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64 HELVETICA CHIMICA ACTA Die Bedeutung von Komplexverbindungen in der chemischen Analyse von F. Feigl Die qualitative und quantitative chemische Analyse ist in Anwendung und Forschung untrennbar verknüpft mit der Verwertung bereits bekannter und der Auf- findung neuer Reaktionsweisen von anorganischen und organischen Verbindungen. Diesbezüglich hat die von A. WERNER begründete Komplexchemie neue Einblicke und Wege erschlossen. Der eindrucksvollste Beweis hierfür ist die heute dominierende Anwendung von komplexbildenden organischen Reagenzien in der anorganischen Makro- und Mikroanalyse. Die dabei gewonnenen Erfahrungen sind neuerdings auch für Bemühungen um den Ausbau der organischen Analyse von grosser Wichtigkeit geworden. Die vereinzelte Anwendung von organischen Reagenzien in der anorganischen Analyse reicht weit zurück, und es wäre deshalb zu erwarten gewesen, dass Angaben über Umsetzungen organischer Verbindungen mit Metallsalzen das Interesse des Analytikers hätte finden sollen. Dies war lange Zeit nicht der Fall. Erst der Ent- deckung von TSCHUGAEFF (1905), dass das farblose Dimethylglyoxim durch die Bildung eines roten Nickelsalzes den empfindlichen Nachweis und die quantitative Bestim- mung dieses Metalles ermöglicht, war ein Wendepunkt in der analytischen Bewertung organischer Reagenzien zu verdanken. Es war ein glückliches Zusammentreffen, dass die so eindrucksvollen Befunde von TSCHUGAEFF zeitlich zusammenfielen mit dem Ausbau der Chemie der Komplexver- bindungen durch WERNER, und dass dadurch das Nickeldimethylglyoxim als Ver- treter der so wichtigen Klasse der Innerkomplexsalze erkannt worden ist [1]. Pioniere für die Einführung von innerkomplexsalzbildenden organischen Reagenzien waren: GROSSMANN (Dicyandiamid als Nickelreagens, ]907); BAuDIscH (Nitrosophenyl- hydroxylamin als Kupfer- und Eisenreagens, 1911) und ATAcK (Alizarin als Alu- miniumreagens, 1915). Die Übertragung komplexchemischer Betrachtungsweisen auf Produkte bereits früher erkannter Fällungs- und Farbreaktionen von organischen Verbindungen - es sei verwiesen auf die bereits 1884 von ILLINSKY erkannte Wirksam- keit des 1-Nitroso-2-naphtols als Kobaltreagens - hat gezeigt, dass es sich hierbei um die Bildung von Innerkomplexsalzen handelt. Klassische Beispiele für hierhergehörige Verbindungen sind das blaue, wasser- lösliche Kupferglycin (I), das rote, wasserunlösliche Nickeldimethylglyoxim (II), das 0 NO-Co/3 ("""-../0-CU/2 0 H 2 co H 3 C-C=N\ 11 t 0=< )=0, I I I Ni/2 ('1/1=0 H 2 N,/0 H 3 C-C=N? /-\ JAI/3 Cu/2 OH H '-J-O I 11 111 IV V "OH

Die Bedeutung von Komplexverbindungen in der chemischen Analyse

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Page 1: Die Bedeutung von Komplexverbindungen in der chemischen Analyse

64 HELVETICA CHIMICA ACTA

Die Bedeutung von Komplexverbindungenin der chemischen Analyse

von F. Feigl

Die qualitative und quantitative chemische Analyse ist in Anwendung undForschung untrennbar verknüpft mit der Verwertung bereits bekannter und der Auf­findung neuer Reaktionsweisen von anorganischen und organischen Verbindungen.Diesbezüglich hat die von A. WERNER begründete Komplexchemie neue Einblickeund Wege erschlossen. Der eindrucksvollste Beweis hierfür ist die heute dominierendeAnwendung von komplexbildenden organischen Reagenzien in der anorganischenMakro- und Mikroanalyse. Die dabei gewonnenen Erfahrungen sind neuerdings auchfür Bemühungen um den Ausbau der organischen Analyse von grosser Wichtigkeitgeworden.

Die vereinzelte Anwendung von organischen Reagenzien in der anorganischenAnalyse reicht weit zurück, und es wäre deshalb zu erwarten gewesen, dass Angabenüber Umsetzungen organischer Verbindungen mit Metallsalzen das Interesse desAnalytikers hätte finden sollen. Dies war lange Zeit nicht der Fall. Erst der Ent­deckung von TSCHUGAEFF (1905), dass das farblose Dimethylglyoxim durch die Bildungeines roten Nickelsalzes den empfindlichen Nachweis und die quantitative Bestim­mung dieses Metalles ermöglicht, war ein Wendepunkt in der analytischen Bewertungorganischer Reagenzien zu verdanken.

Es war ein glückliches Zusammentreffen, dass die so eindrucksvollen Befunde vonTSCHUGAEFF zeitlich zusammenfielen mit dem Ausbau der Chemie der Komplexver­bindungen durch WERNER, und dass dadurch das Nickeldimethylglyoxim als Ver­treter der so wichtigen Klasse der Innerkomplexsalze erkannt worden ist [1]. Pionierefür die Einführung von innerkomplexsalzbildenden organischen Reagenzien waren:GROSSMANN (Dicyandiamid als Nickelreagens, ]907); BAuDIscH (Nitrosophenyl­hydroxylamin als Kupfer- und Eisenreagens, 1911) und ATAcK (Alizarin als Alu­miniumreagens, 1915). Die Übertragung komplexchemischer Betrachtungsweisen aufProdukte bereits früher erkannter Fällungs- und Farbreaktionen von organischenVerbindungen - es sei verwiesen auf die bereits 1884 von ILLINSKY erkannte Wirksam­keit des 1-Nitroso-2-naphtols als Kobaltreagens - hat gezeigt, dass es sich hierbei umdie Bildung von Innerkomplexsalzen handelt.

Klassische Beispiele für hierhergehörige Verbindungen sind das blaue, wasser­lösliche Kupferglycin (I), das rote, wasserunlösliche Nickeldimethylglyoxim (II), das

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rotbraune, wasserunlösliche Kobalt-l-nitroso-2-naphtol (III), das gelbgrüne, wasser­unlösliche Kupfersalicylaldoxim (IV) und das rotbraune, wasserunlösliche Alu­miniumalizarinat (V).

Gemäss obigen Koordinationsformeln sind zur Bildung von farbigen Inner­komplexsalzen saure organische Verbindungen erforderlich, die in ihrer Molekel einkoordinationsfähiges Atom in einer solchen sterischen Anordnung enthalten, dass beiVersalzung heterogene Fünf- oder Sechsringe entstehen mit dem Metallatom alsRingglied (Innerkomplexchelate) [2]. Die Tatsache, dass andere IX-Aminocarbon­säuren, 1,2-Dioxime, das zu I-Nitroso-2-naphtol isomere 2-Nitroso-l-naphtol, sowieDerivate des Salicylaldoxims und des Alizarins analoge Metallverbindungen bilden,besagt folgendes:

1. Wir können bei Kenntnis der Strukturformeln von sauren organischen Ver­bindungen voraussagen, ob sie zur Bildung von Innerkomplexsalzen befähigt sind.

2. Wir dürfen von Derivaten hierhergehöriger Verbindungen erwarten, dass siesich hinsichtlich der Bildung von Innerkomplexsalzen analog wie die Stammver­bindung verhalten werden.

3. Wir können, unter Beachtung von 1. und 2., auf präparativem Wege zu neuenVerbindungen gelangen, die Innerkomplexbildner sind.

Die Zurückführung der Struktur von Innerkomplexsalzen auf Anwesenheit undStellung bestimmter Atomgruppen im organischen Anteil [3J ist von grosser analyti­scher Bedeutung, weil Innerkomplexsalze sich oft durch Farbigkeit, grosse Stabilitätund ungewöhnliches Löslichkeitsverhalten auszeichnen [4Jund ihre Bildung momentanerfolgt. Es hat sich gezeigt, dass das Konzept der Gruppenwirkung nicht auf Inner­komplexsalze beschränkt ist, sondern auch für andere Typen von Komplexverbin­dungen gilt. Das bedeutet, dass wir bei der Suche nach analytisch verwertbarenkomplexbildenden organischen Reagenzien nicht auf empirische Versuche angewiesensind. Damit ist eine Forschungsrichtung in der analytischen Chemie begründetworden, deren Ergebnisse das Bild der anorganischen Makro- und Mikroanalysegrundlegend verändert haben.

In Referaten über analytische Arbeiten finden wir andauernd Hinweise aufUmsetzungen, an denen komplexbildende organische Verbindungen als Farb-,Fällungs- und Maskierungsreagenzien beteiligt sind. Letztere sind zumeist Ver­bindungen, die mit bestimmten Ionen stabile komplexe Kationen oder Anionenbilden, die gegenüber sonst wirksamen Farb- und Fällungsreagenzien resistent sind.Es hat sich gezeigt, dass durch Maskierung und Einhaltung bestimmter pH-Werte dieSelektivität von Nachweisen und Bestimmungen erhöht und mitunter sogar bis zurSpezifität gesteigert werden kann.

Von grosser Bedeutung kann die gleichzeitige Verwendung von verschiedenenMaskierungsreagenzien sein. CHENG [5J hat dies am Verhalten von Kaliumferrocyanidgezeigt, das ein Fällungsreagens für 24 Metall-Ionen ist. Durch Zusatz von komplex­bildenden Verbindungen kann die Fällung auf Mn2 +- und Zn2+-Ionen beschränktwerden. Durch Maskierung lassen sich auch Umsetzungen verhindern, bei denen gas­förmige Verbindungen entstehen. Neuerdings ist berichtet worden [6J, dass die durchAbdampfen von Germanium mit Flußsäure bewirkbare Verflüchtigung von Germa­niumfluorid bei Gegenwart von Zitronensäure unterbleibt.

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In der quantitativen Metallanalyse ist die von SCHWARZENBACH [7J begründeteKomplexometrie von grösster Bedeutung geworden; sie macht weitgehend Gebrauchvon Alkalisalzen von Aminopolycarbonsäuren als Masslösungen, von Maskierungs­reagenzien und komplexbildenden Farbstoffen.

Die Aufhebung einer Maskierung durch hierfür geeignete Umsetzungen - die sog.Demaskierung - ist gleichfalls analytisch verwertbar. Als Beispiel sei ein Nachweisvon Quecksilber in anorganischen und organischen Verbindungen angeführt, derdarauf beruht, dass durch die Bildung von wasserlöslichem Quecksilbercyanid ausKaliumferrocyanid das darin komplexgebundene Eisen (II) zur Umsetzung mit Farb­reagenzien freigelegt wird [8]. Diese Demaskierung ermöglicht auch einen spezifi­schen Nachweis von Ferrocyaniden und von Hg-Aminosalzen. Von Interesse ist, dasskomplexe Metallcyanide durch Erwärmung mit Kaliumpermanganat quantitativunter Freilegung der betreffenden Metall-Ionen zersetzt werden. Dieses Verfahrenführt schneller zum Ziel als die bisher übliche Zersetzung durch Abdampfen mitstarken Mineralsäuren und vermeidet die Bildung von giftigem Cyanwasserstoff. EineDemaskierung von Komplexverbindungen kann auch durch Umsetzungen mit wasser­unlöslichen Verbindungen herbeigeführt werden, wie das Verhalten von Silberhalidenzu Lösungen von komplexen Alkalinickelcyaniden zeigt [9]. Hierbei wird Silber­cyanid gebildet und Ni-Ionen werden freigelegt, die mit Dimethylglyoxim empfind­lich nachweisbar sind. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Demaskierungvon K2Ni(CN)4 durch Formaldehyd von WEST zum Nachweis dieses Aldehydes in derorganischen Tüpfelanalyse empfohlen worden ist [10].

Maskierung und Demaskierung sind wichtige Behelfe für die in der analytischenPraxis oft entscheidende Konditionierung von Nachweisen und Bestimmungen. DieTüpfelanalyse macht hievon weitgehend Gebrauch, wobei sich gezeigt hat, dass esUmsetzungen gibt, die lediglich in Form von Tüpfelnachweisen auf Filterpapieranalytisch verwertbar sind. Eine besonders wichtige Form der Konditionierungberuht auf der adsorptiven Trennung von Lösungsbestandteilen, was für Methodender Chromatographie von grosser Bedeutung ist. Auf diesem von TSWETT (1905) be­gründeten Gebiet spielt die Anwendung von selektiven und empfindlichen organi­schen Reagenzien eine sehr wichtige Rolle. Das gleiche gilt für die von WEISZ [l1Jentwickelte Ringofen-Technik in der Tüpfelanalyse und für die von FUJIMOTO [12Jmit Erfolg herangezogene vielversprechende Kollektorwirkung von Austauschharzen.BLAsIUs [13J hat in ingeniösen Untersuchungen gezeigt, dass man durch den Einbauvon organischen komplexbildenden Verbindungen in das Gerüst von Harzen zuempfindlichen und selektiven Nachweisen gelangen kann.

Die Konditionierung von analytischen Nachweis- und Bestimmungsmethodenwird durch die Erstellung und Einhaltung von bestimmten Reaktionsbedingungenerreicht. Sie ist von besonderer Wichtigkeit bei der analytischen Verwertung vonFällungs- und Farbreaktionen, an denen komplexbildende organische Verbindungendurch darin enthaltene Atomgruppen beteiligt sind. Die betreffenden Reaktions­produkte können sein: Innerkomplexsalze, innerkomplexe Kationen und Anionen,Farblacke, Koordinationspolymere und Additionsverbindungen (Molekelverbin­dungen).

Die Tatsache, dass wir bei Innerkomplexsalzen häufig Wasserunlöslichkeit,Löslichkeit in organischen Solvenzien, sowie Resistenz gegen pH-Änderungen und

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chemische Umsetzungen antreffen, hat dazu geführt, hierhergehörigen Verbindungeneine Sonderstellung zuzuweisen. Hierfür besteht jedoch keine Berechtigung. Wirkennen farblose, mehr oder weniger starkfarbige, wasserunlösliche Innerkomplex­salze, und was deren chemische Resistenz als Nichtelektrolyte anlangt, so herrschtkeine Einheitlichkeit. Manche Innerkomplexsalze sind gegen Ammoniak, Säuren oderSchwefelwasserstoff beständig, andere nicht. Wie gross dabei die Schwankungsbreitesein kann, zeigt das Verhalten von Kupferglycin, Nickeldimethylglyoxim und Kobalt­nitrosonaphtol gegen Säuren. Die beiden erstgenannten Verbindungen werden durchverdünnte Mineralsäuren momentan zersetzt, während das Kobaltsalz in warmerkonzentrierter Schwefelsäure unzersetzt löslich ist und bei Verdünnung wieder aus­fällt. Die Annahme, dass durch Fällung erzeugte Innerkomplexsalze sich durchextreme Wasserunlöslichkeit auszeichnen, ist gleichfalls unzutreffend. Beispielsweiseerfolgt im Filtrat einer Ni(OHk oder Co(OHkFällung auf Zusatz von Dimethyl­glyoxim oder I-Nitroso-2-naphtol keine Fällung der betreffenden Innerkomplexsalze,was der Fall sein müsste, wenn die Löslichkeitsprodukte der Hydroxide und derInnerkomplexsalze weit auseinander lägen. Die grosse Empfindlichkeit von Nach­weisen, die bei der Fällung von Innerkomplexsalzen erreicht werden kann, beruhtoffenbar vor allem auf der besseren Sichtbarkeit minimaler Niederschlagsmengen.Dass auch die Löslichkeit in organischen Solvenzien durchaus kein sicheres Merkmalvon Innerkomplexsalzen ist, zeigt sich daran, dass Innerkomplexsalze, die in ihrerMolekel hydrophile Gruppen enthalten, von nicht polaren organischen Lösungs­mitteln nicht gelöst werden [14]. Die strukturelle Besonderheit von Innerkomplex­salzen kann demnach durch die jeweils analytisch verwerteten Eigenschaften nichtcharakterisiert werden; es ist nach anderen Kriterien zu suchen.

Einige beachtenswerte Beobachtungen seien angeführt, die zeigen, dass im Verhalten vonnormalen und Innerkomplexsalzen sowie den zugehörigen organischen Komponenten Unter­schiede bestehen können, die prinzipieller und nicht gradueller Natur sind [15]: Das innerkomplexeZn-Salz des 8-Hydroxychinolins (Oxin) ist in geschmolzenem Oxin leicht löslich, im Gegensatz zuCa- und Mg-Oxinat, die wahrscheinlich normale Salze sind. Oxin und sein Ca-Salz bilden auf Zu­satz von Jod braune Polyjodide, was beim innerkomplexen Zn-Salz nicht der Fall ist. Das inner­komplexe Zn-Anthranilat bildet mit Chloranil keine farbige SCHIFF-Base, im Gegensatz zuAnthranilsäure und deren normalem Ca-Salz. Das säureresistente Pd-Dimethylglyoxim ist gegenSelenige Säure und das innerkomplexe Cu-Salicylaldoxim gegen mit Natriumacetat gepufferteSelenige Säure resistent, während Dimethylglyoxim und Salicylaldoxim sowie andere Oxime unterAbscheidung von elementarem Selen momentan reagieren. Es scheint demnach, dass in Inner­komplexsalzen koordinativ gebundene NH2- und NOH-Gruppen ihre normale Reaktionsfähigkeitverlieren. Damit im Einklang stehen die auf präparativem Wege ermittelten Befunde [16], dassinnerkomplexe Metallacetylacetonate mit Phenylhydrazin kein Hydrazon bilden und dass NH2­

Gruppen in innerkomplexen Cu-Salzen von oc-Aminocarbonsäuren nicht acetylierbar sind.

Wie bereits angegeben, müssen innerkomplexsalzbildende Verbindungen in ihrerMolekel ausser sauren Atomgruppen koordinationsfähige Sauerstoff-, Stickstoff- oderSchwefel-Atome in solcher Stellung enthalten, dass bei Versalzung heterocyclischeRinge entstehen. Hierbei sind jedoch Einschränkungen und Ergänzungen zu be­achten. Der Gehalt an innerkomplexbildenden Atomgruppen besagt nicht, dass beiVersalzung mit koordinationsfähigen Metall-Ionen lediglich wasserunlösliche Inner­komplexsalze entstehen. Ein anschauliches Beispiel dafür, dass auch andersartigeVerbindungen entstehen können, zeigt das Verhalten von Benzoinoxim. Dieses fälltaus acetatgepufferter Ni-Salzlösung ein hellbraunes, in Chloroform lösliche inner-

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komplexes Ni-Salz [17]. In ammoniakalischer Lösung ist Benzoinoxim ein spezifi­sches Fällungsreagens für Kupfer durch Bildung eines normalen grünen, in Chloro­form unlöslichen Kupfersalzes [18]. Darüber hinaus kann Benzoinoxim auch Be­standteil von Additionsverbindungen mit Kupferchlorid und Kupferacetat sein [19J :

C6H s-CH-C-C6H sI 11

HO NOH(Bzn)

CuCI2 • 2 Bzn

NiAc2 ' 2 Bzn

Bezüglich der sauren Gruppen in innerkomplexbildenden Verbindungen gilt, dassdie stark sauren S03H- und S02H-Gruppen an der Bildung von analytisch verwert­baren Innerkomplexsalzen nicht beteiligt sind. Hierfür kommen lediglich die schwachsauren COOH-, OH-, SH-, NH-, NOH- und N02H-Gruppen und allenfalls dieAsO(OHkGruppe [19aJ in Betracht. Im Einklang damit steht, dass neutrale orga­nische Verbindungen durch die Enolisierung von -CO-CH2- zu schwach sauren-C(OH)=CH-Gruppen Innerkomplexbildner werden. Wir sehen dies am klassischenBeispiel des Acetylacetons :

CH3-C-CH

2-C-CH

3_ CH

3-C=CH-C-CH

3_

11 11 I 11

o 0 OH 0

Dass auch organische Verbindungen mit basischen NH2-Gruppen durch EnolisierungInnerkomplexsalze bilden können, zeigt das Verhalten von 1-Nitroso-2-naphtylamin.Diese Verbindung ist analog zu 1-Nitroso-2-naphtol ein Fällungsreagens für Cu-, Co­und Ni-Ionen.

NOH

~ Q~_Nl1NO-Coj2

11 t

~ O:)=NH

Hervorhebung verdient das basische 6-Nitrochinolin, das nach OGBURN & RIES­

MEYER [20J in saurer Lösung ein spezifisches Fällungsreagens für Palladium ist unddessen gravimetrische Bestimmung ermöglicht. Bei dieser Nitroverbindung dürfte essich nicht um eine Enolisierung handeln, sondern es erfolgt wahrscheinlich Salz­bildung mit der tautomeren Form, die zu einem säureresistenten innerkomplexenPalladiumphenolat führt:

OHI

ON-C~(I ~~ N"'"

Die Annahme ist naheliegend, dass die Umlagerung des 6-Nitrochinolins zusam­menhängt, oder erzwungen wird durch die grosse Tendenz des Palladiums zur Koordi­nation an Stickstoff und dadurch auch zur Bildung von N-haltigen Innerkomplex­ringen. Hierfür haben GUSTIN & SWEET [21J neuerdings einen interessanten undüberraschenden Beweis erbracht. Sie fanden, dass auf Zusatz von 8-Aminochinolin

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(NH2Chin.) zu sauren Palladiumlösungen eine gelbe Additionsverbindung ausfällt,aus der bei Alkalisierung ein violettes, in Chloroform leicht lösliches Innerkomplex­salz entsteht. Hier liegt demnach der bisher einzig dastehende Fall vor, dass -- er­zwungen durch die Bildung eines Innerkomplexsalzes - eine basische NH2-Gruppe

/\N N/\~/ "Pd;/ "\=IC>-NH RN-V

durch Protonenabgabe sauren Charakter manifestiert. Die Bildung des Innerkomplex-salzes ermöglicht eine spektrophotometrische Palladiumbestimmung. '

BILLMAN und Mitarb. [22J haben gefunden, dass das basische o-(P-Toluylsulfon­amido)-anilin ein selektives Fällungsreagens für Cu2+-Ionen in schwach saurer undneutraler Lösung ist. Es entsteht ein grünes innerkomplexes Cu-Salz, was einegravimetrische Kupferbestimmung ermöglicht:

Das Kupfersalz ist ein Beweis dafür, dass die S02NH-Gruppe in Sulfonamiden un­mittelbar an der Salzbildung beteiligt ist.

Die angeführten Beispiele zeigen, dass innerkomplexsalzbildende organische Ver­bindungen keineswegs von Haus aus sauren Charakter besitzen müssen, ein Umstand,der bei der Suche nach neuen organischen Reagenzien zu beachten ist.

In Innerkomplexsalzen ist das Wasserstoffatom einer einwertigen sauren Gruppedurch ein Metalläquivalent ersetzt. Es müssen demnach Innerkomplexsalze, die inihrer Molekel unversalzte saure Gruppen enthalten, den Charakter von Säuren be­sitzen. Dass dies der Fall ist, zeigt die Löslichkeit hierhergehöriger, aus saurer oderneutraler Lösung gefällter Innerkomplexsalze in Lauge, mitunter sogar in Ammoniak.Hierbei entstehen Verbindungen mit innerkomplexen Anionen. Ein Beispiel dafür istdie Löslichkeit von Pd-Dimethylglyoxim in Lauge mit gelber Farbe [23J:

oH 3C-C=N

I )Pdj2+NaOHH 3C-C=N

OH

Die Lösung von Pd-Dimethylglyoxim in Alkalihydroxid bleibt auf Zusatz vonNi-Ionen unverändert, weil das Dimethylglyoxim als Bestandteil des innerkomplexenAnions maskiert ist. Zusatz von Alkalicyanid bewirkt durch die Bildung von wasser­unlöslichem Pd(CN)2 die Freilegung von Dimethylglyoxim und damit die Abscheidungvon rotem Ni-Dimethylglyoxim. Diese Demaskierung ermöglicht einen empfindlichenNachweis von Alkalicyaniden und den Nachweis von Cyanwasserstoff im Leucht­gas [24].

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KUMINS [25J hat in einer sehr bemerkenswerten Arbeit festgestellt!) , dass dieMandelsäure ein selektives Fällungsreagens für Zirkonium ist durch die Bildung einesfarblosen, säureresistenten innerkomplexen Mandelates. Wird dieses mit Lauge be­handelt, so erfolgt nach vorübergehender Auflösung die Abscheidung von Zr(OH)4.Mit Ammoniak werden stabile Lösungen erhalten; wir können hierfür folgende Um­setzung annehmen [28J :

Hier erwirbt demnach eine sekundäre alkoholische OH-Gruppe durch Koordinationsauren Charakter. Ein Gegenstück hierzu ist die von BOEsEKEN [29J entdeckte,analytisch verwertete Aziditätserhöhung der Borsäure durch Komplexbildung mitPolyhydroxyverbindungen.

In den bisher angeführten Beispielen für die Bildung von innerkomplexen Anionenwar die hierzu erforderliche saure Gruppe Bestandteil des jeweiligen Innerkomplex­ringes. Die wichtige Tatsache, dass auch ausserhalb dieses Ringes befindliche saureGruppen zur Bildung von Verbindungen mit innerkomplexen Anionen führen können,hat KLOOSTER [30J im Verhalten des disulfonierten 1-Nitroso-2-naphtols erkannt undanalytisch verwertet. Das Natriumsalz dieser Säure (Nitroso-R-Salz) reagiert mitCo- und Fe-Ionen und, wie neuerdings festgestellt worden ist [31J, auch mit Pd-Ionenin saurer Lösung in analoger Weise wie die Stammverbindung, jedoch mit dem Unter­schied, dass an Stelle von farbigen Niederschlägen farbige, lösliche Reaktions­produkte entstehen:

Das Verhalten des Nitroso-R-Salzes zeigt, dass ein alkoholisches Fällungsreagensdurch Sulfonierung zu einem wasserlöslichen Farbreagens geworden ist, in welchemdie zur Innerkomplexbildung erforderliche Atomgruppe ihre Wirksamkeit gegenüberCo-, Fe- und Pd-Ionen bewahrt. (Derartige Farbreaktionen ermöglichen häufigkolorimetrische Bestimmungen.) Der Einfluss einer Sulfonierung ist nicht auf aroma­tische Verbindungen beschränkt, sondern kann auch bei aliphatischen Verbindungenzur Geltung kommen. VOLF [32J hat dies am 1,2-Dimercaptopropan gezeigt, das einFällungsreagens für sulfidbildende Metall-Ionen ist. Das Sulfonat «< Unithioh) ist fürdiese Ionen ein Maskierungsreagens.

Bei Umsetzungen von Metallsalzen mit innerkomplexbildenden Verbindungenkönnen auch innerkomplexe Kationen entstehen. Beispiele hierfür sind im Verhaltenvon Hydroxamsäuren und Carbonsäuren von heterocyclischen Basen zu finden [33, 34J.

1) Sie war Ausgangspunkt einer interessanten Studie von OESPER & KLINGENBERG [26J übcr dasVerhalten von Derivaten der Mandelsäure hinsichtlich sog. Gewichts- und Volumcnseffekte bcider Fällung von Zirkon, sowie wichtiger Arbeiten über die Fällung und Trennung von SeltenenErden [27J.

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Erstere bilden innerkomplexe Kationen mit 3-wertigem, letztere mit 2-wertigemEisen. Die in schwach saurer Lösung eintretenden Farbreaktionen werden in derorganischen Analyse verwertet. MERRIT & WALKER [35J haben gefunden, dass8-Hydroxychinaldin, im Gegensatz zu 8-Hydroxychinolin, kein Fällungsreagens fürAl-Ionen ist, was analytisch verwertet werden kann [36]. Die Nichtfällbarkeit beruhtauf der Bildung des innerkomplexen Kations:

Neuerdings haben RUDENKo & KOVTUN [37J festgestellt, dass 8-Hydroxychinolin(Oxin) mit Germanium sowohl ein Innerkomplexsalz als auch innerkomplexe Kationenund Anionen bilden kann.

Zu einer anderen Art von stabilen komplexen Kationen führt die von BLAU [38Jentdeckte Anlagerung von farblosem IX,IX'-Dipyridyl (auch IX,IX'-Phenanthrolin) insaurer Lösung an Fe2 +-Ionen [38J; darauf beruht eine (33 Jahre später beschriebene)empfindliche Farbreaktion (Rotfärbung) für Eisen [39J, die eine kolorimetrische Be­stimmung dieses Metalles ermöglicht. Die rote Lösung ist ein Fällungsreagens fürgrossvolumige anorganische und organische Anionen. Durch die Fällung von rotem[Fe(IX,IX'-DiphJ [CdJ4J ist Cadmium empfindlich nachweisbar [40J. HaSTE [41J hatgefunden, dass durch Zugabe von CuI-Salzen zu 2,2'-Dichinolyl (einem Derivat desDipyridyls) ein purpurroter Niederschlag entsteht, der in Isoamylalkohollöslich ist.Durch dieses Verfahren kann Kupfer in der Verdünnung 1: 5000000 neben der 10000­fachen Menge von Fremd-Ionen nachgewiesen werden.

Organische Verbindungen mit hierzu geeigneten Atomgruppen können nicht nurInnerkomplexsalze, innerkomplexe Anionen und Kationen, sondern auch sogenannteFarblacke bilden. Letztere sind in Form von Suspensionen und Hydrosolen vonWichtigkeit für empfindliche Metallnachweise und Bestimmungen [42]. WERNER [43Jhat in einer für die Farbchemie bedeutungsvollen Experimentalarbeit darauf hinge­wiesen, dass für die irreversible Anfärbung von mit basischen Metallbeizen impräg­nierten Geweben solche Farbstoffe in Betracht kommen, die nach ihrer Konstitutionzur Bildung von Innerkomplexsalzen befähigt sind. Die Schlussfolgerung, dass Farb­lacke Innerkomplexsalze sind, ist in der chemischen Literatur vielfach anzutreffen.Dass diese Gleichsetzung nicht allgemein gültig ist, zeigt das klassische Beispiel desroten Tonerde-Alizarinlackes, auf dessen Bildung ATACK [44J einen empfindlichenAl-Nachweis begründet hat. Es scheint übersehen worden zu sein, dass MÖHLAU [45Jdas innerkomplexe Al-Alizarinat hergestellt und dabei gefunden hat, dass es gegenIN Salzsäure resistent und in Ammoniak löslich ist. Demgegenüber wird der nahezugleichfarbige Lack durch verdünnte Säure sofort zersetzt und ist gegen Ammoniakresistent. Es muss deshalb bei der Bildung des Farblackes das Alizarin mit Tonerdederart reagieren, dass kein mononuc1eares Al-Alizarinat entsteht, sondern das Al,welches mit dem Farbstoff reagiert, im Strukturverband des Festkörpers verbleibt.Dieser Forderung entspricht die chemische Adsorption des Alizarins, also die Reaktioneines Al-Atoms der Tonerde-Oberfläche.

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Analoge topochemische Umsetzungen dürften der Bildung von anderen Metall­lacken von innerkomplexbildenden Farbstoffen zugrundeliegen. Die Produkte derchemischen Adsorption sind gewissermassen stabile Zwischenverbindungen bei derBildung der betreffenden Innerkomplexsalze ; hierbei ist nicht ausgeschlossen, dassunter gewissen Bedingungen Produkte entstehen, die der Zusammensetzung vonInnerkomplexsalzen nahekommen. Die Gültigkeit dieser Annahme konnte im SystemTonerde-Oxin experimentell bestätigt werden [46]. Oxin bildet ein innerkomplexesAl-Salz, das in fester Form oder in Chloroform gelöst im UV.-Licht intensiv gelbgrünfluoresziert. Lässt man eine nicht fluoreszierende Lösung von Oxin in Chloroformwenige Minuten auf Tonerde einwirken, so erhält man nach Filtration eine gelbgrünfluoreszierende Lösung, was auf die Bildung von AI-Oxinat hinweist. Die auf demFilter verbleibende Tonerde fluoresziert mit gleicher Farbe und die Fluoreszenz bleibtauch nach anhaltender Digestion mit Chloroform bestehen. Es ist offenbar durchchemische Adsorption von Oxin ein fluoreszierender Tonerde-Oxinlack entstanden,dessen Bildung analog zur Bildung des roten Tonerde-Alizarinlacks als Oberflächen­reaktion formuliert werden muss [47].

Chemische Adsorption erfolgt auch bei Kontakt von Dämpfen des Oxins mit Ton­erde, wodurch noch 0,25 f-lg Oxin nachweisbar sind [48]. Wenn man eine verdünnteLösung von Oxin in Chloroform mit einer kleinen Menge Tonerde schüttelt, so könnendurch die dabei auftretende Fluoreszenz noch 0,05 f-lg Oxin in 500 ml Chloroform nach­gewiesen werden. Dies entspricht einer Verdünnung von 1: 1010, was einen Rekord anEmpfindlichkeit darstellt. Es hat sich gezeigt, dass Sulfonsäuren des Oxins, die imGegensatz zur Stammverbindung in Lösungen von AI- und Mg-Salzen keine Fällungbewirken, bei Kontakt mit AI20 3(MgO) sich analog wie Oxin verhalten; es entstehendurch chemische Adsorption fluoreszierende Lacke. Darauf konnte ein empfindlicherNachweis von Derivaten des Oxins, einschliesslich des 8-Hydroxychinaldins, be­gründet werden [48J.

Eine analytisch verwertbare Wirksamkeit bestimmter Atomgruppen in organi­schen Verbindungen ist nur selten völlig unabhängig vom jeweiligen Molekelrest ; eskönnen darin enthaltene Atome und Atomgruppen Einfluss haben auf Eintritt undGeschwindigkeit von Umsetzungen und auf deren pH-Abhängigkeit, sowie auf Farbeund Löslichkeit von H.eaktionsprod ukten.Die Herstellung von Derivaten organischerFällungs- oder Farbreagenzien kann daher zu deren Verbesserung führen oder Hin­weise auf neue organische Reagenzien vermitteln [48a]. Auf den löslichkE;itsbegünsti­genden Einfluss der S03H-Gruppe ist bereits verwiesen worden. Hervorhebung ver­dient der Befund von YOE [49J, wonach die 7-Jod-8-hydroxy-chinolin-5-sulfosäure einspezifisches und empfindliches Farbreagens ((Ferrom) für Fe3+-Ionen ist, dessenWirksamkeit auch in durch P043-- und F--Ionen maskierten Lösungen von Eisen(III)­Salzen nicht beeinträchtigt ist.

Im erweiterten Sinne kann auch der Austausch einer chelatbildenden Atomgruppeals Derivatisierung angesehen werden, wie die Gegenüberstellung von N-Nitroso-N­phenylhydroxylamin ({Cupferrom) und N-Benzoyl-N-phenylhydroxylamin zeigt:

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Beide Verbindungen sind selektive Fällungsreagenzien für Metall-Ionen, wobeidurch koordinative Bindung an Sauerstoffatome der NO- bzw. CO-Gruppe Inner­komplexsalze entstehen. SHOME [50J hat die stabile Benzoylverbindung als Ersatzfür die instabile Nitrosoverbindung vorgeschlagen. Ein weiterer Vorteil besteht darin,dass die Innerkomplexsalze der Benzoylverbindung, formelrein abgeschieden, zurWägung gebracht werden können. In zahlreichen Veröffentlichungen sind interes­sante Anwendungen der Benzoylverbindung als Fällungsreagens beschrieben wor­den [51]. Ein anderes Beispiel für Vorteile, die durch Derivatisierung einer chelat­bildenden Atomgruppe erreichbar sind, betrifft das 8-Mercaptochinolin. Werdenwässerige Lösungen von Fe-, Cu- oder Mn-Salzen mit einer chloroformigen Lösung desMercaptans ausgeschüttelt, so kommt es zur Bildung der betreffenden Innerkomplex­salze und deren Aufnahme in Chloroform. Nach BANKOVSKI [52J kann auf diese Weisein Lösungen ein Metallsalzgehalt von 10-1 %auf 10-6 %herabgesetzt werden.

Im Zusammenhang mit der Derivatisierung von organischen Reagenzien steht dieFrage nach dem Verhalten von Verbindungen, die in ihrer Molekel zwei räumlichgetrennte innerkomplexbildende Atomgruppen enthalten. Die erste diesbezüglichgeprüfte Verbindung war der Farbstoff Alizarinblau, der ein Derivat sowohl desOxins als auch des Alizarins ist. Es hat sich gezeigt [53J, dass Alizarinblau in starkschwefelsaurer Lösung ein spezifisches Fällungsreagens für Cu-Ionen ist, wobei dieSalzbildung lediglich an der Oxinkomponente erfolgt. Andersartig verhalten sich Ver­bindungen mit räumlich getrennten gleichartigen innerkomplexbildenden Atomgrup­pen [54]. BERG & ALAM [55J haben gefunden, dass das 8, 8'-Dihydroxy-5,5'-dichinolinsich gegenüber 2wertigen Metall-Ionen so verhält, wie die Stammverbindung 8-Hydro­xychinolin. Die Fällungsprodukte sind jedoch, im Gegensatz zu den gleichfarbigeninnerkomplexen Oxinaten, in Chloroform unlöslich. Es ist anzunehmen, dass durchVersalzung beider Oximgruppen ein mehrkerniges Koordinationspolymeres ent­stehen kann:

Die Bildung von metallhaItigen Polymeren durch koordinative Bindungen isterstmalig von SUTER & WEST [56J beim grünen Cu-Benzoinoxim angenommen wor­den, was in guter Übereinstimmung steht mit der Unlöslichkeit dieser Verbindung inAmmoniak und Chloroform. Neuerdings haben STEPHEN & TOWNSHAND [57J triftigeGründe dafür angegeben, dass den wasserunlöslichen Silbersalzen des Rhodanins unddessen Derivaten 2) die Konstitution von Koordinationspolymeren zuzuweisen ist.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Verbindungen, die bisher als Innerkomplexsalzeangesehen wurden, in Wahrheit mehrkernige Koordinationspolymere sind. DerartigePolymere, sowie die Farblacke, können als Angehörige besonderer Klassen von

2) Das gelbe p-Dimethylaminobenzylidenrhodanin bildet in saurer Lösung ein rotviolettes, wasser­unlösliches Ag-Salz, was unter Einhaltung bestimmter Reaktionsbedingungen einen spezifi­schen und sehr empfindlichen Nachweis von Silber ermöglicht (F. FEIGL, Z. analyt. ehem. 74, 380(1928). Dies war das erste Beispiel für einen Ag-Nachweis durch ein organisches Reagens, demdie Bildung eines farbigen Silbersalzes zugrundeliegt.

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74 HELVETICA CHIMICA ACTA

wasserunlöslichen Komplexverbindungen betrachtet werden, deren Auffindunganalytischen Forschungsarbeiten zu verdanken ist.

Die bisherigen Versuche über das Verhalten von organischen Verbindungen miträumlich getrennten chelatbildenden Atomgruppen hatten die Auffindung von neuenFällungsreagenzien zum Ziel. BELCHER und Mitarb. [57aJ haben gezeigt, dass aucheine Wirksamkeit als Farbreagens in Betracht zu ziehen ist. Sie fanden, dass die saurerote Lösung des innerkomplexen CeIII-Salzes des Farbstoffes 3-Aminomethyl-alizarin­N, N-diessigsäure bei Zusatz von Alkalifluorid blau wird. Das farbige Reaktions­produkt enthält Fluor, CeIII und Farbstoff im Verhältnis 1: 1: 1. Diese vielfach ver­wendete Farbreaktion [57bJ ermöglicht einen Nachweis von Fluor in der Tüpfel­analyse. Es ist dies das erste Beispiel für eine direkte Farbreaktion auf Fluor.

Die Tatsache, dass die Stabilität von Innerkomplexsalzen gegenüber Säuren undBasen innerhalb weiter Grenzen schwanken kann, verweist auf die Anwendbarkeitvon Innerkomplexsalzen (in fester Form, in Schmelzen oder gelöst in Chloroform) alsReagenzien in der anorganischen Analyse. Hierfür können einige eindrucksvolleBeispiele angeführt werden. Bringt man auf mit rotem Ni-Dimethylglyoxim impräg­niertes Filterpapier einen Tropfen einer verdünnten PdCI2-Lösung, so ist keine Über­führung des roten säurelöslichen Ni-Salzes in gelbes säureunlösliches Pd-Dimethyl­glyoxim feststellbar. Wird jedoch das angetüpfelte Reagenspapier in verdünnte Salz­säure gelegt, dann hinterbleibt auf dem momentan entfärbten Papier ein roter Fleck.Dieser Effekt beruht darauf, dass das auf der Oberfläche des roten Ni-Salzes gebildetePd-Salz das darunter befindliche Ni-Salz vor Auflösung in Säuren schützt. Durchdiesen Schutzschichteneffekt können 0,05 ftg Palladium nachgewiesen werden [58J.Es ist bemerkenswert, dass dieser Nachweis lediglich in der Form einer Tüpfelreaktionauf Filterpapier zum Ziele führt. Das gleiche gilt für andere Nachweise, die aufSchutzschichteffekten beruhen.

KREJMER & BUDYLKIN [59J haben gezeigt, dass die farblose Lösung von Blei­diäthyldithiocarbamat in Chloroform durch die Bildung des braunroten, in Chloro­form löslichen Kupfersalzes ein spezifisches und empfindliches Farbreagens aufKupfer ist.

Von welcher Bedeutung die Anwendung eines Innerkomplexsalzes als Reagenssein kann, zeigt ein verbesserter Nachweis von Cyanwasserstoff. Bisher ist hierfür dieBlaufärbung eines Gemisches von Cu-Acetat und Benzidinacetat verwendet worden.Ein Ersatz dieses viel verwendeten Reagens war notwendig, weil Benzidin alsCarcinogen erkannt worden ist. Es wurde neuerdings gefunden [60J, dass auf Filter­papier, getränkt mit einer chloroformigen Lösung von innerkomplexem Cu-Methyl­acetylacetat und Tetrabase, bei Kontakt mit Spuren Cyanwasserstoff (auch Dicyanund Dicyansulfid) ein blauer Fleck (chinoides Oxydationsprodukt der Tetrabase)entsteht.

Eine für die Mikroanalyse sehr bedeutungsvolle Anwendung von Innerkomplex­salzen besteht darin, dass bei ihrer Fällung minimale, für sich allein nicht wahrnehm­bare Mengen analoger Innerkomplexsalze dem Niederschlag einverleibt werden. Sofungieren FeIII- und AI-Oxinat als sog. Spurenfänger für andere Oxinate, und durchdie Fällung von Ni-Dimethylglyoxim können Spuren von Pd-Dimethylglyoxim zurMitfällung gebracht werden [61]. WEISS und Mitarb. [62J haben gefunden, dass wasser-

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Fasciculus extraordinarius ALFRED WERNER - 1967 75

HaC-C=OI + NH OH + 1/ Ni2+ + OH- -------+

H~-C=NOH z z

unlösliche, innerkomplexbildende organische Fällungsreagenzien die Rolle einesSpurenfängers übernehmen können, wie folgende Beispiele zeigen: Wird zu einer sehrverdünnten wässerigen Lösung eines Uranylsalzes eine alkoholische Lösung von1-Nitroso-2-naphtol gesetzt, so erfolgt nicht nur Abscheidung des organischen Reagens,sondern dieses enthält das innerkomplexe Uranylsalz des Nitrosonaphtols. Auf dieseWeise konnten Spuren von Uran im Seewasser nachgewiesen und quantitativ be­stimmt werden. Analog verhält sich das wasserunlösliche 2-Mercaptobenzimidazol,das bei seiner Abscheidung aus alkoholischer Lösung als Spurenfänger für Ag-, Au­und Hg-Ionen fungiert. Es handelt sich hier um Effekte, die weitere mikroanalytischeAnwendungen erwarten lassen.

Das Konzept der Gruppenwirkung und komplexchemische Betrachtungsweisenwaren und sind Wegweiser bei anorganisch-analytischen Forschungsarbeiten, die eineVerbesserung bereits bekannter und die Auffindung neuer organischer Reagenzienanstreben. Die dabei gewonnenen Erfahrungen sind häufig von Bedeutung für dieorganische Analyse, weil analytisch verwertbare Umsetzungen von organischen Ver­bindungen ausnahmslos an darin enthaltenen Atome oder Atomgruppen ansetzen. Sosind 1,2-Dioxime, Acyloinoxim, a,a'-Dipyridyl, Oxin usw. durch darin enthaltenesalzbildende Atomgruppen nicht nur selektive Reagenzien für bestimmte Metall­Ionen, sondern letztere ihrerseits Reagenzien für den häufig sehr empfindlichen Nach­weis der organischen Partner, bzw. darin enthaltener Atomgruppen. Es ist dies die An­wendung des aus der anorganischen Analyse wohlbekannten Prinzips der Verwertungvon binären Umsetzungen. Dass derartige Umsetzungen nicht auf die Bildung vonSalzen beschränkt sind, zeigt die Kondensation von Salicylaldehyd mit Hydrazin:

Diese Kondensation zu wasserunlöslichem, im UV.-Licht gelbgrün fluoreszierendenSalicylaldazin erfolgt momentan bei Vereinigung von wässerigen Lösungen derKomponenten. Darauf konnten empfindliche Nachweise von Salicylaldehyd und vonHydrazin begründet werden [63]. Wie nach den an der Kondensation beteiligtenAtomgruppen zu erwarten war, reagieren in gleicher Weise andere o-Hydroxyaldehyde,sowie auch 0-Hydroxyketone unter Bildung der betreffenden fluoreszierenden Aldazineund Ketazine. Da die Aldazine der m- und p-Hydroxyaldehyde nicht fluoreszieren, soist eine Unterscheidung des isomeren o-Hydroxyaldehyds möglich.

Es ist von grosser analytischer Bedeutung, dass bei der Fällung von Innerkomplex­salzen der jeweilige organische Partner durch eine zu seiner Bildung führenden Um­setzung ersetzt werden kann. Dies zuerst gezeigt zu haben, ist das Verdienst vonHIRSCHL & VERHOEFF [64J, die fanden, dass zum empfindlichen Nachweis vonHydroxylamin die zu Ni-Dimethylglyoxim führende Umsetzung

OHHaC-C=N\

I /Ni/2 + 2 HzOHaC-C=N

o

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76 HELVETICA CHIMICA ACTA

H3C~C=0I + 2 NH20H + 1/2NiH _

H 3C-C=0

herangezogen werden kann. NEUBERG & SCHEUER [65J haben einen empfindlichenNachweis von Diacetyl auf der Bildung von rotem Ni-Dimethylglyoxim begründet:

OHH3C~C=N\

I /Ni/2 + 2 H 20 + H+H 3C-C=N

°ISHIDATE [66J hat erstmalig gezeigt, dass zu Ni-Dimethylglyoxim führende Um­setzungen in der Arbeitsweise der Tüpfelanalyse zu empfindlichen Nachweisen vonaliphatischen Dioxo- und Oxomethylenverbindungen verwendet werden können.

Auf der Bildung eines roten innerkomplexen Calciumsalzes aus drei farblosen, zuseinem Aufbau erforderlichen Komponenten beruht ein empfindlicher und spezifischerNachweis von Glyoxal [67]. Wir realisieren hierbei die Umsetzung:

(,')/0,- /o,-(~

11 Ca I I + 3 H 20 ,~/'-N';1 "'N/~,?'"

11 11HC--CH

welche auch den Nachweis von o-Aminophenol und dessen Unterscheidung von denIsomeren ermöglicht.

Ein eindrucksvolles Beispiel für den Nachweis einer organischen Verbindung durchderen Beteiligung an der Bildung eines Innerkomplexsalzes ist das Verhalten vonPhenolen gegenüber Natriumkobaltinitrit und Essigsäure. Bei Erwärmung kommt eszu den Umsetzungen:

[CO(N02)6J3- + 6 H+ _ CoH + 6 HN02

()~OH

I +HN02

_

(~ OH ~)-O1)= + 1/3 CoH _ I = )Co/3 + H+~o NO ~ -~

Das Endprodukt ist braunrotes innerkomplexes CoIII-o-Nitrosophenolat, das durchChloroform extrahierbar ist, sofern im Phenol keine hydrophilen Gruppen enthaltensind. Diese in wenigen Minuten erfolgende Synthese eines innerkomplexen Co-Salzesermöglicht den empfindlichen Nachweis von phenolischen Verbindungen mit einerfreien o-Stellung [68]. Ein zusätzlicher Vorteil dieses Nachweises besteht darin, dassdurch Löslichkeit oder Unlöslichkeit des Co-Salzes in Chloroform festgestellt werdenkann, ob im Phenol hydrophile Gruppen enthalten sind.

Bei den vorstehend beschriebenen Nachweisen sind offensichtlich komplex­bildende organische Verbindungen im status nascendi wirksam. Für Fällungsreaktionendieser Art ist die nicht sehr glückliche Bezeichnung «Fällung aus homogener Lösung»üblich geworden [69J. Es werden hierbei Niederschläge von besonderer Reinheit undguter Filtrierbarkeit erhalten, was für gravimetrische Bestimmungen in der anorgani­schen Analyse sehr wertvoll ist.

Analytisch verwertbare Farbreaktionen von organischen Verbindungen könnenauf deren Beteiligung an der Bildung von innerkomplexen Kationen beruhen. Aus-

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Fasciculus extraordinarius ALFRED WERNER - 1967 77

gangspunkt für einschlägige Versuche war die Feststellung von HARTKAMP [70J, dassPyriclin-2-aldoxim durch die Bildung einer wasserlöslichen violetten Eisen(II)-Ver­bindung einen empfindlichen Nachweis und eine kolorimetrische Bestimmung vonEisen ermöglicht. Diese Farbreaktion kann durch die Vereinigung des wasserlöslichenAldehyds mit Hydroxylamin und Eisen(II)-sulfat realisiert werden:

Wir gelangen dadurch zu einem empfindlichen Nachweis von Pyridin-2-aldehyd unddessen Unterscheidung von den isomeren Aldehyden [71]. Es hat sich gezeigt, dassSCHIFF-Basen des Aldehydes mit IX-Aminocarbonsäuren oder o-Hydroxyarylaminensich analog wie das Aldoxim verhalten; sie bilden unter Beteiligung der in diesen Ver­bindungen enthaltenen sauren OH-Gruppen mit Fe2+- oder C0 2+-Ionen farbige inner­komplexe Kationen. Darauf konnten empfindliche Nachweise der Aminoverbindun­gen begründet werden [72]. Hierbei wird als Reagens eine verdünnte, Fe2+- bzw.C0 2+-haltige Lösung von Pyridin-2-aldehyd verwendet. Das Verfahren ermöglichteine schnelle Unterscheidung von IX- und ß-Alanin, sowie den Nachweis von IX­Halogenfettsäuren nach deren Überführung in IX-Aminofettsäuren durch Abdampfenmit Ammoniumcarbonat.

Bei der Suche nach analytisch verwertbaren Umsetzungen organischer Ver­bindungen bzw. darin enthaltener Atomgruppen können wir auf Verfahren zurück­greifen, die für die Herstellung oder Bildung von organis~henVerbindungen beschrie­ben worden sind. Zumeist handelt es sich hierbei um stöchiometrisch formulierbare,langsam verlaufende Umsetzungen, die man mit beträchtlichen Materialmengen aus­führen muss, um befriedigende Ausbeuten zu erhalten. Bei der analytischen Ver­wertung solcher Verfahren ist die erreichbare Ausbeute nicht entscheidend. Es kommtlediglich darauf an, den Eintritt der zugrundeliegenden Umsetzung schnell und ein­deutig zu erkennen. Wir können deshalb versuchen, die jeweiligen Vorschriften eineranalytischen Arbeitsweise anzupassen. Dass dies mit Erfolg möglich ist, zeigt dieklassische Synthese von o-Hydroxyaldehyden nach REIMER-TIEMANN. Die dieserSynthese zugrundeliegende Umsetzung

)

-OKI + CHCla + 3 KOH --+ J=0K

I + 3 KCl + 2 Hp-CHO

erfolgt nämlich bereits bei kurzer Erwärmung einer alkalischen Lösung vonPhenolen mit Chloroform zu solchen Beträgen, dass gebildeter o-Hydroxyaldehyddurch die Kondensation mit Hydrazin (s.o.) unter Bildung von fluoreszierendemAldazin nachweisbar ist. Darauf hat sich ein empfindlicher, in der Arbeitsweise derTüpfelanalyse leicht ausführbarer Nachweis von Phenolen begründen lassen [73J (Er­fassungsgrenzen: 2-50 f1g); die Umsetzung mit einer alkalischen Phenollösung kannauch zum Nachweis von Chloroform und Bromoform herangezogen werden.

Die organische Tüpfelanalyse verwertet häufig Umsetzungen, denen lange be­kannte Synthesen und Bildungsweisen von organischen Verbindungen zugrundeliegen.

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78 HELVETICA CHIMICA ACTA

Es hat sich gezeigt, dass nicht nur Umsetzungen auf nassem Wege, sondern auchSchmelz- und Sinterreaktionen in Betracht kommen. So ermöglicht die Bildung vonfarbigen Molekelverbindungen in Schmelzen von Diphenylamin oder Tetrabase einensehr empfindlichen Nachweis von aliphatischen und aromatischen Nitroverbindun­gen [74]. Dieser dem Gebiet der Komplexchemie zugehörige Befund, sowie die Tat­sache, dass farbige Innerkomplexsalze und Farblacke auch durch Sinterung derReaktionspartner entstehen, hat die Aufmerksamkeit auf Reaktionsmöglichkeitenvon organischen Verbindungen im Temperaturbereich 100-300° gelenkt. Es hat sichgezeigt, dass hierbei Umsetzungen eintreten können, die auf nassem Wege nichtrealisierbar sind. Dazu gehören Pyrohydrolysen, Pyroammonolysen und Pyro­hydrogenolysen. Der Eintritt derartiger in der Regel schnell verlaufenden Pyro­reaktionen kann leicht erkannt werden, wenn flüchtige, in ihrer Gasphase empfindlichnachweisbare Verbindungen entstehen. Da wir über Nachweise für etwa 30 hierher­gehörige Verbindungen verfügen, so besitzen stöchiometrisch definierte Pyroreak­tionen, an denen bestimmte Atomgruppen beteiligt sind, eine erhebliche Bedeutungfür die qualitative organische Analyse. Wir verwerten hierbei die durch Temperatur­erhöhung bewirkte, grössere Reaktionsbereitschaft von organischen Verbindungen.Vielfach handelt es sich um interessante Festkörperreaktionen.

Die Bedachtnahme auf komplexchemische Faktoren bei der Wirksamkeit be­stimmter Atomgruppen hat in relativ kurzer Zeit zur Entdeckung vieler neuerorganischer Reagenzien geführt. Wenngleich nur ein Teil derselben in ihrer Anwen­dung strengen Anforderungen nach Eindeutigkeit, Empfindlichkeit und leichterZugänglichkeit entspricht, so sind diesbezüglich und bei Einhaltung bestimmterReaktionsbedingungen erhebliche Fortschritte erzielt worden und in Hinkunft weiterzu erwarten. Bei einschlägigen Arbeiten sind viele neue komplexbildende organischeVerbindungen und deren Metallsalze hergestellt worden. Dadurch werden auchArbeiten über organische Reagenzien interessant, die keinen unmittelbaren analyti­schen Gewinn gebracht haben. Das der Verwertung organischer Reagenzien entgegen­gebrachte Interesse hat Untersuchungen zur Auffindung neuer und zur Aufklärungund richtigen Interpretation vieler Farb- und Fällungsreagenzien angeregt. Wertvollediesbezügliche Beiträge sind V. ANGER, J. P. ALIMARIN, CH. V. BANK, R. BELCHER,H. DIEHL, H. FREISER, H. IRVING, S. M. KORENMANN, L. KUHLBERG, V. J. Kuz­NETZOV, A. ÜKAC, P. S. SARVIN, E. SAWICKI, G. F. SMITH, P. W. WEST und T. S. WESTzu verdanken.

Bei der Bildung und im Verhalten von Komplexverbindungen sind Effekte er­kannt worden, deren Bedeutung über die jeweilige analytische Verwertung hinaus­geht. Beispielsweise kann als gesichert gelten, dass anormale Wertigkeitsstufen vonMetallen in Komplexverbindungen stabilisiert werden und dass anorganische Be­standteile von Komplexverbindungen eine erhöhte Reaktionsfähigkeit besitzenkönnen [75]. Dass an sich nicht isolierbare organische Verbindungen an der Bildungvon stabilen Innerkomplexsalzen beteiligt sein können, hat PFEIFFER [76J amSalicylimin gezeigt. DUKE [77J hat diese Stabilisierung zur gravimetrischen Cu- undNi-Bestimmung verwertet.

Interessante Beispiele für den engen Zusammenhang zwischen analytischer undkomplexchemischer Forschung sind neuerdings im Verhalten von Derivaten desPyridins erkannt worden. DALZIEL & TOMPSON [78J haben gefunden, dass 2-Mercapto-

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pyridin-N-oxid ein neues selektives Eisenreagens ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dasshierbei nicht die SH-Gruppe, sondern eine durch Enolisierung gebildete NOH-Gruppeversalzt wird:

(~

l j=sNI

OH

Die Bildung des innerkomplexen, in Chloroform löslichen Eisensalzes ermöglichtsowohl eine gravimetrische als auch eine kolorimetrische Eisenbestimmung. Hierbeiist sehr bemerkenswert, dass aus Lösung von Eisen(II)-Salzen das innerkomplexeEisen(III)-Salz gefällt wird. Eine derartige spontane Autoxydation war bisher ledig­lich bei der Fällung von innerkomplexem CoIII-Nitrosonaphtolat aus Lösungen vonCoII-Salzen bekannt und analytisch verwertet worden.

KIRSON [79J hat festgestellt, dass 2-Acetylpyridin ein neues Farbreagens für Cu-,Ni- und Co-Ionen ist. Auch hier handelt es sich um eine Enolisierung, die eine Bildungvon Innerkomplexsalzen ermöglicht:

Beweis hierfür ist, dass 3- und 4-Acetylpyridin keine Farbreagenzien für Cu-, Ni­und Co-Ionen sind. Bei den Reaktionen der beiden Pyridinderivate handelt es sich umdie Wirksamkeit neuartiger, zur Bildung von Innerkomplexsalzen befähigter Atom­gruppen. Diese für die Chemie der Komplexverbindungen bedeutungsvollen Befundeverdienen zweifellos besonderes Interesse.

Erfolge, die bei der Anwendung von komplexchemischen Umsetzungen zwecksErreichung einer maximalen Eindeutigkeit und Empfindlichkeit von Nachweis- undBestimmungsmethoden erzielt worden sind, haben die Aufmerksamkeit auf anders­artige, lange Zeit nicht oder nur wenig beachtete chemische Umsetzungen gelenkt.Dies hat bei Bemühungen zur analytischen Verwertung von chemischen Umsetzungeneinem weitgehenden Liberalismus den Weg geöffnet. Genannt seien Katalysen- undinduzierte Reaktionen, Fluoreszenzreaktionen, sowie Schmelz- und Sinterreaktionen.

Fortschritte in den Methoden der anorganischen und organischen chemischenAnalyse beruhen durchwegs auf Experimentalarbeiten. Dies berechtigt dazu, diechemische Analyse als Experimenta1chemie mit analytischen Zielen zu betrachten­Zu dieser sehr fruchtbaren Erkenntnis entscheidend beigetragen zu haben ist das Ver­dienst der von WERNER begründeten Chemie der Komplexverbindungen, die ihrer.seits durch Ergebnisse und Befunde bei analytischen Forschungsarbeiten eine erheb­liche Bereicherung erfahren hat.

Laboratorio da Produ<;ao Mineral, Ministerio das Minas e EnergiaRio de Janeiro, Brasil

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80 HELVETICA CHIMICA ACTA

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