISIERTE AUSSTELLUNGEN

1991 Einführung in die Geschichte der arabischen Länder

1993 Der arabische Orient – vom Niltal bis Mesopotamien

1995 Frauen in der arabischen WeltDie arabische Halbinsel und der Golf

1996 Die arabischen Wissenschaften (Les sciences arabes)

1997 Der IslamDas Mittelmeer – Wege einer ZivilisationVielfalt der arabischen Musik (La musique arabe dans tous ses éclats)Arabische Kalligraphie

1998 Al Andalus

1999 Algerien – Geschichte und Kultur

2000 Arabische LiteraturDer wundervolle Orient (L’Orient merveilleux)

2001 Traditionelle KünsteBilder und Landschaften der arabischen Welt

2002 Arabische Migranten in Frankreich

2003 Palästina – Geschichte eines Volkes

2004 Der Irak – von Babylon nach Bagdad

Ägypten – Land der Zivilisationen

EINIGE DER MEIST GEFRAGTEN WANDERAUSSTELLUNGEN DES INSTITUT DU MONDE ARABE

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PÄDAGOGISCHE AKTIVITÄTEN

In Gruppen oder auch als Einzelpersonen besu-chen jährlich bis zu 50.000 Kinder und Jugend-liche das Institut du Monde Arabe und nutzendie vielfältigen pädagogischen Angebote (ac-tions éducatives):� in Ateliers und Werkstätten wird ein be-

stimmtes Thema, das in Bezug zu einer ak-tuell stattfindenden Ausstellung steht, pä-dagogisch aufgearbeitet. Im Rahmen einerBesichtigung begleitet ein Künstler dieSchülergruppe von Exponat zu Exponat, er-klärt die jeweiligen Kunstwerke und disku-tiert mit den Kindern und Jugendlichen de-ren Eindrücke. Nach der Führung versam-melt sich die Schülergruppe in einem Atelierbzw. einer Werkstatt und der Künstler führtsie – nachdem er seine eigenen Werke vor-gestellt hat – in seine Arbeitsmethode bzw.Technik ein, damit die Schülerinnen undSchüler eigene Werke kreieren können;

� in musikalischen Ateliers werden Schülerin-nen und Schüler in die traditionelle arabi-sche Musik eingeführt;

� der Besuch ausgewählter Stationen in Bi-bliothek und Museum ermöglicht eine ge-zielte und interessante „Entdeckungsreise“in ein bestimmtes arabisches Land;

� die für Kinder und Jugendliche eingerichte-te Mediothek bietet Möglichkeiten zur in-haltlichen Vertiefung oder auch zur Lektürebilingualer Bücher.

LITERATURABENDE, KOLLOQUIEN UND PERIODIKA

Mit regelmäßig stattfindenden Kolloquien,Diskussionsrunden und Literaturabenden be-müht sich das Institut, interessierten Teilneh-merinnen und Teilnehmern die arabische Kul-tur näher zu bringen und aktuelle Themen undPublikationen auf die Agenda zu setzen: � Jeden Dienstag steht in „La Chaire de l’IMA“

eine bekannte Persönlichkeit aus dem arabi-schen bzw. europäischen Raum im Mittel-punkt einer Abendveranstaltung und disku-tiert mit dem Publikum – je nach Themen-stellung – über Geschichte, Gesellschaft undKultur der arabischen Länder. Diese Vorträ-ge und Diskussionen werden in der Regel zueinem späteren Zeitpunkt publiziert.

� Im „Literatur-Café“ (Café littéraire) wird je-den Mittwoch über aktuelle Themen bzw.neu erschienene Bücher diskutiert. BeiBuchvorstellungen ist stets die betreffendeAutorin bzw. der betreffende Autor anwe-send.

� Beim so genannten „Donnerstag-Treffen“(Les Jeudis de l’IMA) steht ein Ehrengast imMittelpunkt, der über ein aktuelles Themareferiert und im Anschluss mit dem anwe-senden Publikum diskutiert. Diese Veran-staltungen können im Übrigen auch imInternet verfolgt werden.

In Zusammenarbeit mit Universitäten und For-schungseinrichtungen und mit Unterstützungeuropäischer und arabischer Persönlichkeitenwerden regelmäßig Kolloquien organisiert.Die Kulturzeitschrift „Qantara“ (arabisch: Brü-cke), die vom Institut herausgegeben wird, er-scheint alle drei Monate. In „Qantara“ werdenvornehmlich aktuelle und kulturelle Themenaus dem arabischen und aus dem Mittelmeer-raum behandelt. Erklärte Zielsetzung der Zeit-schrift ist es, eine Brücke zwischen den arabi-schen Ländern und ihren Nachbarländern zubauen und den interkulturellen Dialog zu eta-blieren. Im Anhang jeder Ausgabe finden sichHinweise auf neue Veröffentlichungen sowieein Dossier zu einem aktuellen oder histori-schen Thema, kulturelle Informationen undRubriken über Kunst, Musik und Photographie.

SCHLUSSBEMERKUNG

Zum Schluss sei noch erwähnt, dass das Insti-tut du Monde Arabe wegen seiner anspruchs-vollen Aktivitäten und seinem vielfältigen Pro-gramm seitens mehrerer europäischer Länder(z.B. Belgien, Niederland, England, Italien undDeutschland) nach Möglichkeiten für eine Ko-

operation und Zusammenarbeit angefragtwurde – besonders nach den tragischen Ereig-nissen vom 11. September 2001. Deutschlandging einen Schritt weiter und plädierte für dieEinrichtung eines ähnlichen Instituts, das vonden Erfahrungen des Institut du Monde Arabeprofitieren könnte.

BEMERKUNG:Der Vortrag von Dr. Nasser El Ansary fand am 9.11.2004in französischer Sprache statt. Das für den Vortrag einge-reichte Manuskript wurde von Soumaya Louhichi (VereinArabischer Studenten und Akademiker Tübingen) über-setzt. Die Endredaktion, Überarbeitung und Erweiterunganhand der von Dr. Nasser El Ansary zur Verfügung ge-stellten arabischen Vorlagen sowie anhand der Tonband-aufnahme des Vortrages übernahm Adwan Taleb.

ANMERKUNGEN1 Ägypten, Algerien, Bahrain, Dschibuti, Irak, Jordanien,Komoren, Kuwait, Libanon, Libyen, Marokko, Maureta-nien, Oman, Palästina, Katar, Saudi-Arabien, Somalia, Su-dan, Syrien, Tunesien, Vereinigte Arabische Emirate undJemen.2 Das Abkommen wurde am 14. Oktober 1980 von derfranzösischen Regierung genehmigt. Das Institut wurdeals gemeinnützige Institution nach geltendem französi-schem Recht in Paris gegründet.3 Präsident des Instituts ist zurzeit der französische Po-litiker Yves Guéna, Generaldirektor ist seit Anfang 2005der algerische Diplomat und LiteraturwissenschaftlerMokhtar Taleb-Bendiab.4 Die Bibliothek ist mit zehn Recherchecomputern aus-gestattet, von denen zwei für CD-ROMs und für dasInternet, die anderen acht für bibliographische Recher-chen zur Verfügung stehen.5 Für Berufstätige oder für Personen, die aus gesund-heitlichen Gründen in ihrer Bewegungsfreiheit einge-schränkt sind, aber auch für Studierende, die ihr Fachstu-dium vertiefen wollen, gibt es in Frankreich verschiedeneAngebote zum Fernstudium. Das Centre National d’En-seignement à Distance (CNED) ist dem Erziehungsminis-terium unterstellt und bietet zahlreiche Diplomstudien-gänge sowie Vorbereitungskurse zur Aufnahme in denStaatsdienst und verschiedene Institute an.6 Das Programmheft über die Wanderausstellungenkann auf der Homepage des Instituts abgerufen werden.Die Ausstellungen können auch auf der Homepage(http://www.imarabe.org) besichtigt werden.

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UNSER AUTOR

Dr. Nasser El Ansary studierte Jura in Kairo,den USA und promovierte an der Juristi-schen Fakultät in Aix-en-Provence; 1987–1991 Vize-Staatssekretär der RepublikÄgypten; 1991–1997 Generaldirektor derAllgemeinen Organisation des NationalenKulturzentrums und Leiter der Staatsoper inKairo; 1998–1999 Generaldirektor des Na-tionalarchivs in Ägypten; Professuren an derHelwan-Universität in Kairo und der Univer-sität Kairo; 1999–2005 Generaldirektor desInstitut du Monde Arabe in Paris; zahlreichePublikationen über Rechtsgeschichte sowieBeratertätigkeiten bei den Vereinten Natio-nen und der Arabischen Liga.

AUSSTELLUNGEN SIND EIN WICHTIGER BESTANDTEIL DES KULTURPROGRAMMS: SEIF EL ISLAM (R.), SOHN DES LIBYSCHEN

REVOLUTIONSFÜHRERS GADDAFI, BETRACHTET SEIN GEMÄLDE „DIE WÜSTE IST NICHT STUMM“ IN BEGLEITUNG EINES

MITARBEITERS DES ARABISCHEN INSTITUTS. picture alliance / dpa

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GUT GEMEINTE KULTURARBEIT –VERFEHLTE AUSSENPOLITIK

„Warum hassen sie uns?“, fragten amerikani-sche Zeitungen nach den Anschlägen auf dasWorld Trade Center. Noch bevor die US-Regie-rung je ernsthaft nach Antworten auf diese Fra-ge gesucht hatte, zog sie in den Krieg. Mit derFolge, dass das Misstrauen gegenüber denAmerikanern und der westlichen Welt in denarabischen Staaten seither noch gestiegen ist.Nur 5 Prozent der Jordanier und 6 Prozent derÄgypter, so ermittelten die Umfragen des re-nommierten Pew Research Centers in Was-hington, hatten 2004 noch eine positive Mei-nung von den Vereinigten Staaten. Dagegenfand jeder fünfte Jordanier und zwei Drittel derPakistanis Osama Bin Laden sympathisch. „Wiekonnte es einem Mann in einer Höhle gelingen,die weltweit führende Informationsmachtkommunikativ auszumanövrieren?“, fragte sichdaraufhin nicht nur der ehemalige US-Bot-schafter Richard Holbrooke angesichts des dra-matischen Vertrauensverlusts der USA. Sämtli-che Bemühungen Washingtons, des Anti-Ame-rikanismus in der muslimischen Welt Herr zuwerden, scheiterten kläglich. Auch die vonAußenminister Colin Powell als PR-Chefin ein-gesetzte Werbefachfrau Charlotte Beers, vor-her erfolgreich für Uncle Ben’s Rice tätig, gabihren Job nach 17 Monaten völlig entnervt auf.Schließlich versuchten es die Amerikaner mitbewährten Mitteln aus dem Kalten Krieg. „Wirführen keinen Krieg gegen den Terror, sondernwir befinden uns in einem Kampf der Ideen“,hieß es in der New York Times. Und: „Wir glau-

ben, der Kampf spiele sich am Boden ab, aber dieGegner wissen, dass er in Wahrheit über Satel-liten-TV ausgetragen wird.“ Aber auch ara-bischsprachige Medien wie das „Hi-Magazine“oder „Al Hurra TV“ und „Radio Sawa“, mit denendie US-Regierung junge Araber amerika-freundlicher stimmen wollte, schafften nur be-scheidene Erfolge. Auch eine noch so gute Kul-turarbeit kann die Folgen einer verfehltenAußenpolitik nicht ausbügeln. Oder wie es deramerikanische Publizist Ramesh Ponnuro tref-fend ausdrückt: „Auswärtige Kulturpolitik kannkein Blei in Gold verwandeln.“

EUROPÄER PRAKTIZIEREN EINE „KULTUR DES ZUHÖRENS“

Spätestens seit dem 11. September ist klar ge-worden, dass der Dialog der Kulturen keine aka-demische Beschäftigung für Schöngeister ist,sondern ein zentraler Aspekt internationalerBeziehungen. Aber die Vorstellungen darüber,wie der Dialog zu führen ist, klaffen sehr weitauseinanderDem eher einseitigen Verständnis AuswärtigerKulturpolitik Washingtons setzen die Europäeransatzweise eine „Kultur des Zuhörens“ entge-gen. Seien es das Pariser Institut du Monde Ara-be oder die Frankfurter Buchmesse mit der ara-bischen Welt als Ehrengast: Einrichtungen undVeranstaltungen dieser Art sind ein Beleg für dieErkenntnis, dass Vorurteile auf beiden Seitenabzubauen sind. Gerade die weltgrößte Bü-cherschau in Frankfurt mit ihrer Schwerpunkt-setzung auf die arabische Welt 2004 hat dazubeigetragen, dass der Buchmarkt ein größeresInteresse an arabischen Autoren entwickelte.Die politische Bedeutung des Ereignisses hatfür zahlreiche Sonderbeilagen in den Tagesme-dien und eine dementsprechend große Breiten-wirkung gesorgt. Hunderte von Lesungen, Aus-stellungen und Konzerte gaben arabischenKünstlern eine Bühne. Auch wenn außerhalbder organisierten Podiumsdiskussionen mögli-cherweise zu wenig Dialog zwischen den Kul-turschaffenden in Gang kam und den arabi-schen Staaten vornehmlich an politischerSelbstdarstellung gelegen war, brachte dieMesse einen spürbaren Schub für den Dialogmit der islamischen Welt.

VORREITERROLLE IM EUROPÄISCH-ISLAMISCHEN KULTURDIALOG

Einer der Beteiligten und Vorreiter im europä-isch-islamischen Kulturdialog ist das Institutfür Auslandsbeziehungen (ifa) in Stuttgart. AlsPartner des Auswärtigen Amts will es den Res-pekt gegenüber anderen Kulturen fördern unddie Rolle der Zivilgesellschaften in den interna-tionalen Beziehungen stärken. Gerade im Ver-hältnis zu islamisch geprägten Ländern hat derKulturdialog in den vergangenen Jahren an po-litischer Bedeutung gewonnen und steht

gleichrangig neben Wirtschafts- und Sicher-heitsfragen. In einem Klima von Offenheit undKritikfähigkeit bringt das ifa Multiplikatoren inWorkshops, Konferenzen und anlässlich vonAusstellungen zusammen, um den Informa-tionsaustausch zu vertiefen und gegenseitigeFeindbilder abzubauen.Als Seismographen und Antreiber für gesell-schaftliche Veränderungen stehen Künstler,Wissenschaftler und Journalisten im Mittel-punkt der ifa-Programme. So fördern persönli-che Begegnungen in Künstler-Workshops undgezielte Austauschprogramme wie das Rave-Stipendium für junge Kuratoren und Restaura-toren in einem ständig erweiterten Netzwerkden internationalen und interkulturellen Wer-tediskurs. Seit Jahren veranstaltet das ifa Kon-ferenzen mit Journalisten aus Deutschland undislamisch geprägten Ländern über ein breitesSpektrum von Presse- und Medienfragen. DieInternetangebote der ifa-Bibliothek, die The-menhefte der Zeitschrift „Kulturaustausch“und das Internet-Portal „qantara.de“, an demsich das ifa beteiligt, untermauern den euro-päisch-islamischen Dialog mit relevanten In-formationen und Debatten ebenso wie das vomifa herausgebrachte Online-Magazin „AktuelleKunst aus der islamischen Welt“ auf den Inter-netseiten von universes-in-universe.de Seine Rolle als Impulsgeber für den europäisch-islamischen Kulturdialog hat das ifa insbeson-dere mit dem 2004 erschienen Report „DerWesten und die islamische Welt“ unterstrichen,einer Bestandsaufnahme der gegenseitigenBeziehungen aus muslimischer Sicht. Der Re-port ist Teil des ifa-Forums „Dialog und Verstän-digung“, zu dem auch ein Austauschprogrammfür junge Berufsanfänger (Cross-Culture-Prak-tika) und ein Projekt über politische Gewalt imWesten und in der islamischen Welt gehören. In diesem Report formulierte eine unabhängi-ge Autorengruppe muslimischer Intellektuellerihre Sicht der Kernprobleme zwischen west-licher und islamischer Welt. Welche Chancenhaben Dialog und Verständigung im Schattendes Terrors? Die Autoren gehen auf die histori-schen Wurzeln der Konfrontation zwischendem Westen und der islamischen Welt ein, be-nennen die Stereotypen und Vorurteile, die ei-nem konstruktiven Dialog im Wege stehen undliefern schließlich Empfehlungen und Ansatz-punkte für eine gemeinsame Gestaltung derZukunft.

KEINE RITUALISIERUNG DESINTERKULTURELLEN DIALOGS

Oft bleiben politisch motivierte Dialog-Veran-staltungen bei rituellen Bezeugungen des gu-ten Willens, bei Propaganda für die eigene Po-sition und beim oberflächlichen Austausch vonHöflichkeiten stehen. Will man Alibi-Veranstal-tungen künftig vermeiden, muss man Mittelund Wege finden, um der Ritualisierung desinterkulturellen Dialogs zu entgehen. Dazu ge-

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STÄRKUNG DER ZIVILGESELLSCHAFT DURCH KULTURDIALOG

Vorreiter im Kulturdialog – das Institut für AuslandsbeziehungenSEBASTIAN KÖRBER

Einleitend stellt Sebastian Körber amBeispiel der Vereinigten Staaten dar,dass eine gut gemeinte Kulturarbeit dieFolgen einer verfehlten Außenpolitiknicht wettmachen kann. Diesem einsei-tigen Verständnis Auswärtiger Kultur-politik setzen europäische Staaten ehereine „Kultur des Zuhörens“ entgegen.Das in Stuttgart ansässige Institut fürAuslandesbeziehungen (ifa) hat diese„Kultur des Zuhörens“ in seinen vielfäl-tigen Beziehungen mit der arabisch-isla-mischen Welt zum Leitbild und Grund-prinzip seiner Arbeit erklärt. In Form vonAusstellungen, in Workshops mit Wis-senschaftlern, Medienexperten oder imBereich der Multiplikatorenfortbildungund nicht zuletzt in den Publikationendes Instituts wird stets auf eine sichgegenseitig respektierende Form des Di-alogs geachtet. Nur ein solches Dialog-verständnis kann die Rolle der Zivilge-sellschaft in den internationalen Aus-tauschbeziehungen stärken.

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Page 43: Die arabische Welt und der Westen - Landeszentrale …Für die islamisch-arabische Welt geht es zukünf-tig auch darum, wie sie ihre kulturelle und reli-giöse Substanz mit den politischen

hört an erster Stelle, dass der Dialog auf beidenSeiten eine Vielzahl widersprüchlicher Akteureund Positionen einbezieht. Die Verkürzung aufzwei Seiten (Westen-Islam) wird den komple-xen Realitäten in der westlichen und muslimi-schen Welt nicht gerecht. Natürlich gehört zueiner Kultur des Zuhörens auch die Bereit-schaft, eigene Positionen zu hinterfragen. Uni-versitäten sollten gemeinsame Forschungspro-gramme ins Leben rufen, um die beteiligtenWissenschaftler und Institute besser zu vernet-zen. Multiplikatoren wie Lehrer, Journalisten,Intellektuelle und Entscheidungsträger müssenbesser beteiligt werden, um gegenseitige Blo-ckaden abzubauen und irrationalen Ängstenfrüh zu begegnen. Unter solchen Bedingungenwäre der interkulturelle Dialog imstande, nega-tive Wahrnehmungen und Stereotype abzu-bauen und durch Verständnis und Kooperationzu ersetzen. Die Autoren des Reports plädierenunter anderem für die Einrichtung von Sonder-programmen für gemeinsame Forschungsvor-haben an Universitäten und Forschungsinsti-tuten und die gemeinsame Durchsicht vonSchul- und Lehrbüchern auf beiden Seiten.

ANREGUNG ZU AUSGEWOGENER UNDOBJEKTIVER BERICHTERSTATTUNG

Einen besonderen Schwerpunkt legt das ifa aufProjekte zur Verbesserung der Medienbericht-erstattung auf beiden Seiten, bzw. Bemühun-gen, eine ausgewogene, professionelle und ob-

jektive Berichterstattung anzuregen. So richtetdas ifa seit beinahe zehn Jahren – zunächst inPartnerschaft mit dem Bundespresseamt undseit der Überführung der Auslandsabteilung insAußenministerium in Partnerschaft mit demAuswärtigen Amt – so genannte „deutsch-ara-bische Mediendialoge“ aus. Der erste Medien-dialog fand 1997 in Heidelberg statt. Pressever-treter und Medienexperten aus elf arabischenLändern sowie Deutschland und der Schweizdiskutierten die Rolle der Medien in dendeutsch-arabischen Beziehungen und suchtennach Möglichkeiten, wechselseitigen Stereoty-pen und Bedrohungsvorstellungen entgegen-zuwirken. Schon während der Tagung selbststellte es sich als überaus hilfreich heraus, dassdie Betroffenen selbst am Tisch saßen und sofort auf Kritik reagieren konnten. So wurdevon den anwesenden arabischen Journalistenselbst die „Verschwörungstheorie“, wonach ei-ne bewusst simplifizierende und mit Vorurtei-len beladene Berichterstattung im Westen aufgesteuerte Weise das „Feindbild Islam“ schüre,als unzureichend enttarnt und stattdessen dasInformationsdefizit auf beiden Seiten in denMittelpunkt gerückt. Seit diesem erfolgreichenAuftakt finden die Mediendialoge regelmäßigstatt und werden abwechselnd in arabischenLändern oder in Deutschland ausgetragen.Nachdem anfänglich generelle Verständi-gungsschwierigkeiten behandelt wurden, fo-kussiert man sich inzwischen in den jeweiligenVeranstaltungen auf einzelne Kernaspekte, seies die gesellschaftliche und rechtliche Stellungder Frau, die kulturelle Globalisierung, oder Ju-gend und politische Partizipation.

BEGEGNUNG MIT BILDENDER KUNST

Als führende deutsche Institution im interna-tionalen Kunstaustausch bemüht sich das ifaauch im Bereich der Bildenden Kunst um eine„Kultur des Zuhörens“. Mit der Ausstellungsrei-he „Islamische Welten“ bietet es einem breitenPublikum ein vielschichtiges und realistischesBild vom Leben in der islamisch geprägten Welt:Künstler, Architekten und Designer, unter an-derem aus Marokko, Ägypten, dem Libanon, Sy-rien, Jordanien, Iran und Irak, aus Usbekistanund Kasachstan, Pakistan und Indien, zeigen,dass in ihrer Lebenswirklichkeit und in ihrerKunst wesentlich mehr kreative Entwicklungen

zu verzeichnen sind, als den meisten westlichenBesuchern bekannt sind. Allein im Zeitraum2004 bis 2006 haben die ifa-Galerien Stuttgartund Berlin acht neue Ausstellungen aus „Isla-mischen Welten“ realisiert. Die Schwerpunkteliegen auf zeitgenössischer Architektur, Foto-grafie und Design ebenso wie auf Medien undGattungen, die den Alltag unmittelbar prägenund abbilden und somit einen direkten Einblickin das moderne Leben in Kairo, Beirut, in Tehe-ran oder Karatschi bieten.

ZEITSCHRIFT „KULTURAUSTAUSCH“ ALS FORUM

Jahrzehntelang ist die „Zweibahnstraße“ imKulturaustausch beschworen worden. Das In-stitut für Auslandsbeziehungen setzt sie um.Dazu gehört auch die Zeitschrift „Kulturaus-tausch“, die Autoren aus islamisch geprägtenLändern immer wieder ein Forum bietet. Sie re-det also nicht nur über den Dialog der Kulturen,sondern praktiziert ihn. Die Gelegenheit, einensolchen produktiven Austausch in den unter-schiedlichsten Feldern von Kultur und Gesell-schaft in Gang zu setzen, ist günstig. Denn ne-ben aller Angst und Bedrohungsszenarien an-gesichts des „islamischen Terrors“ ist in denwestlichen Ländern auch das Interesse an derarabischen Welt und dem Islam neu entfacht.Dies hat nicht zuletzt der große Besucheran-drang bei der Frankfurter Buchmesse mit dementsprechenden Fokus gezeigt. Allerdings darfman nicht übersehen, dass vor allem für die ara-bische Presse die Vereinigten Staaten, mögensie auch noch so verhasst sein, nach wie vor denklaren Bezugspunkt bilden. „Europa, das in kul-turellen und gesellschaftlichen Fragen ein zwarakzeptierter Partner ist, wird politisch nichtsonderlich ernst genommen“, erklärt etwa derfür verschiedene arabische Zeitungen unddeutsche Rundfunksender arbeitende Journa-list Hakam Abdel-Hadi.

DIE WIEDERBELEBUNG DER MITTELMEER-IDEE

Nicht nur damit Europa wieder in eine Vermitt-lerrolle hineinwachsen kann, wäre es in dieserSituation hilfreich, die Mittelmeer-Idee wieder-zubeleben. Wie sagte schon der französischeSchriftsteller Jean Giono treffend: „Nicht überdas Meer hinweg finden Austauschbeziehun-gen statt, sondern mit Hilfe des Meeres. Befän-de sich an seiner Stelle ein Kontinent, so wärenichts aus Griechenland nach Arabien gedrun-gen, nichts Arabisches nach Spanien, aus demOrient hätte sich nichts in der Provence gefun-den und nichts Römisches in Tunis.“ Jenseits derVielzahl von Konfliktherden im Mittelmeer-raum besteht die wichtigste strategischeBruchlinie in den Köpfen. Der Konflikt der Zivi-lisationen, wie ihn unter anderem der sicher-heitspolitische Vordenker der USA, Samuel P.Huntington prophezeit hat, stellt Islam undAbendland unerbittlich gegeneinander. Es liegtnicht zuletzt an den Bewohnern des Mittel-meerraums, an die Identität des Mittelmeersanzuknüpfen: das Mittelmeer als eine Welt zwi-schen dem Westen und dem Islam, als ein Raumder Vermittlung.

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Vorreiter im Kulturdialog – das Institut für Auslandsbeziehungen

UNSER AUTOR

Sebastian Körber, geb. 1966, studierte Poli-tikwissenschaften, Anglistik und Romanistikin Münster, Triest und Freiburg sowie „DESSEurojournalisme“ in Straßburg und Brüssel.Anschließend berichtete er als freier Korres-pondent für die französische Nachrichten-agentur AFP aus Straßburg und Brüssel. Seit1996 ist er beim Institut für Auslandsbezie-hungen (ifa) tätig. Von 1998 bis 2004 war erChefredakteur der vom ifa herausgegebenenZeitschrift für Kulturaustausch. Seit Januar2005 ist er Leiter der Abteilung Medien desInstituts für Auslandsbeziehungen.

56. Jahrgang | 6 Euro Herausgegeben vom Institut für Auslandsbeziehungen

Fernbeziehungen

In dieser Ausgabe

Eva Illouz:

Michael Hvorecky y:

Francis Fukuyama:

Peter Eigen:

A.L. Kennedy:

Yves Eigenrauch:

Naika Foroutan:

Ko mmen wir zusammen?

DIE ZEITSCHRIFT „KULTURAUSTAUSCH“ BIETET

AUTORINNEN UND AUTOREN AUS ISLAMISCH GEPRÄGTEN

LÄNDERN IMMER WIEDER EIN FORUM.

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KULTURELLE VIELFALT DER ARABISCHEN WELT

Migranten in Deutschland sowie ihre Nachkommen,die arabischen Ursprungs sind oder arabische Wur-zeln haben, bilden eine nicht geringe Minderheit,1

sind jedoch weniger präsent als die größeren russ-landdeutschen, türkisch-, italienisch- oder pol-nischstämmigen Minderheiten. Im Gegensatz zuanderen Minoritäten ist die Mehrheit der eingewan-derten Araber nicht als Gastarbeiter nach Deutsch-land gekommen, sondern als Studenten oder politi-

sche Flüchtlinge.2 Trotz vieler kultureller Gemein-samkeiten sind sie gleichzeitig sehr verschieden, ge-nauso wie die rund 280 Millionen Araber, die in den22 arabischen Ländern und in Israel leben und dieArabisch als ihre Amts- oder Muttersprache ver-wenden. Zur Bevölkerung in der arabischen Regiongehören neben der arabischen Mehrheit beispiels-weise auch Kurden, Berber, Assyrer und Nubier. DieSelbstidentifikation bzw. das Zugehörigkeitsver-ständnis einerseits aber auch die Wahrnehmung derMehrheitsgesellschaft andererseits in Bezug aufdas Arabisch-Sein unterscheiden sich bei den Ange-hörigen dieser Gruppen. Während ein großer Teilarabisch sozialisiert ist, heben andere ihre Zuge-hörigkeit zu einer ethnischen Minderheit hervor.Darüber hinaus konnte die arabische Kultur über dieJahrhunderte hinweg eine religiöse Vielfalt bewah-ren. Neben der muslimischen Mehrheit existieren imarabischen Raum seit Jahrhunderten andere reli-giöse Gemeinschaften, wie Christen, Juden und Je-siden.

LITERARISCHE VIELSEITIGKEIT

Die Literatur der in und außerhalb Deutschland le-benden arabischen bzw. arabischstämmigenSchriftsteller ist sprachlich, qualitativ, inhaltlichund von der Gattung her vielseitig. Sprachlich kannman sie in verschiedene Kategorien einteilen: Er-stens gibt es eine Gruppe von Autoren, die inDeutschland leben und auf Arabisch schreiben. Da-zu lassen sich Schriftsteller wie Abdalhakim Kassem(1934-1990), Amal Al-Joubury und Khaled Al-Maa-ly rechnen. Andere Schriftsteller wie Mustapha El-Hajaj, Jusuf Naoum, Rafik Schami, Huda Al-Hilali,Kaouther Tabai, Wadi Soudah, Ghazi Abdelqader,Hussein Al-Mozany oder Halima Alaiyan schreibenauf Deutsch, das sie meistens erst in ihrer Wahlhei-mat Deutschland erwarben und bilden damit einezweite Gruppe. Hinzu kommt eine dritte Gruppe vonarabischen Schriftstellern, die in ihrer Heimat leben,aber eine enge Bindung zu Deutschland haben undliterarische Texte auf Deutsch veröffentlichten, wieFawzi Boubia und Sumaya Farhat-Naser. Eine vier-te Gruppe bilden Schriftsteller, für die Deutsch so-wohl Mutter- als auch Literatursprache ist, wieSherko Fatah, Raid Sabbah, Anis Hamadeh, JamalTuschick3 oder Abdellatif Youssafi. Nur wenige ara-bischstämmige Schriftsteller, sind, wie Adel Kara-sholi, sowohl auf Arabisch als auch Deutsch litera-risch tätig und erfolgreich.

PIONIERE DER SO GENANNTEN„GASTARBEITERLITERATUR“

Rafik Schami, Suleman Taufiq und Jusuf Naoumzählen zu den Pionieren, die in den siebziger undfrühen achtziger Jahren in der BundesrepublikDeutschland eine bedeutende Rolle bei der Durch-setzung der damals so genannten „Gastarbeiterlite-ratur“ spielten. Sie waren an der Herausgabe vonZeitschriften beteiligt, in denen Migranten ihre er-sten literarischen Versuche in Deutschland publizie-ren konnten und leisteten einen wichtigen Beitrag

beim Entwurf eines literarischen Programms der„Gastarbeiterliteratur“, die auch „Literatur der Be-troffenheit“ genannt wurde. Aber das erste Werk ei-nes arabischen Einwanderers in der Bundesrepublikstammt nicht von ihnen. 1969 erschien in Deutsch-land ein Text unter dem Titel Vom Affen, der ein Vi-sum suchte und andere Gastarbeitergeschichten,4

verfasst von dem Marokkaner Mustapha El-Hajaj,sein erstes und zugleich einziges Werk. Der Textblieb ohne bedeutenden Einfluss auf die literarischeSzene. Sechs Jahre vor El-Hajajs Werk erschienen imBand Auftakt 635 auf der anderen Seite der deut-schen Grenze die ersten Gedichte des Lyrikers syri-scher Herkunft Adel Karasholi: Ich habe das Pochengehört6, Wo ist Dada7 und Begegnung.8

1886 – MEMOIREN EINER ARABISCHEN MIGRANTIN

Lange aber bevor die Grenze Deutschland teilte, er-schienen 1886 in deutscher Sprache die Memoirender Prinzessin Salme von Oman und Sansibar (1844-1924), die 1866, nach ihrer Heirat mit dem deut-schen Kaufmann Heinrich Ruete und ihrer Auswan-derung nach Deutschland, den Namen Emily Rueteannahm.9

Sie war wohl die erste Immigrantin arabischer Her-kunft, die sich in ihrem Schreiben auf Deutsch aus-drückte. In ihren Memoiren verglich sie das Lebenund die Menschen in Deutschland mit denen in ih-rer Heimat. Obwohl sie mit der gleichen Detailliert-heit Negatives und Positives im Land ihrer Kindheitund in Deutschland schilderte, blieb ihre Zuneigungfür Sansibar und Oman die größere. In den 1880er-und 1890er-Jahren geriet sie ins Netz der britischen,dann der deutschen Kolonialpolitik. Bismarck sah inihr, der deutschen Staatsbürgerin, einen guten Vor-wand zur militärischen Unterstützung der Kolonial-ansprüche der Deutsch-Ostafrikanischen Gesell-schaft auf dem Festland gegen ihren Bruder, SultanBarghash.10

VERMITTLER VON EXOTIK UND STEREOTYPEN?

Nicht selten klagen Schriftsteller arabischer Her-kunft über ihre Rezeption als Vermittler von Exotikund als „Blut- und Rohstofflieferanten“11 der deut-schen Sprache und Literatur. Suleman Taufiq sprichteinen bedeutenden Aspekt an, der massiven Druckauf das literarische Schaffen der Schriftsteller aus-übt, nämlich die Erwartungshaltung der kulturellenInstitution, über die der Kontakt zum deutschen Pu-blikum möglich ist:

„Unsere Literatur (wurde) häufig folklorisiert, in-dem man uns zu interessanten, exotischen Objek-ten des Literaturbetriebs machte. Verlage, Kritikerund Kulturfunktionäre sollten jedoch mit unserenTexten normal umgehen, damit sie soweit wie mög-lich aus ihrer isolierten Situation herausfinden undihren natürlichen Platz in der bundesdeutschenKulturlandschaft einnehmen.“12

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ZWISCHEN EXOTIK UND DEUTSCH-ARABISCHEM ALLTAG

Zur deutschsprachigen Literaturarabischstämmiger SchriftstellerMANAR OMAR

Die deutschsprachige Literatur arabi-scher bzw. arabischstämmiger Schrift-steller ist sprachlich, inhaltlich und vonder Gattung her äußerst vielseitig. Ob-wohl die Schriftsteller der ersten Gene-ration – die Pioniere der so genannten„Gastarbeiterliteratur“ – in ihren Werkenentschieden für Menschen aus der arabi-schen Welt eintraten, war und ist ihr lite-rarisches Schaffen von den Erwartungendes deutschen Publikums und von des-sen Ressentiments geprägt. Bis heutemüssen arabischstämmige Schriftstellermit der ihnen zugedachten Rolle des fa-bulierenden Geschichtenerzählers ausdem „märchenhaften Orient“, der dasExotische, Sinnliche und Fantastische inden Mittelpunkt seiner Erzählungenstellt, ankämpfen. Wenn auch gelegent-lich mit gängigen Klischees gespieltwird, so gilt das thematische Hauptinter-esse der konfliktbehafteten Realität derarabischen Welt, der Zerstörung traditio-neller Lebens- und Kulturformen durchden sozialen Wandel, der durch Bürger-kriege und Besatzung hervorgerufenenGewalt. Die scheinbare Idylle des Orientsentpuppt sich als bedrohlicher Ort undentlarvt die Projektionen der westlichenSehnsüchte. Die zweite Generation ara-bischstämmiger Schriftsteller setzt sichin ihren Werken offensiv mit den Kli-schees und Stereotypen, dem vorurteils-behafteten Bild der arabischen Frau unddem palästinensisch-israelischen Kon-flikt auseinander. Die Vielfalt des litera-rischen Schaffens und die Bereicherungdes kulturellen Lebens hierzulande le-gen es nahe, so Manar Omar, von einergermanophonen Literatur arabischstäm-miger Schriftsteller zu sprechen.

„Der Orient ist eben trotz der erleichterten Verbindungen noch viel zu sehr das alteFabelland, und über ihn darf man ungestrafterzählen, was man will.“(Salme Bint Said, Prinzessin von Oman und Sansi-

bar; bekannt auch als Emily Ruete)

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Es hat zehn Jahre gedauert, bis die deutsche Öffent-lichkeit die ausländische Literatur überhaupt be-merkt hat, denn schon in den siebziger Jahren ha-ben viele Ausländer geschrieben. Eine eigene dich-terische Stimme hat man ihnen aber nicht zuge-traut. Im Bild der Deutschen ist die ausländischeKultur auf Folklore und Exotica reduziert: „Bauch-tanz und Kebab, das sollte man ihnen lassen.“13

Daraus lässt sich schließen, dass die in deutscherSprache geschriebene Literatur „unangepasster“Schriftsteller Gefahr läuft, keinen Zugang zu einembreiteren deutschen Leserpublikum zu finden undsomit ausgegrenzt zu werden. Kommt es dennochdazu, dass ein Werk seinen Weg in den deutschenKulturbetrieb und zur deutschen Leserschaft findet,so werden besonders die fremden Kulturrealien imText hervorgehoben, er wird auf seine Fremdheit re-duziert und als „Exotikum“14 aufgenommen.

RESSENTIMENTS GEGEN DIE ARABISCHE WELT

Ein anderes Problem, das den arabischstämmigenSchriftstellern im Wege steht, sind die negativenstereotypen Vorstellungen von ihrer Herkunftsre-gion, die dann zu Ressentiments gegen die gegen-wärtige arabische Welt und Kultur führen:

Sowohl diese Ressentiments als auch die exotischenErwartungen stellen zwei Seiten einer Medaille dar:Weil manche Rezipienten eine vorgefasste Meinungvon Arabern haben, verdrängen sie sie, indem siesich ein fantastisches, märchenhaftes Bild von die-ser Welt vergegenwärtigen. Die Dominanz des mär-chenhaften Erzählens (mündlich und schriftlich) beider Rezeption arabischstämmiger Schriftsteller inDeutschland bestätigt die behauptete Erwartungs-haltung des deutschen Empfängers und sein Bild,welches er von diesem Teil der Welt gern habenmöchte. Sowohl exotische als auch stereotype Dar-stellungen und Wahrnehmungsweisen reduzierendie Komplexität der arabischen Region und die Viel-falt ihrer Menschen auf jeweils einen stereotyp-ne-gativen bzw. einen exotisch-positiven Faktor.

EXOTISIERENDE ERZÄHLTECHNIKEN UNDALLTAGSDARSTELLUNG

In den siebziger Jahren griffen in Deutschland Scha-mi und Naoum – ähnlich wie viele andere, vor allemtürkische Schriftsteller – die bereits damals in derarabischen Welt veraltete Tradition des mündlichenMärchenerzählens auf. Ein Teil ihres späteren gro-ßen Erfolges beruht darauf, dass sie als Vertreter ei-nes Orients von Tausendundeiner Nacht, also desFantastischen, Außergewöhnlichen und unend-lichen Erzählens wahrgenommen wurden. Densel-ben Spuren folgend, traten seit Ende der achtzigerJahre weitere Schriftsteller arabischer Herkunft wie Salim Alafenisch hervor. Erzählstrukturen und -techniken wie die Rahmen- und Binnenerzählung

„Eine weitere negative Überraschung war für michdie Aggression der offiziellen Medien gegen dieAraber. Weder Afrikaner noch Inder oder Indianerwerden bis heute so oft beleidigt wie die Araber. Dashat komplizierte, politische und historische Grün-de und ist absolut verwerflich. Der Hass gegen dieAraber ist ein Zwillingsbruder des Antisemitismus,doch leider ist dieser Zusammenhang vielen klugenund bornierten Intellektuellen nicht klar.“15

und das Ineinandergreifen der Geschichten wurdensowohl im mündlichen Vortrag wie in Buchformwiederbelebt. Das wiederholte Aufgreifen von Er-zählstrukturen und -techniken der Erzählungen ausTausendundeiner Nacht kann als Bedienung exoti-scher Erwartungen bezüglich der ästhetischen Formbetrachtet werden. In Anlehnung an die orientali-sche Erzähltradition werden von Schami, Naoumund Alafenisch bis heute in den Lesungen die Ge-schichten nicht vorgelesen, sondern frei erzählt. Sierichten sich gleichermaßen an Erwachsene, Ju-gendliche und Kinder. Sehr oft basiert der Erfolg ei-nes Textes auf dem vorausgegangenen Erfolg desSchriftstellers als mündlicher Märchenerzähler inVeranstaltungen, die meistens gut besucht sind undbei denen anschließend auch die Bücher des Mär-chenerzählers verkauft werden.

ENTSCHIEDENES EINTRETEN FÜR MIGRANTEN

Die meisten frühen Märchen und ErzählungenSchamis und Naoums sind trotz der inhaltlichunterschiedlichen sozial-politischen Position da-durch gekennzeichnet, dass sie sich in ihren Textenauf die Seite der Minderheiten in Deutschlandschlugen, damals die (Gast-)Arbeiter und Migran-ten, zu denen sie auch zählten. Dies zeigt sich dar-in, dass die Hauptgestalten ihrer Märchen oft dieseGruppe verkörperten. Ihre Formen änderten sich imLaufe der achtziger Jahre. Statt kurzer Märchenschreiben sie seither meist längere Prosatexte. 1987erschien Schamis erster Roman Eine Hand vollerSterne,16 in dem Damaskus Schauplatz der Hand-lung ist. Darüber hinaus ist seit Ende der achtzigerJahre eine Verschiebung des thematischen Interes-ses zu erkennen. Statt der Gastarbeiter und Einwan-derer in Deutschland stehen nun Menschen aus derarabischen Welt im Mittelpunkt. Für Schami hat sichdas Hauptthema, die Minderheiten, nicht geändert,sondern in sein Herkunftsland verlagert. In denWerken der späten achtziger und der neunziger Jah-re wird durchgehend die christliche Minderheit Sy-riens ins Zentrum der Handlung gerückt, etwa in Er-zähler der Nacht,17 Die Sehnsucht der Schwalbe18

oder Der ehrliche Lügner.19 Ein näherer Blick zeigt,dass sich Naoum dagegen von seinem Hauptthema,den Minderheiten, eher distanziert hat. So rückte erin seinem Roman Nura20 den libanesischen Bürger-krieg und die gegenwärtige Situation der Frau im Li-banon anhand der Freundschaft zweier Libanesin-nen, einer Muslimin und einer Christin, in den Blick.Sowohl beim Perspektivwechsel mit Blick auf Gen-derfragen und Bürgerkrieg als auch mit dem Behar-ren auf die Minderheitenproblematik knüpfen Na-oum und Schami in ihren Werken an Themenberei-che an, die sich seit den neunziger Jahren großerAufmerksamkeit erfreuen.

BÜRGERKRIEGE ZERSTÖREN DIE KULTUR

So spielt sich zum Beispiel die Handlung in NaoumsErzählung Nacht der Phantasie21 in Beirut währendund nach dem Bürgerkrieg ab, auf den in der Rah-menerzählung flüchtig eingegangen wird. NaoumsWerk zeigt, wie der Krieg nicht nur die materiellenGegenstände zerstört, sondern auch die libanesi-sche Kultur, für die die Tradition des Geschichtener-zählens stellvertretend steht und von Abu al Abedgetragen wird. US-Amerikanern und amerikani-schen Medien werden im Werk eine große Rolle bei

der Zerstörung dieser alten Kultur zugeschrieben. Inder Binnenerzählung ist Beirut während der vierzi-ger, fünfziger und sechziger Jahre Haupthand-lungsort. Im Text wird die Gründung von paramili-tärischen Gruppen unter der Führung von LibanonsEx-Präsidenten Camille Chamouns aus der Perspek-tive verschiedener Figuren dargestellt. Sie alle sindsich – trotz ihrer verschiedenen Positionen – einig,dass der damalige, der USA treu ergebene Präsidentfür den kurzen Bürgerkrieg von 1958 verantwortlichist:22

Mit dem Namen Abu al Abed verweist Naoum aufdie gleichnamige populäre und fiktive Gestalt, dieHandlungsträger zahlreicher libanesischer Anekdo-ten und Witze ist. Naoums Abu al Abed ist ein liba-nesischer Geschichtenerzähler, oder – um mit Na-oum zu sprechen – Kaffeehauserzähler, dessen Be-ruf nach dem Bürgerkrieg gefährdet ist, aus dem libanesischen Kulturleben zu verschwinden. Inner-halb dieser Rahmenerzählung entsteht die Binnen-erzählung, wenn sich die Nachbarn des Protagonis-ten in seinem Haus auf Grund seiner Einladung zueinem Kaffeeabend versammeln, an dem er ihnenzur Unterhaltung Geschichten erzählt. Auslöser derEinladung und zugleich Binnenerzählung ist dieWiederbelebung von Abu al Abeds Erzähltraditiondurch seinen jüngeren Freund Jusuf (den gleichenVornamen hat Naoum) in Deutschland. Währendden USA die Zerstörung der libanesischen Kultur zu-geschrieben wird, wird Deutschland als ein Landdargestellt, das fremde Kulturen respektiert. Nebender Rahmenerzähltechnik macht Naoum Gebrauchvon der mis-en-abyme Technik, bei der eine Ge-schichte in die andere verschachtelt wird und meh-rere Gestalten die Rolle des Geschichtenerzählersübernehmen:

„’Also, die Geschichte hat mir ja sehr gut gefallen’,lacht Usta, ‚aber den Schluss, den hast Du eindeu-tig erfunden. Da bist und bleibst du doch der Kaf-feehausgeschichtenerzähler. Zufällig kenne ich ei-nige der Jungen von damals (...). Bis heute rauchtkeiner von ihnen Wasserpfeife, sondern Marlboro,und wo hätte Edma ihre Bankkunden empfangensollen, wenn die Burschen sieben Tage in ihrerWohnung saßen?’ ‚Usta, Usta!’ Abu al Abed schüt-telt enttäuscht den Kopf. ‚Du bist durch die vielenFernsehsendungen deiner Phantasie beraubt wor-den.’“ (ebenda, S. 83.)

„’Wie Sie alle wissen, tobte ein blutiger Bürgerkriegin unserem Land. Ich will jetzt nicht alle Ursachenaufzählen, denn es gab viele. Ein wichtiger Grundfür den Kriegsausbruch war jedoch die Politik desPräsidenten Chamoun.’ Ahmed nickte heftig: ‚Dassehe ich genau so. (...) Wir wollten eine große ara-bische Ländergemeinschaft, doch Chamoun hatteschon seit langer Zeit mit den Amerikanern sympa-thisiert, die uns mit ihrer fremden Kultur über-schwemmten.’ ‚Sünde!’ ruft der Scheich mit einemin die Luft gerecktem Finger. (...) ‚Ich erinnere michnoch gut an den ersten Landgang der Soldaten der6. Flotte. (...) (sie) pfiffen unseren Frauen nach undversuchten, in jeder Bar Alkohol zu bestellen.’ (...) ‚Eswar schrecklich’, murmelte Halun. ‚(...) Bruderkämpfte gegen Bruder. (...)’ Frère Jacque räuspertsich: ‚Auch wenn dies alles so stimmt, so war dochder Bürgerkrieg von 1958 ein Kinderspiel gegen dasKämpfen und Morden, das 1975 seinen Anfangnahm und bis heute nicht endgültig beendet ist’.“(ebenda, S. 92f.)

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Zur deutschsprachigen Literatur arabischstämmiger Schriftsteller

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In allen Kapiteln von Naoums Text sind die Erzählsi-tuationen so aufgebaut, dass die zuhörenden Figu-ren ständig kommentieren, korrigieren und nichtselten den Haupterzähler Abu al Abed unterbrechen,um selbst zur vorgetragenen Geschichte eine damitverbundene Anekdote oder weitere Geschichte hin-zuzufügen. Die Kürze oder Länge dieser Unterbre-chungen, die den Erzählgang sprengen, wird vonAbu al Abed gesteuert, indem er sie entweder zulässtoder ablehnt. Das Erzählen hat im Text eine gesell-schaftliche Funktion: Nachrichten und historischeEreignisse werden gemeinsam dokumentiert undbeurteilt.

DAS SPIEL MIT GÄNGIGEN KLISCHEES

In der Rahmenerzählung, deren Handlung in dieachtziger Jahre fällt, spielt Naoum mit den gängi-gen Klischees und Vorstellungen von der arabischenFrau. Fatima und Kadiya sind beide zugleich Ehe-frauen von Abu al Abed. Während die Rahmener-zählung eine ziemlich statische Handlung bietet,sind die Handlungsabläufe und Figuren in derBinnenerzählung, deren Ereignisse sich Ende derfünfziger und Anfang der sechziger Jahre abspielen,dynamisch. Weibliche Figuren werden hier differen-zierter dargestellt, so kommen beispielsweise gebil-dete erfolgreiche Frauen mit starken Persönlichkei-ten wie Edma vor. Sie wird als Witwe, fürsorglicheMutter von zwei Söhnen und zugleich erfolgreicheGeschäftsfrau geschildert. Im Laufe der Handlungwird sie von den libanesischen Frauen zwar bewun-dert, aber aus Neid marginalisiert und zur Außen-seiterin gemacht. Von den Männern aus den ver-schiedensten Bereichen und Schichten wird Edmadagegen bewundert und geachtet. In der Binnen-handlung kommt die Frau außerdem als Großmut-ter, Heiratsvermittlerin (Halun), Lehrerin (Mademoi-selle Marie Antoinette) und Schriftstellerin (Habiba)vor, aber auch als ohnmächtige Geliebte (Leila).Trotzdem ist es wichtig zu bemerken, dass die in derRahmenerzählung geschilderten Frauenfigurenderselben Generation angehören wie Edma und dieanderen Frauenfiguren der Binnenerzählung. Dieszeigt, dass die Frauendarstellung in der Rahmener-zählung dazu gedacht ist, den Leser in die Binnen-handlung hinein zu locken, indem ihm am Anfangvorübergehend seine Erwartungshaltung bestätigtwird. In Jusuf Naoums Werk wird deutlich auf diekulturelle und religiöse Vielfalt im Libanon hinge-wiesen, aber ohne dabei Stereotypen von libanesi-schen Muslimen oder Christen zu reproduzieren.

DIE IDYLLE ENTPUPPT SICH ALSBEDROHLICHER ORT

Rafik Schamis Roman Der ehrliche Lügner erschien1992 und wurde mit dem Hermann-Hesse-Preisausgezeichnet. Der Haupthandlungsort ist die StadtMorgana, wo sich die Ereignisse sowohl der Rah-men- als auch der Binnenerzählung abspielen. Ob-gleich Morgana kein Name einer realen Stadt ist, le-gen einige deutliche Anspielungen nahe, dass essich um Damaskus handelt. Der Handlungsort wirdals Stadt im „Herzen Arabiens, (...) ein Treffpunkt, andem sich die Wege der reisenden Propheten, Erobe-rer, Händler und Bettler kreuzten“ (ebenda, S. 30) be-zeichnet. Darüber hinaus ist die Währung in Morga-na die Lira (ebenda, S. 21, 26 und 232.). Weiterhinfindet die Handlung während der fünfziger undsechziger Jahre in einem Land statt, wo – ähnlich

wie in Syrien zur gleichen Zeit – viele Putsche auf-einander folgen. Zu Damaskus äußerte sich Schamiin einem Interview:

Morgana alias Damaskus scheint zu Beginn derHandlung ein idyllischer Ort zu sein, eine Utopie indem verschiedene Kulturen, wie die arabische unddie indische, und unterschiedliche Religionen har-monisch aufeinander treffen. Morgana entpupptsich aber im Verlauf der Ereignisse als gefährlicherOrt, der „durch die Präsenz der Diktatur in den über-all auftauchenden Spitzeln, den willkürlichen Ver-hören und Folterungen“24 gekennzeichnet ist.

Die Diktatoren des Romans tragen alle denselbenNachnamen, Hadahek, und einen eindeutig musli-mischen Vornamen: „Da alle Herrscher mit Nachna-men Hadahek hießen, unterschied man sie zunächstnach den Vornamen, doch bald gab es Hunderte vonAlis, Abdullahs und Mustafas“ (ebenda, S. 154). Da-mit soll wohl gesagt werden, dass kein Unterschiedzwischen den arabischen Herrschern besteht: Siesind alle despotisch und grausam und gehören derreligiösen Mehrheit an. Hadahek ist eine Umschrei-bung des arabischen Ausdruckes im syrischen Dia-lekt hadÁ hik. Sadik, die Hauptfigur des Romans, er-klärt das Wort und die damit gemeinte Aussage:

Bereits im Titel Der ehrliche Lügner und dann durch-gehend im Text wird die Thematik von Wahrheit undLüge angesprochenen. Oft wird die Glaubhaftigkeiterzählter Ereignisse in Frage gestellt. Betont wird,dass Wahrheit und Lüge aus unterschiedlichenGründen ineinander verflochten sind. Mit der deut-schen Erklärung der arabischen Bedeutung von Ha-dahek soll dem deutschsprachigen Leser wohl im-plizit deutlich gemacht werden, dass die im Werkvermittelten Geschichten zwar Fiktion sind, jedochmit Wahrheitsanspruch in Bezug auf die politischeSituation in Morgana beziehungsweise Syrien.

„Seit einer Ewigkeit heißen alle Präsidenten der Re-publik Hadahek. Die Führer der Opposition ebensoHadahek, und die Rebellion in den Bergen hießenauch Hadahek. Wer siegte, der regierte und hießimmer Hadahek. Hadahek bedeutet auf Arabisch[sic]: Das ist so.“ (ebenda, S. 154)

„Unser heutiger Präsident Hadahek ist liberal. Vielevon euch wissen nicht, wie grausam der DiktatorHadahek war, der in den fünfziger Jahren herrsch-te. Er war bis zu seiner Absetzung ein kaltblütigerMörder. Angst herrschte im Land.” (ebenda, S. 241)

„In meinem Labyrinth werde ich oft von einer FataMorgana heimgesucht. Sie ist in jedem Regentrop-fen, in jedem nach Kardamom duftenden Kaffee, injedem Windhauch und blauen Himmel, in jedem Te-lefongespräch mit Damaskus, und sie meldet sichsofort, wenn ich mit ihr nicht mehr rechne. Die Fa-ta Morgana meines Labyrinths heißt: Ausgang. Undsie rückt manchmal so nahe, dass ich Damaskusfast sehe.”23

Bis zum Ende des Romans bleibt die arabische StadtMorgana ein bedrohlicher und blutiger Ort, aus demschließlich die indischen Zirkusmitglieder fliehen.Exotisierend verwendet Schami pauschalisierendBezeichnungen wie „Arabien“ oder „Orient“, wäh-rend er ansonsten differenziert und die Namen an-derer Länder nennt: „Von Indien nach Pakistan undvon dort nach Afghanistan, in den Iran und dannüber die Türkei nach Arabien zog der Circus, bis erAnfang Mai in Morgana ankam.“ (ebenda, S. 17)

KOMPLEXE UND MEISTERHAFTVERZWEIGTE HANDLUNGSSTRÄNGE

Der Protagonist Sadik tritt zunächst als Greis in derRahmenerzählung auf, und in der Binnenerzählungkommt er als junger Mann im Alter zwischen sieb-zehn und einundzwanzig Jahren vor. Die erzählteZeit in der Rahmengeschichte dauert ungefähr dreiTage. Sadik, der drei Tage auf das Ergebnis seiner Au-genoperation wartet, blickt auf Grund einer Neuig-keit – das Eintreffen eines indischen Zirkus, in demeventuell seine alte, lange nicht gesehene indischeGeliebte Mala anwesend ist – auf die zeitlich etwavierzig Jahre zurückliegenden Ereignisse zurück.Damit wird der Leser in die Binnenerzählung einge-führt.

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MANAR OMAR

DAS EXOTISCHE UND SINNLICHE (ORIENT-)BILD VON

DER NAHÖSTLICHEN KULTUR PRÄGT BIS HEUTE DIE

VORSTELLUNG VIELER EUROPÄER UND SPIEGELT SICH

GELEGENTLICH AUCH IN FOTOGRAFIEN WIDER.picture alliance / dpa

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Schamis Roman zeichnet sich durch eine komplexeund meisterhafte Verzweigung der Handlungs-stränge aus, so dass es schwierig ist, sich an einemeinzigen Handlungsstrang, einer Haupterzählungoder einen roten Faden zu halten. Es sind eher in-einander greifende Geschichten und Anekdoten,die, obgleich sie ineinander übergehen, jeweils eineabgeschlossene Handlung für sich bilden. Die meis-ten Geschichten und Anekdoten werden von Sadikerzählt, der im Laufe der Handlung zu einem Ge-schichtenerzähler wird, der vom Alltag in Morganaberichtet.

Hier wird der Einfluss von Tausendundeiner Nachtauf die Erwartungen nicht-arabischer Zuhörer – in

„’Sicher kann ich das (eine Geschichte erzählen).’‚Aus Tausendundeiner Nacht?’ fragte Shanti neu-gierig. ‚Nein, Madam’, antwortete ich (Sadik), ‚abervon tausendundeinem Nachbar, wahrhafte Ge-schichten von ehrlichen Leuten, zu hundert Pro-zent gelogen.’ ‚Warum nicht von Sheherazade?’,fragte der Direktor. ‚Weil es viele Hakawatis, Ge-schichtenerzähler, in den Kaffeehäusern gibt, diedie Geschichten der zauberhaften Meisterin wür-devoll jahraus, jahrein wiederholen. Ich dachteaber, dass du mehr an Neuem interessiert bist’.“(ebenda, S. 87)

dem Fall der Inder – an den arabischen Geschich-tenerzähler thematisiert. Von ihm wird erwartet,dass er diese Welt wach ruft. Dass die Position desGeschichtenerzählers zu den Erwartungen unter-schiedlich sein kann, zeigt sich in der oben ange-führten Antwort Sadiks, der sich – anders als einigeGeschichtenerzähler – für ein Geschichtenerzählenentscheidet, das sich auf die damalige Realität be-zieht.

DAS EXOTISCHE UND SINNLICHEORIENTBILD

Im Roman kommen Figuren aus verschiedenen Län-dern, Kulturen, Ethnien und Religionen vor. Sie bil-den drei Gruppen: die indischen Zirkusmitglieder,die christlichen und die muslimischen Syrer bzw.Araber. Auf die erste Gruppe werden die exotischenVorstellungen projiziert. Ungewöhnliche Zauber-spiele und Bauchtanzperformances einer indischenZirkus-Elefantenkuh zu arabischer Musik werdengeschildert, ein Inder, Nirmal, erlebt eine Verwand-lung in ein Krokodil, und in Mala, der Geliebten desProtagonisten, verkörpert sich die exotische Schön-heit. Das exotische und sinnliche (Orient-)Bild vonder nahöstlichen und indischen Kultur, das im acht-zehnten Jahrhundert durch die Übersetzung von

Tausendundeiner Nacht entstanden ist, prägt be-kanntlich bis heute das Denken und die Vorstellungvieler Europäer. In diesem Zusammenhang sind diein Schamis Werk vermittelten exotisierenden Bilderder Inder nicht unproblematisch. Die zweite Grup-pe, die der christlichen Araber, steht im Mittelpunktder Handlung und schließt verschiedene Figurenein, wie Sadik, Tante Rosa, Onkel Dschamil oder On-kel Daniel, die als witzig, klug, begabt, aufgeschlos-sen und westlich orientiert dargestellt werden. DieVerwandtschaftsattribute vor den meisten Namenarabisch-christlicher Figuren verweisen nicht nurauf ihre Verwandtschaft zu Sadik, sondern sugge-rieren außerdem auch eine Verwandtschaft zumdeutschen bzw. deutschsprachigen Leser.

IST DIE REPRODUKTION VON KLISCHEESPOLEMISCH?

In Schamis impliziter, imaginärer Identifikationchristlicher Araberfiguren mit Europäern steckt ei-ne Distanzierung gegenüber der arabischen Iden-tität und gegenüber den arabisch-muslimischen Fi-guren, hinter der sich der Wunsch „weiß“ zu sein, imSinne von Frantz Fanons Schwarze Haut, weißeMasken,25 vermuten lässt.Stuart Hall beschreibt, ähnlich wie Fanon, solchePositionen von Migranten, die nicht nur im Sinneder Orientalismuskritik von Edward Said als Anderekonstruiert wurden, sondern durch die Ausübungvon kultureller Macht und einem Normalisierungs-regime dazu gebracht wurden, dass Migranten sichselbst„ als ‚Andere’ wahrnahmen und erfuhren. (…)Es ist eine Sache, ein Subjekt oder eine Gruppe in ei-nem herrschenden Diskurs als das Andere zu posi-tionieren. Es ist jedoch etwas ganz anderes, sie die-sem ‚Wissen’ nicht nur durch das Aufzwingen einesWillens und einer Herrschaft, sondern auch durchdie Macht des inneren Zwangs und durch subjekti-ve Anpassung an die Norm zu unterwerfen.“26

Arabische Christen werden in Schamis Roman –ähnlich wie die flüchtig charakterisierten jüdischenAraber – von den muslimischen Arabern, die für denGeheimdienst arbeiten, massiv unterdrückt. DieUnterdrückung von syrischen Christen wird anhandvon Misshandlungsszenen beschrieben:

Nur selten kommen muslimische Araber zu Wort,und wenn, dann kurz. Über sie wird meistens aus derPerspektive einer arabisch-christlichen Figur be-richtet. Arabisch-muslimische Figuren werdenüberwiegend entweder vom Protagonisten odervon anderen christlichen Figuren beschrieben undbeurteilt. An verschiedenen Textstellen von SchamisRoman werden Arabergestalten mit muslimischenNamen Unehrlichkeit im Handel, Unzuverlässigkeit,Neureichtum und Polygamie, zugeschrieben

„Scheich Mohammed Abdulhakim (wurde) am hell-lichten Tag in seinem Palast ermordet. (...) Eine andere Vermutung gab eine seiner (HervorhebungM. O.) Frauen als Mörderin an.“ (ebenda, S. 137)

„Meine Großmutter schrie entsetzt auf: ‚Hilfe! Hei-lige Maria!’ ‚Wo ist Dein Mann?’ fragte der Offizierungerührt. ‚Er ist nach Amerika ausgewandert’,stammelte sie. ‚Du lügst!’ schrie ein Soldat und tratdrohend mit seinem Gewehr einige Schritte aufmeine Großmutter zu, als wollte er sie aufspießen.‚Gib zu, du Christenhure, du hast ihn versteckt!’“(ebenda, S. 118)

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Zur deutschsprachigen Literatur arabischstämmiger Schriftsteller

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Einige stereotype Bilder von muslimischen Arabernwerden flüchtig revidiert, wie beispielsweise die An-ekdote um Onkel Daniel und den neureichen Saudi,den Ersterer am Anfang fälschlicherweise für dummhält, weil er Uhren nicht pro Stück, sondern pro Ki-lo kauft, oder wie in der Geschichte des blinden, je-doch sehr gebildeten und aufgeschlossen Buch-händlers:

Dem Leser wird in dieser Episode der christlicheGlaubenshintergrund des Protagonisten zu Beginnmit einer Negativbegegnung mit der anderen Glau-bensauffassung, dem Islam, dargeboten. Den mus-limischen Arabern werden an verschiedenen Text-stellen mangelnde Hygiene zugeschrieben:

Diese Darstellung wirkt polemisch, und die Repro-duktion von gängigen Stereotypen und Klischees imWerk ist spätestens dann problematisch, wenn manfolgende Äußerung Schamis liest, bei der er die Ge-fahr und die Bedeutung solcher Stigmatisierungenselbst anspricht:

Schamis Der ehrliche Lügner ist in 46 Kapitel unter-teilt. Jedes Kapitel besitzt zwei Titel(-vorschläge),die durch die Konjunktion „oder“ miteinander ver-bunden oder voneinander getrennt sind, wie z.B. DieFalle oder Die Gefahr einer Dauerliebe und Die Scheuoder Wie eine Vogelscheuche zum Räuber wurde.Der lange Titel fasst immer die Aussage der Haupt-geschichte im jeweiligen Kapitel zusammen. Dieeben skizzierte Erzählstruktur erinnert stark an an-dere zeitgenössische Texte wie Umberto Ecos DerName der Rose, aber auch an Cervantes’ Don Quijo-te, ein Text der sich seinerseits auf arabische Er-zähltraditionen stützt.

FABELN OFFENBAREN DIE SITUATION DER BEDUINEN

Seit dem Ende der achtziger Jahre trat eine Reiheweiterer Namen von deutschschreibenden Schrift-stellern arabischer Abstammung ans Licht, wie Gha-zi Abdelqader, Huda al-Hilali, Hussain Al-Mozany,Abdellatif Belfellah, Nura Abadi, Halima Alaiyan, Ka-outher Tabaei, Wadi Soudah und Salim Alafenisch.

„Wenn ich vom Araber im Zusammenhang derFeindseligkeit spreche, dann meine ich genau dasKlischee, das in den Köpfen fest verankert ist. Es istdie sorgfältig erzeugte Karikatur eines hässlichenMenschen, der über Macht (Erdöl, Geld und Waf-fen) verfügt, sehr sinnlich lebt (Fressorgien und Ha-rem), gewalttätig ist (krummes Messer und Säbel;Alternativen: Handgranaten und Raketen) usw.Dass man darin den puren, aber straffreien Antise-mitismus wieder findet, macht jede Begründungdieser Darstellungen, sei es in Bild, Film oder Witz,unglaubwürdig.“27

„Wir marschierten zu dritt zu Murad, dem Schnei-der mit dem widerlichen Mundgeruch.“ (ebenda, S. 81)

„Dieser blinde Buchhändler war ein streng gläubi-ger Muslim. Ich hatte ihm von Anfang an gesagt,dass ich Christ war. Ihm war das gleichgültig, nichtaber seiner Frau. Wenn sie ihm sein Mittagessenbrachte, nörgelte sie an mir herum und sagte ihmhalblaut, er solle mich die Teller nicht anfassen las-sen, da ich bestimmt unreine Hände hätte.” (eben-da, S. 28)

Sie alle sind in der arabischen Region aufgewachsenund erst später nach Deutschland ausgewandert.Vor allem Salim Alafenisch schließt sich an die Er-zählweise Schamis an. Sein Werk zeichnet sich je-doch durch einen klaren Erzählstil aus. So ist bei-spielsweise sein 1990 erschienener Roman Das Ka-mel mit dem Nasenring28 überschaubarer als Scha-mis Der ehrliche Lügner. Obwohl die bei Alafenischerzählten Geschichten ebenfalls ineinander ver-schlungen sind, können sie jeweils als selbständigeEinheiten betrachtet werden. Anders als bei Schamibilden sie aber miteinander einen einheitlichen Zu-sammenhang, der schließlich eine einzige Ge-schichte ergibt. Fabelhafte Züge und fantastischeElemente kommen an verschiedenen Stellen imWerk vor. So kommen in den Kapiteln „Der gelehrteEsel“ und „Das Kamel mit dem Nasenring“ sprechen-de Tiere vor. Dabei werden an verschiedenen StellenParallelen zwischen der Situation der Tiere und Be-duinen gezogen, obgleich kein direkter Dialog zwi-schen ihnen stattfindet. So wird beispielsweise dieStrafe der Lehrer für die Kamele und den „gelehrten“Esel, die sich nicht an die von Israel vorgegebenenGrenzen einhalten, mit der Strafe israelischer Sol-daten an Hirten, die die Grenzen überschreiten, pa-rallel gesetzt: „Der Esel soll sich bei den Kamelen ein-reihen! Alle, die durchgefallen sind, müssen zwi-schen den weißen Steinen und dem Berghügel hinund her rennen!“ (ebenda, S.97). „Oftmals zwangensie die Hirten so lange hin und her zu rennen, bis die-se vor Erschöpfung umfielen.“ (ebenda, S.120f.)Episoden über lernfähige und weniger lernfähigeTiere lesen sich als satirische Gleichnisse auf die pa-lästinensischen Beduinen. Für ältere Tiere ist esschwierig bis unmöglich, sich an die neue politischeSituation zu gewöhnen und sich anzupassen. Damitsind die Beduinen gemeint, die mit der Grenze nichtzurechtkommen, vor allem die Alten:

Durch die literarische Verarbeitung von Alltags-ereignissen gelingt es Alafenisch, die schwierige La-ge der palästinensischen Beduinen zum Ausdruckzu bringen. Die im Roman erzählten Geschichtenhandeln vom Schicksal eines Beduinenstammes derNaqab-Wüste und illustrieren eindrucksvoll ihrenLebenswandel über mehrere Generationen unterosmanischer Herrschaft, britischer Besatzung undim Staat Israel. Die schwierige und kritische Situa-tion der nach 1948 vertriebenen palästinensischenBeduinen schildert das Werk mit viel Humor undIronie. Es beginnt mit einer unbetitelten Rahmener-zählung, die in die vier darauf folgenden Kapitel derBinnenerzählung führt. Die Handlung der Rahmen-erzählung spielt Ende der fünfziger, Anfang dersechziger Jahre in einer kalten Winternacht in derNaqab-Wüste. In dieser Nacht erzählt Hussein, derErzähler des Stammes, seinen Leuten zur Unterhal-tung und zum Zeitvertreib die Geschichte ihrer Vor-fahren. Er leitet damit die Binnenerzählung ein undfungiert als allwissende und nahezu alleinige Er-zählinstanz. Dennoch treten manchmal marginaleFiguren auf, die das Erzählen von Episoden über-nehmen. Die von den Erzählern in einer Nacht er-zählten Geschichten decken eine Zeitspanne ab, diegegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnt und bis indie Mitte des 20. Jahrhunderts hineinreicht.

„Der Soldat versetzte dem Alten einen Tritt. ‚Für denzerknitterten Ausweis!’ Ein zweiter Tritt folgte. ‚Fürdie Grenzverletzung!’ Ein dritter Schlag traf den Al-ten an der Schulter. ‚Damit du den Vorfall nicht ver-gisst!’ kommentierte der Soldat. ‚Jetzt bist du an derReihe!’ murmelte der Esel.” (ebenda, S. 111)

SOZIALER WANDEL ZERSTÖRTTRADITIONELLE LEBENSFORMEN

Im Kapitel „Die Sieben-Brunnen“-Stadt wird der so-ziale Wandel der einheimischen palästinensischenBeduinen im gleichnamigen Gebiet Sieben-Brun-nen problematisiert. Der Übergang vom Nomaden-tum zur Sesshaftigkeit beginnt bereits unter osma-nischer Herrschaft als Folge des ständigen Be-schlagnahmens von Tieren und der Notwendigkeit,Ackerbau zu betreiben. Viele beduinische Schäferwurden so zu sesshaften Bauern. Mit der Urbanisie-rung des Gebietes durch die Errichtung der Sieben-Brunnen-Stadt erreichte dieser Wandel seinen Hö-hepunkt. Die Veränderung der Wohngewohnheitenvom Leben in Zelten zum Leben in Häusern übt ei-nen immensen Einfluss auf die sozialen Strukturenin der Gesellschaft aus. Das Ende von AlafenischsWerk ist ein Happy End, wie in den meisten klassi-schen arabischen und deutschen Volksmärchen, beidenen die Hauptfigur nach einer Reihe von Hinder-nissen ihre(n) Geliebte(n) heiratet. Anders aber alsVolksmärchen handelt der Text nicht von einemPrinzen oder einer Prinzessin, sondern von zwei ein-fachen Beduinen.Im Gegensatz zu Naoum und Schami wird in SalimAlafenischs Werk die Religionszugehörigkeit nichtexplizit thematisiert. Auf der Oberflächenebene vonDas Kamel mit dem Nasenring sind die Hinweise aufdie Diversität religiöser Zugehörigkeiten unter be-duinischen Arabern nicht erkennbar. Es bedarf derKenntnis der arabischen Geschichte, um die im Textenthaltenen Kodierungen zu diesem Thema entzif-fern zu können. Die bedeutendste Stelle bezüglichdieses Aspektes ist die Episode um die Liebe des um-ayyadischen Khalifs Mu’awiyya zur beduinischenZiegenhirtin Maisun al-Badawiah und seine Ehe mitihr. Die fingierte Episode basiert auf realen, histori-schen Ereignissen.29 In Alafenischs Werk wird ledig-lich die Eheschließung narrativ rekonstruiert, ohnedarauf einzugehen, dass es sich dabei nicht nur umeine kulturelle Hybridbildung zwischen arabischenBeduinen und Städtern sowie zwischen Herrscherund Volk, sondern auch um eine religiöse Hybridbil-dung zwischen christlichen und muslimischen Ara-bern handelt, die in Kontrast zum Verhältnis osma-nischer, britischer und israelischer Kolonisatoren zuden arabischen Beduinen steht.

OFFENSIVE AUSEINANDERSETZUNG MIT KLISCHEES

Anders als in den behandelten Texten thematisiertWadi Soudahs Sheherezade im NATO-Land30 die Re-ligionspluralität unter Arabern nicht.31 Schon der Ti-tel weist auf Soudahs besonderen Stil hin. Der ersteTeil entspricht den exotischen Erwartungen von ei-nem „märchenhaften Orient“ und der letzte desillu-sioniert den Leser und bringt ihn in die Gegenwartzurück. Der Titel deutet auch auf das Machtverhält-nis zwischen dem „Westen“ und der arabischen Welthin.Ähnlich wie Naoums Abu al Abed und Abu al Sus istdie Hauptfigur in Soudahs Märchensatire Shehere-zade im NATO-Land ein Geschichtenerzähler mitarabischem Hintergrund. Mit dieser Figurenkon-stellation rückt der Erzählakt selbst – auch anderedamit verbundene Elemente wie Empfänger, Erzähl-situation, Ort – ins Zentrum. Anders als bei Naoumaber ist der Handlungsort Deutschland. Der Ich-Er-zähler ist ein arabischstämmiger Schriftsteller undGeschichtenerzähler, der durch seine kritische Be-

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MANAR OMAR

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obachtung des Alltags und der Menschen in seinerneuen Wahlheimat gekennzeichnet ist. Ständigwird der Mangel an politischem Engagement unddie politische Interesselosigkeit zugunsten einer„Spaß- und Lustkultur“ in einem materialistischenZeitalter kritisiert. Gleich am Anfang des Textes iro-nisiert der Ich-Erzähler das deutsche Interesse ander arabischen Welt und ihrer Kultur, das durch denGolfkrieg 1991 hervorgerufen wurde:

Die Erzählinstanz spricht dann die Schwierigkeit an,als eingewanderter Geschichtenerzähler den Men-schen in seiner neuen Heimat die Realität im Her-kunftsgebiet, d.h. in der arabischen Region, näher zubringen. Während er vom Nahen Osten und demGolfkrieg im Irak erzählen möchte, fordert ihn seinPublikum auf, vom märchenhaften Orient zu spre-chen:

PROJEKTIONSFLÄCHE DEUTSCHERSEHNSÜCHTE

Selbst das geweckte Interesse richtet sich also ge-zielt nicht auf eine Region der Gegenwart, sondernauf einen Orient, der Klischees und Fantasien be-dient. Der Schauplatz Deutschland, eine für den Le-ser gänzlich unexotische Landschaft, wird mit Ver-satzstücken wie Bauchtanz, Kulinarischem und Bil-dern von Kamelen gefüllt. Auch werden arabischeTeppiche ausgelegt, um so einen arabischen Boden,eine arabische Geografie scheinbar in den europäi-schen Kulturraum zu holen:

„Als Botschafter des Orients des Bauchtanzes müssen wir den Leuten tausend und ein Märchenerzählen oder zumindest die Zeit der Märchenwachrufen. Damit die märchenhafte orienta-lische Atmosphäre die Leute verzaubert, bedecktman den Boden eines Raumes mit (ausgeliehe-nen) kostbaren arabischen Teppichen (bitte ver-stehen Sie das nicht als Werbung!). Solche orien-talischen Teppiche sind auch für uns märchen-haft. Wir kennen sie nicht aus ‚Tausend und eineNacht’ sondern aus ‚Tausend und ein Ölland’. Man erzählt sich, dass man dort die kostbaren Teppiche für die Garagen benutzt. Sogar das Kamelist auf solchen Festen in Europa immer dabei. Na-türlich nicht persönlich, sondern billiger: Es hängtals Bild in allen Größen an der Wand. Ich bekamMärchenfieber, nicht von den Bildern, die blondeFrauen auf einem Kamel reitend zeigen, sondernvon der märchenhaften Begeisterung der Abend-länder über die orientalischen Märchen.” (ebenda,S. 40f.)

„Dazu kamen die Frager, die mich über diese Mär-chenländer löcherten. Nicht was im Golfkrieg alsmodernes Märchen lief, sondern was vor 1001 Jah-ren passierte, interessierte. Sollte meine Zunge ausVersehen mal in die Gegenwart rutschen und überdemokratische Märchen im Orient erzählen, soschrieen sie laut: „Märchen, Märchen, Märchen!’“(ebenda, S. 41)

„Das Interesse am Abendland, an arabischen Mär-chen, orientalischem Essen, Bauchtanz usw. istwieder erwacht. In klaren Worten: Der Araber istwieder Star in Europa. Wir Araber in der Fremde be-danken uns für den Golfkrieg, der all dies ins Rol-len gebracht hat!” (ebenda, S. 40)

Der fingierte Orient ist ein Heterotop, der einen Il-lusionsraum im Sinne Foucaults schafft, „der dengesamten Realraum, alle Platzierungen, in die dasmenschliche Leben gesperrt ist, als noch illusori-scher denunziert“.32 In der Raumgestaltung artiku-liert sich eine bestimmte Blickweise des Publikumsim „NATO-Land“ auf die arabische Region, die sie zurProjektionsfläche ihrer Sehnsüchte macht.

„NATO-LAND“ ALS ZUFLUCHTSORT

Die von dort stammenden Araber der Binnenhand-lung blicken in ähnlicher Weise auf das „NATO-Land“ als Zufluchtsort. In der Binnenerzählungtaucht die zentrale Figur auf, Sheherazade. In derSatire wird von Sheherazade erzählt; sie aber mel-det sich nicht zu Wort. Somit reproduziert Soudahzunächst die Vorstellung von der arabischen Frau,die ebenfalls als Metapher für die gesamte Regiongesehen werden kann, als unmündig und ohnmäch-tig. Soudahs Sheherazade ist ein neunjähriges Mäd-chen aus dem Irak, dem Schauplatz des zweitenGolfkrieges 1991. Als Asylbewerberin lebt sie inDeutschland unter der Drohung, abgeschoben zuwerden. Dort wird sie wegen ihrer Herkunft undHautfarbe von Rechtsradikalen angegriffen und er-leidet eine Brandverletzung. Die brutale Gewalt derRechtsradikalen und die Ungerechtigkeit der Justiz,verkörpert in einem Richter, der als Anhänger einerkonservativen Partei charakterisiert wird, stehen füreine ungerechte westliche Politik gegenüber einerohnmächtig gewordenen arabischen Welt.Trotz ihrer gerichtlichen Anklage gegen die An-greifer verliert Sheherazade das Verfahren. Dieserim Laufe der Binnenerzählung vermittelte Hand-lungsablauf bricht endgültig mit den Rezipienten-erwartungen von einem „märchenhaften Orient“.Ferner zerstört der Geschichtenerzähler damit daszu Beginn des Textes skizzierte Bild von einem westeuropäischen Land, das sich an die „demokra-tischen Spielregeln“ (ebenda, S. 40) hält, sich durchseine Toleranz auszeichnet (ebenda, S. 40) und als sicherer (Zufluchts-) Ort angesehen wird. Es gibt, so zeigt sich, weder den Orient noch den West-en, beide sind über Jahrhunderte erzeugte Simula-tionen:

Das ironisierte Happy End besteht darin, dass Sheherazade schließlich Asyl und eine finanzielleKompensation von einem mitleidigen Minister er-hält.Soudahs Satire ist durch die Überlagerungen und Interferenzen der Wahrnehmungsdarstellun-gen gekennzeichnet: Im Text handelt es sich einer-seits um die westliche Wahrnehmung vom exoti-schen Orient und das Bild der orientalischen Frau als Opfer ihrer rückständigen arabischen Gesell-schaft. Auf der anderen Seite wird nur flüchtig einBild von einem undemokratischen Irak – nicht vom so genannten „Orient“ – entworfen, aus demSheherazade flieht. Soudahs Sheherazade ist keinOpfer der gesellschaftlichen, sondern der uner-träglichen politischen Zustände im Irak. Darüberhinaus ist Sheherazade auch Opfer des Rassismusim Westen.

„Sicher wird jemand von euch sagen: Wie kann manvon Tausendundeine Nacht erzählen mit Begriffenwie Demokratie, Fernsehen, Presse, Stempel usw.Das existiert nicht im orientalischen Märchen, woDemokratie ein Fremdwort ist. Aber mein lieber Le-ser, ich erzähle nur fiktive Märchen.” (ebenda, S. 46)

EINDEUTIGE ABLEHNUNG VONSTEREOTYPEN

Eine unmittelbare Ablehnung von Stereotypen undKlischees liefern einige Gedichte von Adel Karasho-li, dessen literarische Anfänge in der ehemaligenDDR unabhängig von den Anfängen der um die glei-che Zeit in die Bundesrepublik eingewanderten Sy-rer und Libanesen verliefen. In seinem Gedicht Deralte Turban33 von 1978 kritisiert auch er die obenvon Soudah, Taufiq und Naoum verworfenen exoti-schen Erwartungen der deutschen Rezipienten unddie stereotypen Vorstellungen von den Arabern, diediese auf Nomadentum und Neureichtum – auf-grund der Öleinnahmen – reduzieren.

In weiteren Strophen des Gedichtes werden auchHaremsbilder hinterfragt. In der oben zitierten Stel-le des Gedichts geht das lyrische Ich auf die Quellendieser tief verankerten Vorstellungen ein. Mit demVerweis auf die Illustrierten wird die Rolle der Me-dien bei der Konstruierung von Klischees betont. DieErwähnung von Kinderbüchern, denen auch Mär-chen zuzuordnen sind, unterstreicht die These, dassdie weite Rezeption von deutschsprachigen Mär-chen arabischstämmiger Schriftsteller zum Teilmöglich wurde, weil sie an eine lange deutsche Tra-dition anknüpfen, vom „Orient“ mittels Märchen zuberichten. Das Gedicht wehrt sich außerdem gegenKarl Mays exotische Geschichten über Araber unddie arabische Welt, indem sich das lyrische Ich vonMays bekannter Figur Hadji Chalif Omar distanziert.

DIE MACHT DER KOMMERZIALISIERUNG

Im selben Lyrikband erklärt Karasholi in dem Ge-dicht „So wollen sie uns“, dass die Reproduktion vonKlischees mit Marktfragen und wirtschaftlichenInteressen verbunden ist:

Der Zusammenhang zwischen der Etablierung vonStereotypen und deren Kommerzialisierung wirdmit der Metapher („So stehen wir in den Schaufen-stern“) bildhaft dargestellt. Das Gedicht betont dieexistenzielle Notwendigkeit für bestimmte Institu-tionen oder Individuen, Araber als primitiv („bar-fuß“) und statisch („Sand grenzt den Himmel ab /Sand die Zukunft“) darzustellen, da sie „davon le-ben“. Zwei Jahrzehnte später äußert sich Karasholizu dieser Problematik mit mehr Gelassenheit:

„Heute denke ich nicht mehr daran, ob diese Me-tapher exotisch, arabisch oder deutsch, ob sie der

„Kamel hinter KamelUnd barfuß der Mann mit dem TurbanSand grenzt den Himmel abSand die ZukunftSand und Kamele...So stehen wir in den SchaufensternDerer,Die davon leben.“ (ebenda, S. 20)

„Setzt ab von meinem HauptDen alten TurbanZersprengt die Fesseln in euren GeschichtenAus den Illustrierten und KinderbüchernIch bin Hadji Chalif Omar nichtNicht der wandernde Beduine auf dem KamelUnd der Ölscheich nicht mit falschen Zähnen.“(ebenda, S. 23)

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Zur deutschsprachigen Literatur arabischstämmiger Schriftsteller

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DAS SELBSTBILD DER ARABISCHEN FRAU

Im Gegensatz zu zahlreichen Schriftstellerinnen inden arabischen Ländern und anders als heute inFrankreich oder Großbritannien gibt es in Deutsch-land nur wenige arabischstämmige Schriftstellerin-nen. Die meisten dieser Autorinnen – gemeint sinddamit Autorinnen wie Huda Al-Hilali, Halima Alai-yan und Kaouther Tabai – haben bis heute jeweils

deutschen Literatur oder der arabischen zuzuord-nen ist. Ich versuche, meine Erfahrungen aufs Pa-pier zu bringen, mögen andere dann beurteilen, wodiese Metaphern arabisch oder deutsch struktu-riert sind.”34

nur ein einziges Werk veröffentlicht, das zudem oh-ne nennenswerte Resonanz blieb. Das erste nach1945 auf Deutsch verfasste literarische Werk ausder Feder einer arabischstämmigen Autorin ist ver-mutlich Huda Al-Hilalis Erzählband Von Bagdadnach Basra.35 Es ist zugleich das bislang letzte Werkder im Irak geborenen und in Deutschland aufge-wachsenen Schriftstellerin. Von den Werken derAutorinnen arabischer Herkunft wurden die Texteder Prinzessin Salme von Oman und der in Palästi-na lebenden Autorin Sumaya Farhat-Naser inDeutschland am stärksten rezipiert.Salme Bint Said behandelt in ihren Memoiren u. a.die Stellung der arabischen Frau und ihre Wahrneh-mung in Europa und kritisiert den exotistischenBlick, mit dem die Europäer arabische Frauen be-trachten:

Im Gegensatz zu den genannten Werken männ-licher Autoren – mit Ausnahme von Naoums Nura– ist die Hauptfigur in Al-Hilalis Text eine Frau, diemit mehreren Erwartungen vieler deutscher Leserbricht. Die Protagonistin wird als starke und zu-gleich witzige Persönlichkeit skizziert. Um denMann, den sie später heiratet, wirbt sie selbst.

Al-Hilalis Werk weist zwar sprachliche und stilisti-sche Schwächen auf, ist jedoch von besonderer Be-deutung, da es zum ersten Mal eine Frauenstimmeaus der Gegenwart präsentiert. Auch die Hauptfi-gur der palästinensisch-deutschen Autorin HalimaAlaiyan in Vertreibung aus dem Paradies. Meine lange Flucht aus Palästina37 ist eine Frau, die sowohlunter der Besatzung ihrer Heimat und der daraus re-sultierenden Vertreibung als auch unter den patri-archalischen Gesellschaftsstrukturen leidet. In die-sem autobiografischen Text wird der Leser mit einersich innerhalb der Handlung emanzipierenden ara-bischen Frauenfigur konfrontiert – ein Bild, das sichnicht mit dem stereotypen Bild von der arabischenFrau vereinbaren lässt.

„Als sie ihn das erste Mal in der Gasse sah, da wuss-te sie es. Noch nie hatte sie einen Menschen so er-blickt, der so groß war und sooo schüchtern. Undals er anfing zu stolpern, wenn sie ihn beim Vorbei-gehen anschaute, da wusste sie, dass er sie auchmochte. Aber sie wollte, dass er auch zu ihr auf-schaute. Einfach so. (...) aber ich werde ihn heutenicht einfach so an mir vorbeigehen lassen. Undschon ließ sie die Tasche mit den freigekauftenEiern fallen. ‚Oh’, sagte er, beugte sich zu Boden undfing an, die noch heilen Eier aufzusammeln. Erschaute ein wenig hilflos zu ihr hoch, wusste nichtso recht, wohin mit den Eierschalen. Sie stand auf-recht und stolz da und schaute zu ihm herunter, alshätte sie gewonnen. Mein Wunsch ist in Erfüllunggegangen, dachte sie.” (ebenda, S. 15f.)

„Ich bin überzeugt, man wird mich als geboreneOrientalin für parteiisch halten und es wird mirdoch nicht gelingen, die schiefen und falschen An-sichten, welche in Europa und besonders inDeutschland über die Stellung einer arabischenFrau gegenüber ihrem Manne im Schwunge sind,gründlich auszurotten. (...) Da geht ein Tourist aufeinige Wochen nach Konstantinopel, nach Syrien,Ägypten, Tunis oder Marokko und schreibt ein dick-leibiges Buch über Leben, Sitten und Gebräuche imOrient. (...) er spannt einfach seine Phantasie an undergänzt nach Herzenslust. Wenn sein Buch nuramüsant und interessant geschrieben ist, so wird essicher mehr gelesen, als wahrheitsliebendere, dieweniger Pikantes bieten, und beherrscht dann dasUrteil der großen Menge.”36

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MANAR OMAR

DIE LITERATUR ARABISCHSTÄMMIGER SCHRIFTSTELLERIN-NEN UND SCHRIFTSTELLER TRÄGT IHREN TEIL DAZU BEI,DASS DIE ARABISCHE WELT KEIN „BUCH MIT SIEBEN

SIEGELN“ BLEIBT. picture alliance / dpa

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JENSEITS DER EXOTIK

Neben die erste Einwanderergeneration ist seit An-fang der neunziger Jahre der wachsende Beitrag desNachwuchses eingewanderter Araber zum kulturel-len Leben getreten. Zu dieser Generation zählenauch Künstler wie Susan Hefuna oder Cholud Kas-sem und Sänger wie Laith Al-Deen, der mit seinemStück Bilder von Dir berühmt wurde, sowie SamyDelux oder auch die No Angels Sängerin Nadja. Diedrei genannten Sänger haben jeweils eine deutscheMutter. Laith Al-Deens Vater stammt aus dem Irak,und die Väter der anderen beiden stammen aus demSudan. In der deutschen Literatur erscheinen seitAnfang der neunziger Jahre dann auch Werke vonarabischstämmigen Schriftstellern, die, wie Abdel-latif Youssafi, als Kinder nach Deutschland kamenund dort aufgewachsen sind, die, wie Raid Sabbah,in Deutschland als Kind arabischer Migranten gebo-ren wurden, oder die, wie Anis Hamdeh und SherkoFatah, einen deutschen Elternteil haben. Diese jun-ge Schriftstellergeneration, die seit den sechzigerJahren geboren wurde und in Deutschland auf-wuchs, identifiziert sich als deutsch, als gleichwer-tiger Teil der Gesellschaft und ist sich zugleich ihrerethnischen, religiösen oder sprachlichen Besonder-heit bewusst.Sherko Fatahs Debüt Im Grenzland,38 2001 aus-gezeichnet mit dem Aspekte-Literatur-Preis, setztsich mit der komplizierten Lage im Norden des Iraks auseinander, der mehrheitlich von Kurden be-siedelt ist. Die Handlung spielt in den neunzigerJahren während des Embargos gegen den Irak. Fatahs Romanfiguren präsentieren unterschied-liche Positionen in diesem Krisengebiet. Sie schla-gen divergierende Wege ein, um überleben zu können. Die Hauptfigur, ein Schmuggler, überquertregelmäßig ein Minenfeld zwischen dem Irak, derTürkei und dem Iran, um die durch das Embargonicht mehr zugänglichen Waren zu besorgen. Die Lebenssituation des Schmugglers steht alsMetapher für die Lage der Kurden, die sich im über-tragenen Sinn in einem Minenfeld zwischen meh-reren Ländern befinden. Der Sohn des Schmugglersschließt sich einer Gruppe muslimischer Extremis-ten an. Schließlich wird er vom Regime umge-bracht. Beno, ein weiterer irakischer Kurde, passtsich hingegen der Obrigkeit an und wird zum Infor-manten des Geheimdienstes. Das Geschehen imRoman wird hauptsächlich von Männern domi-niert, die Frauenfiguren spielen dagegen eine mar-ginale Rolle und werden nicht ausführlich be-schrieben. In Fatahs späterer Erzählung Donnie39

ist die Handlung zwar in Österreich angesiedelt, jedoch werden Bezüge zum algerischen Befrei-ungskrieg hergestellt. Der Autor nimmt eine post-koloniale Perspektive ein, die in der deutschen Lite-ratur selten ist.

„‚Ich weiß das. Er war Holzfäller davor, irgendwo weit weg.’ ‚Ja, und davor noch war er im Krieg.’ Sie blickte zum Fenster. ‚Im Krieg? Nein, Gotthardwar fast noch ein Kind, als der Krieg aus war.’Sie schien verwirrt von dem, was ich sagte. ‚Es war ein späterer Krieg. In Algerien und danach in...’ ‚Wie?’‚In Algerien.’ Ich sprach das Wort deutlich aus. ‚Ich kann Sie gut verstehen’, sagte sie schroff. ‚In Algerien. – Davon wusste ich gar nichts.’“(ebenda, S. 31)

GEWALT ALS SPIEGELBILD DER BESATZUNG

Zu den Werken der zweiten Generation zählen auchRaid Sabbahs Der Tod ist ein Geschenk40 und DerWind trägt meinen Schmerz davon.41 Bei Der Tod istein Geschenk handelt es sich um eine fiktive Biogra-fie, die auf einer wirklichen Begegnung des Autorsmit einer dem Protagonisten ähnlichen Person ba-siert. Die Ereignisse werden von der Hauptfigur inForm einer Ich-Erzählung geschildert. Der 29-jähri-ge Palästinenser Said lebt mit seiner Familie unterdem alltäglichen, massiven Druck der israelischenBesatzung. Im Alter von neun Jahren erlebt er, wiedie Besatzungsmacht den gesamten Landbesitz derFamilie enteignet, um dort eine Siedlung zu errich-ten. Darauf folgt die Flucht der Familie nach Dsche-nin; sie werden Flüchtlinge im eigenen Land. Der Va-ter, der Onkel und auch Said selbst müssen Festnah-men und Folterungen über sich ergehen lassen.Saids Mutter wird während der ersten Intifadadurch die israelische Armee getötet. Said verbringtspäter vier Jahre in israelischen Gefängnissen, weiler Steine auf die Besatzer geworfen hat:

Diese und andere im Werk geschilderten Foltersze-nen werden von einem Zitat aus einem realen Ge-ständnis eines israelischen Reservisten unterbro-chen, der palästinensische Häftlinge gefoltert hat(ebenda, S. 139f.). Die an mehreren Stellen verwen-dete Montagetechnik wird vom Autor durch Kursiv-schrift hervorgehoben.Nach seiner Entlassung sucht Said Arbeit. In der is-raelischen Stadt Haifa findet er wegen seiner Vor-strafe nur kleine Jobs ohne Arbeitserlaubnis, wieTellerwäscher und Schreinergehilfe. Er wird von ei-ner Militärpatrouille angehalten und brutal zu-sammengeschlagen, bis er das Bewusstsein verliert.Bei einem weiteren Vorfall schießen israelischeWachposten auf ein Taxi, in dem Said sitzt. Sie tref-fen ihn in die Beine. Nach seiner Genesung schließtder Protagonist die Möglichkeit nicht mehr aus, ei-nes Tages einen Selbstmordanschlag zu verüben,um sich an seinen Peinigern zu rächen. Obwohl Saidkein religiöser Fanatiker ist, wird er also im Verlaufseines Lebens unter der Besatzung immer weiter ra-dikalisiert. Sein Vorhaben gelingt ihm jedoch nicht,da er bei einer israelischen Militäroffensive imFlüchtlingslager von Dschenin erschossen wird. DerText verweist auf die gängigen Klischees über Paläs-tinenser als fanatische, blutrünstige Terroristen.Anhand der Biografie Saids wird gezeigt, dass pa-lästinensische Gewalt keineswegs auf die Herkunftoder Religion zurückzuführen ist. Der Handlungs-ablauf lässt die Schlussfolgerung zu, dass Gewalt-bereitschaft und Selbstmordattentate das Spiegel-bild der Besatzungspolitik sind, die Palästinenserwie Said den Sinn für den Wert ihres eigenen Lebensraubt. Die Besatzung und ihr Umgang mit den Pa-lästinensern bereiten den Boden für Terrorismus.Saids Perspektive wird von Sabbah mit Distanz dar-

„Sie zogen mir die Sandalen aus, winkelten meineBeine an, so dass meine Füße in die Höhe ragtenund zogen sie zwischen dem Brett und dem Seildurch. Dann begannen sie das Brett in der Weise zudrehen, dass das Seil eine Schlaufe um meine Fuß-knöchel bildete und sich durch das Drehen immerenger zog. Er sagte mir: ‚Du zählst mit!’ Er fing an,mit dem Stock auf meine nackten Fußsohlen ein-zuschlagen. Ich zählte laut mit. (...) ‚Siebenundfünf-zig ...’. Dann verlor ich wieder das Bewusstsein.“(ebenda, S. 145)

gestellt, der dem Text ein Talmud- und ein Hadith-Zitat voranstellt und für eine friedliche Lösung plä-diert.

DAS INDIVIDUUM IST KONFLIKTENHILFLOS AUSGELIEFERT

Auf eine andere Weise greift Anis Hamadeh den palästinensisch-israelischen Konflikt in Ausgangs-sperre für Gefühle auf:

Hamadeh funktionalisiert die deutsche Medien-sprache und die bei Berichten über den palästinen-sisch-israelischen Konflikt verwendeten Begriffe,wie „Ausgangssperre“, „Checkpoints“ und „Sicher-heitsposten“. Der Text handelt sowohl von einer Lie-besbeziehung als auch von den politischen Ereignis-sen im Nahen Osten. Kennzeichnend für seine „pro-saische Lyrik“ sind die Kleinschreibung sowie der in-tensive Gebrauch von Bindestrichen. Hamadehversteht diese Bindestriche als „Bambusstücke“, diesich durch ihre hohe Flexibilität auszeichnen. Fatah,Sabbah und Hamadeh gelingt es, den deutschen Le-ser dafür zu sensibilisieren, dass der Nahe Osten weder der idyllische Orient von TausendundeinerNacht noch der Ort des religiösen Fanatismus alleinist, sondern eine Region, die von Konflikten hoch-komplexer Natur geprägt ist, denen der einzelneMensch meist hilflos ausgeliefert ist.

BEREICHERUNG DER DEUTSCHENLITERATUR

Außer seinem „fremden“ Namen und Aussehen, istan Jamal Tuschicks „öffentlicher Biografie“ und lite-rarischem Schaffen seit Anfang der neunziger Jah-re kein gemischter kultureller Hintergrund erkenn-bar. Er ist dennoch der Herausgeber des BandesMorgenLand, der, als er 2000 erschien, viel Lob vonder Kritik erhielt. Der Band enthält Texte deutscherSchriftsteller, deren Eltern nicht-deutscher Her-kunft sind. Obgleich Tuschick sich im Nachwort desBuches nicht zu seinem eigenen Hintergrund äu-ßert, spricht er allgemein die Bedeutung der Her-kunftsländer der Eltern für die Schriftsteller derzweiten Generation an: „Manche Autoren der zwei-ten Generation beschreiben Irritationen aus Frem-dungserlebnissen in den Ursprungsgesellschaf-ten.“43

Tuschick erkennt, dass „die deutsche Literatur anden ethnischen Rändern der Gesellschaft intensivbefruchtet wird“ (ebenda, S. 284). Denn die „Nach-geborenen nutzen ihre Chance zur doppelten kultu-rellen Auswahl offensiv. Der Konkurrenz haben sienicht nur eine Sprache voraus (...) dem aleman lässtsich viel erzählen“ (ebenda, S. 285). Mit Recht meintTuschick aber, dass die Hervorhebung der nicht-deutschen Abstammung eines deutschen Schrift-stellers sehr problematisch für ihn werden kann:

„alarm ist ausgerufen worden – die checkpoints ih-res herzens – sind sämtlich geschlossen – an dentoren sicherheitsposten – nicht unfreundlich –doch streng – wer keine gültigen papiere hat –kommt hier nicht weiter – es hatte tage gegeben –da war ich mehrere kilometer tief – in ihrem gebiet– fand dort spuren meines traums – und suchte dasohr – heute seit sonnenaufgang – sind alle wege ab-geriegelt – keine eindringlinge können – durch diemauer – worte, gesten prallen ab – an berührungnicht zu denken – ausgangssperre für gefühle.“42

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Zur deutschsprachigen Literatur arabischstämmiger Schriftsteller

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„Die Kenntnis von der nicht-deutschen Abstam-mung eines Autors öffnet unter Umständen keineVerständnistür. Eben so gut kann sie artistischesAgens sein“ (ebenda, S. 285).

PLÄDOYER FÜR DEN BEGRIFF„GERMANOPHONE“ LITERATUR

In den behandelten Texten von Schriftstellern derersten Generation verweisen die Ortsangaben auf inder Realität bestehende Orte. Ebenso ist die Zeitkon-zeption auf die reale Welt übertragbar. Selbst beiSchami weist das Werk mehrfach implizit auf realeOrte und explizit auf reale Zeiten hin. Figuren wieder Kaffeehauserzähler stehen im Mittelpunkt derWerke Naoums, Schamis und Alafenischs. Anhandineinander greifender, zyklischer Geschichten fun-gieren auch weitere Figuren als Erzähler innerhalbdieser Werke. Diese Vervielfachung der Erzählerinnerhalb derselben Geschichte hebt die Rolle derOralität als signifikanten Bestandteil der arabischenKultur hervor. Die Werke verbindet außerdem dieEinbindung fantastischer Elemente und Motive. DieFrau als integrierter und gleichberechtigter Be-standteil der Gesellschaft kommt in den Werkenmännlicher Autoren selten vor. So tauchen in die-sen Werken kaum erfolgreiche Frauen auf. Nur beiNaoum finden sich selbständige Frauenfiguren, diein ihrer Gesellschaft Achtung und Anerkennung er-langen. Bei Schami und Alafenisch spielt die arabi-sche Frau entweder eine marginale Rolle oder siewird als wehrlos und unterdrückt dargestellt.Die zweite Generation, die literarisch tätig ist, hatmit der ersten Generation gemeinsam, dass sie sichoft auf die arabische Region bezieht. Sie distanziertsich aber von einer unmittelbaren Auseinanderset-zung mit der Exotik-Thematik. Die Autoren be-dienen sich in ihren Werken ausschließlich ihrerMuttersprache Deutsch, im Gegensatz zur erstenGeneration und anders als bei der „Kanaken-“ oder„Beur-Sprache“ von Deutschen türkischer undFranzosen arabischer Abstammung der zweitenEinwanderergeneration. Das liegt vermutlich daran,dass die in Deutschland geborenen Schriftsteller diearabische Sprache im Alltag wenig gebrauchen unddaher kaum beherrschen. Ferner stammt ein Teil derersten Generation aus einer Minderheit in der ara-bischen Region, die eine eigene Sprache hat. Einweiterer Aspekt, der vielleicht eine Rolle spielt,könnte ein stärkeres Bewusstsein für die möglicheexotische Wirkung sein, die die Verwendung vonarabischen Sprachelementen in einem deutschenText erzeugen kann. Im Gegensatz zur ersten Gene-ration, deren Leben lange durch die arabische Spra-che und Kultur geprägt war, betrachtet die zweiteGeneration diese aus einer distanzierteren Perspek-tive. Der Literatur der ersten sowie der zweiten Ge-neration sollte man deshalb nicht eine einzige Iden-tität mit Begriffen wie „Migranten- oder Migra-tionsliteratur“ zuschreiben. Stattdessen sollte dersprachliche Aspekt bei der Bezeichnung hervorge-hoben werden, indem von einer „germanophonen“oder „deutschsprachigen“ Literatur gesprochenwird, entsprechend der frankophonen und anglo-phonen Literatur.44

ANMERKUNGEN1 Es handelt sich um etwa 280.000 Migranten aus verschiede-nen arabischen Ländern und dazu eine unbekannte Zahl von Pa-lästinensern. Vgl. Eckehart-Schmidt-Fink: Araber in Deutsch-land. In: Ausländer in Deutschland, Heft 2/2001, S. 3-5; hier S. 3.2 Ebd., S. 4.

3 In ihrem bisher noch nicht veröffentlichten Vortrag (gehal-ten bei der German Studies Association, Washington, 4.-7. Okt-ober 2001) „How ethnic is it? Reflections on works by Arab-Ger-man writers of the second generation“ bespricht Nina BermannTuschicks literarisches Schaffen und verweist auf seinen halb-ly-bischen Hintergrund.4 Mustapha El Hajaj: Vom Affen, der ein Visum suchte und an-dere Gastarbeitergeschichten. Wuppertal 1969.5 Zentralrat der Freien Deutschen Jugend (Hrsg.): Auftakt 63.Gedichte mit Publikum. Berlin 1963.6 Adel Karasholi: Ich habe das Problem gehört. In: Zentralrat derFreien Deutschen Jugend (Hrsg.): Auftakt 63. Gedichte mit Pu-blikum. Berlin 1963, S. 16.7 ebenda, S. 18-19.8 ebenda, S. 20-21.9 Emily Ruete: Leben im Sultanspalast. Memoiren aus dem 19.Jahrhundert. Leicht bearbeiteter Neudruck der Ausgabe: Memoi-ren einer arabischen Prinzessin (Berlin 1886). Hrsg. und mit ei-nem Nachwort versehen von Annegret Nippa. Bodenheim 1998.10 Zu bemerken ist hier, dass sich bei meinen bisherigen Unter-suchungen zur deutschsprachigen Literatur von Autoren arabi-scher Herkunft keine einzige Bezugnahme auf Leben und Werkder arabischen Prinzessin in diesem Kontext finden lässt.11 Vgl. Jürgen Wertheimer: Das Eigene und das Fremde als Ka-tegorien der Wahrnehmung und des Verhaltens. In: Palette. Bam-berger Zeitschrift für neueste Literatur, Heft 12/1990, S. 114.12 Suleman Taufiq: Erwartungen an die deutschen Kulturver-mittler. In: Irmgard Ackermann/Harald Weinrich (Hrsg.): Einenicht nur deutsche Literatur. Zur Standortbestimmung der „Aus-länderliteratur“. München 1986, S. 75.13 Jusuf Naoum: Aus dem Ghetto heraus. In: Irmgard Acker-mann/Harald Weinrich (Hrsg.): Eine nicht nur deutsche Literatur.Zur Standortbestimmung der „Ausländerliteratur“. München1986, S. 79.14 Franko Biondi/Rafi Schami: Über den literarischen Umgangmit der Gastarbeiteridentität. In: PoLiKunst-Jahrbuch 1983, S. 16.15 Rafik Schami: Damals dort und heute hier. Über Fremdsein.Freiburg 1998, S. 63.16 Rafik Schami: Eine Hand voll Sterne. Weinheim 1987.17 Rafik Schami: Erzähler der Nacht. Weinheim 1989.18 Rafik Schami: Die Sehnsucht der Schwalbe. München 2000.19 Rafik Schami: Der ehrliche Lügner. Roman von tausendund-einer Lüge. Weinheim und Basel 1996 (1992).20 Jusuf Naoum: Nura. Eine Libanesin in Deutschland. Wupper-tal 1996.21 Jusuf Naoum: Nacht der Phantasie. Der KaffeehauserzählerAbu al Abed lädt ein. Frankfurt am Main 1994.22 Im Folgenden wird bei den Auszügen aus den Romanen undErzählungen jeweils auf die entsprechenden Seiten der Buch-handelsausgaben und der bereits zitierten Werke der einzelnenAutoren verwiesen.23 Zitiert nach Ralf-Andreas Gmelin: Der Reisesegen. Predigt inder Ringkirche vom 23. Juni 2002. Unter: http://www.ringkir-che.de/predigt/2202-13.htm (Abgefragt am 15. August 2005). 24 Gisela Henckmann: Rafik Schami. In: Heinz Ludwig Arnold(Hrsg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsli-teratur, Heft 6/1999, S. 5.25 Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt amMain 1985.

26 Stuart Hall: Kulturelle Identität und Diaspora. In: Ders.: Ras-sismus und kulturelle Identität. Hamburg 1994, S. 26-43; hier S.30.27 Rafik Schami: Damals dort und heute hier. Über Fremdsein.Freiburg 1998, S. 67.28 Salim Alafenisch: Das Kamel mit dem Nasenring. Zürich 1990.29 Der Khalif Mu’awiyya Ibn Abi Sufian (608-680), der Gründerdes umayyadischen Khalifats, heiratete die Jakobinerin Maisunbint Bahdal al-Kalbiya (gest. 700), die dem angesehenen christ-lichen Bani Kalb-Stamm entstammte und garantierte sich damitdie Verstärkung seines Khalifats (661-680). Nach seinem Todherrschte Yazid (680-683), sein Sohn von Maisun. Maisun bintBahdal al-Kalbiya zählt außerdem zu den klassischen arabischenDichterinnen.30 Wadi Soudah: Sheherezade im NATO-Land. In: Absturz ausdem Paradies. Geschichten eines Eingewanderten. Frankfurt amMain 1998, S. 40-47.31 In Soudahs 1991 erschienener Erzählung „Beschneidung“ istallerdings der „Ich“-Erzähler ein palästinensischer Christ, der dasharmonische Zusammenleben zwischen den muslimischen undden christlichen Palästinensern, die gegenseitige Beeinflussungund den positiven Austausch zwischen ihnen humorvoll be-schreibt. Diese Erzählung ist Teil der Erzählsammlung: Kafka undandere palästinensische Geschichten. Frankfurt am Main 1991.32 Michel Foucault: Andere Räume. In: Gente Barck u.a. (Hrsg.):Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderenÄsthetik. Leipzig 1990 (1967), S. 34-49; hier S. 45.33 Adel Karasholi: Der alte Turban. In: Umarmung der Meridia-ne. München 1999, S. 23f.34 Ders.: Daheim in der Fremde. In: Lerke von Saalfeld (Hrsg.): Ichhabe eine fremde Sprache gewählt. Ausländische Schriftstellerschreiben deutsch. Gerlingen 1998, S. 116.35 Huda Al-Hilali: Von Bagdad nach Basra. Geschichten aus demIrak. Heidelberg 1992.36 Emily Ruete: Leben im Sultanspalast. Memoiren aus dem 19.Jahrhundert. Leicht bearbeiteter Neudruck der Ausgabe „Me-moiren einer arabischen Prinzessin“. Berlin (1886). Herausgege-ben und mit einem Nachwort versehen von Annegret Nippa. Bo-denheim 1998.37 Halima Alaiyan: Vertreibung aus dem Paradies. Meine langeFlucht nach Palästina. München 2003.38 Sherko Fatah: Im Grenzland. Salzburg 2000.39 Sherko Fatah: Donnie. Salzburg 2002.40 Raid Sabbah: Der Tod ist ein Geschenk. Die Geschichte einesSelbstmordattentäters. München 2002.41 Raid Sabbah: Der Wind trägt meinen Schmerz davon. Aus demLeben einer palästinensischen Mutter. München 2004.42 Anis Hamadeh: Ausgangssperre für Gefühle, 17. Mai 2004.Unter: http://www.anis-online.de/pagesI_text2/0636_aus-gangssperre.de43 Jamal Tuschik: Träger von Zukunftsinformationen. In: Ders.(Hrsg.): MorgenLand. Neueste deutsche Literatur. Frankfurt amMain 2000, S. 290.44 Vgl. Hierzu: Katherine Arens: For want of a word… The Casefor Germanophone. In: UP, 2/1999, S. 130-142; sowie Nina Ber-man: German and Middle Eastern Literary Traditions in a Novelby Salim Alafensch. Thoughts on an Germanophone Beduin Au-thor form Negev. In: German Quarterly, 3/1998, S. 271-283.

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MANAR OMAR

UNSERE AUTORIN

Dr. Manar Omarist als Germanis-tikdozentin an derDeutschabteilungder UniversitätHelwan in Kairound als freiberufli-che Übersetzerinund Dolmetsche-rin tätig. Sie ab-solvierte ihr Abituran der Deutschen

Schule der Borromäerinnen in Kairo undstudierte anschließend Germanistik an derKairoer Universität. In ihrer 2006 abge-schlossenen Dissertation beschäftigte siesich mit ausgewählten Werken Deutschschreibender Autoren arabischer Herkunft.Sie hat mehrere Lesereiseprojekte mitdeutschsprachigen Autoren koordiniert. Ne-ben zahlreichen Vorträgen und Publikatio-nen hat sie eine Bibliografie deutscher Über-setzungen arabischsprachiger Werke von1990 bis 2004 herausgegeben.

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ZUR GESCHICHTE DES ARABISCHEN FILMS

Um diese Ausrichtung besser verstehen zu können,wird man ein wenig in die Geschichte des arabischenFilms zurückgreifen müssen. Grob gefasst teilt sichdessen Geschichte in die zwei Phasen der Vor- undNachkolonialzeit. Dementsprechend besitzt er auchzwei unterschiedliche Erscheinungsformen: popu-lärer kommerzieller Film einerseits und engagierterAutoren- bzw. Kunstfilm andererseits. Nur Ägyptenvermochte bereits während der Kolonialzeit eine ei-

schen Films, allen voran Férid Boughédir in seinemDokumentarfilm Camera Arabe im Jahre 1987, ver-breiteten und der seit der Gründung der Vereinigungdes Neuen Films in Kairo 1969 die Selbstdarstellungkünstlerisch und intellektuell ambitionierter arabi-scher Filmemacher charakterisiert. Er stellt den „en-gagierten“ arabischen Film in Opposition nicht nurzum „ersten“ Kino, d.h. zum weltweit dominierendenHollywood, sondern auch und vor allem zur lokalen,kommerziell orientierten Filmtradition.

gene Filmindustrie hervorzubringen. Es war das ein-zige arabische Land, das über einen vergleichsweisegroßen Binnenmarkt verfügte und trotz seiner Kolo-nialisierung durch die Briten ausreichende künstle-rische, intellektuelle und vor allen Dingen wirt-schaftliche Ressourcen besaß, die es ihm ermöglich-ten, Anfang der 1930er-Jahre mit dem Einsetzen derTonzeit, eine eigenständige Filmindustrie aufzubau-en, deren populäre Produkte auch über die Landes-grenzen hinweg Verbreitung fanden.

In den anderen arabischen Ländern hingegen kam eserst nach der jeweiligen Unabhängigkeit im Laufeder 1950er- und 1960er-Jahre zu unterschiedlichintensiven Versuchen, ein nationales Filmschaffenaufzubauen, das aber – sieht man vom Libanon undbis zu gewissem Grade von Marokko ab – erst durchstaatliche Intervention ermöglicht wurde. Daherentwickelte sich im Mashreq (Naher Osten) wie auchim Maghreb bzw. Nordafrika zuerst ein antikolonialgeprägtes Filmschaffen, das schließlich in einen re-gionalen Kunst- und Autorenfilm mündete, den

DIE „BELAGERUNG“ DES AUTORENFILMS

Der marokkanische Regisseur Mohamed `Aslan ließauf einer Pressekonferenz während des Kairoer Film-festivals im Winter 2004 verlauten, dass sich der en-gagierte arabische Film im Belagerungszustand be-fände. Damit meinte er nicht nur die Belagerung desso genannten Autorenfilms durch den kommerziel-len Film amerikanischer, indischer und ägyptischerProvenienz, der die Leinwände und die Herzen derZuschauer in der Region beherrscht. Er meinte damitauch die Vorgaben und Interessen westlicher För-derinstitutionen, von denen er selbst bei der Produk-tion seines sozialkritischen Filmes Die Engel fliegennicht über Casablanca / al-mala’ika la tuhalliq fauqal-Dar al-Bayda’ (2004) unabhängig bleiben konn-te. Der Regisseur, der in Italien als Produzent arbei-tet, war aufgrund seiner privaten Rücklagen in derLage, seinen Film völlig aus eigenen Mitteln zu finan-zieren.Mohamed Aslans Eindruck, sich im Belagerungszu-stand zu befinden, ist symptomatisch für das Selbst-verständnis des künstlerisch ambitionierten arabi-schen Filmschaffens. Es entspringt einem Diskurs,den die Vertreter des so genannten Neuen Arabi-

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DAS BILD VOM ORIENT IST EINE FRAGE DER MEDIENREZEPTION

Der belagerte Film oder Europas arabischesFilmschaffenVIOLA SHAFIK

Nationales Filmschaffen hängt in arabi-schen Ländern von historischen undmehr noch von aktuellen (innen)politi-schen Gegebenheiten ab und befindetsich in einer Konkurrenzsituation mitdem „ersten“ Kino, dem weltweit domi-nierenden Hollywood. Hinzu kommt,dass der Autorenfilm mit der lokalen,kommerziellen Filmindustrie konkurrie-ren muss und von Fördergeldern abhän-gig ist. Vorgaben und Interessen west-licher Förderinstitutionen bestimmendas arabische Filmschaffen in hohem Ma-ße. Die Mechanismen der Filmförderungbringen es mit sich, dass arabische Filmemeistens nur dann den Weg zum europä-ischen Publikum finden, wenn sie in denGenuss von Fördergeldern kommen. Die-se Filme und die von ihnen transportier-ten Themenkreise prägen das westlicheBild vom „Orient“. Zuweilen wird derexotische Blick bedient, der letztlich zueiner Festschreibung von Stereotypenführt. Mehr noch: Durch die selektive Le-seweise der Filme möchte das westlichePublikum „sein“ Bild der Region bestä-tigt sehen. Produktion und Vertrieb ara-bischer Filme in Europa sind nicht nur ei-ne Frage des guten Willens (und der Fi-nanzierung). Europa fördert zwar dieDarstellung der arabischen Welt im Film,läuft jedoch Gefahr, das Bild vom so ge-nannten „fremden Orient“ zu reprodu-zieren anstatt die südlichen Mittelmeer-anrainer und deren Ausdrucksmöglich-keiten zu erleben.

KINOWERBUNG IN KAIRO:DER ENGAGIERTE ARABI-SCHE FILM BEFINDET SICH

NICHT NUR IN EINER KON-KURRENZSITUATION MIT

DEM WELTWEIT DOMINIE-RENDEN HOLLYWOOD,SONDERN AUCH MIT DER

LOKALEN, VOR ALLEM

KOMMERZIELL ORIENTIER-TEN FILMTRADITION.picture alliance / dpa

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manche gerne als Neuen Arabischen Film bezeich-nen. (Diese Definition ist allerdings etwas irrefüh-rend, da sie eine historische Zuordnung erschwertund gleichzeitig zu wenig die lokalen wie individuel-len Unterschiede zwischen den verschiedenen Län-dern und den Filmemachern berücksichtigt!). Es wa-ren vornehmlich staatliche Initiativen, die dieseWerke unterstützten und über etwa zwei Jahrzehn-te am Leben erhielten.

DIE KRISE DES ARABISCHEN KINOS

Seit Ende der 1980er-Jahre allerdings hat sich dieKrise des arabischen Kinos verschärft, wenn auchaus recht unterschiedlichen Gründen. Auf der einenSeite hat der Erste Golfkrieg 1990 die Vertriebsbasisdes ägyptischen Kommerzfilms empfindlich gestört.Darüber hinaus sorgte ein Boom in der lokalen Fern-sehproduktion für strukturelle Engpässe, die Anfang1990 für einen zeitweiligen Rückgang der Produk-tionszahlen von ca. 60 auf 15 Filme pro Jahr verant-wortlich waren. Auf der anderen Seite mussten Staa-ten wie Syrien, Tunesien und Algerien ihre Produk-tion entweder völlig privatisieren (Algerien) bzw.stark einschränken, während der Bürgerkrieg in Al-gerien (1990er-Jahre) sowie im Libanon (1980er-Jahre) zeitweise für eine vollständige bzw. teilweiseEinstellung der Produktion sorgte. Nur Marokko warbislang in der Lage, durch eine wohl organisiertestaatliche (aus Steuereinnahmen vom Vertrieb aus-ländischer Filme finanzierte) Förderung das eigeneFilmschaffen zu einer kleinen Filmindustrie auszu-bauen, die den eigenen Markt nicht nur mit Kunst-sondern auch Kommerzfilmen versorgt und mittler-weile vom ägyptischen Film recht unabhängig ist. Inden meisten anderen Ländern mussten sich Filme-macher und Produzenten nach anderen Finanzie-rungsmöglichkeiten umsehen, um ihr „nicht-kom-merzielles“ Kino zu realisieren.

DER PALÄSTINENSISCHE FILM

Dies gilt auch für den palästinensischen Film, derhier exemplarisch abgehandelt werden soll. Westli-che Unterstützung hat erst im letzten Jahrzehnt da-zu beigetragen, dass die kostspielige Produktion vonSpielfilmen palästinensischer Filmemacher etwasangekurbelt wurde, was sich allerdings kaum auf dieInfrastruktur vor Ort ausgewirkt hat. Bis auf die Be-satzung unterscheidet sich die Situation des paläs-tinensischen Filmschaffens insofern nur graduellvom gesamtarabischen Filmschaffen. Wenn er sichauch nie auf reguläre staatliche Beihilfen stützenkonnte, so entsprang er doch anfänglich dem Scho-ße quasi-staatlicher Stellen, u. a. der PLO, die jedochnach dem Auszug aus Beirut nach Tunis (1982) ihreProduktion stark einschränken musste. Der wesentliche Unterschied zu anderen arabischenLändern liegt darin, dass Produktion und Vertriebnoch viel weniger in Palästina selbst verankert sind.Im Gegensatz zu anderen arabischen Filmproduktio-nen hat der palästinensische Film kaum eigene Ver-triebsmöglichkeiten. Eine Ausnahme sind einige al-ternative Versuche, wie seit Mitte der 1990er-JahreRashid Masharawis Cinema Production Center inRamallah, das mobile Aufführungen und ein alljähr-liches Kinderfilmfestival durchführt und 2004 einerstes Kinofilmfestival organisierte. Diese Versuchestehen und fallen aber mit dem guten Willen der Is-raelis. Seit der ersten Intifada (1989) wurden in denbesetzten Gebieten nämlich alle Kinos geschlossen

wegen den ständigen Ausgangs- und Wegsperren,die ja auch heute jedes normale Leben behindern.Darüber hinaus fehlt es an einer entsprechenden In-frastruktur und an Ausbildungsmöglichkeiten fürwerdende Filmemacher. Diese haben in der Vergan-genheit ihr Handwerk entweder in Israel oder imAusland gelernt.Filmemacher aus dem historischen Palästina, sprichdem heutigen Israel, mögen sich auf israelischeTechniker und Infrastrukturen stützen oder auchnicht, je nach ihrer entsprechenden politischen Aus-richtung und ihrem Aufenthaltsort. PalästinensischeTechniker können sie meist nicht einsetzen. Nur inseinen revolutionären Tagen verließ sich der palästi-nensische Film eher auf Eigeninitiativen in der ara-bischen Diaspora, wie die verschiedenen palästinen-sischen Organisationen im Libanon vor der israeli-schen Invasion 1982. Heute stammen die meistenFilmemacherinnen und Filmemacher aus dem histo-rischen Palästina oder den besetzen Gebieten. IhreZahl hat sich zwar erheblich verstärkt wegen der Ein-führung neuerer Technologien (Video und DVD),aber sie sind und bleiben im Großen und Ganzen vonder finanziellen und technischen Unterstützung ausEuropa abhängig oder werden in einigen wenigenFällen, wie bei Göttliche Interventionen/yad ilahiyya(2003) und Durst/`attash (2004), Nutznießer israeli-scher Hilfe.

BEGRENZTER ZUGANG ZUREUROPÄISCHEN ÖFFENTLICHKEIT

Das bislang immer noch extrem kanalisierte Interes-se in Europa an der Palästinafrage verstärkte sicherst mit dem Osloer Abkommen (1990). Dies betrifftauch die finanzielle Unterstützung. Werke, die imJahrzehnt zuvor entstanden, gingen auf individuel-le Anstrengungen zurück, sei es durch engagiertewestliche Filmemacher oder im Exil lebende Araberund Palästinenser, wie der israelische PalästinenserMichel Khleifi, der 1990 mit seinen Filmen noch ex-tremen Anfeindungen ausgesetzt war.1 Aufführun-gen von Filmen, die die Palästinafrage aus der Per-spektive der Palästinenser behandelten, waren daherlange Zeit eine Sache von wenigen, eher linksorien-tierten Veranstaltungen in der BundesrepublikDeutschland und in der ehemaligen Deutschen De-mokratischen Republik. Auch heute bleibt der Ver-trieb meist auf das Fernsehen und den nicht-kom-merziellen Bereich beschränkt. Es handelt sich da-rum um einen sehr begrenzten Zugang zur europä-ischen Öffentlichkeit, da auch Arte in Deutschlandgemäß einer Redaktionsauskunft 2003-2004 wäh-rend der Prime Time am Samstagabend eine Quotevon nur etwa durchschnittlich einer halben MillionZuschauer aufwies. Nach ihrer Ausstrahlung sindsolche Filme für den weiteren kommerziellen Ver-trieb außerdem „verbrannt“. Wie sich am Beispiel Palästinas zeigt, entsteht derarabische Film, der heute nach Europa gelangt, un-ter außergewöhnlichen Umständen und ist kauman den arabischen Markt gebunden, d.h. für ge-wöhnlich nicht das Produkt einer lokalen Filmin-dustrie. Das europäische Förderinteresse ist aller-dings nicht ganz neu, es speiste sich zunächst ausWiedergutmachungsbestrebungen in der postkolo-nialen Ära und wandelte sich schließlich aus demheute notwendigen Interesse der EU für seine un-mittelbaren Nachbarn. Der erste Nutznießer dieserInteressen war der schwarzafrikanische Film, zudem in dieser Hinsicht bislang detaillierte For-schungsergebnisse vorliegen.

FÖRDERUNGEN DER ERSTEN STUNDE

Die Förderungen der ersten Stunde, die die anfäng-lichen Produktionen des „schwarzen Kontinents“und schließlich auch den nordafrikanischen Filmmaßgeblich und auf teils recht ambivalente Weisemitzuverantworten hatten, kamen aus Frankreich.Dort entstand 1961 das Consortium AudiovisuelInternational, das bis 1975 416 Filme unterschied-licher Längen (auch Wochenschauen) herstellte.1970 gründete man außerdem die Agence de la co-opération culturelle (ACCT), die ab 1993 in die Agen-ce de la Francophonie umgetauft wurde.Ab 1963 kurbelte zudem das französische Ministe-rium für technische Kooperation durch sein Bureaude cinéma die afrikanische Produktion an. Vor derUnabhängigkeit dieser Länder hatte man keinemeinzigen Afrikaner die Möglichkeit gegeben, in sei-nem Land einen Film zu drehen, (das so genannte La-val-Dekret von 1934 hatte sich dezidiert dagegenausgesprochen!). Da die Franzosen nach der Entlas-sung in die Unabhängigkeit nun zum Teil keinen Zu-gang mehr zu ihren früheren Kolonien bekamen, ließman – so Lieve Spaas (2000) – nun die Arbeit des Bil-dersammelns von Einheimischen erledigen. Das Mi-nisterium für Kooperation ist interessanterweise bisheute noch eine der wichtigsten Anlaufstellen ge-blieben, auch wenn es die Arbeit 1979 kurzfristig ein-stellte, zum einen weil die französische Regierungmit politischen Filmen wie Finyé von Souleyman Cis-sé nicht die afrikanischen Regierungen verärgernwollte, zum anderen weil die strukturellen und kul-turellen Nachteile der Förderung sichtbar wurden:anstatt die afrikanischen Filmemacher mit ihrenWerken zu Hause zu integrieren, wurden sie anFrankreich assimiliert.

BESITZ DER FILMRECHTE BESTIMMT DEN VERTRIEB

Zu diesen Nachteilen zählte u. a. auch, dass das Mi-nisterium die Filmrechte aufkaufte, der Vertrieb sichsomit auf Frankreich und größtenteils auf den nicht-kommerziellen Bereich konzentrierte. Zwar kam esmit der Zeit zur paradoxen Situation, dass sich dieafrikanischen Filme, die unter dem Deckmantel derFrankophonie entstanden, immer mehr von derfranzösischen Sprache abwandten und zu ihren vor-kolonialen Sprachen zurückkehrten, was jedochnicht hieß, dass sich das afrikanische Publikum aus-gesprochen für die vom Ausland finanzierten Filmeinteressierte. Im Gegenteil, in einem der jüngstenepd-Berichte (2005) wurde sogar von einem erheb-lichen Rückgang an traditionellen Lichtspielhäusernin einigen westafrikanischen Ländern (z.B. BurkinaFaso) berichtet, während Nigerias „Nollywood“ mo-mentan durch die Einführung der DVD-Technikboomt und Hunderte von billigen, kommerziellen Vi-deofilmen ausstößt (von denen hierzulande auchnichts zu sehen ist).Arabische bzw. nordafrikanische Produzenten be-gannen sich seit Ende der 1970er-Jahre um franzö-sische Förderungen zu bemühen. Dabei kristallisier-ten sich neben den bereits erwähnten offiziellenfranzösischen Stellen, wie das CNC (Centre Nationa-le de Cinématographie), die Agence de la Francopho-nie sowie die französischen Ministerien für techni-sche Kooperation, das Außen- sowie das Kultusmi-nisterium als weitere relevante Anlaufstellen bei eu-ropäischen Fernsehanstalten heraus. Dazu zähltenbesondere Sendeplätze, wie „Das Kleine Fernseh-spiel“ (ZDF) oder bestimmte Redaktionen bei Canal

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VIOLA SHAFIK

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Horizon, La Sept und Channel Four (heute vor allemdas deutsch-französische Arte). Sie wurden außer-dem noch in den 1990er-Jahren von der holländi-schen Hubert Bals-Stiftung (gebunden an die Urauf-führung am Festival in Rotterdam) und schließlich2004 vom World Cinema Fund (Berliner Filmfest-spiele) ergänzt.

FÖRDERGELDER UND DER WEG ZUM PUBLIKUM

Den Weg zum europäischen Publikum schaffen bisheute vor allem jene Filme, die in den Genuss der För-dergelder dieser Einrichtungen kamen und kommen,weniger aber Filme, die durch eigene Anstrengungenfinanziert wurden. Genuin einheimische Produktio-nen, wie beispielsweise ägyptische und mittlerweileauch marokkanische Kommerzfilme bzw. populäreFilme hingegen haben kaum eine Chance, in Europazu zirkulieren. Im Gegenzug finden arabisch-euro-päische Koproduktionen wiederum, die zwar tech-nisch und künstlerisch mittlerweile internationalenStandards entsprechen, kaum einen Weg zum brei-ten arabischen Publikum, das sich nach wie vor lie-ber am populären nationalen (meist ägyptischen)Film ergötzt.Die ersten arabischen Filmemacher, die von besag-ten französischen Institutionen Förderungen erhiel-ten, dürften dem Publikum hierzulande mittlerweilehinreichend bekannt sein: der Ägypter Youssef Cha-hine war der erste, einige libanesische und vor allemtunesische, aber auch algerische und marokkanischeFilmemacher folgten. Nur im Ausnahmefall stärktedie Koproduktion die Filmemacher im eigenen Land.Nur Chahine konnte sich zu Hause ein wahres film-wirtschaftliches Imperium aufbauen, das u. a. auchLichtspielhäuser umfasst. Wirklichen Erfolg an derKinokasse hat er in Ägypten aber nicht, auch über dieQualität seiner letzten Erzeugnisse lässt sich strei-ten. Im Falle Tunesiens hingegen, das eine lange Tra-dition der cinéphilie besitzt, d.h. wo so genannte Art-house-Filme durchaus Zuschauer anzuziehen ver-mögen, ergab sich eine regelrechte Abhängigkeit deslokalen Filmschaffens vom Ausland. So entstandenwährend der 1990er-Jahre mehr als die Hälfte derProduktionen mit ausländischen Zuschüssen. Auchder algerische Film, der wegen den politischen Zu-ständen im Lande Anfang der 1990er-Jahre völligzum Erliegen kam, wurde seitdem fast ausschließlichdurch europäische Gelder finanziert. Nur seit derJahrtausendwende zeichnet sich dort langsam eineWende ab; u. a. mit al-Manara (2004) von BelkacemHajaj, der vom algerischen Fernsehen und von priva-ten Sponsoren finanziert wurde.

FÜHREN KOPRODUKTIONEN ZUVERBESSERUNGEN?

Koproduktion führte (abgesehen von Ägypten, das jaschon gefestigte filmindustrielle Strukturen besaß,)nicht zwangsläufig zur Verbesserung einheimischerInfrastrukturen, da europäische Produzenten sowieFörderungen (vor allem in Frankreich) es meist zurBedingung machen, dass ein Großteil des Geldes imLande verbleibt und der arabische Produzent des-wegen nicht nur die Postproduktion im Geldgeber-land durchführen muss, sondern auch verschiedeneFunktionen (Kamera, Ton etc.) mit europäischenTechnikern besetzen muss. Dies gilt z.B. für das CNC.Beim französischen Ministerium für Kooperationbestand die finanzielle Hilfe für gewöhnlich aus dem

Abtreten der Filmrechte sowie in der Möglichkeit, dieGeräte und Räume der Kooperation für die Postpro-duktion in Frankreich zu nutzen. In Tunesien, Alge-rien und Marokko gibt es bis heute noch keine Film-schule, an der Filmtechnik gelehrt wird. Bei Berufenmit großen Anforderungen an das Know-how, wieKamera, Ton, Maske und Szenenbild, müssen vieleProduktionen darum auf europäische Kräfte zurück-greifen.

WIRTSCHAFTLICHE ABHÄNGIGKEITBEEINFLUSST INHALTE

Es ist schwierig zu erwägen, inwieweit die wirt-schaftliche Abhängigkeit auch zur Beeinflussungder Inhalte geführt hat. Mit anderen Worten, ob Fil-me letztlich für den europäischen Geschmack her-gestellt werden und weniger für den lokalen Ver-brauch. Immerhin beklagte sich der west-afrikani-schen Filmemacher Souleyman Cissé Anfang der1990er-Jahre, dass die von Frankreich gefördertenafrikanischen Filme eigentlich nicht für das ge-wöhnliche Publikum, sondern für den Soziologie-unterricht gemacht würden, d.h. in einem „kulturel-len Ghetto“ verblieben (vgl. Diawara 1992). Es istaußerdem bekannt, dass das Ministerium für Koope-ration anfänglich naive afrikanische Filme den poli-tisch kritischen Filmen vorgezogen hat. Dies beweg-te u. a. den Senegalesen Ousmene Sembene dazu,überhaupt keine Förderungen mehr anzunehmen.Dies will nicht heißen, dass Förderer und Fernsehan-stalten gleichermaßen an einer Gleichschaltung undGettoisierung der Produktionen aus Übersee arbei-ten. Der Berliner World Cinema Fund erlaubt aus-drücklich, dass die Gelder ausschließlich vor Ort aus-gegeben werden dürfen. Auch einzelne Redaktionen,wie die von Joachim von Mengershausen beim WDR,der eine Reihe von schwarzafrikanischen und arabi-schen Filmen, darunter auch Yeelen koproduzierte,waren darum bemüht, keinerlei Auflagen, vor allemthematischer Art zu machen. Dasselbe gilt auch fürdas Stuttgarter EZEF (Evangelisches Zentrum fürentwicklungsbezogene Filmarbeit). Trotzdem er-scheint die Frage legitim, inwiefern Drehbücher undThemen von ihren Autoren nicht doch von vornher-ein mit einem Blick auf die Förderung und den euro-päischen Zuschauer (und Redakteur) geschrieben,entwickelt und von den Förderstellen dementspre-chend ausgewählt werden.

THEMEN BESTIMMEN DIE WESTLICHE SICHT

In der Tat wird man zumindest an einer Reihe der ge-förderten und später in Europa erfolgreichen nord-afrikanischen sowie anderen arabischen Werken ei-ne thematische Orientierung feststellen können, diesich mit vier hauptsächlichen Themenkreisen bzw.Diskursen deckt, die das Bild der Region aus west-licher Sicht bestimmt: (1.) Benachteiligung der Frau-en, (2.) fanatischer Islam, (3.) die Palästinafrage undbis zu einem gewissen Grad (4.) soziale und politi-sche Ungerechtigkeit. Dies lässt sich an den Themender wichtigsten geförderten Werke aus den 1990er-Jahren ablesen. Dazu zählen u. a. Youry NasrallahsDokumentarfilm Apropos Jungen, Mädchen und derSchleier/sibyan wa banat (1995) zu Geschlechterrol-len und Verschleierung in Ägypten sowie Das Tor zurSonne/bab al-shams (2004), der Romanverfilmungdes palästinensischen Autors Elias Khoury. Dann wä-re außerdem Atef Hatatas Spielfilm Verschlossene

Türen/al-abwab al-mughlaqa (1999) zu nennen, dervon der Fanatisierung eines jungen Muslims inÄgypten erzählt, der mit dem Mord an seiner Mutterendet.Des Weiteren wären erwähnenswert eine Reihe tu-nesischer Spielfilme, vor allem Die Stille der Paläste/samt al-qusur (1994) sowie Zeit der Frauen, Zeit derMänner/musim al-rijal (2000) von Moufida Tlatli, diebeide von der Unterdrückung der Frau handeln. Auch in Férid Boughédirs Halfaouine/`asfur al-sath(1989) und Sommer in La Goulette/Halq al-Wad(1995) geht es vornehmlich um Geschlechterrollen.Vor allem Halfaouine, der als erster tunesischer Filmeinen europaweiten Kinostart bekam, bedient sichzahlreicher exotischer Elemente, wie die pittoreskenBilder des türkischen Bades, die sicherlich nicht nur zufällig an das Bildrepertoire des europäischenOrientalismus erinnern. Youssef Chahines Filme hin-gegen, die auf den ersten Blick eine Ausnahme zu bilden scheinen, bieten ein populäres Potpourri aus Antikolonialismus, Modernismus und kulturellerApologetik, die sich über den rassistischen und im-perialistischen Westen einerseits mokiert und ande-rerseits den islamischen Fundamentalismus anpran-gert, wie in Das Schicksal/al-masir (1997) und jüngstin Alexandria-NewYork (2004).

DIE FESTSCHREIBUNG VON STEREOTYPEN

Die diskursive Festschreibung der Region auf dieoben erwähnten Themen ist eine komplexe Ange-legenheit, deren kulturhistorische und politischeQuellen von Edward Said beschrieben und als Orien-talismus bezeichnet wurden und dessen Antriebs-quelle man in dem rassistischen Vorgang des „Othe-ring“ bzw. der Produktion des Anderen oder Fremdenzusammenfassen kann. Im Bereich der visuellenDarstellung hat dies zu Stereotypisierungen geführt,für deren Entwicklung Stuart Hall uns den Blick ge-schärft hat. Durch das Stereotyp wird das Andere,Fremde überhaupt erst als solches konstituiert undfestgeschrieben, indem man es auf einige wenige Ei-genschaften reduziert, die dann in essentialistischerManier zu dessen unveränderlicher natürlicher We-sensart erklärt werden. Dies geschieht jedoch nichtnur durch den negativen Vorgang der Dämonisie-rung, sondern auch durch die auf den ersten Blickpositiv erscheinenden Strategien der Verklärung,Exotisierung und Fetischisierung. Letzteres lässtsich, wie man am Beispiel von Halfaouine sieht, auchdurchaus in arabisch-europäischen Koproduktionenfinden.Abgesehen von orientalistischer Exotisierung gehörtdie Gleichsetzung von Arabern und Islam zu den amweitesten verbreiteten Stereotypisierungen. DieseGleichsetzung sitzt einem entscheidenden Irrtumauf, missachtet sie doch die Tatsache, dass die arabische Welt mehrere Millionen Christen, Hun-derttausende von Juden, mehrere nicht-arabischeSprachgruppen, wie Kurden, Nubier und Amaziah(Berber) umfasst, und die Mehrzahl aller Muslime inAsien und nicht in der arabischen Welt leben. Wie Ed-ward Said zu Recht beklagte, bildet aber gerade derIslam das Haupt-Objektiv, durch das nicht nur dieOrientalisten, sondern vor allem auch Journalistenund Politiker die Region betrachten. Er gilt als dieMutter aller Erklärungen für so ziemlich alle Phäno-mene, soziale wie politische, und zwar ohne Berück-sichtigung von kulturellen und politischen Wechsel-wirkungen. So wird gemäß Said Aggression darge-stellt, als ob sie dem Islam entspränge, weil der Islameben so ist. Konkrete Umstände vor Ort werden ver-

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Der belagerte Film oder Europas arabisches Filmschaffen

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UNSER AUTOR

Dr. Viola Shafik,1961 in Deutsch-land geboren, istfreischaffende Fil-memacherin undFilmwissenschaft-lerin. Sie studierteKunst in Stuttgart,Germanistik, Film-wissenschaft undIslamwissenschaftin Hamburg und

unterrichtete bis 2005 Cinema Studies ander AUC, der American University in Kairo.Zwischen 1987 und 2004 arbeitete sie alsFilmkuratorin für verschiedene internationa-le Festivals, deutsche Kinematheken und dasGoethe-Institut in Alexandria. Sie veröffent-lichte Bücher, zahlreiche Artikel und Studienüber den arabischen Film. Außerdem führtesie Regie bei einer Reihe von Kurz- und Do-kumentarfilmen.

wischt. In anderen Worten: Berichterstattung überden Islam ist eine einseitige Tätigkeit, die verbirgt,was der Westen „tut“ und stattdessen hervorhebt,wie Muslime und Araber auf Grund ihrer sehr fehler-haften Natur „sind’’.

STEREOTYPEN SPEISEN SICH AUSKOLONIALISTISCHEN PERSPEKTIVEN

Dasselbe gilt für den Themenkomplex der weiblichenGleichstellung. Auch dieses Thema ist mit orientalis-tischen Diskursen verbunden und speist sich aus derfrühen kolonialistischen Kritik an der so genanntenmuslimischen Gesellschaft. So schreibt Leila Ahmedin ihrem Buch über Geschlecht und Islam, dass dieUnterdrückung, die man in der Abschirmung undVerschleierung muslimischer Frauen sah, sich zum„Herzstück der westlichen Erzählung“ vom Islam im19. Jahrhundert entwickelte, die man dergestalt ineine Art „kolonialer Feminismus“ modellierte (vgl.Ahmed 1992). Die Kritik an der islamischen Gesell-schaft entsprang aber nicht selten einer imperialis-tisch motivierten Doppelmoral. So äußerte Lord Cro-mer, der langjährige britische Statthalter Ägyptens,beispielsweise scharfe Kritik an der Frauenfeindlich-keit des Islam, gründete aber gleichzeitig zuhause ei-nen Verein zur Bekämpfung britischer Suffragetten. Insbesondere der Schleier hinter dem die Frauen „le-bendig begraben“ schienen, wurde als sichtbaresZeichen von Rückständigkeit und unzivilisiertemVerhalten angeprangert (und deswegen auch voneinheimischen Modernisten bekämpft). Missionareund Anthropologen beschrieben die muslimischeEhe als auf Trieben und nicht auf Liebe basierend,wodurch Frauen eher die Position einer „Gefangenenund Sklavin denn als Gefährtin und Helferin“ ein-nähmen.Wie sehr diese Diskurse auch noch in heutige Be-trachtungen hineinspielen, wie stark „orientalisti-sche“ Vorstellungen vorherrschen, und wie sehr ihreVertreter unbedacht die soziale Tradition und dieLehren des Islam auf der einen Seite sowie Vergan-

genheit und Gegenwart in einen Topf werfen, wirdauch an den folgenden Kommentaren zum tunesi-schen Film Die Stille der Paläste deutlich. Im Guardi-an Film Review heißt es dazu: “Though clearly a po-litical statement, Tlatli's subtle film never loses its ca-pacity to tell its quietly moving story in a way whichillustrates, with seemingly great accuracy, the worldthat even now traps so many Arab women.” Die un-veränderliche Ausbeutung der Frauen also, unge-achtet der Tatsache, dass der Film von den Bewoh-nern eines reichen Palastes kurz vor der Unabhän-gigkeit Tunesiens Anfang der 1950er-Jahres handeltund die sexuelle und emotionale Ausbeutung derweiblichen Bediensteten durch ihre konservativen,Frankreich treu ergebenen, reichen Bewohner zeigt,d.h. in einem sehr speziellen Moment tunesischerGeschichte stattfindet, steht hier der essentialisti-sche Ansatz im Mittelpunkt der Rezeption.So zieht die Kritik als erstes die Vergangenheit zurBetrachtung der Gegenwart heran. Dabei wird, wiedie Kritik zeigt, der Kolonialismus übersehen, der indem Film als ein durchaus wesentliches Moment derweiblichen Unterdrückung verstanden wird. Unter-schätzt wird auch der Faktor Filmkonvention, und sowird das Werk als „realistisch“ akkurat gelesen, ob-wohl es zahlreiche publikumswirksame Anleihenbeim Frauenfilm, dem Melodram und Musikfilmmacht und deren Elemente klug mit einer antikolo-nialen und feministischen Orientierung mischt.Doch dies hindert auch die kanadische Studenten-zeitung der Simon Fraser University nicht, den Filmvor allem als Islamkritik und nicht als allegorische,postkoloniale Erzählung mit starken Anleihen beimpopulären Film zu betrachten: „The palace itself,which can also be seen as the oppressive traditionsof Islam, is a prison for these women.“ Islam ist indiesem Film allerdings kein Thema, keine einzige Frauträgt einen Schleier und es wird nie gebetet! Dieseselektive und ideologisch gefärbte Leseweise ist keinNovum, sie deckt sich mit den Ergebnissen verschie-dener Rezeptionstheorien, die dem Zuschauer eineaktive Rolle bei der Produktion des Inhalts vor demHintergrund seiner sozialen Position. (Alter, Ge-schlecht, Klasse, Ethnie, Religion etc.) zuschreibt.

SELEKTIVE REZEPTION VERHINDERTDIFFERENZIERTES BILD

Dieser Umstand erschwert die Verbreitung eines dif-ferenzierten Bildes der Region und die Akzeptanzvon Filmen, die keine der genannten Reizthemenvorstellen, und macht mit Sicherheit auch mancheBemühung engagierter Förderer und Redakteure zu-nichte. Dass arabische Filmemacher sich der vorein-genommenen Rezeption durchaus bewusst sind,zeigt das Beispiel des libanesischen Films Als Mari-am erzählte/lamma hikyat Mariam (2002) von Assad

Fouladkar. Der Film entstand als unabhängiges Vi-deoprojekt und erzählt den Leidensweg einer kinder-losen jungen Ehefrau aus den unteren Schichten (beidem Islamisierung eigentlich eine völlig untergeord-nete Rolle spielt). Aufgrund seines Themas fand derFilm auf europäischen Festivals eine gute Resonanz.Er erhielt den englischen und französischen TitelWhen Mariam Unveiled bzw. Quand Mariam s’estdévoilée (Als sich Mariam entschleierte).In der Tat zeigt die nähere Untersuchung des Ver-triebs arabischer Filme in Europa und insbesonderein Deutschland die ganze Problematik der selektivenRezeption. Der Versuch, arabische Filme in Deutsch-land zu vertreiben, war meist eine Angelegenheit al-ternativer Einrichtungen. Cineterz beispielsweisehat während der 1970er- und 1980er-Jahre ver-sucht, so genannte Dritte-Welt-Filme anzubieten, u.a. auch Taufiq Salih’s Die Betrogenen/al-makhdu`un(1973) zur Palästinafrage. Die Arbeit dieser Einrich-tung bewegte sich in einem klar abgesteckten, poli-tisch alternativen Rahmen und ihre Arbeit war eherauf den nicht-kommerziellen Bereich hin orientiert.Erst in letzter Zeit haben eine Reihe kommerziellerAnbieter ein gutes halbes Dutzend nahöstlicher Fil-me in ihr Repertoire aufgenommen und zwar solche,die in irgendeiner Weise für Furore gesorgt habenoder deren Namen bekannt sind, d.h. vor allem Gött-liche Interventionen von Elia Souleiman, vertriebenvon Alamode, und einige wenige Werke von YoussefChahine und Yousry Nasrallah (Koll Film).

VIOLA SHAFIK

DER IRANISCHE FILM „AT FIVE IN THE AFTERNOON“BELEUCHTET DAS LEBEN DER EMANZIPIERTEN UND

EHRGEIZIGEN JUNGEN FRAU NOQREH, DIE NACH DEM

ENDE DES TALIBAN-REGIMES VON EINEM NEUEN,FREIEN AFGHANISTAN TRÄUMT, WIE BENAZIR BHUTTO

IN PAKISTAN STAATSPRÄSIDENTIN WERDEN UND DIE

SITUATION DER FRAUEN IN AFGHANISTAN VERBESSERN

WILL. GLEICHWOHL SCHAFFT AUCH DIESER FILM MIT

EXOTISCHEN ELEMENTEN. picture alliance / dpa

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IRANISCHE FILME ÜBERFLÜGELNARABISCHE

Auf europaweiter Ebene werden die arabischen Fil-me allerdings weit von den iranischen überflügelt.Gemäß Claude Eric Poiraux, Leiter der Initiative Eu-ropa Cinéma, wurden 2004 auf dem europäischenMarkt 72 Prozent amerikanische, ca. 25 Prozent eu-ropäische und mit 2,5 Prozent Filme aus anderenLändern vertrieben. Bei den erfolgreichsten 20 Titelnnicht-westlicher Provenienz befanden sich an ersterStelle elf iranische Titel, die meisten gedreht von derMakhmalbaf-Familie, (die in ihren letzten Filmenüber Afghanistan Kandahar und Five in the After-noon ja bereits sehr stark exotisierende Elementeaufweisen), gefolgt von Elia Souleiman mit GöttlicheInterventionen (Palästinafrage), Chahines DasSchicksal/al-masir (interreligiöse Toleranz), sowieden tunesischen Filmen Ein Sommer in La Gouletteund Zeit der Frauen, Zeit der Männer (Frauenfrage).

FILME MIT EINEM ANDERENBLICKWINKEL

Abgesehen vom iranischen Film hat momentan auchder palästinensische Film den leichtesten Stand – vorallem jener, der direkt vom Nahost-Konflikt handelt.Ein Verleih, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, u.a. auch Filme aus Palästina zu vertreiben, ist Irit Neid-

hardts MEC-Film (Middle Eastern Cinemas). Immer-hin ist Neidhardt bemüht, einen anderen als den inden Mainstream-Medien üblichen Blickwinkel aufden Nahostkonflikt und die regionalen Verhältnissezu werfen. Sie vertreibt einige Kurzfilme der palästi-nensischen Filmemacher Sobhi Zubaidi and TawfikAbu Wael, die sich nicht nur in Deutschland, sondernauch in anderen europäischen Ländern auf Festivalseinen Namen gemacht haben. Darüber hinaus ent-hält ihre Liste auch alternative israelische Werke. Ih-re Hauptabnehmer sind nicht-kommerzielle Einrich-tungen und Festivals, welche im Begriff sind Arthou-se-Kinos zu ersetzen und daher auch Leihgebührenbezahlen müssen. Sich nicht nur als alternativer,sondern auch als „kommerziellen“ Verleiher einenNamen zu machen, ist für MEC-Film sehr schwierig.Trotzdem hat sich der Verleih seit 2003 das Ziel ge-setzt, jährlich entweder einen israelischen oder ara-bischen Spielfilm ins Kino zu bringen.

PUBLIKUMSERWARTUNGEN ALSHAUPTHINDERNIS

Zu den Haupthindernissen für MEC-Film zählt nichtnur der harte Konkurrenzkampf, sich in Deutschlandunter den 200 Werken, die in der ersten Hälfte desJahres 2004 in die Kinos drängten, zu behaupten,sondern vor allem die festgefahrenen Erwartungendes Publikums zu beseitigen. Neidhardt hat hier die

Erfahrung gemacht, dass Leute ihr Bild von der Re-gion bestätigt haben möchten, aber an keinen ge-wöhnlichen Geschichten interessiert sind, die die Fil-memacherinnen und Filmemacher aus der arabi-schen Welt selbst gerne erzählen würden, weil sie fürsie wichtig sind: „Die Leute sagen mir, dann könnensie gleich einen spanischen Film angucken. Sicher,das fände ich toll, wenn die Leute eine syrischeDreiecks-Geschichte genauso selbstverständlichanschauen würden, wie eine französische Dreiecks-Geschichte.“ (Briefwechsel mit der Verfasserin, Nov.2004).Bei dem palästinensischen Spielfilm Ranas Hoch-zeit/al-Quds fi yaumin akhar (2003) von Hani AbuAsaad vertraten deutsche Zuschauer nach dessenAufführung die Meinung, der Film sei unrealistisch,weil alle arabische Frauen verschleiert und unter-drückt seien und dieser Film eine unverschleierte,selbstbestimmte Heldin zeige. Darüber hinaus be-richtet Irit Neidhardt, dass Zuschauer auch eher Do-kumentarfilme vom Nahostkonflikt erwarten, in denen Bilder zu sehen sind, die ihnen aus den Nach-richten vertraut sind, d.h. Schießereien, Steine wer-fende Jugendliche, weinende Mütter. Andere Frage-stellungen hingegen, wie das Problem der Langewei-le unter israelischen Palästinensern, das Tawfik AbuWael beispielsweise in seinem Waiting for Saladineindrücklich darstellt, sprechen sie weniger an.An meinen letzten Ausführungen zeigt sich – wie ichhoffe – deutlich, dass Produktion und Vertrieb ara-bischer Filme in Europa nicht nur eine Sache von gu-tem Willen und Finanzierung sind, sondern eine Fra-ge der Medienrezeption, der kulturellen Orientie-rung und der Politik im Allgemeinen. Die Problema-tik lässt sich etwas zugespitzt ausdrücken: Europafördert zwar die Darstellung der arabischen Welt,läuft jedoch dabei Gefahr, das eigene Bild vom so ge-nannten fremden Orient zu reproduzieren, statt diewirklichen, nicht nur fremden, sondern teils auchstark verwandten südlichen Mittelmeeranrainer zuerleben und ihnen eigene Entwicklungs- und Aus-drucksmöglichkeiten zu verschaffen.

LITERATURAhmed, Leila: Women and Gender in Islam. Yale Univer-sity Press, New Haven 2004Boughédir, Férid: Film im Maghreb. Ein Versuchslabor des„neuen arabischen Films“. In: Filmmuseum Frankfurt(Hrsg.): Panorama des arabischen Films 1954-2004.Frankfurt am Main 2004, S. 42-46.Diawara, Manthia: African Cinema. Politics and Culture.Indiana University Press, Bloomington 1992Engelhardt, Marc: In der Midlife-Crisis. Nachrichten ausOuagadougou – Das afrikanische Kino heute. In: epd-Film, Heft 5/2005, S. 14-15.Hall, Stuart: Representation. Cultural Representationsand Signifying Practices. Sage Publications, London 1997Poiraux, Claude Eric: Cairo International Film Festival.Round Table on Film Distribution between Europe andthe Arab World. (Unveröffentlichter Bericht, 2.12.2004)Said, Edward: Covering Islam. Vintage Book, New York1997Spaas, Lieve: The Francophone Film. A Struggle for Iden-tity. Manchester University Press, Manchester 2000

ANMERKUNGEN1 Als Khleifis poetischer Film Das Lied der Steine 1990bei der Eröffnung der Unabhängigen Augsburger Film-tage gezeigt wurde, empörte sich der amerikanische Alt-meister des direct cinema, Richard Leacock, lautstark überden Film und bezeichnete ihn als „Propaganda“.

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Das politische Porträt eines Landkreises

KARL HEINZ NESER:

Politisches Leben im Neckar-Odenwald-Kreis – gestern und heute.

verlag regionalkultur, Heidelberg, Ubstadt-Weiher, Basel 2005128 Seiten. 11,90 Euro

Es ist kein Zufall, wenn in einer Zeit wachsenderinternationaler Verflechtungen die Region seitlängerem eine Renaissance erfährt. Das Bedürf-nis nach regionaler Beheimatung und lokalerIdentität nimmt zu, ein Trend, der sich auch inden Auflageziffern der Verlage widerspiegelt.Doch profitieren von diesem Identifikationsbe-dürfnis auch die Landkreise oder bildet sich re-gionales Bewusstsein doch eher über die Ge-meinde, die Stadt oder die historisch gewachse-ne Region? Vor allem auch deshalb, weil derLandkreis von den Bürgern eher als Verwal-tungseinheit wahrgenommen wird und der ter-ritoriale Zuschnitt der heutigen Kreise erst vorgut 30 Jahren erfolgte, wobei ja primär Ge-sichtspunkte der Effizienz den Ausschlag gaben. Wie es dennoch überzeugend gelingen kann,identitätsstiftende Potenziale in der Raum-schaft Landkreis aufzuspüren und herauszuar-beiten wurde nun für den Neckar-Odenwald-Kreis exemplarisch dokumentiert. Verfasser desim verlag regionalkultur erschienenen Buchesist Karl Heinz Neser, der als langjähriger Kom-munal- und Kreispolitiker in der Region festverwurzelt ist. Die ausgesprochen lesefreund-lich gestaltete Publikation hat die historisch-politische Entwicklung im Gebiet des heutigenNeckar-Odenwald-Kreises in den letzten 150Jahren zum Gegenstand. Sie ist die Summezahlreicher Einzelveröffentlichungen, die derAutor seit längerem zu verschiedenen histori-schen und politischen Fragestellungen im wei-ten Feld der Landeskunde vorgelegt hat. DieDarstellung beruht auf gründlichen Archivstu-dien, bietet eine Fülle an Bildmaterial, Grafiken,Dokumenten sowie kartographischen und ta-bellarischen Übersichten. Sie enthält in denmeisten Kapiteln auch biografische Porträtsbedeutender regionaler Persönlichkeiten, wasdem Buch auch eine menschliche Komponen-te beimischt. Erwähnt sei auch, dass ein sorg-fältig aufbereiteter Orts- und Personenindexdem eiligen Leser rasche Orientierung bietet. Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert, wobeidas Gebiet des heutigen Landkreises das raum-schaftliche Suchraster bildet, das der Bearbei-tung durchgängig zugrunde liegt. Einleitendkommen zunächst die Veränderungen in denBlick, die die territoriale Zugehörigkeit der Re-gion über die Jahrhunderte bestimmt haben.Der Bogen spannt sich von den Feudalstruktu-ren des Alten Reichs über die 1806 einsetzen-de badische Ära bis hin zur territorialen Neu-ordnung im Südwesten nach 1945, bevor dieKreisreform von 1973 den Schlusspunkt setz-te. Allerdings geht es dabei nicht nur um neueGrenzziehungen, sondern auch um genuin Po-litisches: Neser berichtet über „Badisch Sibi-rien“ im Großherzogtum wie auch über die so-ziale Notstandssituation der Region nach demZweiten Weltkrieg. Viel Raum widmet der Au-tor auch der leidenschaftlich geführten Kon-

troverse über die Südweststaatsfrage, bevor erdie ebenfalls unter schmerzhaften Geburtswe-hen erfolgte Gründung des heutigen Landkrei-ses beschreibt. Er wurde im Zuge der Kreisre-form von 1973 aus den seit 1939 bestehendenAltkreisen Buchen und Mosbach gebildet.Die Folgekapitel rücken die politische Geschich-te in den Mittelpunkt. Den Auftakt bildet ein his-torischer Längsschnitt über die Entwicklung derregionalen Presselandschaft. Die Anfänge desZeitungswesens im Vormärz, die Zeit der Revo-lution und der Restauration, die Gründung wei-terer Lokalzeitungen im Kaiserreich und derWeimarer Republik kommen ebenso in den Blickwie die Veränderungen vor und nach 1945. Andas Thema Presse schließt sich eine Dokumen-tation der regionalen Abläufe der Revolutionvon 1848/49 an. Untersucht wird etwa die Be-deutung der Agrarunruhen im badischen Fran-kenland, die jedoch weniger politischer als viel-mehr sozialer Natur waren. Politischer ging esdagegen in den bürgerlich geprägten Amts-städten zu, wo das revolutionäre Gedankengutreichlich Nährboden fand. Der Zulauf in denVolksvereinen, einer Vorform der politischenParteien, war außerordentlich groß. Im Gebietdes heutigen Landkreises gab es immerhin in 47von 118 Ortschaften solche „Bürgerinitiativen“.Sehr gut besucht waren auch die Volksver-sammlungen, im Mai 1849 zählte man in Bu-chen 10.000 Menschen. Nach dem Scheiternder Revolution wurden über 70 Revolutionäreaus der Region abgeurteilt, darunter auchFriedrich Heuß, der Uronkel des ersten Bundes-präsidenten. Ihm, der als „Neckar-Napoleon“sich ins kollektive Gedächtnis eingeschriebenhat, ist ein umfangreiches Porträt gewidmet.Ein längerer Abschnitt befasst sich mit der po-litischen Entwicklung im Kaiserreich, wobei derKulturkampf, der in der überwiegend katho-lisch geprägten Region mit besonderer Heftig-keit geführt wurde, im Vordergrund steht. Ne-ser schildert die politische Mobilisierung desKatholizismus, der sich in Vereinen undschließlich im Zentrum parteipolitisch organi-sierte und bei den Reichtagswahlen mit mehrals der Hälfte der Wählerstimmen zur politischbestimmenden Kraft wurde. BedeutendsterRepräsentant des Zentrums im ersten Reichs-tag war der Mainzer Bischof von Ketteler, der1871 den im heutigen Kreisgebiet liegendenWahlkreis 14 eroberte. Seine Persönlichkeitwird in einem ausführlichen Porträt gewürdigt.Nach einer knapp gehaltenen Erörterung desregionalen Geschehens während der Revolu-tion von 1918/19 und der Weimarer Republikfolgt eine relativ breite Darstellung der Ereig-nisse im Dritten Reich. Organisationsgrad, Mit-gliederzahlen und Wahlerfolge der NSDAP ha-ben sich im Kreisgebiet insgesamt nur sehr zö-gerlich nach oben entwickelt. Dies gilt vor al-lem für die katholisch geprägten Ortschaftendes Bezirkes Buchen, während in den protes-tantisch geprägten Bezirken Adelsheim undMosbach die Nationalsozialisten früher undstärker Fuß fassen konnten. Nach der Machter-greifung regte sich im Kreisgebiet insgesamtjedoch in allen Lagern nur noch verhaltenerWiderstand gegen die Gleichschaltung. EineAusnahme bildeten manche Gemeinderäte undinsbesondere viele katholische Geistliche, dietrotz intensiver Überwachung den Mut zur öf-fentlichen Kritik aufbrachten.

Das letzte Kapitel des Buches über die Nach-kriegsentwicklung ist mit Abstand zugleich daslängste. Ausgehend von der Neugründung derpolitischen Parteien nach 1945 beschreibt Ne-ser sodann die Weiterentwicklung des Partei-enspektrums bis in die Gegenwart. Umfassendwerden als wichtiger kommunalpolitischerFaktor auch die Freien Wähler einbezogen. DerSchwerpunkt liegt auf der Darstellung der Or-ganisations- und Mitgliederentwicklung derParteien sowie der Würdigung der politischenAkteure. Ein weiteres Teilkapitel hat die Wahlenauf den Ebenen der Gemeinden, des Landkrei-ses, des Landtags, des Bundestags und zum Eu-ropäischen Parlament zum Gegenstand. DieDarstellung konzentriert sich auf die systema-tische Dokumentation von Stimmenanteilen,Mandatsverteilungen unter den Fraktionen so-wie die namentliche Auflistung von Mandats-trägern. Der Leser erhält jedoch auch Infor-mationen über die Gründe von Wählerwande-rungen, den Wandel der Wählermotive und dieabnehmende Bedeutung traditioneller Hoch-burgen. Abgerundet wird das Buch schließlichdurch eine Reihe politischer Porträts, in denensowohl bedeutende Nachkriegspersönlichkei-ten als auch die einzelnen Landräte des Kreisesvorgestellt werden.Dem Buch ist insgesamt eine breite Leserschaftin der Region zu wünschen. Vor allem im Be-reich der Landeskunde und der politischen Bil-dungsarbeit stellt es eine bedeutende Pionier-leistung dar, von der zu wünschen ist, dass sieauch auf andere Landkreise ansteckend wirkt.

Gerd F. Hepp

Hommage auf Kurt Gerhard Fischer

DIETRICH ZITZLAFF (UNTER MITARBEIT VON JÜRGEN WALTHER):

„Es wäre ein Schaden für uns, wenn wirihn vergäßen“ – Kurt Gerhard Fischer (5. Januar 1928 bis 1. Dezember 2001).

Materialien und Dokumentationen der Studiengesellschaft für Sozialwissenschaftenund Politische Bildung. Heft 1. Hamburg2004, 96 Seiten.(Bezug: Studiengesellschaft für Sozialwissen-schaften und Politische Bildung, Jörn-Uhl-Weg 15, 22587 Hamburg)

„Stoffbewältigung, Gewinnung und Verarbei-tung von Einsichten sind beherrscht von derständigen Unruhe, dass Freiheit und da-mit menschlich-menschenwürdiges Dasein im 20. Jahrhundert auf eine eigenartige, einmaligeWeise bedroht sind.“ – aus eben diesem Satz liest Walter Gagel in seiner „Geschichte der politischen Bildung in der BundesrepublikDeutschland 1945 -1989“ (Opladen 1994) KurtGerhard Fischers Grunderfahrung heraus. Fi-scher erlebte zwei totalitäre Systeme: in seinerJugend den Nationalsozialismus und als jungerStudent in Leipzig den Kommunismus in der so-wjetischen Besatzungszone. Diese Erfahrungformte die Einsicht, dass politische Bildung aufdie Übernahme eines demokratischen Werte-systems abzuzielen habe. Die prägende WirkungFischers auf die noch junge Disziplin der Politik-didaktik setzte mit dem von ihm und zwei wei-teren Autoren verfassten Buch „Der politische

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Buchbesprechungen

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Unterricht“ (1. Auflage 1960) ein. Dieser erstenwissenschaftlichen Konzeption einer Didaktikdes Politikunterrichts, die entscheidend zur sogenannten „didaktischen Wende“ und zur Kon-stituierung einer eigenständigen Fachdidaktikbeitrug, folgte der inzwischen als Klassiker gel-tende Sammelband „Zum aktuellen Stand derTheorie und Didaktik der Politischen Bildung“(1. Auflage 1975). So hat insbesondere das vonFischer formulierte „Konzept der Einsichten“noch bis heute Relevanz. Spricht doch aus die-sem Konzept das gesunde Misstrauen gegenjede Form der technokratischen Vermittlungvon (und in standardisierten Evaluationen ab-rufbarem bzw. abprüfbarem) Wissen. Kurt Gerhard Fischer verstarb 2001 in Italien,wo er seit seinem Ruhestand lebte und diedortige Lebensart genoss. Dass sich italieni-sches Dolce Vita, das seit den Zeiten der so ge-nannten „Toskana-Fraktion“ leider etwas inVerruf geriet, und „preußischer Arbeitsstil“(Wolfgang Sander) nicht widersprechen müs-sen, belegt das umfangreiche literarische undwissenschaftliche Werk von Kurt Gerhard Fi-scher. Fischer gehört zweifelsohne zu den

wegbereitenden und großen Didaktikern derpolitischen Bildung. Anstatt sich also „didak-tischen Aufgeregtheiten“ hinzugeben undscheinbare Neuanfänge zu propagieren,spricht Gotthard Breit unlängst in einer Re-zension der oben genannten Schrift die Emp-fehlung aus: „Seine [Kurt Gerhard Fischers]Schriften zu lesen ist heute für Didaktikerin-nen und Didaktiker ebenso von Nutzen wie fürPolitiklehrer und -lehrerinnen.“ Das immense Schaffen und vor allem die Viel-falt der „im besten Wortsinne schillerndenPersönlichkeit“ (Wolfgang Sander) Fischersbelegt eindrucksvoll die von Sachverstand ge-tragene und mit der bekannten Sorgfalt er-stellte Bibliographie von Dietrich Zitzlaff (un-ter Mitarbeit von Jürgen Walther). Diejenigen,die Dietrich Zitzlaff kennen und schätzen, wis-sen um seine großen Verdienste und vor allemum seine pflichtbewussten Recherchearbeitenim Feld politikwissenschaftlicher und fachdi-daktischer Literatur. Dietrich Zitzlaff hat Fi-schers Aufsätze, Schriften und Publikationen,beginnend mit dem Jahr 1952 bis ins Jahr1999 reichend, liebevoll zusammengestellt,

mit Querverweisen und vor allem mit überauslesenswerten Kommentaren versehen. Ab-gerundet wird die Dokumentation, die einem„kleinen Meisterwerk“ (Siegfried George)gleichkommt und eine unverzichtbare Orien-tierungshilfe darstellt, durch Nachrufe, einumfangreiches Personen- und akribisch erar-beitetes Sachregister. Dietrich Zitzlaff erbringtmit dieser Zusammenschau einmal mehr denNachweis, dass sich Kurt Gerhard Fischer bei-leibe in keine Schublade stecken ließ. Fischer,der sich selbst als „Sch…liberaler“ bezeichnete,ging keinem sachlich ausgetragenen Streit aus dem Weg und – obwohl von der Tageszei-tung mit den großen Buchstaben in die „linkeEcke“ gestellt – bezog auch gegen „das linkeMilieu in der politischen Bildung“ (WolfgangSander) eindeutig Position. Die Vielseitigkeitvon Fischers Wirken zeigt sich nicht zuletzt inder Umschreibung von Dietrich Zitzlaff, derihn als „Historiker der Pädagogik, Erwach-senenbildner, Berufs- und Hochschullehrer, Literat, Experte der Politischen Bildung“ cha-rakterisiert.

Siegfried Frech

BUCHBESPRECHUNGEN

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Thema des nächsten Heftes:

Bewältigung von Diktaturen(3/2006)

Stafflenbergstraße 38, 70184 StuttgartTelefax 0711/16 40 99 -77* Paulinenstraße 44–46, 70178 Stuttgart, Fax [email protected] (ohne akad. Titel):[email protected]

Telefon Stuttgart: 0711/16 40 99-0

DurchwahlnummernDirektor: Lothar Frick .......................................................... 60Referat des Direktors: Dr. Jeannette Behringer......................... 62Controlling: Christiane Windeck ........................................... -11

1 Querschnittsabteilung Zentraler Service11 Grundsatzfragen: Günter Georgi (Abteilungsleiter) ........... -1012 Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer.................. -1213 Personal: Ulrike Hess .................................................... -1314 Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich ....... -14

2 Querschnittsabteilung Marketing21 Marketing: Werner Fichter (Abteilungsleiter) .................... -6322 Öffentlichkeitsarbeit: Joachim Lauk ................................ -64

3 Abteilung Demokratisches Engagement31* Geschichte und Verantwortung: Konrad Pflug (Abt.leiter) ... -3132 Frauen und Politik: Beate Dörr........................................ -7533* Freiwilliges Ökologisches Jahr: Steffen Vogel ................... -3534 Jugend und Politik: Wolfgang Berger .............................. -2235* Schülerwettbewerb des Landtags: Monika Greiner ........... -26

4 Abteilung Medien41 Neue Medien: Karl-Ulrich Templ (stv. Dir., Abt.leiter) ......... -2042 Redaktionen Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe:

Siegfried Frech............................................................. -4443 Redaktion Deutschland und Europa: Jürgen Kalb .............. -4344 Redaktionen Politik und Unterricht/Landeskundliche Reihe:

Dr. Reinhold Weber ...................................................... -42

5 Abteilung Regionale Arbeit51 Außenstelle Freiburg, Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg:

Dr. Michael Wehner, Tel. 0761/20773-0, Fax -9952 Außenstelle Heidelberg, Plöck 22, 69117 Heidelberg:

Dr. Ernst Lüdemann (Abt.leiter), T:. 06221/6078-0, Fax -2253* Außenstelle Stuttgart, Paulinenstr. 44 - 46, 70178 Stuttgart,

Tel. 0711/164099-51, Fax -55Dr. Iris Häuser -52, Peter I. Trummer -50

54 Außenstelle Tübingen, Haus auf der Alb, Hanner Steige 1,72574 Bad Urach, Tel. 07125/152-133, Fax -145Rolf Müller -135

6 Abteilung Haus auf der AlbTagungsstätte Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach,

Telefon 07125/152-0, Fax... -10061 Natur und Kultur: Dr. Markus Hug (Abteilungsleiter).......... -14662 Zukunft und Bildung: Robert Feil ..................................... -139

63 Europa – Einheit und Vielfalt: Dr. Karlheinz Dürr............... -14764 Frieden und Entwicklung: Wolfgang Hesse ...................... -14066 Modernisierung in Staat und Wirtschaft: Eugen Baacke .... -13667 Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann ..................... -12168 Hausmanagement: Erika Höhne ..................................... -109

LpB-Shops/Publikationsausgaben

Bad Urach Tagungsstätte Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, (Tel. 07125/152-0) Montag bis Freitag 8–16.30 Uhr

Freiburg Bertoldstraße 55 (Martina Plajer, Tel. 0761/20773-10)Dienstag und Donnerstag 9–17 Uhr

Heidelberg Plöck 22 (Maria Melnik, Tel. 06221/6078-11)Dienstag 9–15 Uhr, Mittwoch und Donnerstag 13–17 Uhr

Stuttgart Stafflenbergstr. 38 (Antje Franz, Gertraude Hermann, Tel. 0711/164099-65), Montag und Donnerstag 14–17 Uhr

Redaktion „Der Bürger im Staat“Siegfried Frech, Telefon 0711/164099-44E-Mail: [email protected]: Barbara Bollinger, Telefon 0711/164099-21, Fax -77E-Mail: [email protected]

Die Zeitschriften auf CDDie Texte vergriffener Hefte auf den Jahrgangs-CDs: „Zeitschriften und Dokumentationen“, Ausgabe 1999/2000 und Ausgabe 2002,zu je 2,50 € zzgl. Versandkosten.

Bestellungen aller Publikationen(Zeitschriften auch in Klassensätzen) bitte schriftlich an:Landeszentrale für politische Bildung, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Fax: 0711/164099-77E-Mail: [email protected] im Webshop: www.lpb-bw.de/shop

Wenn Sie nur kostenlose Titel mit einem Gewicht unter 1 kg bestellen, fallen für Sie keine Versandkosten an. Für Sendungen über 1 kg sowie grundsätzlich bei Lieferung kostenpflichtiger Produkte werden die Versandkosten (Porto, Verpackung, Bearbeitung) berechnet.

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