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walker-hugh
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1.
Drei Männer kauerten hinter den Felsen und starrten
hinüber auf den nächtlichen Marktplatz von Candis.
Mitternacht war vorüber, und der Platz lag leer wie
auch die Kais. Die Schiffe, die eines neben dem andern
ankerten, waren dunkel und ohne Lichter. Des Königs
Flaggschiff, die Seehexe, war das einzige, auf dem noch
vereinzelte Lampen brannten.
Sie war das Ziel der drei Männer, aber um sie zu
erreichen, mußten sie den Platz überqueren, und das
war noch immer unmöglich, ohne daß die Deckwachen
auf dem Flaggschiff sie bemerkten.
Der Grund dafür, der den Männern leise Flüche
entlockte, waren die Fackeln, die an den Eingängen
dreier Tavernen brannten, und deren flackerndes Licht
die Männer von ihrem Vorhaben abhielt.
»Wie lange brennen die verdammten Dinger noch?«
murmelte der eine mit zusammengepreßten Lippen.
»Ich glaube, sie lassen sie niederbrennen.«
»Ja, du magst recht haben, Daraq. Das wird noch
eine ganze Weile dauern. Was tun wir, Kommandant?«
In den Tavernen war seit geraumer Weile alles still.
Die letzten Zecher hatten sie längst verlassen. Die
schweren Läden waren geschlossen. Daraq hatte recht.
Der Wirt würde sich nicht mehr um die Fackeln
kümmern. Er schnarchte längst in seiner Kammer.
Der Kommandant der Gruppe, ein Hüne von
Gestalt, verzog das Gesicht.
Im Widerschein des Lichtes sah es aus, wie das
zerfurchte, boshafte Antlitz eines Trolls. Die lange
Narbe auf der linken Wange trug nichts dazu bei, den
abschreckenden Eindruck zu schwächen.
»Wir werden sie löschen müssen. Das hält uns zwar
auf, aber es geht vermutlich schneller, als hier zu
warten, bis sie niedergebrannt sind. Außerdem werde
ich krumm, wenn ich noch lange hier kauere. Wer
geht? Qarin?«
Der Angesprochene nahm seinen Bogen von der
Schulter. »Wie wäre es damit, Kommandant?«
Der Kommandant schüttelte den Kopf. »Nein. Ich
bezweifele deine Treffsicherheit nicht. Aber die Fackeln
stecken zu tief in den Halterungen, als daß ein Pfeil sie
herausholen könnte. Abgesehen von dem Lärm, den
der Beschuß verursachen würde. Es ist schade um die
Geschosse. Wir könnten sie noch brauchen, mögen die
Götter es verhüten. Wenn du aus einer der Gassen
kommst, wird niemand Verdacht schöpfen. Du löscht
sie aus, als wäre es deine Aufgabe, das zu tun. Laß dir
Zeit, es darf nicht nach Hast oder Verstohlenheit
aussehen. Ich bin sicher, daß die Deckwachen der
Seehexe die Fackeln im Auge haben. Deine Uniform als
Soldat des Königs wird die Sache unverdächtig genug
erscheinen lassen. Also vorwärts.«
Qarin nickte, legte seinen Bogen ab und den Köcher
und war einen Moment darauf zwischen den dunklen
Felsen verschwunden.
Es dauerte längere Zeit, bis sie ihn in einer
Gassenmündung auftauchen sahen. Er ging ohne zu
zögern auf die erste Taverne zu, nahm die erste Fackel
aus dem Eisenring und tauchte sie in das
Wasserbecken daneben, das zu diesem Zweck dort
stand. Das Zischen drang deutlich bis zu den beiden
Männern. Die zweite Fackel verlosch. Die dritte, vierte
...
Niemand nahm daran Anstoß, und der Platz wurde
dunkel. Die beiden Männer atmeten auf, als Qarin
wieder bei ihnen auftauchte. »Alles klar, Kommandant.
Laß mich einen Augenblick verschnaufen. Könnte ja
sein, daß wir es plötzlich eilig haben.« Er grinste.
So warteten sie, bis Qarin seine Waffen wieder
aufnahm. Dann liefen sie gebückt, mit bloßen Füßen,
im Schutz der Dunkelheit auf das Flaggschiff zu. Es
war ein kitzliges Gefühl, denn eine der Deckwachen
mochte sie bemerken und einer von den Kerlen sein,
die erst schossen und dann fragten.
Doch sie erreichten das Schiff unbemerkt. Der Koloß
ragte vor ihnen hoch. Kleine Wellen brachen sich an
den Bordwänden mit leisem Plätschern. Das war gut,
denn es würde kleine Geräusche übertönen.
Daraq war der erste, der den Weg über das Seil
nahm.
Als er die Reling fast erreicht hatte, schien die
Wache vom Bug irgendeinen Verdacht geschöpft zu
haben, denn der Mann tauchte nicht weit von Daraq
entfernt an der Reling auf und starrte in das dunkle
Wasser. Überraschenderweise bemerkte er Daraq nicht.
Nach einem Augenblick verschwand er, und sie hörten
seine Schritte sich zum Bug hin entfernen.
Qarin ließ aufatmend den Bogen sinken. Daraq
schwang sich über die Reling und war einen
Augenblick verschwunden. Als er wieder auftauchte,
winkte er den beiden zu.
Der Kommandant angelte sich als nächster an dem
Seil hoch. Als er an Deck sprang, sah er in ein paar
Schritt Entfernung den Wachposten liegen, gefesselt
und geknebelt und offenbar noch ohne Bewußtsein.
Gleich darauf war auch Qarin an Bord. »Keine
Wache am Heck?« flüsterte er.
»Sucht sie und macht sie unschädlich«, befahl der
Kommandant. »Dann laßt ein Boot zu Wasser, und
kappt die Taue von den übrigen. Und haltet euch
bereit. Mag sein, daß es rasch gehen muß, wie du schon
sagtest, Qarin.«
Er wartete einen Augenblick, bis die Männer in der
Dunkelheit mittschiffs verschwunden waren. Die
Seehexe war ein schneller Segler, ein Dreimaster wie
die Schwarze Wellenreiterin, auf der er schon mit
Kapitän Jaggar zusammen in Balava und Kyrien
gewesen war. Er fand sich auf ihr recht gut zurecht.
Auf einer der Galeeren wäre es schwieriger gewesen.
Daß sie Jaggar nicht auf einer der Galeeren ans
Ruder gekettet hatten, konnte nur eines bedeuten- daß
sie Wichtigeres mit ihm vorhatten. Er war immerhin
der Vertraute des Königs gewesen.
Jaggar hatte recht gehabt mit seiner Behauptung, mit
dem König sei nicht alles richtig, seit dieser
Schlangenpriester nicht mehr von seiner Seite weicht.
Er hörte vom Heck her ein ersticktes Aufstöhnen. Sie
hatten die Wache.
Rasch schlich er zur Kajütentreppe. Die
Kapitänskajüte war leer. Der König würde erst im
Morgengrauen an Bord gehen mit dem Priester. Sie
mußten Jaggar irgendwo in den Laderäumen
eingeschlossen haben.
Er schlich an Deck zurück. Ein leises Scharren an der
Bordwand sagte ihm, daß Daraq und Quarin dabei
waren, das Boot hinabzulassen.
Er erreichte den Niedergang zu den
Mannschaftsräumen. Daran mußte er vorbei, wenn er
zu den Laderäumen wollte. Der Kommandant fluchte
lautlos. Es war eine Mausefalle. Wenn einer der
Mannschaft ihn hörte und neugierig wurde, war der
Teufel los.
Dann war es am besten, er schloß sich gleich selbst
mit Jaggar ein.
Er dachte, daß sie Jaggar ebensogut irgendwo in den
Mannschaftsräumen eingeschlossen haben mochten.
Das würde eine Befreiung unmöglich machen.
Er wußte lediglich, daß Jaggar sich auf dem Schiff
befand. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit hatten sie
ihn an Bord gebracht. Das hatte er beobachtet.
Vorsichtig schlich er an den Kajüten vorbei.
Schnarchen drang nach draußen. Da drinnen schien
alles zu schlafen.
Er erreichte die Laderaumeingänge. Die Finsternis
war absolut. Er schob den schweren Riegel zur Seite,
öffnete vorsichtig die Tür – fingerbreit um fingerbreit,
denn sie knarrte, als gelte es, Tote aufzuwecken. Doch
niemand erwachte. Er steckte den Kopf in die lautlose
Finsternis dahinter. Er öffnete den Mund, um leise
nach Jaggar zu rufen. Bevor er einen Laut
herausbrachte, war eine Bewegung vor ihm. Hände
faßten ihm ins Gesicht, glitten tiefer und hatten ihn in
würgendem Griff am Hals, bevor er dazu kam, eine
abwehrende Bewegung zu machen.
Er wurde nach innen gerissen, während die Tür
knarrend ganz aufflog und gegen die Wand knallte. Er
bemühte sich verzweifelt, einen Aufschrei zu
unterdrücken. Gleich darauf fiel es ihm nicht mehr
schwer, denn die Hände drückten erbarmungslos zu,
und er hätte keinen Laut mehr hervorgebracht, selbst
unter größter Anstrengung. Ein Schwindelgefühl
erfaßte ihn. Er versuchte, seinem Gegner
zuzukrächzen, daß er ein Freund war, aber das
mißlang völlig. Denn der erste krächzende Laut
veranlaßte den anderen, den Druck seiner Hände noch
zu verstärken. Noch immer schien niemand etwas
bemerkt zu haben.
Von plötzlicher Wut erfüllt über diese irrsinnige
Situation, in der das Opfer seinen Befreier auf die
Balken legte, und unter Mißachtung aller Vorsicht ließ
er sich fallen und riß seinen Gegner, der niemand
anderer als Jaggar sein konnte, mit sich. Sie stießen
gegen irgendwelche Fässer, vermutlich Ölfässer, und es
gab ein höllisches Gerumpel. Den anderen schien das
nicht zu stören, aber für ihn selbst gab es nur noch
eines- ‚raus hier, bevor jemand sein Gesicht sah und
erkennen konnte, daß der Kommandant von Pequa
sich auf das Schiff des Königs schlich. Das würde das
Ende bedeuten.
Er bekam seinen Gegner an den Haaren zu fassen
und riß ihn nach vorn über seinen Kopf. Das ging nicht
ohne einen Aufschrei vor sich, aber die Hände gaben
seinen Hals frei. Er bekam wieder Luft.
»Ich bin es Moraq«, keuchte er. »Nergins Bart«,
entfuhr es dem anderen. »Warum sagst du das nicht
gleich?«
Moraq rieb seinen Hals. »Wir müssen hier heraus«,
würgte er hervor. »Den Gedanken habe ich schon die
ganze Zeit«, murmelte Jaggar. »Aber es sieht aus, als ob
wir Pech hätten!«
Lärm kam vom Korridor. Der Kommandant stieß
einen Fluch aus. Es hörte sich an, als wäre das ganze
Schiff lebendig. Selbst wenn der König und seine
Leibgarde noch nicht an Bord war, mußten es
wenigstens zwei Dutzend Leute sein.
Gleich darauf flackerte draußen Feuer auf. Jemand
hatte eine Fackel angezündet.
Mit einem Sprung war Jaggar an der Tür und schloß
sie. Der Riegel hing unterhalb der Sperre. Wenn sie die
Tür verriegeln wollten, mußten sie sie erst einen Spalt
öffnen. »Was nun?« keuchte Jaggar, der wußte, daß er
die Tür solcherart nicht lange festhalten konnte. »Du
hast doch einen Plan, oder?«
»Nicht für den Fall«, erkärte Moraq brummend.
»Die Deckluke scheint der einzige Zugang zu sein ...!«
»Sie ist verschlossen. Das war das erste, das ich
versuchte, als ich die Fesseln los war«, erklärte Jaggar
zwischen zusammengebissenen Zähnen.
»Halt sie auf, solange es geht!« rief Moraq. Hastig
begann er zwei der Fässer unter die Luke zu rollen und
aufeinanderzustellen. Er kletterte hoch, erreichte die
Luke und trommelte wild dagegen.
»Du wirst uns die ganze Flotte auf den Hals hetzen«,
knirschte Jaggar.
Moraq grinste. »Wart‘s ab.« Aber ganz sicher war er
sich seiner Sache nicht. Alles hing davon ab, was seine
Männer getan hatten. Wenn sie bei Losbrechen des
Tumults in Panik geraten und geflohen waren, oder
den Fehler begangen hatten, sich der Übermacht unter
Deck entgegenzuwerfen, um ihrem Kommandanten zu
helfen, dann standen die Chancen jetzt verdammt
schlecht.
Wenn sie aber klug waren und abwarteten, um eine
Befreiung zu versuchen, wenn sich die ganze
Aufregung wieder gelegt hatte, dann mußten sie nun
auch das Pochen hören.
Lange Augenblicke vergingen, während Jaggar
einen aussichtslosen Kampf an der Tür focht. Die
Männer draußen hatten sich darangemacht, in
unregelmäßigen Abständen gemeinsam an der Tür zu
reißen, so daß sie immer ein Stück aufruckte, aber doch
nicht weit genug.
Plötzlich ließ Jaggar los. Die Tür flog krachend auf.
Die Männer kullerten aufbrüllend in die hinter ihnen
stehenden Gefährten. Der Schwung fegte die halbe
Belegschaft zu Boden. Noch bevor sie dazu kamen, sich
aufzurappeln, versorgte Jaggar sie mit drei der
schweren, vollen Ölfässer. Schmerzensschreie drangen
in den Lagerraum.
Da endlich wurde das Klopfen des Kommandanten
erhört. Die Luke über ihm knarrte und hob sich ein
Stück. Aber statt der helfenden Hände Daraqs und
Qarins kam ein Enterhaken herab, hieb dem
Kommandanten auf die in der Öffnung
festgeklammerten Fäuste, daß dieser schreiend den
Halt verlor und in den Laderaum zurückfiel. Dann
schloß sich die Luke wieder.
Fluchend schnappte er eines der Fässer, um Jaggar
zu Hilfe zu eilen. Aber in der Enge des Türbereichs
kam er damit nicht an Jaggar vorbei, der alle Hände
voll zu tun hatte, sich die Leute der Seehexe vom Leibe
zu halten.
Noch sah alles recht unblutig aus. Es war eine
Rauferei ganz nach ihrem Geschmack, und keiner hatte
eine Waffe bei sich, als sie aus ihren Kojen waren.
Aber es gab keinen Zweifel darüber, daß hier kein
Entkommen mehr war.
Der Kommandant zwängte sich an Jaggar vorbei,
der einen Bewußtlosen wie einen Schild vor sich hielt
und damit die meisten Schläge abfing.
Er entriß einem der Angreifer die Fackel. Er
schwang sie und stieß damit zu, daß die Funken
stoben, und die Männer aufbrüllend zurückwichen.
Das war der erste Schritt zu einem Gemetzel. Nun
war es keine Prügelei mehr. Die Angreifer erstarrten
einen Augenblick. Manche Hand fuhr an den nicht
vorhandenen Gürtel und die nicht vorhandene Waffe.
Sie erinnerten sich wieder, daß sie aus dem Nachtlager
gesprungen waren, und daß es sie den Kopf kosten
wurde, wenn der Gefangene des Königs entkam.
Jaggar und Moraq waren bereits mitten unter ihnen,
auf halbem Weg zur Treppe, die an Deck führte, als sie
aus ihrer Starre erwachten und mit einem
vielstimmigen Wutschrei auf die beiden eindroschen,
als gelte es, eine gefährliche Bestie zu erschlagen.
Der Kommandant sah, wie Jaggar zu Boden ging.
Auch an seinen Armen klammerten sie sich fest. Die
Fackel drohte ihm zu entgleiten.
Aber instinktiv erkannte er, daß sie das Kostbarste
war. Die Männer hatten sein Gesicht gesehen und ihn
erkannt. Für ihn gab es keine Rückkehr mehr. Es sah
nicht aus, als ob Jaggar mit seinen Plänen viel Erfolg
haben wurde. Es blieb nur die Flucht oder der Tod,
wobei ersteres natürlich vorzuziehen war.
Er drehte sich mit einem gewaltigen Ruck herum
und ließ die Fackel kreisen. Für einen Augenblick war
er frei. Er wirbelte die Fackel, um sie sich vom Leib zu
halten. Einem loderte das Haar plötzlich auf, und seine
verzweifelten Löschversuche und sein Schreien lenkten
die Männer lang genug von Moraq und Jaggar ab, daß
es ihnen gelang, den Laderaum zu erreichen und die
Tür zuzuschlagen.
Mit Gebrüll stürzten die Seeleute hinterher und
versuchten die Tür erneut zu öffnen. Jaggar sprang
zurück und hob eines der Fässer.
Die Tür wurde aufgerissen, aber die Männer hielten
inne, als sie die Gefahr sahen, die wenigstens auf die
ersten von ihnen zukommen wurde. Dann kam eine
befehlende Stimme von weiter hinten.
Die Männer schlossen die Tür und schoben den
Riegel vor.
Jaggar ließ schwer atmend das Faß sinken und
stellte es mit dumpfem Poltern auf den Boden. »Wie
lange wird sie noch brennen?« keuchte er.
»Lang genug, um dieses Schiff anzustecken«,
erwiderte der Kommandant.
Jaggar schüttelte den Kopf. »Wir werden nichts
dergleichen tun, Freund. Wir würden sterben in dieser
Mausefalle ...«
»Das werden wir ohnehin. Für mich ist alles zu
Ende. Die Männer haben mich erkannt. Selbst wenn
wir hier fliehen, warten auf Pequa bereits die Schergen
auf mich. Ebensogut kann ich ...«
»Wir haben eine Chance«, unterbrach ihn Jaggar,
»wenn wir den König überzeugen und für uns
gewinnen können.«
Der Kommandant lachte freudlos. »Der König ist auf
unserer Seite. Das war deutlich genug zu sehen.
Wenigstens war er sehr nachdenklich während des
Gesprächs mit dir. Du hast ihm bereits die Augen
geöffnet. Aber der König vermag nichts gegen Serphat.
Er ist ihm zu Willen, so vollkommen, wie nicht einmal
ein Sklave zu sein vermag. Es ist, als ob Serphat mit des
Königs Mund reden würde. Er ist eine Puppe. Du
warst es nicht minder. Oder erinnerst du dich nicht
mehr daran?«
»Ich war ...?« begann Jaggar.
»Ja, ich sah es mit eigenen Augen. Du warst nicht
mehr du selbst. Du hättest dir einen Dolch in die eigene
Brust gebohrt, wenn er es gewollt hätte. Aber er hat
Pläne mit dir. Deine Beharrlichkeit, ihm an den Kragen
zu wollen, hat ihn beeindruckt!«
»Oh, ihr Götter«, stöhnte Jaggar. »Wie ist es
geschehen?«
»Erinnerst du dich an nichts, Kapitän?«
Jaggar saß grübelnd auf dem Faß und versuchte in
sich hineinzulauschen. »Doch«, sagte er dann. »Ich
erinnere mich, daß der König plötzlich erstarrte und
daß ich mein Geschick verfluchte, weil Serphat in der
Tür stand, und ich wußte, daß alles verloren war ...«
»Und dann?« fragte Moraq.
Jaggar dachte eine Weile nach. Schließlich schüttelte
er den Kopf. »Ich wachte hier auf – verschnürt und
halb erstickt von einem Knebel. Aber genug davon. Ich
will es später noch genauer hören. Jetzt müssen wir
sehen, daß wir hier verschwinden.«
Moraq lachte erneut. »Ich schätze Humor, mein
Freund. Und ich bereue auch nicht, was mich in diese
Lage gebracht hat. Seit ich im Palast sah, welche
Teufelei im Gange ist, fühlte ich nur eines. Ich wollte an
deiner Seite kämpfen, mein Freund. Wie in den alten
Zeiten. Aber nun, da es vorbei ist ...«
Jaggar unterbrach ihn grinsend. »Wie in den alten
Zeiten. Wenn es nach dir gegangen wäre, wären wir
schon ein Dutzend Tode gestorben. Schluß damit. Aber
ich bin verdammt froh, daß du hier bist. Komm, wir
wollen uns umsehen, so lange sie uns Zeit dazu lassen.
Diese Lagerräume können manche Überraschung
bergen, wenn man Licht hat und sich umsehen kann.
Nur eines werden wir hier nicht finden- Schwerter. Sie
haben die Handwaffen in der Waffenkammer, und die
ist am Heck bei der Kapitänskajüte. Bist du allein
gekommen?«
Die Zuversicht Jaggars färbte auch auf Moraq ab.
»Nein«, berichtete er. »Ich hatte zwei Männer dabei. Sie
ließen eines der Boote zu Wasser, als ich nach unten
kam. Wir haben einen Segler ein gutes Stück östlich in
einer Bucht. Dort müßten wir hin ...«
Jaggar nickte. Er winkte Moraq zu, mit der Fackel
näher zu kommen. Als der herankam, durchwühlten
sie die Ladung, die in der Hauptsache aus Tauen, Öl
für die Lampen und zum Tränken der Katapultballen,
Pfeile, Enterhaken, Fackeln ...
Jaggar nahm einige der Fackeln und entzündete sie.
Er hing sie in die vorgesehenen Halterungen, von
denen es drei im Laderaum gab. Er lachte, als der
Raum mit blendender Helligkeit gefüllt war.
»Nicht viel Brauchbares auf den ersten Blick,
abgesehen von der gefüllten Speisekammer. Es kann
nicht schaden, sich zu stärken.« Damit deutete er auf
den Berg von Mehlsäcken, die großen Krüge mit
Oliven, Hammelfett und allerlei anderen Dingen, die
der Koch für eine lange Reise brauchen würde.
Darüber hing Reihe um Reihe von Räucherfleisch und
Fisch, die einen appetitanregenden Duft verbreiteten.
»Wäre doch schade, das alles anzuzünden«, grinste
Jaggar. »Komm nur. Es wird schon keine
Henkersmahlzeit sein.«
Moraq reichte Jaggar seinen Dolch. Bald saßen die
beide kauend.
»Wie lange, denkst du, haben wir Zeit?« fragte
Moraq.
Jaggar zuckte die Achseln. »Kommt darauf an, ob sie
jemanden in den Palast geschickt haben, oder ob wir
ihnen hier sicher genug sind. Ich denke, daß im
Augenblick keine Maus ungesehen vom Schiff könnte.
Vermutlich wird auch auf der Sturmjungfer inzwischen
alles wach sein. Ich weiß nicht, welche Schiffe sonst
noch nah genug liegen. Deine beiden Männer müssen
verdammtes Glück gehabt haben, wenn sie ungesehen
davongekommen sind.«
Der Kommandant nickte stumm.
»Jedenfalls«, fuhr Jaggar fort, »werden sie nichts
gegen uns unternehmen, solange der König nicht
entschieden hat. Wir sind viel zu wichtige Gefangene.
Wir haben also Zeit genug, uns etwas auszudenken.«
»Deine Ruhe möchte ich haben«, erwiderte Moraq.
Jaggars Heißhunger schien ihn anzustecken. Das
Kauen drängte in der Tat die Gefahr ein wenig in den
Hintergrund.
»Was tun wir?« fragte er. »Schon eine Idee?«
»Wir warten«, erklärte Jaggar. »Die Chancen stehen
dafür, daß sie die Wachen verstärken und sich wieder
schlafen legen. Und früher können wir nichts tun.« Er
sah sich um, die fetten Finger an seinen Kleidern
abwischend. »Hier muß doch irgendwo ...« Er begann
einen Stapel Fässer zu untersuchen. »Das kann doch
nicht alles Öl sein«, murmelte er dabei. Moraq
wunderte sich, was er suchte.
»Ah, hier«, meinte Jaggar zufrieden. Er rollte ein Faß
nach vorn. »Gib mir eins der Eisen her.«
Moraq gab ihm einen der Enterhaken. Im Nu hatte
Jaggar das Faß offen. Er schöpfte ein wenig der roten
Flüssigkeit heraus und trank aus der hohlen Hand.
»Ah, bester Wein aus Balava. Wenn mich nicht alles
täuscht, einer, den ich selbst gebracht habe.« Er
ermunterte Moraq zu trinken. »Es hat seine Vorteile,
auf dem Schiff des Königs eingesperrt zu sein. Was
denken diese Narren sich eigentlich, uns in ihre
Speisekammer zu sperren.«
Nach einigen kräftigen Schlucken sah alles schon
wesentlich anders aus. Es war nicht die
unangenehmste der Gefangenschaften.
Und der Tod stand ohnehin in Aussicht – früher
oder später!
Moraq deutete mit einem Stück Dörrfisch nach oben.
»Denkst du, daß vor der Luke einer steht?«
»Darauf kannst du deinen Kommandantenposten
verwetten«, meinte Jaggar.
Moraq zuckte die Achseln. »Um den ist es ohnehin
schlecht bestellt.«
»Du siehst natürlich schon wieder schwarz. Wer soll
dich schon gesehen haben? Im Fackellicht?«
»Einer genügt«, brummte Moraq bitter.
»Pah, keiner könnte es beschwören. Wenn
überhaupt einer auf den Gedanken käme, daß der
Kommandant von Pequa nachts auf Schiffen
herumstrolcht, um des Königs Gefangene zu befreien.«
Er lachte.
»Nicht so laut!« zischte Moraq. »Sie können uns
durch die Kajütenwand hören. Also, was tun wir? Ich
halte das Herumsitzen nicht mehr aus!«
Er sprang auf und schritt unruhig auf und ab.
»Setz dich!« sagte Jaggar. »Setz dich und hör mir
zu.«
Er wartete, bis Moraq wieder saß. »Mit einigem
Glück haben wir Gelegenheit für einen
Ausbruchsversuch. Für einen einzigen. Wenn er
mißlingt, werden sie entweder kurzen Prozeß mit uns
machen, oder uns so bewachen und lahmlegen, daß
wir keinen Finger rühren können, ohne daß sie es
merken. Das ist auch dir klar, nehme ich an?«
Der Kommandant nickte zögernd. »Er kann aber nur
gelingen«, fuhr Jaggar fort, »wenn wir nicht die ganze
Meute gegen uns haben. Also wiegen wir sie in
Sicherheit. Je mehr von den Kerlen sich wieder schlafen
legen, desto besser stehen die Chancen für uns.
Gut, ich sehe, das leuchtet dir ein. Ich kann mich auf
mein Gehör noch immer recht gut verlassen. Wenn
mich nicht alles täuscht, sind noch fast alle auf den
Beinen. Es wäre also noch viel zu früh für einen
Versuch. Außerdem war mir, als hätte ich Schritte über
dem Laufsteg gehört. Jemand ist von Bord gegangen.
Das kann nur bedeuten, daß sie den König holen. Er
wird eine Mordswut im Bauch haben, aber er wird
kommen ...«
»Und Serphat wird kommen«, unterbrach ihn der
Kommandant bleich.
Jaggar nickte. »Mit ziemlicher Sicherheit.«
»Dann sind unsere Chancen recht gering.«
»Das würde ich nicht sagen«, widersprach Jaggar.
»Unsere Chancen steigen schon gewaltig dadurch, daß
der König an Bord kommt, selbst wenn der Priester ihn
in seiner Gewalt hat. Haben wir erst den König in der
Hand, wird keiner wagen, die Waffe gegen uns zu
erheben ...«
»Du vergißt Serphats magische Kräfte, seine Macht,
die er über andere hat. Er hatte dich schon einmal in
seiner Gewalt. Das mag wieder geschehen. Mit dir und
mit mir.«
»Das ist das Risiko, das wir eingehen müssen,
Moraq. Ich sagte nicht, daß es leicht sein wird. Aber
wir haben das Feuer, und vielleicht die Überraschung
auf unserer Seite. Feuer ist etwas, das der Priester
fürchtet. Vielleicht das einzige. Da verliert er die
Kontrolle über sich, erst recht über andere. Wenn wir
ihn gleich vom ersten Augenblick an damit aus seiner
Fassung bringen, dann wird er gar nicht dazu
kommen, seine magischen Kräfte auf uns zu richten.
Wir müssen es ganz einfach wagen. Und ich werde
nicht ohne König Jellis hier verschwinden. Was dann
geschieht, liegt in der Hand der Götter.«
2.
Es dauerte nicht lange. Während sie noch dabei waren,
einige der schweren Wurfgeschosse für die Katapulte
auseinanderzunehmen und das brennbare Material zu
kleineren, leichteren Bündeln zu schnüren und mit Öl
zu tränken, vernahmen sie Hufgeklapper am Kai.
Gleich darauf eilige Schritte auf der Laufplanke und
schließlich Tumult an Deck.
»Der König ist an Bord«, flüsterte Jaggar. »Jetzt wird
es ernst.«
Der Kommandant nickte.
Sie rollten die Ballen zur Tür, den größten, um ihn
dazwischenzuklemmen, wenn sie sich öffnen sollte, die
anderen, um sie anzuzünden und hinauszuwerfen.
Alles hing vom Überraschungsmoment ab und davon,
ob der König für sie erreichbar war.
Sie wußten, diesmal würde es keine Rauferei geben.
Dieses Mal starrte da draußen alles vor Waffen.
Der Ruhe nach zu schließen, wurden die
Ankömmlinge von der Lage in Kenntnis gesetzt.
»Warum der König sich unseretwegen in seiner
Nachtruhe stören läßt und die Mühe nicht scheut, um
diese Zeit an Bord zu kommen, will mir nicht recht
einleuchten«, murmelte Moraq.
Jaggar nickte. »Nun bist du es, der den
Schlangenpriester vergißt. Er mag sich den König zum
Sklaven gemacht haben und vielleicht noch zwei oder
drei andere, aber nicht die ganze Bruderschaft des
Großen Meeres. Er mag sie leicht überzeugen von
seinen Plänen, besonders mit Hilfe des Königs, aber er
kann sich keine Aufwiegler unter den Kapitänen
leisten, die den Spieß wieder umzudrehen versuchen,
sobald er mit anderen Dingen beschäftigt ist. Daß
jemand versucht hat, mich zu befreien, noch dazu
jemand in der Uniform der Soldaten des Königs, das
muß ihn verdammt bedenklich stimmen. Hoffen wir,
daß es ihn nicht entmutigt, wenn unsere Flucht gelingt,
und daß er der Intrigen müde wird.«
»Was meinst du damit?«
»Etwas scheint ihn nach Myra zu treiben – um jeden
Preis.
Er könnte es mit Gewalt versuchen, wenn es mit List
nicht klappt. Ich weiß nicht, welcher Dinge er mit
seinen Kräften fähig ist, aber die Götter mögen uns
davor bewahren ... Still, sie kommen ...!«
Schritte kamen die Treppe herab. Unverständliches
Flüstern folgte.
»Halte dich aus der direkten Sicht«, zischte Jaggar
und winkte seinen Gefährten ungeduldig zur Seite.
Moraq begab sich seitlich an die Tür. So konnte ihn erst
jemand bemerken, wenn er im Raum stand.
»Jaggar!« rief jemand dicht vor der Tür.
Es war die Stimme des Königs. Sie klang befehlend.
Jaggar grinste. »König?« erwiderte er.
»Ich komme ’rein!« rief König Jellis. An seiner
Stimme war schwer abzuschätzen, ob und wie stark er
unter Serphats Einfluß stand.
»Nein«, widersprach Jaggar. »Ich komme ’raus!
Oder es fließt Blut!«
Einen Augenblick war Schweigen. Schließlich
stimmte der König zu. »Welche Bedingungen stellst
du?«
Jaggar atmete auf. Man schien da draußen nicht auf
einen Kampf erpicht. Man wollte ihn lebend. Blieb
noch herauszufinden, warum.
»Schick die Männer fort. Laß ein Boot zu Wasser.
Wir gehen an deiner Seite von Bord. Ich will nur eine
Unterredung mit dir, mein König. Allein – ohne
Serphat!«
Wieder war eine Weile Stille, in der die beiden
Gefangenen mit angehaltenem Atem lauschten.
Schließlich sagte der König: »Du verlangst viel!«
»Ich bin nicht irgendeiner, mein König. Es gab eine
Zeit, da genoß ich dein Vertrauen.«
»Das ist noch immer so, Jaggar.«
»Warum zögerst du dann, König?«
Hastiges Flüstern folgte, als jemand auf den König
einzureden versuchte. Aber Jellis unterbrach ihn mit
einer barschen Bemerkung. Dann hörten sie, wie er
Befehl gab, an Deck zu gehen und das Boot ins Wasser
zu lassen.
Grinsend wandte sich Jaggar an Moraq. Dieser
schüttelte den Kopf. Er schien es nicht zu fassen. »Es ist
ein Trick«, warnte er.
»Mit ziemlicher Sicherheit«, stimmte Jaggar zu.
»Aber was macht das schon? Wenn wir erst von hier
draußen sind und in dem Boot sitzen, sind unsere
Chancen gewaltig gestiegen ...«
»Es wird keine Reling im Umkreis geben, die nicht
von gespannten Bogen, starrt. Es wird ein
Preisschießen geben, und wir werden gespickt sein wie
das Nadelkissen einer Jungfer.«
»Nicht mit dem König im Boot«, beschwichtigte
Jaggar ihn.
»Es ist alles bereit, Kapitän«, rief Jellis. »Ich öffne
jetzt.«
Gleich darauf ging die Tür auf. Der König stand
davor. In seinem Gesicht war wenig Freundlichkeit.
»Wo ist Serphat?« fragte Jaggar.
»Im Palast«, erwiderte der König. »Aber wir sollten
keine Zeit vergeuden und den Augenblick nutzen, der
uns gegeben ist.« Es klang beinah bittend. Jaggar sah
den König verwundert an. Dann winkte er Moraq, der
zögernd ins Licht trat und dem König unsicher
entgegenblickte. Der König musterte ihn kurz und
nickte.
»Gehen wir?«
Jaggar nickte. Sie nahmen den König in die Mitte
und schritten den leeren Korridor entlang.
»Ohne Fackel!« bestimmte Jaggar, als sie die Treppe
erreichten. Er löschte beide. »Je weniger dein Gesicht
erkennen können, desto besser. Und sie werden nicht
wissen, wer von uns der König ist. »Gib mir deinen
Mantel, mein König.« In der Dunkelheit schlüpfte
Jaggar in den Mantel.
»Du bist ein umsichtiger Mann, Jaggar«, bemerkte
Jellis.
»Das ist der Grund, warum ich noch lebe«,
erwiderte Jaggar ironisch.
»Ich hätte auf dich hören sollen, nicht wahr?«
Jaggar gab keine Antwort. »Vorwärts jetzt.«
Sie schritten die Treppe hoch, langsam, fast
unbekümmert. An Deck stand die gesamte Besatzung,
mehr oder weniger verborgen. Ein Mann kam ihnen
entgegen. Ein wenig furchtsam, wie es schien. Er
deutete auf die Reling vor ihnen. »Das Boot wartet,
Erhabener.« Dabei glitt sein Blick ein wenig zu
forschend über die drei. Er hob die Hand, und es
schien Jaggar wie ein Zeichen. Rasch faßte er den Mann
am Arm. »Du kommst mit, mein Freund.« Es war auch
um Moraqs willen, denn der Mann war nahe genug
gewesen, um ihn zu erkennen.
»Aber Kapitän ...«
»Keine Widerrede!« Er schob ihn zwischen Moraq
und den König. Sie erreichten die Reling. Jaggar warf
einen Blick nach unten und sah beruhigt das Boot im
Wasser.
»Geh voran«, befahl er dem Bootsmann.
Als der unten war, folgte Moraq. Danach der König
und zum Schluß Jaggar. Es war dunkel unten im Boot.
Der Bootsmann und Moraq griffen zu den Rudern und
stießen das Boot von der Bordwand ab.
Jaggar runzelte die Stirn, während er die
entschwindende Seehexe nicht aus den Augen ließ. An
Deck begannen immer mehr Fackeln aufzuleuchten.
Auch zwei der in der Nähe verankerten Schiffe hatten
eine Menge Licht an Bord.
»Aus dem Hafen, und dann nach Osten, der Küste
entlang«, wies Moraq den Bootsmann an.
Jaggar fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Es war
alles zu glatt gegangen. »Wo ist Serphat?« fragte er den
König noch einmal.
Der König lächelte beruhigend. »Im Palast.«
Irgendwie war alles falsch, durchfuhr es ihn
plötzlich. Der König war zu freundlich, zu bereitwillig.
Angst durchzuckte ihn, aber nur für einen Augenblick,
dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Es galt, das
Gesicht zu wahren.
Die beleuchteten Schiffe waren inzwischen weit
genug weg, daß ihr Licht sie kaum noch erreichte. Die
Hafenausfahrt lag vor ihnen. In der Lautlosigkeit der
Nacht war nur das Plätschern der Ruder in dem
ruhigen Wasser zu vernehmen. Links und rechts ragten
die dunklen Kolosse der verankerten Schiffe in den
Himmel. Auf ihnen war alles still. Ihre Besatzungen
schliefen den letzten Schlaf im Heimathafen für eine
lange Zeit. Sobald der Morgen graute, würden sie
aufbrechen nach Myra, und manch einer würde nicht
mehr zurückkehren.
Die Deckwachen schienen das kleine Boot nicht zu
beachten.
Außerhalb des Hafens bogen sie nach Osten ab. Die
beiden Ruderer keuchten bereits vor Anstrengung.
Jaggar löste Moraq ab.
»Noch weit?«
Moraq schüttelte den Kopf. »Nein. Hier kommt
gleich eine Bucht. Wir gehen an Land und zu Fuß
weiter.«
Kurze Zeit später erreichten sie die Bucht und
stiegen aus. Seltsamerweise erhob der König keinen
Einwand, obwohl ihm bereits klar sein mußte, daß es
nicht mehr um eine Besprechung ging, sondern um
eine Entführung. Aber trotz seines Mißtrauens schrieb
Jaggar es der Tatsache zu, daß Jellis sich vielleicht frei
fühlte vom Joch des Priesters und hoffte, auf diese Art
selbst entfliehen zu können. Das mochte vieles
erklären, das Jaggar mit Mißtrauen erfüllte.
Nicht weit entfernt sahen sie undeutlich ein zweites
Boot.
»Meine Begleiter sind hier in der Nähe«, erklärte
Moraq. »Es muß ihnen im Hafen zu gefährlich
geworden sein.«
Tatsächlich tauchten gleich darauf Daraq und Qarin
aus der Dunkelheit der Felsen auf und begrüßten ihren
Kommandanten und Jaggar freudig. Erst einen
Augenblick später erkannten sie, daß auch der König
dabei war, und sie schienen zu erkennen, daß sie an
einer verdammt wichtigen Sache beteiligt waren.
Die Gruppe bewegte sich unter Moraqs Führung
einen schmalen Fischerpfad entlang. Jaggar bildete
hinter dem König den Abschluß, während Moraqs
Männer den Bootsmann der Seehexe in die Mitte
genommen hatten, um ihn im Auge zu haben.
Wenig später erreichten sie eine felsige Bucht, in der
Moraqs Küstensegler ankerte. Sie waren am Ziel.
Noch immer stellte der König keine Fragen. Und das
war irgendwie beunruhigend. Sie begaben sich an Deck
und lichteten Anker. Vier weitere Männer Moraqs
bedienten die Ruder und lenkten die Schaluppe hinaus
aus der Bucht. Das Segel wurde ausgerollt. Der Wind
war nicht sehr günstig, aber Moraq war zuversichtlich,
daß sie durch geschicktes Kreuzen Pequa in einer
guten Stunde erreichen konnten, lange bevor der
Morgen graute. Niemand würde Verdacht schöpfen.
Aber als das Boot leicht gegen den Wind nach
Westen stieß, gab Moraq plötzlich völlig gegenteilige
Befehle, die selbst seine Männer verwirrten, denen sie
aber nachkamen, als er sie mit Nachdruck wiederholte.
»Kurs auf den Hafen!«
»Was?« entfuhr es Jaggar, der die ganze Zeit über
den König nicht aus den Augen gelassen hatte.
»Zurück zum Hafen«, wiederholte Moraq fest. Dann
rief er Daraq und Qarin zu sich und deutete auf Jaggar.
»Nehmt ihn fest!«
»Bist du verrückt!« rief Jaggar.
Daraq und Qarin zögerten. Sie verstanden nicht, was
das alles sollte. Schließlich waren sie
hierhergekommen, um Jaggar zu befreien.
In der Dunkelheit war nicht viel zu erkennen, aber
Jaggar fühlte, daß mit Moraq etwas nicht stimmte.
Seine Stimme klang ... irgendwie leblos.
Jaggar wandte sich dem König zu, der reglos an der
Reling stand, den Blick auf Moraq gerichtet.
Jaggar dämmerte, was vor sich ging, und in diesem
panischen Begreifen tastete etwas nach seinem
Verstand. Sein Kopf ruckte hoch, während Daraq und
Qarin auf ihn zukamen. Er kümmerte sich nicht um sie,
er sah nur des Königs Gesicht vor sich, das in der
Dunkelheit wie das eines Dämons war – im
Widerschein einer unirdischen Glut der Augen.
Das war nicht der König! hämmerten Jaggars
Gedanken. Das war Serphat!
Daraq und Qarin waren nicht die Feinde, die er
fürchten mußte. Sie nahmen ihn an den Armen in ihre
Mitte, aber sie hielten ihn nicht zu fest. Sie wußten
immer noch nicht, was nun eigentlich vorging.
Jaggars Gedanken drohten zu verschwimmen, als
Serphat mit seinen Kräften nach ihm griff. Von Panik
erfüllt, riß er sich aus Qarins Griff los und stieß Daraq
auf den vermeintlichen König zu. Dabei zog er mit
einem raschen Griff den Dolch aus seinem Gürtel.
Jellis-Serphat hatte einen Augenblick Mühe, von
dem Anprall des stürzenden Mannes nicht über die
Reling geworfen zu werden. In dem Maß, in dem er
mit sich selbst beschäftigt war, ließen die Kräfte nach,
mit denen er Moraq in seiner Gewalt hatte und Jaggar
zu fassen versucht hatte.
Während Moraq noch dabei war, die Benommenheit
abzuschütteln, sprang Jaggar vor, auf den taumelnden
König zu, nur von einem Gedanken beseelt, ihm keine
Chance zu geben, seine Kräfte noch einmal gegen sie
anzuwenden.
»Feuer!« brüllte er. »Bringt Fackeln!«
Er stieß Jellis-Serphat im vollen Schwung seines
Ansturms zu Boden und bohrte ihm mit beiden
Händen den Dolch mitten in die Brust.
Ein Zucken ging durch die Gestalt unter ihm. Dann
kam ein Lachen aus des Königs Kehle, das nur ein
Irrsinniger in dieser Lage hervorzubringen vermochte.
Es war schwanger von Spott und Verachtung. Aber es
überzeugte auch Moraq von der Gefahr, in der sie
schwebten. Vielleicht erkannte er in diesem Augenblick
noch nicht die volle Wahrheit wie Jaggar, aber er
spürte die Gefahr, und das Entsetzen ließ ihn handeln.
»Feuer! Rasch!« rief er.
Qarin sprang unter Deck, völlig verwirrt. Aber der
Gedanke an Feuer und damit Licht verlieh ihm Flügel.
Doch es dauerte endlos, bis der Funke endlich zündete
und die erste Flamme an der Fackel in seinen
zitternden Händen hochzüngelte.
Daraq sprang instinktiv dem König zu Hilfe. Aber
während er dabei war, Jaggar hochzureißen, sah er
verblüfft, wie Moraq mit einem Enterhaken auf den
König einschlug, daß der Schädel aufklaffte. Und mit
noch mehr Verblüffung sah er, daß die Gestalt nicht
starb, sondern sich wand und einen unmenschlichen
Laut ausstieß, der ihm schier das Herz gefrieren ließ.
Dann kam Qarin an Deck und brachte Helligkeit. Im
flackernden Licht sahen sie mit Grauen, daß kein
Tropfen Blut aus den Wunden des Königs sickerte, und
daß der graue Stoff seines Körpers von eigener
Lebendigkeit war. Die Züge zerrannen wie Teig und
verloren alle Ähnlichkeit mit dem König.
Der Schädel einer Schlange formte sich. Ein runder
Leib reckte sich hoch.
Moraq überwand sein Entsetzen. Oder es war das
Entsetzen, das ihm Kraft gab. Er sah, wie Jaggars Dolch
immer wieder in den grauen Körper fuhr, wie die
Wunden sich schlossen, wie Jaggars Kraft erlahmte. Er
riß Qarin die Fackel aus der Hand und bohrte die Glut
in den Rachen des Ungeheuers, das kreischend
zurückwich und über die Reling fiel. Als die
klatschenden Fluten sich schlossen, erstickte das
Kreischen.
Die Stille an Bord war unnatürlich. Sie schmerzte in
den Ohren. Erst nach einem Augenblick ließen das
Entsetzen und die Anspannung in den Männern nach.
Moraq sah, daß Jaggar sich nicht regte. Er griff nach
ihm und zog erschrocken seine Hand zurück. Jaggar
war kalt wie Eis.
»Wir brauchen mehr Licht«, rief Moraq.
»Es wäre besser unter Deck, Kommandant. Die
ganze Flotte sieht, wo wir ...«
»Dann haben sie die eine bereits gesehen. Rasch.«
Während er Daraq die eine Fackel zum Halten gab,
rollte er Jaggar auf den Rücken. Erleichtert erkannte er,
daß der Kapitän schwach atmete und nur bewußtlos
schien.
Wasser spritzte weit hinter dem Boot in der
Dunkelheit, als tauchte ein großer Fisch aus den Fluten.
Die Männer erstarrten. Sie dachten alle nur eines:
Wer oder was immer sie eben noch an Bord bekämpft
hatten, war noch nicht tot. Es eilte hinter ihnen her.
Qarin kam mit einem Arm voll Fackeln. Er hatte
unter Deck das Platschen nicht gehört, aber er sah die
Männer erstarrt nach dem Heck blicken. Etwas
Dunkles bewegte sich in der Luft.
»Kommandant!« rief er. Er sprang mit den Fackeln
auf sie zu und entzündete mit fliegender Hast eine
nach der anderen. Als er bei der vierten angelangt war,
erklang ein Rauschen über dem Schiff, und ein Wind
fegte über die kauernden Männer hinweg- ein Wind
wie von gewaltigen Flügeln. Sie starrten hoch. Einer
schrie auf vor Entsetzen.
Ein riesiger Vogel flatterte mit ausgebreiteten
Schwingen über dem Deck. Ein Geier! Und er senkte
sich mit schrillen Schreien herab, hackte mit dem
gewaltigen Schnabel nach den Männern, die hinter
Masten und Aufbauten Schutz suchten. Nur Jaggar lag
auf dem Deck. Er kam zu sich und richtete sich auf. Der
Vogel nahm ihn wahr und stürzte auf ihn los. Die
Krallen senkten sich herab.
»Ihr Götter!« entfuhr es Moraq. Mit dem Mut der
Verzweiflung verließ er seine Deckung und lief auf
Jaggar zu. Er schwang die Fackel, versengte den Flaum
des Gefieders am Bauch der Bestie. Diese wandte sich
mit schrillen Lauten dem neuen Widersacher zu.
Moraqs Fackel tanzte über das Gefieder, das Feuer fing
und den Vogel zu einem wütenden Tanz auf dem
schwankenden Deck veranlaßte. Quarin und Daraq
und noch zwei Männer, auch der Bootsmann der
Seehexe tauchten neben Moraq auf mit Fackeln in den
Händen. Der Schnabel hackte mitten unter sie, traf
einen, der mit einem spitzen Schmerzensschrei fiel.
Einer traf ein Auge des Vogels. Als das halbe Gefieder
brannte, flatterte er kreischend hoch, taumelnd. Dann
stieg er mit kräftigem Flügelschlag höher, und der
Wind löschte einen Großteil des Feuers. Dennoch sah
man ihn noch lange nach Süden, dem Land zu fliegen –
ein Fanal von Göttern oder Dämonen, das sich tief in
die Herzen jener brennen würde, die es sahen.
Jaggar kam taumelnd auf die Beine. »Was war das?«
Bleich antwortete der Kommandant: »Die Schlange
scheint nicht die einzige Gestalt zu sein, die er
anzunehmen vermag. Woher wußtest du, daß es nicht
der echte König war?«
»Als du Befehl gabst, zurück in den Hafen zu segeln,
kam mir der Verdacht ...«
»Ich gab was ...?« rief Moraq.
»Und mich festzunehmen«, fuhr Jaggar fort. »Deine
Männer hier werden es bestätigen.«
Daraq und Qarin nickten bestürzt.
»Dann war ich ... in seiner Gewalt ...?« murmelte
Moraq.
Jaggar nickte zustimmend. »Und ich war nahe
dran.« Er schwankte erschöpft. »Es ist nicht ratsam, ihn
zu berühren. Es ist, als ob das Leben ausfließt ...« Die
Männer stützten ihn. Er deutete vor den Bug des
Schiffes. »Das Schauspiel ist nicht unbemerkt
geblieben.«
Die Männer zuckten zusammen. Die gesamte Flotte
schien aus der nächtlichen Ruhe geweckt. Hunderte
flackernder Lichter verwandelten das Gebiet um den
Hafen in ein Feuermeer.
Der Kommandant fluchte. »Das hat uns noch
gefehlt. Hier kommen wir nicht unbemerkt vorbei.
Verdammt, was tun wir? Irgendwelche Vorschläge,
Käpt‘n?«
»Jaaahh«, meinte Jaggar gedehnt, und es klang wie
aus tiefster Seele ... weg von hier!«
»Wohin? Nach Pequa? Das dürfte schwierig sein ...«
»Gleich wie schwierig es auch ist, wir müssen hin.
Löscht die Fackeln. Wir segeln nach Osten und machen
einen weiten Bogen, und wenn wir den Rest der Nacht
rudern müßten gegen diesen Wind. Es ist ein guter
Wind, denn er wird die Flotte am Auslaufen hindern.
So bleibt uns noch ein wenig Zeit. Wir müssen zu
meinem Schiff. Es ist unsere einzige Chance, unseren
Kopf zu retten. Vielleicht ergibt sich später eine
Möglichkeit, noch etwas zu unternehmen. Auf dem
Weg nach Myra.«
Die Männer nickten beklommen. Sie wußten, sie
waren nun Ausgestoßene wie Jaggar.
Und sie hatten einen gewaltigen Feind. Aber es war
auch Triumph in ihren Herzen. Ihr Feind war nicht
allmächtig. Er hatte eine Schlappe erlitten.
Die zweite bereits, wenn die Berichte des Käpt‘ns
die Wahrheit waren.
Und sie zweifelten nicht daran.
Dunkelheit umfing sie. Die Schaluppe drehte ihren
Bug nach Osten und segelte neben dem Wind. Das
Lichtermeer verschwand in der Ferne. Sie waren bald
verloren in der Finsternis. Aber nun begann die harte
Arbeit. Als im Osten die Dämmerung den Himmel
emporkroch, rafften sie das Segel und ruderten nach
Nordwesten.
Sie hatten Glück. Der Wind drehte leicht, so daß sie
ohne große Mühe nach Nordwesten kreuzen konnten,
ohne mit der Flotte in Berührung zu kommen.
Als die Sonne aufging, waren sie ein ganzes Stück
nördlich von Pequa. Wie erwartet lief die Flotte nicht
aus. Der Wind war zu ungünstig.
Nicht für Moraqs Schaluppe, die gute Fahrt nach
Süden machte und sich vorsichtig Pequa näherte. Sie
bemerkten zwei Galeeren vor den Fischerdörfern. Ihre
Bedeutung war unschwer zu erraten. Sie ankerten
nicht, sie hatten die Ruder ausgelegt. Sie warteten.
Jaggar bangte um die Schwarze Wellenreiterin. Aber
als sie die Bucht erreichten, lag der Schnellsegler
friedlich vor Anker.
Sie verloren keine Zeit. Mit der Schaluppe im
Schlepp lief die Wellenreiterin aus- direkt vor die
Nasen der beiden Galeeren, die sofort einen Hagel von
Geschossen losfeuerten, der, bedingt durch die
Überraschung, verhältnismäßig harmlos verpuffte.
Keines der Segel wurde ernstlich beschädigt, und die
Brandpfeile kohlten nur die Decksplanken an. Zu
Katapultschüssen kam es nicht, weil diese
aufwendigen und kostbaren Werfer allesamt noch
dicht unter Segelplanen vertaut waren und erst kurz
vor Erreichen Myras der derben Seeluft ausgesetzt
werden sollten.
Auf der Schaluppe befanden sich die gefangenen
Seeleute aus Phelos. Jaggar ließ das Seil kappen, und
das Boot kam einer der Galeeren zwischen die Ruder.
Damit blieb nur mehr einer der Gegner. Der feuerte
eine zweite Salve ab, die beinahe das Focksegel in
Brand steckte. Dann machte sich jedoch die höhere
Wendigkeit und Schnelligkeit der Wellenreiterin
bemerkbar.
Die Galeere fiel zurück und gab bald darauf die
Verfolgung auf.
Wenig später war sie nur noch ein dunkler Punkt
am Horizont.
»Ah«, seufzte Jaggar. »Hier auf meinem Schiff fühle
ich mich endlich wieder wie ein Mensch. Die erste
Runde haben wir für uns entschieden ...«
»Ja«, meinte Moraq brütend. »Aber um welchen
Preis! Wir sind Ausgestoßene.«
»Wir werden es ändern, Freund«, erwiderte er
zuversichtlich. »Noch ist die Flotte nicht in Myra.«
3.
Im marmornen Königspalast hoch über dem Hafen
Myras währte eine Audienz weit über die
mitternächtliche Stunde. Die Gesichter der
Versammelten waren ernst.
Dragon, der König, saß am Kopfende des langen
Ebenholztisches in der privaten Audienzkammer im
Flügel der königlichen Gemächer. Er hatte den
Umhang mit dem myranischen Wappen achtlos von
den Schultern gestreift, und die Schnüre des weißen
Hemdes an der Brust offen. Es war heiß.
Die übrigen Anwesenden hatten nicht minder
zwanglos ihre Überwurfe abgelegt. Und der Inhalt der
Besprechung war auch nicht dazu angetan, die
Gemüter abzukühlen.
Alle bis auf zwei waren Vertraute des Königs. Da
war Partho, der Befehlshaber des Heeres, das östlich
der Stadt lagerte, und Cheron, Oberhaupt von Myras
kleiner Gruppe von Söhnen von Atlantis, sodann Yina,
ein Mädchen von siebzehn Sommern mit dem Gesicht
einer Maus und dem Geist einer Zauberin, denn sie
vermochte die Gedanken der Menschen um sie zu
lesen und so den König vor seinen Feinden zu warnen.
An des Königs linker Seite, ein wenig abseits vom
Tisch, saß Ubali, ein schwarzhäutiger Hüne mit einem
breiten, lebhaften, freundlichen Gesicht, der nicht nur
einmal an des Königs Seite gefochten hatte.
Die beiden Fremden waren ein junges Mädchen,
schwarzhaarig, mit einer seltsamen Glut in den
dunklen Augen, die in Dragon Erinnerungen an Arzan
Shor weckten. Sie hieß Selaqua und war eine Iquani.
Aber nur wenige wußten, was es bedeutete. Ihr junger
Begleiter ahnte es, aber er vermied es, darüber
nachzudenken. Sie war, wenn Kapitän Jaggar die
Wahrheit gesagt hatte, eine Tochter König Jellis – eine,
die er liebte und die er geheimhielt vor der Welt, weil
die Menschen in Candis nichts mehr haßten und
fürchteten als die Iquani.
Ihr Begleiter war Wigor, ein keine zwanzig Sommer
zählender Myraner aus Deyman, der auf eine
abenteuerliche Fahrt gegangen war, um eine verlorene
Braut zu suchen, und eine andere gefunden hatte.
Die Beratung drehte sich um eine Nachricht, die mit
den beiden Besuchern nach Myra gelangt war:
Daß dreihundert Schiffe von der Schlangeninsel
unterwegs waren, um Myra anzugreifen!
Eine ungeheure Flotte!
Eine, der Myra nichts Gleichwertiges
entgegenzusetzen hatte. Es blieb wenig Zeit. Zwei,
höchstens drei Tage. Mindestens aber einen. Myras
neue Verbündete, das Wasservolk der Tainu, hielt
Ausschau auf dem Meer und würde rechtzeitig
warnen, wenn die Flotte in Sicht kam. Von diesem
Augenblick an, da Yina die gedankliche Warnung des
Wasservolks empfing, würde noch ein voller Tag
vergehen, ehe die Segel von Jellis‘ Flotte vor dem
myranischen Horizont auftauchten.
Niemand in Myra außer den Versammelten wußte
etwas von der drohenden Gefahr. Aber Boten waren
bereits unterwegs, um die Kapitäne in den Palast zu
beordern und die Daikane, soweit sie noch in der Stadt
weilten.
Es war alles im Umbruch, alles im Aufbau. Der
Angreifer kam, gelinde gesagt: ungelegen.
Sie hatten Wigors Erzählung von der Flucht aus dem
nächtlichen Hafen von Candis gelauscht.
»Sagt mir eines, Herr Wigor«, wandte sich Yina an
den Erzähler, während Dragon nachdenklich die Stirn
runzelte. »Ihr berichtet von Kapitän Jaggar, als wäre er
ein Edelmann und nicht der Schurke, der Mädchen
raubt, mit seiner Besatzung wehrlose Dörfer überfällt
und Opfer für den Krokodilsteich des Königs der
Schlangeninsel beschafft ...«
»Ihr sprecht fast, als ob ihr ihn kennt, junges
Fräulein«, erwiderte Wigor mit der gezierten
Höflichkeit, wie sie in den südlichen Küstengegenden
Myraniens zur allgemeinen Galanterie gehört, die dem
Edelmann wie dem Bettelmann mit gleicher
Leichtigkeit von der Zunge floß.
»Ja, ich kenne ihn, ich war eine Gefangene auf
seinem Schiff ...«
»Und Ihr seid geflohen?« rief Wigor.
Yina nickte zustimmend, ein wenig verwundert
über sein seltsames Gebaren.
»Dann habt Ihr also dem Kapitän den Kopf
verdreht«, meinte Wigor mit einer Offenheit, die sie
erröten ließ. Alle wandten sich ihr interessiert zu, und
ihr Gesicht wurde noch dunkler.
»Ich hatte was ...?« entfuhr es ihr.
»Ah, verzeiht meine unbedachten Worte«, sagte
Wigor entschuldigend ... Aber es ist wahr, der Käpt‘n
war sehr angetan von Euch. Er sprach nur einmal von
Euch, aber Ihr habt einen tiefen Eindruck in seinem
Herzen hinterlassen, wie noch keine Frau zuvor. Und
glaubt mir, er kennt viele Frauen!«
»Er ist ein Schurke, ein Mörder, und sicherlich nicht
eines solchen Gefühls fähig, wie Ihr ...«
Wigor schüttelte den Kopf, und das Mädchen
verstummte. »Er ist kein Mörder. Ich fand keinen
faireren im Kampf. Und keinen besseren. Er ist ein
Dieb, ja, das weiß ich, und auch auf diesem Gebiet
leider einer der besten. Ein Pirat der Bruderschaft des
Großen Meeres ...«
Dragon sagte plötzlich: »Ich glaube, es gibt keinen
Zweifel darüber, wer dieser geheimnisvolle Priester
der Schlange ist. Was meint ihr?« Er nickte Partho und
Cheron zu.
»Cnossos«, erwiderte Partho ohne Zögern. »Er hat
wieder ein Heer gefunden, das er gegen uns zu Feld
schicken kann. Wird das nie ein Ende haben?«
»Wer ist Cnossos?« fragte Wigor.
»Wir nennen ihn den Gott der vielen Namen. Er
erscheint oft in Gestalt eines Geiers, und er besitzt
Kräfte über den Geist mancher Menschen, daß sie ihm
willige Sklaven bis in den Tod sind. Er hat nur ein Ziel:
das zu zerstören, was ich aufbauen will. Eine bessere
Zukunft, eine wie sie in meinen Erinnerungen und
Träumen ist. Eine, die selbst nach den Sternen greift.«
Letzteres hatte er mehr zu sich selbst gesagt. Dann
straffte er sich und schüttelte die Gedanken ab. »Er
kann die Gestalt jedes Menschen annehmen. Er tötete
Zamoc und kam in seiner Gestalt an den Hof König
Zogors. Und er hetzte Myranien in den Krieg gegen
Urgor. Er hat seine Tempel und seine Verbündeten
überall. Die Geschöpfe der Nacht sind es, die an seinen
Altären beten. Er ist ein Gott oder ein Dämon. Er ist
kein Mensch. Es gibt nur eine wirksame Waffe gegen
ihn, der sich jeder bedienen kann: Feuer!«
Wigor nickte hastig. »Dann sind Kapitän Jaggars
Gedanken richtig. Dieser Priester hat König Jellis in
seiner Gewalt!«
Dragon stimmte zu. »Unser alter Feind hat noch
immer nicht genug.«
»Aber laßt Euch nicht täuschen, erhabener König.
Wenn Ihr diesen Cnossos erledigt, ist noch nicht alles
abgetan. Auch ohne ihn hat der König der
Schlangeninsel ein Auge auf Myra geworfen. Nicht
Serphat oder Cnossos müßt Ihr schlagen, sondern die
Flotte. Und es ist etwas, das längst fällig ist, damit die
Menschen an Myraniens Küsten wieder frei atmen
dürfen. Jellis‘ Piratenbruderschaft ist von Tag zu Tag
frecher geworden und dünkt sich Herr über die Küsten
des Großen Meeres, von Balava bis zur Totenküste. Es
ist an der Zeit, daß jemand sie in ihre Schranken weist
...«
Dragon schüttelte den Kopf. »Wir haben einer Flotte
von dreihundert Schiffen nichts Vergleichbares
entgegenzusetzen. Wir können sie abwehren und
daran hindern, daß sie myranischen Boden betreten,
wenn wir wissen, wo sie zuschlagen. Aber von, in die
Schranken weisen, kann nicht die Rede sein. Und
gehörte nicht das Volk der Tainu zu unseren
Verbündeten, so könnte ein Überraschungsangriff der
Flotte empfindliche Wunden schlagen. Mein junger
Freund, ich fürchte, Ihr überschätzt die Schlagkraft
eines Reiches, das erobert worden ist. Wir haben die
Männer, gewiß. Aber uns fehlen Schiffe ...«
»Haben wir keine Verbündeten?« erwiderte Wigor
heftig.
»Doch«, gab Dragon zu. »Die Zunter sind auf
unserer Seite. Und die Katmahzari. Und Dan. Es würde
Wochen dauern, bis ihre Schiffe hier einträfen. Die
feindliche Flotte aber mag morgen nacht schon vor
Myra kreuzen.«
Wigor nickte nachdenklich. »Verzeiht, mein König,
daß ich so rasch mit der Zunge war und so langsam
mit dem Verstand ...«
Dragon lächelte. »Ihr seid ein mutiger junger Mann,
wenn alles seine Wahrheit hat, das Ihr mir erzählt habt.
Ich hoffe, Ihr werdet an meiner Seite kämpfen.«
»Ja, mein König«, erwiderte Wigor freudig, während
seine Begleiterin unwillig die Stirn runzelte, als hätte
sie andere Pläne gehabt.
»Issola meldet sich!« rief Yina plötzlich.
Die Umsitzenden sahen sie gespannt an. Es konnte
nur bedeuten, daß die Späher des Wasservolks die
Flotte gesichtet hatten.
»Ihre Beobachter sind noch weiter nach Süden
vorgedrungen. Von der Flotte noch keine Spur. Die
Winde sind sehr ungünstig. Aber sie können jederzeit
umschlagen. Inzwischen hat das Talatta beschlossen ...«
»Das Talatta?« unterbrach Wigor sie. »Um der
Götter willen, was ist das?«
»Ihre Regierung«, erklärte Yina geduldig. »Die
Runde der Seemütter. Es hat beschlossen, daß das Volk
der Tainu nicht nur eine passive Rolle von Beobachtern
und Spähern spielen wird. Zweihundert Männer
werden noch in der Nacht in Myra eintreffen- mit
wichtigen Schlachtplänen.«
»Sage ihr unseren aufrichtigen Dank, Yina.«
»Zweihundert nur«, meinte Wigor enttäuscht. »Als
sie uns vor dem Ertrinken retteten, als der Orkan uns
aus dem Boot schleuderte, und sie erfuhren, welche
Gefahr Myra drohte, da wollten sie mit vollen Kräften
zu Hilfe eilen ...«
»Unterschätzt sie nicht«, unterbrach ihn der König.
»Ihr müßt bedenken, daß sie ein sehr kleines Volk sind.
Ein paar tausend von ihnen mag es geben, sicherlich
nicht mehr. Aber das Wasser ist ihr Element. Auf See
wiegt einer von ihnen ein Dutzend myranische
Soldaten auf. In einer Schlacht auf See, wie sie uns
wahrscheinlich bevorsteht, sind sie die besten
Verbündeten, die wir finden können.«
Zum erstenmal meldete sich das Mädchen zu Wort:
»Diese Tainu können die Gedanken lesen, nicht wahr?«
»Nur ihre Frauen«, erklärte Yina.
Das Mädchen wurde ein wenig bleich, und Yina
merkte sich vor, bei nächster Gelegenheit Issola
darüber zu befragen, welches Geheimnis dieses
Mädchen umgab.
Nach und nach kamen die Kapitäne und Daikane in
den Palast, von den königlichen Boten aus tiefstem
Schlummer gerissen. Als sie die Neuigkeit erfuhren,
waren sie mit einem Schlage hellwach, besonders die
Kapitäne. Es gab eine tumultartige Unterredung, bei
der noch keine endgültigen Pläne gefaßt wurden. Man
wollte erst die Ankunft der Wassermenschen abwarten.
Dragon zweifelte nicht, daß Myra, die Stadt selbst,
das Angriffsziel sein würde. Vielleicht hätte König
Jellis andere, klügere Pläne gehabt. Aber nicht Cnossos,
der nur nach Vergeltung und der Vernichtung Dragons
dürstete. Es besaß also trotz allem Vorteile, daß
wiederum Cnossos ihr Gegner war. So kannten sie sein
Angriffsziel.
Dragon!
Wigor wurde immer wieder aufgefordert, von seiner
Flucht zu berichten. Aus seiner Erzählung gingen
einige wichtige Punkte hervor. Die Besatzungsstärke
der Segler zum Beispiel, die Wigor mit einer
Mindestzahl von zwei Dutzend anzugeben wußte. Bei
den Galeeren mußten es über drei sein, wenn man von
den Rudersklaven absah. Nahm man also an, daß ein
kleiner Teil der Schiffe als Last- und
Versorgungsschiffe dienten, so ergab sich noch immer
die stattliche Anzahl von fünfzig bis sechzig
Hundertschaften, die nach reicher Beute in Myra
lechzten. Das war eine mittlere Zahl. Es mochten
weniger, aber auch mehr sein.
Der Gedanke war alles andere denn erfreulich, vor
allem in Anbetracht der vergleichsweise dürftigen
Flotte, die Myra ihnen entgegenzusetzen hatte. Die
Kapitäne rauften sich die Haare. Nur Partho schien
zufrieden. Seine Rechnung war aufgegangen. Er hatte
es für günstiger befunden, mit der Entlohnung der im
Augenblick nicht benötigten Heereseinheiten zu
warten, bis der ständige Zustrom einstiger Soldaten
Zogors versiegte, die nun auch unter dem neuen König
dienen wollten, vor allem, weil sie nicht viel anderes
gelernt hatten als ein Schwert zu führen. So konnte er
eine bessere Auswahl für das stehende Heer von etwa
vierzig Hundertschaften treffen und einzelne
Bereitschaftstrupps in ihre Heimatprovinzen
entsenden, wo sie im Ernstfall das meiste leisten
konnten, weil sie mit dem Land vertraut waren.
Aber zur Entsendung war es noch nicht gekommen.
Das Heer setzte sich aus siebzig Hundertschaften
zusammen, ganz abgesehen von den zehn
Hundertschaften urgoritischer Soldaten, die ihren
Dienst als Wachen und Gardetruppen innerhalb der
Stadt taten.
Die Aufzählung der Kapitäne war weniger
ermutigend. Hundert Schiffe würden bis zum Abend
flott sein, viele von ihnen kleinere Segler, die nur
Zählwert hatten und keinen wesentlich strategischen.
Daran war auch in den nächsten Tagen nichts zu
ändern.
Daraus ergaben sich verschiedene Probleme. Das
Landheer war zu unbeweglich. Es nützte nur etwas,
wenn es gelang, die feindliche Flotte in Myra
festzunageln. Wenn diese jedoch erkannte, daß an
Land eine Übermacht harrte, würde sie Myra verlassen
und vielleicht an einer anderen Stelle der myranischen
Küste landen. Die Schiffe waren in jedem Fall rascher
als das Heer, das besonders im Süden des Reiches nur
schwerlich Wege nach Osten fand.
Es gab nur eine Möglichkeit: die feindliche Flotte in
eine Falle zu locken. Die Chancen dafür standen gut
genug, denn Jellis konnte nicht wissen, daß die
Wassermenschen Myra bereits einen ganzen Tag vor
Ankunft der Flotte zu warnen vermochten.
Jellis mußte glauben, ein völlig unvorbereitetes
Myra vorzufinden. In dem Glauben mußte man ihn
lassen, bis es zu spät war. Ihn und Cnossos.
Ein völlig friedliches, einladendes Myra mußte sich
den Augen der Feinde bieten und sie reizen, in den
Hafen einzufahren und die Stadt im Handstreich zu
nehmen.
Alle dreihundert Schiffe würden sicher nicht im
Hafen Platz haben, auch nicht in dem langen
Meeresarm bis Faraun. Aber das was draußen bleiben
mußte, damit würde die myranische Flotte fertig
werden.
Die Stimmung begann gewaltig zu steigen. Kurz vor
dem Morgengrauen kam eine Abordnung der
Wassermenschen, schlanke, hochgewachsene Männer
mit feingliedrigen Körpern und schulterlangem
weißem Haar. Seit Dragons Bündnis mit ihnen sahen
die meisten myranischen Bürger sie mit anderen
Augen. Waren sie vordem halb Legenden, halb
kinderverschlingende Seegeister gewesen, so hatte
ihnen die Tatsache, daß sie vor myranischen Schiffen
oft unvermutet aus den Fluten tauchten und ohne
Scheu ihren Gruß entboten, viel von ihrer Dämonie
genommen. Aber noch immer war es ein Ereignis,
ihnen gegenüberzustehen. So auch hier im Palast.
Einzig Wigor und Selaqua, die einige Stunden der
Erholung auf ihrer Insel zugebracht hatten, begegneten
ihnen völlig ohne Scheu. Und Yina natürlich, die durch
ihre fast artverwandte Gabe des Gedankenlesens längst
Freunde unter den Tainu gefunden hatte.
Ihre mächtigen Brustkörbe und die verkümmerten
Ohren, hinter denen die Kiemenöffnungen sichtbar
waren, sowie ihre blasse Haut bildeten einen
unglaublichen Kontrast zu den dunkelgebrannten,
untersetzten Bewohnern Myras.
Sie sprachen das Myranische ein wenig zischend,
und sie froren in der kühlen Nachtluft in ihren
spärlichen Hüllen aus Fischhaut. Dragon ließ ihnen
Mäntel geben. Das war ein erneuter Gegensatz zu den
heißblütigen Myranern und Urgoriten, denen die
Nachtluft keine Kühlung zu bringen vermochte.
Sie waren höflich und zurückhaltend und tief im
Innersten erfüllt von der jahrhundertealten Furcht des
kleinen Volkes vor einem gewaltigen Feind- dem
Festlandmenschen, der sie aus Unverstand fürchtete
und haßte und tötete.
Bis Dragon gekommen war. Aber die alten Ängste
erloschen nicht so rasch. Erst die Zeit würde die
Wunden heilen. Die Zeit und gemeinsame Gefahren,
die miteinander verbanden. Wie jetzt.
Sie waren Kinder des Meeres – und Meister des
Meeres.
Sie bereicherten Dragons Pläne und erhöhten seine
Zuversicht gewaltig.
Die Aufforderung des Königs, an seiner Seite zu
kämpfen, war so recht nach Wigors Geschmack. Er
hatte bereits begonnen, das Leben an Jaggars Seite zu
vermissen. Daran vermochte auch Sela nichts zu
ändern, obwohl er eine manchmal beinahe
schmerzliche Zuneigung für sie empfand. Er sehnte
sich nach ihr. Seit Tagen war er mit ihr zusammen, und
nie hatte sich die Gelegenheit ergeben, das zu tun,
wonach ihn seine seltsame Leidenschaft drängte, wenn
er das Mädchen nur anblickte. In ihren Augen glaubte
er zu sehen, daß auch sie nichts anderes mehr zu
wünschen schien.
Aber im Boot hatte sie der Sturm überrascht, und im
Sturm die Wassermenschen, die ihnen das Leben
retteten. Und seither hatte es wenig mehr als die
nötigste Ruhe gegeben.
Jetzt endlich, als die Audienz beim König vorüber
war, und Iwa, eine ältere Frau, ihnen Gemächer im
Palast anwies, in denen sie bis auf weiteres wohnen
sollten, damit Dragon sie jederzeit bei der Hand hatte,
wenn er Auskünfte brauchte, jetzt schien der
Augenblick gekommen, da er sie in die Arme nehmen
konnte.
»Du wirst nicht an des Königs Seite kämpfen, mein
Geliebter«, sagte sie drängend, als sie allein waren.
Er sah sie verblüfft an. »Aber warum, Sela? Es ist
eine große Ehre, für den König zu kämpfen ...«
»Und zu sterben, ich weiß.« Sie nickte. »Aber nicht
du. Wenn du kämpfen und sterben mußt, dann für
mich. Ich bin eine Iquani, die ihr Herz nur einem Mann
schenken ...«
Er nahm sie in die Arme. »Und seine Seele dafür
nehmen?« fragte er neckend.
Sie nickte ernst. »Du wirst nicht für den König
kämpfen. Nicht gegen meinen Vater ...«
Er starrte sie an. »Es geht gar nicht gegen deinen
Vater, sondern diesen Cnossos, dessen Sklave dein
Vater ist.«
Sie achtete nicht auf seine Worte. »Der König wird
mich als Geisel verwenden. Er weiß, daß ich Jellis‘
Tochter bin ...«
»Woher?«
Sie machte sich aus seinen Armen frei. »Hast du es
nicht gehört? Die Tainufrauen können die Gedanken
lesen. Sie wissen alles über uns- über das, was du über
uns beide weißt. Ich vermag mich dagegen zu
schützen. Alles aber, was du weißt, ist diesen
Fischweibern ein offenes Buch gewesen, in dem sie
eifrig geblättert haben. Diese Yina weiß inzwischen
sicher alles, was sie erfahren haben. Und was dieses
Mädchen weiß, erfährt der König. Du kannst dich
darauf verlassen. Wir sind keine Gäste hier im Palast,
sondern Gefangene. Und wir werden heute noch
fliehen.«
»Nein, Sela«, erwiderte er heftig. »Das werden wir
nicht. Ich habe keine Mühen gescheut, um
hierherzukommen und den König zu warnen ...!«
»Du hast ihn gewarnt. Genügt das nicht?«
»Nein, Sela, es genügt nicht. Es ist mein Kampf
ebenso wie der des Königs ...«
»Pah«, unterbrach sie ihn. »Des Königs! Er ist kein
myranischer König, hast du das vergessen? Er ist ein
Eroberer ...!«
»Und wenn schon«, sagte er ungehalten. »Er ist ein
guter König. Darin sind sich alle einig. Keiner von
diesen despotischen Teufeln, denen ein Menschenleben
nichts bedeutet. Wie es Zogor war. Und wie es dein
Vater ist ...!«
Überraschenderweise nickte sie »Es stimmt, was du
sagst. Aber eine Iquani wird sich niemals gegen ihr
Blut wenden, was es auch immer tut. Mein Geliebter,
du wirst dich entscheiden müssen ...«
»Zwischen dir und dem König?« fragte er und
schüttelte den Kopf. »Sela, das ist nicht dein Ernst ...«
»Ich will dich ganz. Ohne Myranien.« Sie sah
forschend in seine Augen, und er dachte, wie
wunderschön sie war. Der Gedanke kam so plötzlich
und lenkte ihn von seinen zwiespältigen Überlegungen
ab. Verlangen erfüllte ihn mit einer schmerzlichen
Heftigkeit.
Es war ihm fast, als könne er nicht mehr klar
denken.
»Armer Wigor«, murmelte sie und schlang die Arme
um ihn. Ihre Nähe hatte etwas Berauschendes. Und er
mochte den Blick nicht abwenden vom Wunder ihrer
dunklen Augen.
»Mein Liebster«, murmelte sie. »Komm. Für dich ist
schon längst entschieden.«
Er verstand nicht, was sie sagte. Es gelangte nicht in
seine trunkenen Sinne. Aber er begriff die Lockung
ihrer Arme, ihrer Lippen, ihres Körpers, der wie das
rollende Meer unter ihm war mit einem dunklen,
schimmernden Grund, in dem er sich verankert fühlte.
Immer aber ruhten ihre Augen auf ihm, und in all
der Leidenschaft, die er verspürte, hatte er das
beängstigende Gefühl, etwas zu verlieren.
Wider Erwarten gab es ein Emportauchen an Licht und
die Nüchternheit von Marmor und seidenen Decken,
kostbaren Teppichen und dem Lächeln Selas.
Er fühlte sich leer. Sein Blick fiel auf sein Schwert an
der Seite des Bettes, halb verdeckt von seinen Kleidern.
Er berührte es. Es fühlte sich kalt und fremd an.
Was war nur mit ihm los? Er drehte sich herum,
starrte an die Decke und kämpfte gegen die plötzliche
Furcht in seinem Herzen.
Aber erst Selas Gesicht, das sich zu ihm herabneigte,
löschte sie aus. Ihr schwarzes Haar berührte seine
Wangen, strich wie der sanfteste Wind darüber.
Sie küßte ihn. Wieder fingen ihre Augen die seinen
und hielten sie fest wie etwas Greifbares.
Instinktiv wußte er, was geschehen war, noch bevor
sie es sagte.
»Du gehörst nun mir, mein Liebster, das weißt du,
nicht wahr?«
»Ja«, sagte er tonlos.
»Du weißt auch, daß ich deine Seele habe, damit du
mir gehorchst, wo immer du bist, damit du meinen Ruf
hörst, wenn ich dich brauche, und damit unsere
Tochter nicht ohne Seele geboren wird ...«
»Ja, Sela, ich weiß es.«
Sie richtete sich auf. Ihre Finger strichen liebkosend
über seinen Mund, aber mit keiner sinnlichen
Zärtlichkeit, sondern dem abwesenden Spiel mit einem
goldenen Armreif, oder einer kostbaren Fibel – einem
Stück Schmuck, von dem man sich gedankenlos
überzeugt, daß es noch da ist.
Sie dachte an die Dinge, die es nun zu tun galt. Ihr
Kopf war voller Pläne. Und voll Triumph.
Sie besaß eine Seele. Und mit ihr einen Geliebten,
der selbst den König töten wurde, wenn sie es ihm
befahl.
Vielleicht ... vielleicht würde sie es ihm befehlen ...
Als die Versammlung beendet war, und die Männer
sich daranmachten, erste Vorbereitungen zur
Verteidigung zu treffen, erwartete Yina Dragon an der
Tür des Audienzraumes.
»Onkel«, sagte sie und zog ihn ein Stück mit sich
fort. »Ich habe Neuigkeiten.«
Dragon lächelte müde. Er hatte in dieser Nacht
kaum ein Auge zugetan. »Noch mehr Neuigkeiten,
Yina?«
Sie nickte. Ȇber Selaqua ... diese Freundin des
Herrn Wigor ...«
»Ja?« meinte Dragon. »Ist sie nun doch nicht die
Tochter König Jellis‘?«
»Doch. Daran besteht kein Zweifel.
Ich habe versucht, ihre Gedanken zu lesen. Es ... es
ging nicht. Sie vermag eine Art Mauer zu errichten,
und sie scheint zu spüren, wenn man in ihren
Gedanken zu lauschen versucht. Aber die Tainu fanden
doch einiges heraus während des Aufenthalts auf ihrer
Insel, denn Selaqua war zu erschöpft, um auf ihre
Abwehr zu achten. Sie ist eine Iquani ...«
»Ja, davon habe ich gehört. Wigor sprach davon.
Weißt du, was es bedeutet?«
»Ein wenig«, erklärte das Mädchen. »Sie sind ein
Stamm von Frauen. Nur Frauen, nicht wie die
Katmahzari, bei denen die Männer da sind, nur eben
eine untergeordnete Rolle spielen. Es heißt, daß sie nur
einen einzigen Mann lieben können in ihrem Leben,
und daß sie ihm während des Liebesakts die Seele
rauben ...« Yina errötete.
»Die Seele?« fragte Dragon verständnislos.
»Soviel die Tainu herausbekamen, lähmen sie den
Mann mit ihrem Blick ... und nehmen seinen Willen
irgendwie auf. Sie verstehen es auch nicht ganz. Aber
der Mann ist ihnen danach vollkommen zu Willen, so
lange sie leben. Er würde sich selbst töten, wenn sie es
verlangten. Die Liebesgemeinschaft hält nie lange an,
meist nur bis zur Geburt des Kindes, das immer eine
Tochter ist, auf die die geraubte Seele übergeht.«
»Auch die Macht über den Vater?«
»Nein. Sonst hätte Selaqua auch Macht über Jellis
haben müssen. Die hatte sie nicht ...«
»Wo ist ihre Mutter. Hat sie keine Macht über
Jellis?«
»Ihre Mutter ist tot. Nicht durch seine Hand. Aber
weiter: Sobald das Kind geboren ist, trennen sich die
Eltern. Aber wie groß die Entfernung auch immer sein
mag, wenn sie ihn ruft, muß er gehorchen. Es heißt,
daß selbst über das Große Meer hinweg der Ruf einer
Iquani vom Geliebten immer gehört wird. Und daß er
dem Ruf Folge leistet, wie wichtig auch gerade seine
Aufgaben sein mögen.«
»Es ist eine ähnliche Kraft, wie Cnossos sie hat«,
murmelte Dragon nachdenklich.
»Ja, Onkel«, stimmte das Mädchen zu.
»Vielleicht sind sie von seinem Blut«, sann Dragon.
Dann sah er sie an. »Sie ist auf Wigor aus, oder?«
»Ja, und er ist ihr verfallen. Er dachte immer nur an
sie.« Wiederum errötete sie. »Es waren gute
Gedanken ...«
»Du meinst, kein Trick von ihr?«
Yina nickte. »Aber sie will ihn. Und sie will zur
Schlangeninsel zurück. Sie wird keine Mühen scheuen.
Auch Blut nicht. Sie könnte ihm befehlen, sie
zurückzubringen, und er würde es um jeden Preis zu
tun versuchen.«
»Er würde auch mich töten, wenn ich mich ihm in
den Weg stellte ...?« fragte Dragon.
»Ja«, sagte sie eindringlich. »Obwohl er sehr viel
Achtung vor dir hat, das konnte ich seinen Gedanken
entnehmen. Er wäre dir ein guter Gefolgsmann ...
Onkel ...« Sie zögerte. »Wenn es wirklich geschieht, daß
sie ... ihm seine Seele nimmt, und daß du in seinem
Weg stehst ... laß nicht ihn für ihre Taten büßen.«
Dragon sah sie erstaunt an. »Er scheint dir ans Herz
gewachsen, Maus.«
»Seine Gedanken gefallen mir. Er wäre ein guter
Freund ...«
»Und ein guter Tröster für Bodo?«
»Onkel!« rief sie empört.
»Ich wollte dich nicht kränken«, sagte er lächelnd.
»Ich werde Wigor im Auge behalten – wenn ich sie
noch lange genug offenhalten kann ...«
»Sonst werde ich es für dich tun.«
»Bist du nicht müde?« fragte er verwundert.
»Noch nicht. Ich ...« Sie bekam einen roten Kopf.
»Ich möchte sehen, was geschieht.«
»Kannst du ihn nicht warnen?«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Er liebt sie zu sehr,
als daß er auf mich hören würde. Außerdem glaube
ich, daß es bereits zu spät ist. Ich höre ...« Sie ließ
Dragon plötzlich los und lief den Korridor hinab zu
den Besuchergemächern. Der König starrte ihr
kopfschüttelnd nach.
Sie begann erwachsen zu werden, und er ahnte, daß
ihr diese Gabe des Gedankenlesens noch viel Kummer
bereiten würde.
Yina fühlte, wie Wigors Gedanken kräftiger wurden, je
näher sie den Gemächern kam, die er mit Sela teilte.
Ihre hingegen waren so verschlossen, daß nicht die
Spur nach außen drang. So, als wäre sie nicht hier.
Aber Yina spürte instinktiv, daß das Iquani-Mädchen
bei Wigor war.
Nah bei Wigor, dessen Gedanken so voller
Leidenschaft waren, daß Yinas Gesicht heiß wurde. Sie
schämte sich ihrer Neugier und wollte kehrtmachen.
Aber dann gewahrte sie eine rasch wachsende
Verwirrung in Wigors Gedanken. Undeutlich hörte sie
Sela sagen: »Armer Wigor.«
Etwas geschah mit Wigors Verstand, das Yina nicht
begriff, etwas, das mit Selas Augen zusammenhing.
Dann war da wieder Selas Stimme, beschwörend:
»Mein Liebster. Komm, für dich ist längst
entschieden.«
Noch einmal das Aufwallen der Leidenschaft, das
Yinas Gesicht erglühen ließ.
Dann mit einmal nichts mehr. Absolute Leere. So
wie sie es bisher nur empfunden hatte, wenn einer
starb und sein Geist erlosch.
Aber Wigor war nicht gestorben. Im Gegenteil. Sein
Geist schwieg, aber sein Körper lebte um so deutlicher
in Selas Armen. Er lebte in den höchsten Sphären.
Bleich wandte Yina sich ab und lief den Korridor
zurück und die Treppen hoch zu den königlichen
Gemächern. Dort hielt sie keuchend an und lehnte sich
gegen den kühlen Marmor. Ein Schluchzen entrang
sich ihrer Kehle.
Wigor war tot und doch nicht tot. Was hatte das
Mädchen mit ihm gemacht? War er ein Zomby – wie
jene Sklaven Cnossos‘ auf Koroskhyr?
Sie schauderte.
4.
Die Schwarze Wellenreiterin kreuzte seit dem frühen
Morgen vor der Küste Samarkins, einer von
zahlreichen kleineren Inseln auf dem geradesten Kurs
nach Myra. Der zweite Tag ihrer Flucht war
angebrochen. Das Wetter hatte sie gut vorankommen
lassen, obwohl das Schiff nur über die halbe Besatzung
verfügte, die es eigentlich brauchte, wenn die See
stürmisch war. Ein gutes Dutzend waren sie, ein
verschworener Haufen, der es sich vorgenommen
hatte, gegen einen Dämon zu kämpfen.
Samarkin war einer der besten Punkte, um auf die
Flotte zu warten. Hier konnten sie Lebensmittel und
Frischwasser laden. Und in diesem Gewirr von Inseln
konnten sie tagelang Versteckspielen, wenn die Flotte
sie entdecken und verfolgen sollte.
Aber tagelang hatte Serphat nicht Zeit.
Natürlich würde die Flotte nicht in Sichtweite der
Küste oder der Fischerboote vorbeisegeln. Sie würden
jedwedes Land vermeiden und Schiffe
gefangennehmen, die ihren Weg kreuzten. Niemand
sollte erfahren, daß die Schlangeninsel ohne Schutz
war, eine leichte Beute- für die kyrischen Nachbarn
beispielsweise ...
Deshalb wagte sich die Wellenreiterin weit genug
nach Westen, um sicherzugehen, daß die Flotte nicht
vielleicht einen Bogen um Naphir machte und westlich
von Morgos nach Norden segelte.
Aber sie kamen auf dem geraden Kurs an Samarkin
vorbei. Es war kurz vor Sonnenuntergang, und die
Wellenreiterin zog sich an die felsige Küste zurück, die
zum Teil bereits im Schatten lag. Hier würden die
Späherschiffe sie nicht mehr ausmachen können.
Eines dieser Späherschiffe, ein Dreimaster wie die
Wellenreiterin, aber kleiner und gedrungener, kein
Schnellsegler, sondern ein bauchiger Händler, den
Jellis beschlagnahmt hatte, brachte Jaggar auf eine Idee.
Die Wellenreiterin mußten sie früher oder später
zurücklassen. Sie war zu auffällig. Die gesamte Flotte
hielt vermutlich nach ihr Ausschau. Aber mit einem
dieser Späherschiffe mußte es möglich sein, an das
Flaggschiff und den König heranzukommen.
Ganz unbemerkt blieb die nach Norden vorstoßende
Flotte nicht. Mehrere Fischerboote kamen hastig in die
Häfen zurück, kurz bevor zwei Segler mit dem
Piratenbanner der Schlangeninsel ziemlich nahe der
Insel vorbeikamen. Sie waren Teile der Nachhut.
Die Wellenreiterin blieb unentdeckt.
Jaggar wartete ungeduldig, bis die Schiffe außer
Sichtweite waren. Die Sonne verschwand im Meer. Die
Dunkelheit fiel rasch, als Jaggar die Verfolgung
aufnahm. Er hatte keine Angst, die Flotte aus den
Augen zu verlieren, die aus verschiedenen Schiffen
bestand und sich nicht schneller bewegen konnte, als
das langsamste ihrer Schiffe.
Die Nacht war angebrochen, als sie das Inselgebiet
hinter sich ließen. Vor ihnen war das Meer offen. Die
Flottenkapitäne sahen keine Gefahr, in der Finsternis
weiterzusegeln, solange der Wind nicht kräftiger
wurde. Gefährlich würde die Strecke erst gegen
Morgen werden, wenn sie die Untiefen von Marakor
erreichten.
Der Himmel war wolkenlos. Der Kurs konnte leicht
nach den Sternen bestimmt werden.
Jaggar machte gute Fahrt, und bald tauchten dunkle
Kolosse auf dem flach rollenden Meer auf. Sie hatten
den Anschluß an die Flotte geschafft. Nun galt es
vorsichtig zu sein. Die Nachhut mochte sie trotz des
dunkleren südlichen Himmels entdecken. Wenn sie sie
auch nicht zu identifizieren vermochten, so würden sie
sich doch wundern, daß hinter ihnen noch etwas kam.
Ein dünnes, halbverwehtes Hornsignal ertönte.
Augenblicke später leuchteten Lampen auf. Das ganze
Meer vor der Wellenreiterin war übersät mit
schwachen Lichtpünktchen. Es war ein faszinierender
Anblick. Die Lampen gaben nur gedämpftes Licht.
Man hatte sie offenbar mit Ruß bestrichen, damit ihr
Licht nicht zu weit reichte, aber doch weit genug, daß
die Schiffe genügend Abstand voneinander halten
konnten.
Nur die Nachhutschiffe blieben dunkel. Aber gegen
den helleren nördlichen Himmel waren sie deutlich zu
sehen.
Unaufhaltsam pirschte sich die Wellenreiterin näher
an sie heran. Moraq war nervös. Er schlich mit
geballten Fäusten an Deck umher. Das Wagnis schien
ihm zu groß. Aber er wußte auch, daß ihnen nicht viele
andere Möglichkeiten blieben, wenn sie nicht den
Ausgang der Schlacht abwarten wollten. Das wollte
Jaggar nicht. Er wollte dem König vorher die Augen
öffnen, daß ein Teufel sie um jeden Preis in ein
Abenteuer stürzen wollte, das auch ihr Verderben sein
konnte.
Moraq hingegen meinte, daß der Angriff auf Myra
nun nicht mehr aufzuhalten sei, daß auch der König
ihn nicht mehr abbrechen würde. Die Dinge waren zu
weit fortgeschritten, und Jellis hatte immer schon im
Sinn gehabt, Myra anzugreifen. Warum also nicht die
Schlacht abwarten?
Aber Jaggar glaubte, daß es nach dieser Schlacht, ob
sie nun siegten oder verloren, keinen König Jellis mehr
geben würde – nur noch Serphat in seiner Gestalt.
Und noch etwas war für ihn ausschlaggebend: Er
glaubte nicht, daß er nach dieser entscheidenden
Schlacht je seine alten Ehren wieder zurückgewinnen
würde. Jetzt war der Augenblick zu handeln.
Eines der Nachhutschiffe begann zurückzubleiben.
Trotz der Dunkelheit war zu erkennen, daß der
Abstand zwischen ihm und seinen beiden Begleitern
sich vergrößerte. Gleichzeitig verringerte sich der
Abstand zur Wellenreiterin.
Das konnte nur bedeuten, daß es den Nachzügler
entdeckt hatte und sich überzeugen wollte, wer da
noch Anschluß suchte. Jaggar ließ einen Teil der Segel
reffen. Die Wellenreiterin verlor an Fahrt. Aber auch
das andere Schiff verlangsamte. Mehr und mehr
verschwanden die Lichter der Flotte am Horizont.
Auch von den anderen Nachhutschiffen war bald keine
Spur mehr zu sehen.
»Jetzt lassen wir ihn herankommen«, entschied
Jaggar.
Bald war das Schiff so nah, daß die Männer das
Ächzen der Masten und Takelagen über dem Rauschen
des Wassers vernehmen konnten.
»Sie werden uns erkennen«, warnte Moraq. »Daß
der Name verdeckt ist, wird sie stutzig machen.«
»Siehst du ihren Namen?« erwiderte Jaggar. »Es ist
viel zu dunkel, daß sie etwas Genaueres erkennen
könnten. Außerdem erwarten sie sicher nicht, daß wir
der Flotte folgen. Und wenn sie Verdacht schöpfen,
wird es zu spät sein. Wenn alles klappt«, fügte er
hinzu.
»Ja, das mögen die Götter geben«, murmelte Moraq,
dem die ganze Sache nicht gefiel.
Wenig später waren Jaggar und seine Männer bereit.
Das andere Schiff lag fast längsseits. Undeutlich sahen
sie mehrere Männer an der Reling.
»Wer seid ihr?« kam eine Stimme über die Gischt.
»Gib ihnen Antwort«, sagte Jaggar zu Moraq. »Das
ist zwar keiner der Kapitäne der Bruderschaft, aber es
mag mit dem Teufel zugehen, daß er mich trotzdem
erkennt ...«
»Und mich als Kommandant von Pequa erst recht«,
brummte Moraq. Achselzuckend formte er mit den
Händen einen Trichter vor seinem Mund. »Hier ist
Mezkin, Kapitän der Schwert von Candis!« rief er. »Wir
haben eine Botschaft für den König.«
»Welche Botschaft?« rief der andere zurück.
»Eine sehr wichtige!« erklärte Moraq. »Wir
begegneten kyrischen Kriegsschiffen in der Nähe von
Thira!«
»Kelims Blut!« entfuhr es dem anderen. »Bei Thira
sagst du? Dann mögen sie die Flotte gesehen haben ...«
»Das ist leicht möglich. Kannst du uns zum
Flaggschiff bringen?«
»Das ist unmöglich! Bei der Fahrt die ihr macht, sind
wir eher in Myra!«
»Wir hatten ein Gefecht«, erklärte Moraq, »und
haben einen Teil unserer Segel eingebüßt. Könnt ihr
uns Tuch geben?«
»Warum steigst du nicht über? Wir bringen dich
rasch zum König!«
»Das will ich gern tun, wenn ich mein Schiff
versorgt weiß. Wir brauchen auch ein paar Männer.
Wir hatten einige Tote. Wie ist es? Helft ihr uns aus?«
Eine kurze Pause folgte, während der sich der
Kapitän mit einigen seiner Leute besprach, und
während der das Schiff ganz längsseits kam. Nun
konnten sie ihren Namen lesen. Es war die Meleqa von
Lithiq aus einem Hafen der Südküste der
Schlangeninsel. Moraq atmete auf. Es war
unwahrscheinlich, daß der Kapitän ihn kannte.
Lichter begannen aufzuleuchten auf der Meleqa.
Gleich darauf meldete sich die Stimme des Kapitäns
wieder. »Wie viele Männer braucht ihr?«
»Fünf«, erwiderte Moraq, als Jaggar ihm mit
gespreizten Fingern einer Hand deutete.
»Gut«, gestand der Kapitän zu. »Zündet Lampen an
und macht alles zum Übersteigen bereit!«
Moraq bestätigte, und Jaggar gab Anweisung, die
Reling zu beleuchten und die Entertaue festzuzurren.
»Wer steigt über?« fragte Moraq.
»Du«, meinte Jaggar. »Aber nicht allein. Ich komme
mit – als kyrischer Gefangener. Ebenso Daraq, sein
krauses Haar sieht am meisten nach kyrischem Blut
aus. Wir werden uns ein wenig herrichten. Ein paar
kleinere Schnitte geben genügend Blut, um unsere
Gesichter unkenntlich zu machen. Ihr bringt uns mit
gefesselten Händen nach drüben. Aber so, daß wir die
Fesseln im rechten Augenblick lösen können ...«
»Ihr?« fragte Moraq.
»Ja, du und zwei meiner Männer. Qarin soll das
Schiff führen während unserer Abwesenheit. Er scheint
mir der fähigste Mann. Und er wird doppelt vorsichtig
sein müssen, weil fünf fremde Seeleute an Bord sind,
die keinen Verdacht schöpfen dürfen.«
Lampen erhellten das Deck der Wellenreiterin.
Kaum fünf Mannslängen neben ihr hob und senkte sich
die Meleqa in den langen, flachen Wogen. Enterhaken
kamen durch die Dunkelheit. Männer sprangen, um
die Taue zu befestigen. Strickleitern wurden von Schiff
zu Schiff gezogen.
Während dieser Vorbereitungen, machten sich die
Männer, die mit Moraq gehen sollten, bereit. Jaggar
und Daraq wurden bis auf die unteren Beinkleider
entkleidet. Geringfügige Wunden, deren Blutfluß rasch
stockte, gaben ihnen ein verwildertes Aussehen, wozu
zerrauftes Haar, Schmutz und ein notdürftiger
Verband an Jaggars rechter Schulter noch ihren Teil
beitrugen. Dazu kamen Ketten, die ihnen wohl
gestatteten, die Arme zu bewegen, aber sie doch in
ihrer Bewegungsfreiheit sehr einschränkten. Die
Gelenkstücke allerdings waren leicht zu öffnen, was
aber nur jemand erkennen würde, der sich die Mühe
nahm, sie eingehend zu prüfen. Wozu es gar nicht erst
kommen sollte.
Als Moraq mit seinen beiden Gefangenen und den
zwei Wachen wieder an Deck kam, waren die fünf
Seeleute der Meleqa bereits bei ihrem waghalsigen
Balanceakt über die schwankenden Strickleitern keine
zwei Lanzenlängen über dem schwarzen,
schäumenden Wasser. Moraq begrüßte sie an Bord und
erklärte ihnen, daß sie bis zur Rückkehr seinem
Stellvertreter Qarin unterstanden.
Dann machte sich Moraqs Gruppe auf den nicht
ungefährlichen Weg. Ein Absturz mochte den Tod
bedeuten. In der Finsternis würde man den
unglücklichen Schwimmer rasch aus den Augen
verlieren. Abgesehen davon, daß die Haie in diesem
Gebiet gefürchtet waren.
Es gab einen kitzligen Augenblick, als Daraq ausglitt
und sich einzig mit seinen Ketten vor dem Absturz zu
retten vermochte.
»Du bringst vier Männer mit dir?« fragte der
Kapitän verwundert.
»Ja, aber du wirst diesen Umstand bestimmt
verstehen. Zwei sind kyrische Gefangene. Aber rasch
jetzt. Löst die Taue. Je früher wir den König erreichen,
desto besser. Es ist gut möglich, daß wir gar nicht nach
Myra fahren mit der kyrischen Flotte im Rücken.«
Der Kapitän nickte. »Komm in meine Kajüte. Es mag
einige Stunden dauern, bis wir die Flotte eingeholt und
das Flagschiff erreicht haben. Deine Männer ...«
»Sie bleiben bei den Gefangenen, wenn du erlaubst,
Kapitän ...«
»Ich bin Kapitän Liglin. Komm, ich bin sicher, du
weißt eine Menge zu erzählen.«
Er gab seinen Männern Anweisung, die Taue zu
lösen und die Leitern einzuziehen.
Und die Lampen zu löschen, bis sie wieder
Anschluß an die Flotte hatten.
Als er hinter Liglin in die Kajüte trat, war die
Wellenreiterin bereits zurückgefallen und wurde rasch
von der Dunkelheit verschluckt.
Der Mond ging auf und warf verwaschene Flecken von
Silber auf das Meer. Kurz nach Mitternacht befanden
sie sich schon mitten in der Flotte. Mit einer
charakteristischen Anordnung seiner Decklichter ließ
Kapitän Liglin die Schiffe wissen, daß er als
Späherschiff mit einer dringlichen Nachricht zum
König unterwegs war. Es entstand eine freie
Wasserstraße, durch die die Meleqa mit merklich
schnellerer Geschwindigkeit segelte. Auf den meisten
der Schiffe waren nur verstärkte Deckwachen und
Ausguckposten wach, außer dem Steuermann, der in
wichtigen Angelegenheiten den Kapitän wecken
würde. Der Großteil der Mannschaften schlief. Die
äußeren Schiffe an den Flanken würden wohl ebenso
wie die Späherschiffe auch nachts in ständiger
Bereitschaft sein.
Das Flaggschiff, die Seehexe, befand sich in der
vordersten Ansammlung von etwa drei Dutzend
Schiffen. Es fuhr in ihrer Mitte, geschützt und im
Sichtbereich aller.
Kapitän Liglin war einigermaßen neugierig, aber
Moraq wußte die Begegnung mit den Kyriern so
lebendig zu schildern, daß der Kapitän beeindruckt
war und keinen Zweifel hegte, sondern vielmehr mit
der Frage beschäftigt war, ob die Kyrier die Chance
nützen würden, die ihrer Verteidigungskräfte entblößte
Schlangeninsel anzugreifen. Vermutlich sah er seine
Heimatstadt bereits in Flammen. Moraq lächelte. Der
gute Glauben des Mannes gab ihm Zuversicht. Es
mochte nicht schwer sein, auch die anderen zu
täuschen- bis es zu spät war.
Als sie in die Gruppe um das Flaggschiff vorstießen,
hielt Jaggar die Zeit für gekommen. Er streifte die
Ketten ab und gab Daraq ein Zeichen. Auch der
entledigte sich seiner Fesseln. Gemeinsam mit ihren
beiden Wachen marschierten sie zur Kapitänskajüte.
Einige Männer begegneten ihnen, die aber nichts daran
ungewöhnlich fanden, daß die Gefangenen zum Käpt‘n
gebracht wurden. Es war schließlich sein gutes Recht,
sie genauer in Augenschein zu nehmen. Daß sie nicht
mehr gefesselt waren, fiel in der Dunkelheit
niemandem auf.
Liglin sah erstaunt auf, als er die Schritte mehrerer
Männer vernahm, die auf die Kajüte zukamen. Moraq
ahnte, daß der Zeitpunkt zum Handeln war.
Unauffällig machte er sich zum Aufspringen bereit.
Seine Hand glitt an den Dolch in seinem Gürtel.
Die Tür sprang auf. Die Gefangenen stolperten
herein, gefolgt von Jaggars Männern.
»Was ...?« begann Liglin. Dann sah er, daß die
Gefangenen frei waren. Seine Hand fuhr ans Schwert,
aber Moraq stand an seiner Seite und setzte ihm das
Messer an den Hals, was den Kapitän stocksteif
innehalten ließ.
Moraqs zweite Hand griff nach dem Schwert des
Kapitäns und zog es aus der Hülle. Er tastete ihn nach
weiteren Waffen ab und fand einen Dolch. Auch den
nahm er an sich, während Liglin mit dem Messer an
der Kehle keinen Laut von sich zu geben wagte.
»Gebt auf die Tür acht!« befahl Jaggar seinen beiden
Männern. »Laßt niemanden herein.« Dann deutete er
auf Liglin. »Laß ihn sich setzen. Er versteht auch so,
scheint mir, daß sein Hals der erste ist, der seinen Kopf
verliert, wenn ihm irgendwelche Ideen kommen.«
Moraq nahm das Messer fort, hielt aber das Schwert
bereit und trat einen Schritt zurück, damit Liglin sich
setzen konnte. Der blickte bleich in die entschlossenen
Gesichter.
»Wer ... wer seid ihr?«
»Das tut nichts zur Sache. Sagen wir, wir sind
Freunde des Königs und wollen ihm aus einer
verdammt mißlichen Lage helfen ...«
»Aber ...«, stammelte Liglin, »wozu dann die
Gewalt? Wir ... wir sind doch alle für den König ...«
»Das Dumme ist«, fuhr Jaggar fort, »der König weiß
nichts von seiner Lage, und du könntest denken, wir
hätten etwas Krummes mit ihm vor. Deshalb fragen
wir dich gar nicht erst um deine Meinung. Du wirst
uns behilflich sein oder keine Gelegenheit mehr haben,
uns im Weg zu stehen. Leuchtet dir das ein?«
Wütend starrte der Kapitän die Eindringlinge an.
Moraqs auffordernder Ruck mit der Schwertspitze
schien ihm die Entscheidung jedoch mehr oder
weniger abzunehmen. Er nickte zähneknirschend.
»Bevor du dich in deinem scheinbar so gerechten
Zorn zu Unbedachtsamkeiten hinreißen läßt«, mahnte
Jaggar eindringlich, »für die alle Reue zu spät kommen
würde, laß dir sagen, daß der König unser Handeln
schätzen wird. Wenn du klug bist, wartest du ab, bis
du keine Zweifel mehr hast, wer Freund und Feind ist.
Vorwärts jetzt!«
Moraq schob ihn zur Tür, wo die beiden Wachen zur
Seite traten.
»Kelims Bart! Was erwartet ihr von mir?« rief der
Kapitän.
»Laß ein Boot zu Wasser!« befahl ihm Jaggar. Er
deutete auf Daraq. »Ich werde mit dem Mann hier
übersetzen, um mit dem König zu reden. Du wirst dem
Schiff drüben begreiflich machen, daß ein Mann mit
einer wichtigen Botschaft, mit einer vertraulichen
Botschaft für den König an Bord gelassen werden
möchte. Und denk an meine Worte, Kapitän!«
Sie traten aus der Kajüte und schoben den Kapitän
voraus. Der sah sich zögernd um. Dann schritt er
entschlossen aufs Vordeck und gab einem Bootsmann
den Befehl, eines der Boote zu Wasser zu lassen und
Taue bereitzuhalten. Jemand würde auf das Flaggschiff
übersetzen.
Das Flaggschiff war zum Greifen nahe. Dort war
man inzwischen auf das herankommende Schiff der
Nachhut aufmerksam geworden. Die Deckwachen
winkten mit Fackeln, ein Zeichen, das Liglin erwidern
ließ. Eine Losung wurde verlangt, die der Kapitän gab,
worauf er erklärte, was sein Begehr sei.
Es gab eine kurze Pause, dann kam vom Flaggschiff
der Befehl, den Nachrichtenbringer überzusetzen.
Entertaue flogen von Reling zu Reling. An einem
hing das Boot, in dem Jaggar und Daraq saßen. Da die
Schiffe ihre Geschwindigkeit nicht verminderten, wäre
ein Hinüberrudern unmöglich gewesen. Statt dessen
hing es wie eine Fähre am Tau und wurde von einem
Dutzend Leute der Seehexe Zug um Zug eingeholt.
Jaggar überprüfte das Seil, das er um seinen
Oberkörper geschlungen hatte. Daraq war der erste,
der die Strickleiter an der Bordwand des Flaggschiffes
hochkletterte. Jaggar folgte ihm. Sein Gesicht sah noch
immer entstellt genug aus, daß ihn wohl kaum einer
auf den ersten Blick erkennen würde. Und so lange,
daß es für einen zweiten Blick reichte, hatte er nicht vor
an Bord zu bleiben.
Das Problem war Serphat, der Schlangenpriester. Es
konnte geschehen, daß sie wiederum einen falschen
König entführten. Aber es war doch unwahrscheinlich,
denn sicher hatten sowohl der König, als auch der
Priester bequeme Räumlichkeiten, und der Priester
würde nicht das Risiko eingehen, vor den Augen
einiger der engsten Vertrauten des Königs vielleicht
Fehler zu begehen, die unnötiges Mißtrauen
hervorriefen. Er hatte den König gut genug in der
Gewalt. Daß er im Ernstfall die Gestalt des Königs
selbst annehmen würde, das war ein Trumpf, den er
sich sicherlich zum Schluß aufsparen würde.
Aber möglicherweise war Serphat bei der
Unterredung zugegen. Dann war höchste Vorsicht und
schnellstes Handeln geboten. Und vor allem eines, das
er auch Daraq eingeschärft hatte: Sie durften nicht an
ihren Plan denken – mit keinem Gedanken. Denn der
Priester vermochte Gedanken zu erkennen. Sie würden
dieses Schiff nicht mehr verlassen.
Als sie an Deck kamen, betrachteten die Männer der
Seehexe sie neugierig, aber vorerst schien keiner
Verdacht zu schöpfen. Sicher trugen auch die
Dunkelheit und das flackernde Licht dazu bei, daß man
Jaggar nicht erkannte.
»Folgt mir. Der König erwartet euch.« Das war
Merkin, der Kommandant der Garde, und die Götter
mochten wissen, was er auf dem Flaggschiff sollte.
Sicher war es eine von Jellis Launen. Oder eine von
Serphat?
Er führte die beiden zur Kajütentreppe. Dort
warteten zwei Männer, denen er einen Wink gab,
worauf sie sich daran machten, Jaggar und Daraq nach
Waffen abzusuchen. Sie fanden nichts außer dem Seil,
das Jaggar bei sich hatte. Einer der Wachen wollte es
ihm abnehmen, aber Merkin winkte ab. Er schritt mit
der Fackel voran die Treppe hinab und pochte an der
Tür. Jaggar und Daraq folgten ihm.
»Kommt ‚rein.« Das war Jellis‘ Stimme.
Sie traten ein, Merkin voran, der ihnen die Tür
aufhielt, sie hinter ihnen wieder schloß, aber keine
Anstalten machte, zu gehen.
Jaggar musterte Jellis. Allen Anschein nach war es
der König, aber Jaggar war klug genug, vorsichtig zu
sein mit seinen Gedanken, und er hoffte, daß Daraq es
auch war. Im Hintergrund der Kajüte war eine Tür, die
einen Spalt offenstand. Die Dunkelheit dahinter war
wie eine fühlbare Drohung. Er hatte das unbestimmte
Empfinden, daß dort etwas lauerte. Es konnte wenig
Zweifel darüber geben, was dieses Etwas war: Serphat!
Aber Jellis schien frei von Serphats Geist, wenigstens
von dessen dirigierender Kraft. Es schien Jaggar, als
wollte Serphat abwarten, was geschah, um im rechten
Augenblick einzugreifen.
»König Jellis?« fragte Jaggar.
Der König nickte. Jaggars Stimme schien ihm
irgendwie vertraut. Es war deutlich zu sehen, daß er
aufhorchte.
Unbeirrt fuhr Jaggar fort: »Es ist eine vertrauliche
Nachricht.«
Der König nickte. »Laß uns allein, Merkin.«
Der Gardekommandant ging widerwillig. Jaggar
warf einen Blick auf die offene Tür im Hintergrund.
»Hier ist niemand«, stellte der König verärgert fest.
Aber es klang nicht überzeugend. Der König wußte
genau, wer dort stand und lauschte. Auch der
vertraute Ärger war ein gutes Zeichen. Im Augenblick
wenigstens hatte Serphat den König nicht in seiner
Gewalt, er mochte vielleicht in seinen Gedanken
lauschen, aber er beherrschte ihn nicht. Noch ließ er ihn
selbst handeln und entscheiden.
Das war eine günstige Voraussetzung.
»Es würde mich aber beruhigen, o König, wenn sie
geschlossen wäre«, erwiderte Jaggar vorsichtig.
»Zweifelst du etwa an meinem Wort?« brauste Jellis
auf.
»Es heißt, daß ein Priester deine Gunst hat, König.
Und daß er wundersame Dinge vollbringt. Es heißt
aber auch, daß er mehr Macht über dich hat, als recht
ist«, meinte Jaggar gleichmütig. »Es spricht sich herum,
daß der König nur ein Sklave ist, und der Priester sein
Herr ...«
»Wer sagt das?« rief Jellis und wurde blaß.
»Jedermann. Das Volk ist nicht blind.« Er gab Daraq
einen Wink. »Laß meinen Begleiter die Tür schließen.
Ich bezweifle deine Worte nicht. Aber ich werde erst
reden, wenn ich deine Ohren als die einzigen weiß, die
mich vernehmen können.«
»Du wagst eine ganze Menge, Fremder. Weißt du
nicht, daß ich dich auspeitschen lassen könnte, bis dir
die Worte von den Lippen kommen wie ...«
»Es würde dir nicht gefallen, König«, unterbrach ihn
Jaggar rasch. »Es wäre dir unangenehm, wenn andere
hörten, was ich dir zu sagen habe. Also?«
Es gab eine merkliche Pause, so als gäbe etwas dem
König die Erlaubnis. Dieser nickte schließlich, und
Daraq ging zur Tür und schloß sie. Er schob den Riegel
vor.
»Nun sind wir unter uns«, sagte der König. »Wer
bist du, und wie lautet deine Botschaft?«
Jaggar nickte Daraq zu. Dieser schlich auf den König
zu, umklammerte ihn plötzlich von hinten, wobei er
ihm mit der Linken den Mund zuhielt und mit der
Rechten nach dem Dolch im Gürtel griff. Kaum daß
Jellis sich von seiner Überraschung erholt hatte, schlug
ihn Daraq mit dem Dolchgriff gegen den Kopf. Jellis‘
Gestalt sackte zusammen.
Währenddessen hatte Jaggar das Seil von der
Schulter gezogen, halb ausgerollt und das eine Ende
um Jellis‘ Mitte geschlungen und mit dem Gürtel
verschnürt. Daraq kam mit einem Schwert auf ihn zu,
das er in der Kajüte entdeckt hatte.
Alles war in wenigen Augenblicken geschehen.
Aber nicht unbemerkt!
An der hinteren Tür rüttelte etwas mit
erschreckender Wildheit. Ein wütender Laut drang in
die Kajüte. Dann begann etwas, das Jellis und Daraq
das Blut in den Adern gefrieren ließ. Eine graue Masse
quoll durch den Türspalt und floß wie eine dünne
Gallerte am Holz entlang.
Jaggar sprang mit einem Fluch zur Wand und riß
die Öllampe aus der Halterung. Er warf sie gegen die
Tür. Das Glas splitterte in tausend Teile. Das Öl floß
über das Holz und die graue Masse. Das Feuer
züngelte hinterher. Es machte keinen Unterschied
zwischen Holz und der Masse. Es brannte lichterloh.
Die Gallerte zuckte zurück und wand sich wie ein
flachgetretener riesiger Wurm. Ein unheimlicher Laut
hallte durch das ganze Schiff, einer, der aus großer
Qual geboren war.
Jellis erwachte. Er sah, was an der Tür geschah und
versuchte aufzuspringen. Daraq und Jaggar hielten ihn
fest.
»Fort von hier!« rief Jaggar. »Solange uns noch Zeit
bleibt!«
Sie brauchten den König nicht mitzuzerren. Seine
Augen waren weit aufgerissen. Er war frei von allem,
was über ihn geherrscht hatte. »Ihr Götter!« stammelte
er. »Fort. Nur fort!« Er wich zurück vor dem
dämonischen Schauspiel der sich windenden,
zurückziehenden Masse.
Alle drei erreichten die Tür und stürzten nach
draußen, während der Kajütenteil aufloderte und den
blendenden Schein der Flammen über das ganze Schiff
warf.
Merkin kam ihnen entgegen, als sie die Treppe
hochhasteten. Er versuchte, sie aufzuhalten, aber der
König schob ihn einfach zur Seite. »Verlaßt das Schiff!«
krächzte er, und Merkin, der nur das Feuer sah und
nicht wußte, was sich in der Kajüte abgespielt hatte,
sah ihn verständnislos an.
»Mein König ...«, begann er.
»Rasch«, drängte Jellis. Er meinte seine beiden
Begleiter. Merkin legte es anders aus. Er brüllte etwas
von Löschkommandos.
Ein eiliges Durcheinander entstand, das die
Fliehenden unbemerkt zur Reling gelangen ließ. Jaggar
band sich hastig das andere Ende des Seils um die
Mitte, während Daraq nach unten kletterte.
Plötzlich fühlte Jaggar, daß mit dem König eine
Veränderung vorging. Er erstarrte mitten in der
Bewegung. Jaggar wußte, was es bedeutete. Serphat
hatte das Feuer überlebt und trachtete nun danach, den
König wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Und allem Anschein nach hatte er damit Erfolg.
Jaggar zögerte nicht. Er umklammerte den König,
daß dessen Arme an seinen Leib gepreßt waren, und er
sich mit den Händen nirgends festhalten konnte.
Niemand schien sie zu beobachten. Alle waren mit
dem Feuer beschäftigt. Nur Serphat lauerte irgendwo
in der Dunkelheit.
Jaggar schwang sich über die Reling und zerrte den
sich plötzlich wehrenden König mit sich. Sie fielen
beide. Einen Augenblick fürchtete Jaggar, sie könnten
in das Boot fallen und sich das Genick brechen. Aber
dann tauchten sie in das kalte heftig schäumende
Wasser, das in einem raschen Strom zwischen den
beiden Schiffen dahinschoß.
Es gab einen schmerzhaften Ruck, und sie hingen an
dem Seil wie an einer Angel. Jaggar kam hoch und
schnappte nach Luft. Direkt neben ihm befand sich das
Boot, das wild in den Heckwirbeln der Meleqa tanzte.
Daraq hatte das Seil gekappt, mit dem das Boot mit der
Seehexe verbunden gewesen war. Es hing nun nur
noch an der Meleqa, gute zehn Lanzenlängen hinter
dem Heck. Niemand auf dem Schiff machte sich daran,
das Tau mit dem Boot einzuholen. Aber Moraq schien
auf dem Posten, denn die Meleqa vergrößerte den
Abstand zur Seehexe.
Helfende Hände griffen nach Jaggar. Daraq
versuchte ihn in das schwankende Boot zu zerren.
Aber er war zu schwach, denn am Seil hing auch noch
der König, der verzweifelt gegen die Strömung
kämpfte.
Jaggar kämpfte sich Griff um Griff am nassen Rand
des Bootes entlang, bis auch Jellis es fassen konnte.
Danach war es einfacher. Mit Daraqs Hilfe gelang es
ihnen, sich über den Bootsrand zu ziehen, von wo sie
erschöpft in das Innere fielen.
Das Feuer auf der Seehexe wurde schwächer. Die
Mannschaft schien seiner Herr zu werden. Ein Teil
stand mit Fackeln an der Reling. Undeutlich sahen die
drei im Boot, wie einige Bogenschützen sich unter die
Fackelträger mischten. Gleich darauf flogen die ersten
Brandpfeile zur Meleqa, auf der die Mannschaft sich
jedoch auf das Löschen beschränkte und das Feuer
nicht erwiderte. Sie gewann stetig Abstand und würde
bald außerhalb der Reichweite der Bogenschützen sein.
Diese hatten jedoch plötzlich das Boot entdeckt, das
hinter der Meleqa im Schlepp hing. Die drei Insassen
legten sich flach auf den Boden. Bald war das Boot
gespickt von brennenden Geschossen, die das
schäumende »Wasser jedoch rasch löschte.
Einen Moment, während das Boot schaukelte, sahen
sie eine von den Fackeln hell beleuchtete Gestalt an der
Reling der Seehexe stehen. Sie war zu deutlich zu
sehen, als daß es ein Irrtum hätte sein können.
»Der König ist noch an Bord!« entfuhr es Daraq
verblüfft.
Jaggar schüttelte den Kopf. Er sah triumphierend
auf Jellis, der hinter ihm im Boot lag und mit weit
aufgerissenen Augen auf sein Ebenbild an der in der
Dunkelheit entschwindenden Reling der Seehexe
starrte.
Die Pfeile kamen nun zu kurz und tauchten
zischend in das Wasser. Die Schützen schienen es
einzusehen, denn sie stellten den Beschuß ein.
Eines der Begleitschiffe kam langsam näher. Aus der
Entfernung ließ sich nicht viel erkennen, aber die
gesamte Besatzung schien an Deck versammelt zu sein,
der Anzahl von Fackeln und Lampen nach zu
schließen. Das kleine Feuergefecht war nicht
unbemerkt geblieben. Aber wenn die Meleqa ihren
Kurs beibehielt, gelangten sie aus der Gefahrenzone,
ohne weiteren Schiffen allzu nahe zu kommen.
Außerdem hatten die Männer der Meleqa begonnen,
das Boot einzuholen.
»Überzeugt, mein König?« rief Jaggar über das
Rauschen.
Jellis kam aus seiner Starre und schüttelte
verwundert den Kopf, so als gelte es eine
Benommenheit abzuschütteln. Aber die Benommenheit
nahm zu. Sein Gesicht verzerrte sich plötzlich. »Helft ...
mir ...!« krächzte er plötzlich, und bevor einer der
beiden ihn festhalten konnte, sprang er auf und stürzte
sich in die Fluten.
Geistesgegenwärtig warf sich Daraq auf Jaggar. Der
Ruck, als sich das Seil spannte, das noch immer den
König an Jaggar fesselte, ließ die beiden Männer
schmerzhaft gegen die Bootswand schlagen.
Verzweifelt klammerte sich Jaggar an einer der Bänke
fest, während Daraq sich daranmachte, das Seil
einzuziehen. Es war ein mühevolle Tätigkeit, um so
mehr, als der König selbst keinerlei Hilfe war. Er schien
die Besinnung verloren zu haben. Er regte sich auch
nicht, als sie ihn ins Boot zogen. Aber er atmete
schwach.
Jaggar war vorsichtig genug, das Seil vorerst nicht
zu lösen, bis er ganz sicher sein konnte, daß Serphats
Macht über den König gebrochen war. Keiner konnte
sagen, wie weit sie reichte. Vielleicht hörte sie niemals
auf, aber deutlich erkennbar war, daß sie mit der
Entfernung schwächer wurde. Jaggar dachte, daß es
von nun an gefährlich sein würde, den König allein
und ohne Aufsicht zu lassen, auch wenn sein Hilferuf
deutlich gemacht hatte, daß er wieder frei denken
konnte wenigstens zeitweilig.
Sie näherten sich immer mehr den äußeren Schiffen
der Flotte. Das ließ sich leicht an den Lichtern
erkennen. Zwei oder drei Schiffe mochten noch
zwischen ihnen und der schützenden Dunkelheit
liegen. Aber sie waren keine große Gefahr mehr. Sie
segelten zu weit am Rand, als daß sie etwas von dem
mitbekommen hatten, was auf dem Flaggschiff
geschehen war. Vor allem würden sie es nicht mit der
Meleqa in Verbindung bringen.
Das Boot war bald so weit eingeholt, daß es
scharrend an der Bordwand hing. Strickleitern kamen
herab.
»Du zuerst«, befahl Jaggar und starrte Daraq nach,
während dieser hochkletterte. Der König kam stöhnend
zu sich, als Jaggar ihn aufrichtete und über die Schulter
werfen wollte, um so mit ihm hochzusteigen. Jaggar
ließ ihn wieder los und wartete, bis der König sichtbar
wahrnahm, was um ihn geschah. Jellis starrte ihn an
und erkannte zum erstenmal, wen er vor sich hatte.
»Jaggar«, murmelte er betroffen.
Jaggar nickte. »Ja, mein König. Wirst du Kraft genug
haben, hinaufzusteigen?«
Jellis sah hoch und nickte. Er stieg die ersten
Sprossen der schwankenden Strickleiter hoch, glitt ab,
aber Jaggar, der dicht hinter ihm die Leiter ergriffen
hatte, fing ihn. »Ein Seil!« rief er.
Gleich darauf fiel ein Seil nach unten. Das Ende
baumelte neben ihnen. Jaggar nahm es und schlang es
um Jellis. »Hoch! Aber langsam!«
Er selbst folgte vorsichtig, als er das Seil, das ihn mit
dem König verband, von seinem Gürtel gelöst hatte. Es
wäre zu gefährlich gewesen. Einer hätte den anderen
mitgerissen, wenn er abgestürzt wäre.
Oben angekommen, gab es eine Überraschung.
Daraq lag bewußtlos am Boden, und zwei Männer der
Besatzung waren dabei, ihn kunstgerecht zu
verschnüren. Jaggars Blick flog in die Runde. Er
gewahrte Moraq und die beiden Männer der
Wellenreiterin entwaffnet und mit erhobenen Händen
vor dem Steuerhaus, während mehrere Männer sie mit
blanken Klingen in Schach hielten.
Jaggar unterdrückte das Verlangen, einfach
zurückzuspringen. Statt dessen ergriff er den König am
Arm, der schwankend auf Deck stand und sich
verwundert umsah. »Mein König«, sagte er rasch.
Kapitän Liglin kam mit entschuldigender Miene auf
Jellis zu. Aber man sah ihm auch die Verblüffung an.
Denn wie alle anderen hatte er König Jellis zuletzt an
der Reling des Flaggschiffes gesehen, und zwar, als das
Boot schon längst nur noch im Schlepp der Meleqa
hing. Aber es zweifelte doch keiner, den König vor sich
zu haben, von denen, die ihn von Angesicht zu
Angesicht kannten.
Jellis mochte noch immer verwirrt sein, aber er
begriff rasch. »Deine Männer?« fragte er Jaggar.
Der nickte.
»Laß sie frei!« befahl der König mit schwacher
Stimme. Es war nicht zu übersehen, daß er erschöpft
war – aber nicht vom Körper her. Etwas lag lähmend
über seinen Gedanken. »Laßt diese Männer frei!«
wiederholte er, als die Besatzung nicht sofort reagierte.
Er wartete, bis die Fesseln gefallen waren und nickte
den Befreiten mühsam zu. »Ich danke euch.«
Kapitän Liglin sah sich von den Umständen
überrumpelt. Er stand unsicher vor dem König. »Wir
sind alle deine Diener, König«, sagte er. »Wir dachten
...«
Jellis unterbrach ihn mit einem kurzen Nicken.
»Dieses Schiff ... wie ist sein Name?«
»Meleqa von Lithig«, antwortete Liglin stolz.
»Die Meleqa von Lithig steht ab sofort unter meinem
Kommando«, erklärte Jellis. Er griff nach Jaggars Arm.
»Kapitän Jaggar ist mein Stellvertreter. Seine
Anordnungen sind ohne Widerrede zu befolgen.«
Erstauntes Raunen ging durch die Männer der
Meleqa. »Jaggar?« entfuhr es Liglin. »Der Verräter ...?«
Er griff unbewußt nach seinem Schwert.
»Ja«, erwiderte Jellis. »Jaggar, der Verräter. Aber
wenn einer es wagen sollte, dieses Wort in den Mund
zu nehmen, wird es sein letztes sein!« Er schwankte. Er
preßte seine Fäuste an die Stirn. »Bringt mich hier
weg«, sagte er beinahe flehend. Sein Blick verschleierte
sich. Die Männer wichen entsetzt zurück. Sie wußten
nicht, was mit dem König geschah, aber sie spürten
instinktiv, daß etwas Dämonisches vorging, etwas
Gespenstisches. Als wären zwei Seelen in ihm, die
miteinander rangen.
»Das ist Serphats Werk!« rief Jaggar. »Rasch, in die
Kajüte. Wir müssen ihn festbinden, bis er wieder frei
ist. Es mag sein, daß er über die Reling springt oder
Amok läuft ...!«
»Festbinden?« schrie der Kapitän. »Den König
festbinden?«
Jellis begann sich zu wehren. Jaggar und Moraq
nahmen ihn in die Mitte und führten ihn auf die Kajüte
zu. Er fluchte innerlich. Das war der ungünstigste
Augenblick für einen Angriff des Priesters. Der
Kapitän fing erneut an, die Lage mißzuverstehen.
Wahrscheinlich glaubte er, der König wäre in seiner,
Jaggars Gewalt. Aber jetzt blieb keine Zeit,
nachzudenken.
Sie schoben den König in die Kajüte, während Daraq
und die beiden Männer Jaggars ihnen den Rücken
deckten. Die Mannschaft begann sich drohend
zusammenzurotten.
Jellis begann sich immer mehr wie ein Wahnsinniger
zu betragen, während die beiden ihn in der Koje
festzubinden versuchten. Er schrie und biß, und
Schaum trat vor seinen Mund, als wäre er krank.
Jaggar gebrauchte seine Faust. Er schlug mit
zusammengebissenen Zähnen zu. Die Gestalt wurde
schlaff. Die Züge entspannten sich augenblicklich. In
dem Augenblick, da er die Besinnung verlor, hörte
auch die Kontrolle des Priesters auf.
Jaggar atmete auf. Das war wenigstens etwas. Er
fing an, für die kleinen Dinge dankbar zu sein. Sie
banden ihn fest und waren kaum fertig, als Daraq
hereingestürmt kam.
»Käpt‘n! Sie werden uns angreifen ...!«
Durch die offene Kajütentür sahen sie die Männer
der Besatzung herankommen. Langsam und noch ein
wenig zögernd. Aber mit blanker Klinge.
Jaggar nahm den Dolch, den er dem König
abgenommen hatte und drückte ihn mit der Schneide
an Jellis‘ Kehle. Er sah auf, als seine beiden Männer
hereinkamen und die Besatzung durch die enge Tür zu
quellen begann.
Moraq griff entschlossen zu einem runden,
niedrigen Hocker, den er an einem Bein wie einen
Schild hielt, in der anderen Hand einen Dolch.
Als sie den Dolch an der Kehle des Königs sahen,
wollten sie zurückweichen, aber die hinter ihnen
Kommenden schoben mit aller Gewalt herein.
»Einen Schritt noch, und es fließt Blut«, sagte Jaggar
ruhig.
Ein Tumult begann, als die vordersten mit aller
Gewalt zurückdrängten. Plötzlich torkelte einer aus der
bereits halb im Raufen begriffenen Besatzung. Liglin.
Er starrte bleich auf Jaggar und den zu sich
kommenden König.
»Nun, wie ist es, Liglin«, fragte Jaggar drohend ...
Willst du den König haben?«
»Ja. Jaggar«, erwiderte der Kapitän
zähneknirschend. »Aber nicht tot ...«
»In deiner Hand wäre er tot besser aufgehoben«,
meinte Jaggar.
»Was willst du damit sagen, du ...« Das Wort
Verräter lag ihm sichtlich auf der Zunge. Aber etwas an
dem erwachenden Blick des Königs ließ ihn stocken.
»Das mag er dir selbst sagen, wenn die Flotte weit
genug fort ist. Vorerst lautet des Königs Befehl, daß du
meine Befehle befolgst. Und er hat ihn noch nicht
widerrufen. Bring uns zu meinem Schiff zurück.
Moraq, geh an Deck und wache darüber, daß keine
Signale ausgetauscht werden. Und nimm meine beiden
Männer mit. Daraq bleibt hier!‘ »Gut. Käpt‘n.«
Moraq und Jaggars Männer verschwanden, und
Kapitän Liglin mit ihnen, um seiner Mannschaft
klarzumachen, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als
zu gehorchen.
Vorerst.
Aber seine Blicke ließen keinen Zweifel darüber, daß
er abrechnen wurde.
5.
Am Tag sah alles anders aus.
Wigor blinzelte in der Sonne, als er den Palast
verließ. Der König war im Hafen, und zu ihm wollte er.
Es sollte eine Hochzeit geben, noch vor dem Angriff,
und dazu wollte er des Königs Segen. Das war eine
große Ehre, die ihm in Deyman viel Ansehen
verschaffen wurde. Er war zwar keiner, den die
Standesdünkel plagten, aber die Gelegenheit war
günstig. Der König schien ihm gut gesinnt, und
außerdem- wenn er an des Königs Seite focht, warum
sollte er nicht auch an des Königs Seite heiraten?
Sela bedeutete ihm viel. Er spürte es mit jeder Faser
seines Körpers. Die vergangene Nacht mit ihr war
etwas, das sich tief in sein Herz und seinen Verstand
geprägt hatte. Und symbolisch, ja, symbolisch, dachte
er, hatte sie ihm seine Seele genommen. Auf eine
wunderbare Weise war er ihr verfallen.
Aber war das nicht bereits auch vorher so gewesen?
Als er mit ihr von Kapitän Jaggars Schiff floh? Hatte er
da nicht auch bereits das übermächtige Verlangen
gespürt, sie in den Armen zu halten? Wäre er
wahrhaftig ohne sie geflohen? Nein, er liebte sie ... seit
... vielleicht seit dem Augenblick, da er sie zum
erstenmal sah. Es war nichts wirklich Magisches an
diesem Seelenraub, dem die Iquani-Mädchen soviel
Bedeutung beizumessen schienen. Doch, es war
magisch, aber nicht auf dämonische Weise. Wenn diese
Liebe Ketten waren, nun gut, dann war sie leichter zu
tragen als manche Freiheit.
Daß Sela nicht dulden wollte, daß er an der Seite des
Königs focht, war eine keineswegs ungewöhnliche
weibliche Einstellung. Welche Frau ließ ihren Mann
gern in den Krieg ziehen. Dazu kam ein wichtiger
Punkt, der ihm selbst einige Kopfzerbrechen bereitete.
Er würde gegen Selas Vater und gegen Kapitän Jaggar
kämpfen müssen. Was geschah, wenn er tatsächlich
Jaggar gegenüberstand? Würde er zustoßen? Oder
Selas Vater. König Jellis, an dessen Blut er nun
teilhatte?
Er schob den Gedanken beiseite. Dieser Umstand
würde wohl kaum eintreten. Der Zufall wäre zu groß.
Sein Platz war hier. Seine Heimat war bedroht. Sein
König rief ihn. Nichts würde ihn davon abhalten, in
der Verteidigung Myras seinen Mann zu stehen.
Auch nicht seine geliebte Sela. Es war ihr Vater, der
den Krieg begann mit oder ohne den Priester.
Er wußte, daß Sela anders dachte, daß eine Iquani
nicht wie eine gewöhnliche Frau denkt. Aber er
glaubte, daß er sie letztendlich überzeugen konnte, daß
es für sie beide jetzt keinen Weg zurück ins Meer gab,
aus dem sie gekommen waren. Ganz abgesehen davon,
daß kein Schiff Myra im Umkreis von zwei Tagesritten
verlassen konnte, ohne daß die Späher der
Wassermenschen es bemerkt hätten. Und sie ließen
keines der Schiffe durch. Niemand durfte das Gebiet
um Myra verlassen. Nicht das unbedeutendste
Fischerboot wurde außer acht gelassen. So lautete des
Königs Anordnung.
Niemand sollte die Flotte warnen können vor der
Falle, die man emsig vorbereitete.
Während er die gewundene Straße des Glanzes in
das Hafenviertel hinabritt, kam ihm etwas in den Sinn,
das ihn trotz der warmen Luft frösteln ließ, obwohl er
sich dabei einen Narren schalt. Irgendwo in dieser
Nacht mit Sela war ein dunkler Punkt. Da war immer
ein Gefühl der Panik, wenn seine Gedanken in diese
Richtung wanderten. Eine instinktive Furcht.
Irgend etwas war geschehen, das er nicht verstand,
oder besser, an das er sich nicht zu erinnern vermochte,
so sehr er es auch versuchte.
Es mochte ebensogut ein Traum gewesen sein. Aber
etwas in ihm wollte sich mit dieser einfachen Erklärung
nicht zufriedengeben. Augen hatten etwas mit dieser
Furcht zu tun. Dunkle Augen.
Selas Augen?
Er erreichte die Kais und sah sich staunend um. Der
Hafen bot ein ungewöhnliches Bild. Die großen Schiffe
der Flotte waren alle ausgelaufen. Dennoch wirkte der
schmale, lange Meeresarm alles andere denn leer.
Kleinere Segler wechselten wie Fähren von einem
Ufer zum anderen. Große Flöße aus gewaltigen
Stämmen hatten Schleudermaschinen geladen, dazu
Geschosse und Taue, Ölfässer und Wasserbehälter.
Dutzende dieser Maschinen wurden herangeschafft
und gut getarnt an den steilen Hängen beidseitig des
Hafenbeckens aufgestellt. Für die feindliche Flotte
würden sie selbst für scharfe Augen bis zum Einsatz
unsichtbar sein. Dann allerdings würden sie große
Gesteinsbrocken und Feuerbrände auf die Schiffe
hinabschleudern. Steinlawinen wurden aufgeschüttet
die mit einem Axthieb in Bewegung gesetzt werden
konnten.
Die ganze Stadt war an den Arbeiten beteiligt. Jeder,
der eine Axt nicht nur zum Kämpfen zu verwenden
wußte, wurde gebraucht. Und jeder half bereitwillig
genug. Sie wußten, daß es um ihr Leben ging. Und des
Königs Plan war gut. Nicht ein Stein Myras würde vom
anderen gerissen werden, wenn er Erfolg hatte.
Wigor sah auch, daß ein Großteil des Heeres aus
dem Osten der Stadt heranrückte. Ein Teil würde wohl
die Flotte bemannen, die zwar genügend Seeleute und
Ruderer hatte, aber zu wenig Krieger, um volle
Manövrierfähigkeit und Kampfkraft zu haben.
Faszinierend zu beobachten waren die Tainu, die
mit ihren Delphinen und den kleinen Wassergleitern
die wichtigsten und schnellsten Helfer im Hafen
waren. Sie sprangen mit halsbrecherischer
Behendigkeit über die Wellen. Es hieß, daß der König
eine ganz besondere Verwendung in der Schlacht für
sie hätte, eine, die sie ihm selbst vorgeschlagen hatten,
eine zudem, die ihm große Zuversicht gab.
Noch immer war von den Tainu-Spähern keine
Nachricht gekommen. Das bedeutete, daß wenigstens
noch der ganze Tag und die folgende Nacht Zeit für die
Vorbereitungen blieb.
Wigor riß sich los von dem Anblick des regen
Hafens und begann sich gezielt umzusehen. Wo sollte
er den König finden?
Aber er spürte, daß es nicht schwer sein würde. Er
brauchte nur abzusitzen und weiterzugehen. Etwas
würde ihn direkt zum König führen. Das war ein
höchst verwunderlicher Gedanke, und Wigor lächelte
innerlich darüber, aber der Gedanke kam beharrlich
wieder. Er spürte einen deutlichen Drang, abzusteigen
und auf eines der Schiffe zuzugehen.
Er schüttelte den Kopf. Was sollte der König dort ...?
Aber dann sah er ein Mädchen in hellen Röcken über
die Laufplanke rennen und auf dem Kai warten. Er
erkannte sie sofort wieder. Das war Yina, die immer in
der Nähe des Königs anzutreffen war.
Der König konnte also nicht weit sein.
Gleich darauf kam auch Dragon vom Schiff und
schritt an Yinas Seite auf wartende Pferde zu. Hinter
ihnen kam der schwarzhäutige Krieger aus Shi-but,
den Wigor schon bei der Besprechung bemerkt hatte.
Er schien seine Leibwache zu sein.
Das erschwerte alles ein wenig, aber er brauchte nur
Vertrauen in seine Kraft. Die Überraschung war auf
seiner Seite. Er kam nicht mehr dazu, über diesen
seltsamen Gedanken nachzudenken.
Er sprang in den Sattel und trieb sein Pferd an. In
gestrecktem Galopp raste er auf die Gruppe zu und
fühlte mit einem Mal einen Dolch in seiner Faust. Als
er heran jagte, drehte das Mädchen sich plötzlich
herum. Sie rief etwas – etwas, das dem König das
Leben rettete. Denn Dragon duckte sich, und Wigors
Dolch stieß ins Leere. Einen Augenblick war ein
schmerzliches Gefühl des Versagens in ihm und etwas
Tröstendes. Dann fühlte er sich umklammert und aus
dem Sattel gerissen. Er sah schwarze Arme, die ihn wie
in einer Zange hielten. Dann kam der steinerne Boden
auf ihn zu.
Der Aufprall brachte die ganzen widerstreitenden
Empfindungen und Gedanken in ihm zum Erlöschen.
Als er erwachte, fand er sich in einem kleinen Raum
wieder, vor dessen Eingang ein Soldat mit einer Lanze
stand. Auf Wigors Stöhnen warf er einen Blick hinein.
»Endlich wach«, murrte er. »Wenn‘s nach mir
gegangen wäre, hätten die Fische an dir was zu beißen
gehabt. Aber unser König, die Götter mögen ihn uns
lang erhalten, hat ein verdammt weiches Herz. Er
meinte, mit dir wäre nicht alles richtig. Scheint mir
auch so.« Er wandte sich wieder nach draußen, ohne
eine Antwort des Gefangenen abzuwarten. »He, Jagor,
du kannst die Kleine benachrichtigen. Der
Messerstecher ist aufgewacht.«
Die Wache schien wenig Liebe für ihn zu hegen.
Was war nur geschehen?
Wigor versuchte sich zu erinnern. Er war auf dem
Weg zum Hafen gewesen. Wußten sie nicht, wer er
war? Warum hatten sie ihn hier eingesperrt?
Sein Kopf schmerzte, und seine Unterarme waren
notdürftig verbunden. Hatte es einen Kampf gegeben?
War etwa schon die Schlacht vorbei? Er hatte gehört,
daß es Männer gab, die im Kampf verwundet wurden
und ihr Gedächtnis verloren. War er nun einer von
ihnen? Wohl kaum. Den Worten der Wache nach zu
schließen, mußte er viel eher ein Verbrechen begangen
haben.
Er zermarterte sich eine Weile vergeblich sein
Gehirn, bis sich Schritte näherten, und ein Mädchen
eintrat.
Yina, die Begleiterin des Königs.
Als sie seine Verwirrung sah, schüttelte sie traurig
den Kopf. »Herr Wigor«, sagte sie vorwurfsvoll, »was
habt Ihr da nur angestellt?«
»Ja«, sagte er heiser, »was ... was habe ich denn
angestellt?«
»Wißt Ihr es denn nicht?«
»Nein«, erwiderte er gequält.
Sie starrte ihn einen Moment lang an, dann nickte
sie, als begriffe sie, was geschehen war. Offenbar
zweifelte sie nicht an seiner Antwort, so unglaublich
sie auch klingen mußte.
Sie ballte ihre kleinen Fäuste. »Wenn ich Euch nur
helfen könnte ... Wenn ich Euch nur irgendwie
schützen könnte ...«
»Schützen«, meinte er verständnislos. »Wovor?«
»Vor Euch selbst, Herr Wigor. Und vor dem, was
sich in Euch eingenistet hat. Ihr habt heute morgen
versucht, den König zu ermorden.«
Wigor wurde bleich. »Ich habe waaaas ...?«
Sie nickte. »Irgend etwas warnte mich, und ich sah
Euch rechtzeitig kommen. Ubali hat Euch vom
galoppierenden Pferd gerissen. Es war sein
Meisterstück.«
Ihre Anerkennung schwand rasch und machte der
Traurigkeit wieder Platz.
»Und was geschieht jetzt?« fragte er.
»Onkel Dragon ... der König will mit Euch sprechen.
Kommt mit, Herr Wigor. Und habt keine Furcht, ich
werde für Euch sprechen ... das heißt, wenn Ihr mich
als Eure Fürsprecherin annehmt ...?«
Sie lächelte und schritt voran. Mehrere Wachen
folgten. Menschen blieben stehen und starrten ihn an.
Es war ihm, als müsse er versinken. Sie befanden sich
im Hafengebiet. In einem Schiff am Kai erwartete der
König sie. Er war allein. Sie fanden ihn über Pläne
gebeugt.
Er musterte Wigor prüfend. Die Zerknirschung des
Jungen entging ihm nicht. Er warf einen fragenden
Blick auf Yina. Diese nickte. »Alles deutet darauf hin,
daß meine Vermutung stimmt. Da er sich nicht erinnert
...«
»Bist du dessen sicher, Yina? Sagtest du nicht, es
wäre dir bei ihm nicht möglich, so etwas festzustellen
...?«
»Das ist es auch nicht«, gab das Mädchen zu. »Aber
ich bin dennoch sicher, daß er die Wahrheit sagt ...«
»Du darfst dich nicht von freundschaftlichen
Gefühlen leiten lassen.«
Yina nickte. »Das tu ich auch nicht, Onkel, aber Herr
Wigor ist unschuldig.«
»Ja«, entfuhr es Wigor in impulsivem
Einverständnis. Er hatte noch gar nicht daran gedacht –
aber nun, da das Mädchen es sagte, gab es gar keinen
Zweifel mehr. Er war unschuldig. Erstaunt lauschte er,
wie das Mädchen fortfuhr.
»Es ist Selas Werk, Onkel.«
Dragon runzelte die Stirn. »Dann stimmt es also, daß
die Iquani-Mädchen ihren Geliebten die Seele rauben,
damit er ihnen gehorsam bleibt bis zum Tod?«
»Nein, ich glaube, es stimmt nicht ganz«,
widersprach Yina. »Soviel ich mitbekam«, dabei wurde
sie ein wenig rot und vermied es tunlichst, Wigor
anzusehen, »... ist das mit der Seele nur symbolisch zu
nehmen – was die Leute von ihnen glauben, weil sie es
nicht besser
wissen ...«
»Was ist es dann?« fragte Dragon.
»Ich glaube, die Iquani nehmen den Männern nichts
weg, sondern sie pflanzen ihnen etwas von sich ein ...
in ihren Geist. Damit können sie dann ihren Willen
beherrschen.«
»Aber wie ...«, begann Dragon. »Mit der Kraft ihrer
Augen«, erklärte das Mädchen.
»So wie Arzan Shor es bei mir gemacht hat«,
murmelte Dragon nachdenklich.
»Wahrscheinlich.« Das Mädchen nickte.
»Wollt Ihr damit sagen, mein Fräulein«, brach es aus
Wigor hervor, »daß Sela mir befahl, den König zu
töten ...?«
»Ja«, sagte Yina traurig.
»Warum sollte sie den Tod König Dragons
wünschen?« rief er.
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Das weiß ich
nicht. Vielleicht, weil der König Euch seine Gunst
geschenkt hat, weil Ihr an seiner Seite kämpfen wollt –
gegen ihren Vater ...«
»Das wißt Ihr?« entfuhr es Wigor.
Yina nickte. »Wir wissen eine ganze Menge«,
erklärte Dragon. »Von den Tainu. Sie haben starke
Geisteskräfte, denen nicht vieles verborgen bleibt. Sie
sagen auch, daß die Iquani nicht ganz menschlich sind.
Sie meinen, daß sie von den Göttern stammen, die vor
vielen tausend Jahren auf die Erde kamen und sich mit
irdischen Frauen vermählten ...«
»Legenden ...«, meinte Wigor.
Dragon nickte. »Ja, vielleicht. Aber sie würden die
Kräfte erklären, die die Iquani besitzen. Aber all das ist
jetzt unwichtig. Betrachtet es als ein Zeichen unseres
guten Willens und unseres Vertrauens, Herr Wigor,
daß wir Euch nach dieser Tat weder bestrafen, noch in
den Kerker werfen. Da wir aber fürchten müssen, daß
der Vorgang sich wiederholen könnte, muß ich Euch
überwachen lassen und muß Euch bitten, Ubalis
Gegenwart bis auf weiteres zu dulden.«
Wigors Gesicht war anzusehen, daß ihm das gar
nicht gefiel, aber er widersprach nicht. Er schien
einzusehen, daß er sich dem Willen des Königs wohl
beugen mußte, nach allem, was geschehen war, wenn
er nicht sein Vertrauen verlieren wollte.
Während er mit Ubali das Schiff verließ, in dem
König Dragon vorübergehend sein Hauptquartier
aufgeschlagen hatte, schlich sich ein anderer Gedanke
in sein Herz, der noch wesentlich schmerzlicher war:
Wenn es stimmte, was sie sagten, daß es Selas Wille
war, daß er den König ermorden sollte, dann bedeutete
ihr sein Geschick wenig oder gar nichts. Wäre Zogor
noch König gewesen, dann hätte den Meuchelmörder
auf der Stelle sein Schicksal ereilt. Sela schien nicht
davor zurückzuschrecken, sein Leben aufs Spiel zu
setzen.
Er zweifelte nicht, daß etwas Fremdes in ihm war. Er
hätte nie selbst den Dolch erhoben gegen einen Mann,
der mit dem Rücken zu ihm stand. Das Etwas in ihm
hatte weniger Skrupel. Konnte es wirklich Sela sein?
Er mußte Klarheit haben. Der König hatte recht, es
konnte jederzeit wieder geschehen. Er hatte keinen
ruhigen Augenblick mehr. Entschlossen wandte er sich
an seinen schwarzen Begleiter. »Du heißt Ubali?«
Der Schwarze nickte grinsend. Er schien keinen
Groll gegen ihn zu hegen. Wigor atmete auf.
»Hältst du mich für einen Mörder?« fragte er.
»Der König sagt, nein«, erwiderte Ubali. Damit
schien die Sache auch für ihn geklärt.
»Aber du würdest mir eher den Hals umdrehen, als
mich entwischen zu lassen, hm?«
Das Grinsen des Schwarzen wurde breiter. Es war
ansteckend. Wigor konnte nicht umhin, ebenfalls zu
grinsen, obwohl ihm nicht danach zumute war. Ubali
war ein Kerl nach seinem Geschmack. Furchtlos,
geschickt. Einer wie Jaggar ...
Entschlossen wandte er sich um. »Komm, mein
schwarzer Freund. Mit Bewachen allein ist nicht viel
gewonnen. Wir werden der Sache auf den Grund
gehen. Zum Palast!«
Ubali nickte. Er war erfreut, daß er nicht einfach
hinter dem Jungen herzustapfen brauchte. Dieser
Wigor war ein Mann der Tat. Und für Taten war Ubali
immer zu haben.
Sie gingen zu den Pferden und ritten durch das
Hafenviertel zur Straße des Glanzes. Viele Menschen
waren hier nicht unterwegs, nur ein Karren kam, mit
dem alle Tage Wein und Fleisch und Brot und allerlei
andere Dinge in den Palast gebracht wurden.
Als sie den halben Weg zum Palast hinter sich
hatten, fühlte Wigor eine verwirrende Betäubung in
seinem Kopf. Instinktiv erinnerte es ihn an eine
Empfindung, die er heute schon einmal erlebt hatte. Er
wußte nicht wo, aber er hatte plötzlich Angst.
»Ubali!« rief er und wandte sich um. Sein Gesicht
verzerrte sich.
Ubali sah es und handelte sofort. Er trieb sein Pferd
vorwärts, um Wigor zu halten. Aber der trieb im selben
Augenblick seinem Pferd die Fersen in die Weichen,
daß es sich aufbäumte und die steile Serpentinenstraße
vorwärtsraste, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Ubali, obwohl ein ausgezeichneter, ja, vielleicht
sogar der bessere Reiter der beiden, hatte Mühe,
dranzubleiben. Den jungen Wigor schien seiner
Meinung nach ein Dämon vorwärtszutreiben.
So war es auch.
Er nahm nicht mehr wahr, was um ihn geschah.
Etwas hatte von ihm Besitz ergriffen. Etwas rief ihn.
Etwas, wogegen er sich nicht zu wehren vermochte,
das ihn völlig für sich beanspruchte.
Etwas, das seine Hilfe brauchte.
Ubali sah verblÜfft, daß Wigor nicht die Straße zum
Palast nahm, sondern hinter dem Kamm des Berges
verschwand. Es war ein halsbrecherischer Ritt, der
selbst Ubali die Zähne zusammenbeißen ließ. Wigor
verließ die Straße und nahm einen schmalen Pfad den
Berg der Könige hinab, ohne seine Geschwindigkeit
merklich zu vermindern. Unten erreichten sie die
Straße, die in den nördlichen Hafen Myras führte, den
ältesten Teil der Stadt. Es war die Straße der Henker,
die direkt auf den alten Richtplatz mundete. Hier
standen auch die ältesten Häuser- seltsam
verschnörkelte, schlanke, turmartige Häuser aus einer
Zeit vor den großen myranischen Königen, die noch
von alten Völkern kündeten, die hier vor den
myranischen Eroberern lebten. Auch die verfallenen
Tempel waren fremdartig und beherbergten Götter
und Altäre, zu denen seit Jahrhunderten niemand mehr
betete.
Obwohl viele diesen Ort mieden und abergläubische
Scheu davor empfanden, war er nicht unbewohnt: ein
Viertel, das allen jenen Unterkunft bot, die den Hunger
mehr fürchteten als die alten Götter.
Auch in diesem Stadtteil waren die Vorbereitungen
für den Empfang der feindlichen Flotte bereits weit
gediehen, und niemand hatte in diesen Stunden wohl
viel Zeit, an die alten Götter und Dämonen zu denken.
Ein Großteil des Heeres benutzte die Straßen, um die
Nordküste des Hafenarmes zu erreichen und dort die
Stellungen zu beziehen, wie der König mit Hilfe
Parthos und der Daikane und ihrer Vertreter festgelegt
hatte.
Wigor kümmerte sich wenig um die Menschen auf
den Straßen. Manch einer, der nicht schnell genug zur
Seite sprang, machte Bekanntschaft mit dem harten
Pflaster und dem Schmutz, mit dem der spärliche
Regen nicht fertig wurde.
Ubali konnte es sich nicht leisten, langsamer zu sein.
Aber er hatte als der Verfolger den Vorteil, daß die
Straßen bereits frei waren.
Es war ein bereits bekanntes Gebäude, vor dem
Wigor aus dem Sattel sprang ...
Arzan Shors Turm – aus dem sie den König befreit
hatten. Das lag erst ein paar Tage zurück.
Ubali nahm sich keine Zeit für verwunderte
Überlegungen. Er eilte hinter Wigor die schmalen
Treppen hoch. Von oben kam ein knirschendes,
brechendes Geräusch. Dann ein wütender Aufschrei.
Und gleich darauf eine weibliche Stimme voller
Triumph: »Töte ihn! Töte ihn, mein Geliebter!«
Ubali erreichte die Tür, die Wigor eingeschlagen
hatte, und sah ein gefesseltes Mädchen auf einem
schweren, altarartigen Tisch. Es war Sela, die sich in
ihren Fesseln krümmte, um zu sehen, was hinter ihr
vorging. Immer wieder stachelte sie Wigor zum Töten
auf.
Ubali stürzte auf die beiden ineinander verkrallten
Männer zu und stieß sie mit der ganzen Wucht seines
gewaltigen Körpers zu Boden.
Die Kämpfenden prallten zurück und stürzten. Aber
Wigors Fäuste gaben den Schwarzgekleideten nicht
frei.
»Das Mädchen!« kreischte Wigors Gegner. »Sie lenkt
ihn!«
Ubali verstand nicht, was es bedeutete – nicht den
wahren Sinn. Aber er sah, daß die Rufe des Mädchens
Wigor aufstachelten. »Töte ihn, Wigor! Töte! Töte!«
Und Wigor verdoppelte seine Anstrengungen. Er
schleuderte den eingreifenden Ubali wie ein Kind zur
Seite. Er hatte keine Waffe bei sich, aber seine Fäuste
bearbeiteten seinen schwarzgekleideten Gegner, die
nur auf eines hindeuteten- er wollte ihn töten!
Benommen sah Ubali die verzerrten Züge Wigors.
Er war von Sinnen. Da dämmerte Ubali die Wahrheit.
Was er von Yina und dem König gehört hatte, kam ihm
in diesen Augenblicken in den Sinn.
Das Mädchen! Sie mußte die treibende Kraft sein.
Sie besaß Wigors Seele. Das war es wenigstens, das er
mitbekommen hatte. Er zögerte nicht länger. Er sprang
zum Tisch, faßte das Haar der sich Windenden und
drehte ihren Kopf zur Seite. Ein spitzer Schrei entrang
sich ihren Lippen. Gleichzeitig sah er aus den
Augenwinkeln, wie Wigor von seinem Gegner abließ
und sich aufrichtete. Sein irrer Blick richtete sich auf
Ubali.
Mit einem raschen Schlag gegen die Schläfe brachte
er das Mädchen zum Schweigen. Sie sank zusammen.
Stille herrschte einen Augenblick in dem Raum, und
nach dem Schreien und Brüllen und Kampflärm wirkte
sie unnatürlich. Wigor war mitten in der Bewegung
erstarrt. Seine Augen weiteten sich. Entsetzen kam in
seine Züge. »Ubali ...«, murmelte er. »Was ist ...?«
Erleichtert grinste Ubali ihm zu. »Eine Hexe«, sagte
er einfach und deutete auf die bewußtlose Sela.
»Sollten sie töten!«
Wigor sah ihn groß an. »Nein!« rief er und sprang
auf Sela zu. Er stellte sich schützend vor sie. »Sie mag
an all dem schuld sein, aber ich liebe sie nun einmal ...«
Ubali schüttelte den Kopf. »Ihr mordet Herr ... auf
ihr Geheiß. Niemand sonst.«
Bevor Wigor antworten konnte, begann sich der
Schwarzgekleidete zu regen und erhob sich mühsam.
Den spitzen Bart, die stechenden Augen, das dunkle
Gesicht ... Ubali glaubte auf Grund der Erzählung
Dragons zu wissen, wen er vor sich hatte.
»Arzan Shor«, rief er und griff zum Messer.
Der nickte und hob abwehrend die Hände. »Ja, ja,
ich bin es. Woher du auch immer meinen Namen
weißt, schwarzer Bruder ...«
»Kein Bruder«, sagte Ubali drohend.
Wigor, der merkte, daß Ubali gründliche Arbeit
geleistet hatte und all sein Streicheln die bewußtlose
Sela nicht zu sich brachte, ließ von ihr ab und
versuchte, seinen schwarzen Freund zu beruhigen.
»He! Hört auf zu streiten!« Er wandte sich Arzan
Shor zu. »Ihr, mein Herr, habt mir einiges zu erklären.«
Der Magier nickte hastig. »Aber laßt sie nicht
aufwachen!« Er deutete auf das Mädchen.
»Und sprecht die Wahrheit! Oder Ihr würdet es
bereuen!« sagte er drohend.
Arzan Shor schob die Faust beiseite, mit der Wigor
vor seinem Gesicht fuchtelte. »Das wiederum würdet
Ihr bereuen, junger Freund ...«
»Ich glaube nicht, daß ich Euer junger Freund bin«,
erwiderte Wigor barsch.
Der Magier lächelte. »Das mag sich rasch ändern.
Ich kann Euch nämlich helfen ...«
»Ihr könnt mir ...?« entfuhr es Wigor, und Ubali
beugte sich interessiert näher.
»Euch helfen«, ergänzte Arzan Shor. »Wieder von
Eurer Freundin frei zu sein.«
Ungläubig starrte Wigor ihn an. »Was wißt Ihr
davon?«
»Mehr als Ihr denkt. Ich kenne die Kräfte, die ihr
innewohnen. Ich besitze sie selbst auch. Das ist der
Grund, warum ich sie entführte ...«
»Ihr meint«, unterbrach ihn Wigor, »Ihr habt die
Kräfte der Iquanis?«
»Ich kann Menschen durch die Kraft meines Willens
lenken«, erklärte der Magier, »ohne daß sie wissen, was
sie tun. Ihr könnt El Dschafar, den Dieb, fragen. Oder
auch den König. Und ich brauche dazu weder seine
Liebe, noch seine Seele.« Letzteres klang verächtlich.
»Aber meine Kräfte haben ihre Grenzen. Durch eine
Verbindung mit ihr hoffte ich, meine Macht zu
vergrößern ...«
»Ihr habt sie aus dem Palast entführt?«
Arzan Shor nickte. Er lächelte. »Es war nicht schwer.
Sie war tief in Trance, als ich sie fand ...«
»In Trance ...?« fragte Wigor verständnislos.
»Ein magisches Wort, mein Freund, das bedeutet,
daß der Geist tief in einem inneren Sehen begriffen ist.
Aber was erkläre ich einem sterblichen Narren die
Dinge jenseits der Seele ...«
»Vorsicht, Magier«, knurrte Wigor verärgert, »so
unsterblich seid Ihr auch nicht. Die Faust bringt meist
den Geist zum Schweigen, bevor die großen Dinge
gedacht sind!«
Ubali berührte ihn an der Schulter. »Wenn er helfen
kann, Herr Wigor ...«
»Was wolltet Ihr von ihr?« fragte Wigor den Magier.
»Ihr klarmachen, was für eine Zukunft vor uns läge,
wenn sie sich mit mir zusammentät ...«
»Auf diese Art wolltet Ihr das tun?« Wigor deutete
auf das gefesselte Mädchen.
Arzan Shor nickte freudlos. »Das war ein Versuch,
sie wenigstens dazu zu bringen, daß sie mir zuhörte.
Aber sie hatte andere Pläne, und zwar mit Euch. Aber
das merkte ich erst, als Ihr zur Tür hereinbracht ...«
Wigor konnte sich ein Grinsen nicht verbeißen.
»Und Ihr könnt mich frei machen von dieser Macht, die
sie über mich hat?«
Der Magier nickte erneut. »Wenn Ihr dafür Euren
Groll begrabt ...«
»Auch ohne diese Bedingung würdet Ihr es liebend
gern tun, oder?« fragte Wigor. »Wenn sie nämlich
erwacht, wird sie sich zuerst an Euch erinnern. Ich
wette, Ihr seid der erste, den sie mir zu erwürgen
befehlen
wird ...« Er sah Ubali an. »Aber ich bin nicht
nachtragend, und die Sache ist für uns beide von
Gewinn. Was meinst du, Ubali, können wir ihm
trauen?«
»Ich glaube ziemlich sicher, Herr Wigor.« Dabei
ballte er seine mächtigen Fäuste, und seine weißen
Zähne blitzten.
Arzan Shor starrte ihn bleich an. »Ihr könnt mir
trauen, edler Herr. Aber wir sollten rasch handeln ...
bevor sie wieder aufwacht ...«
»Dann wird Ubali sie noch einmal streicheln.«
»Ihr scheint sie nicht mehr zu lieben«, begann der
Magier.
»Mehr denn je, wenn ich erst frei bin von ihr. Aber
sie hat eine kleine Abreibung verdient für das, was sie
mit mir getan hat.«
»Vielleicht liegt es in ihrer Natur ...«
Ungeduldig unterbrach ihn Wigor. »Ich werde es
herausfinden. Wie ist es? Was habe ich zu tun?«
Arzan Shor trat nah zu ihm. »Seht mir in die
Augen.«
Er hätte nachher nicht zu sagen vermocht, was
geschehen war. Nur an ein Gefühl erinnerte er sich, so
als ob jemand durch seine Augen in seinen Schädel
gestiegen wäre und etwas sehr Schmerzliches getan
hätte.
Als er in die Wirklichkeit zurückfand, sah er Ubali
über Sela gebeugt, die Hand zum Schlag erhoben, denn
das Mädchen kam stöhnend zu sich. Als dieser sah,
daß Wigor und der Magier zum Ende gekommen
waren, richtete er sich erleichtert auf.
Wigor sah sich verwirrt um. Er fühlte keinen
Unterschied. »Hast du gesehen, was er getan hat,
Ubali?«
Der Schwarze nickte. »Nur tief in die Augen
gesehen und gemurmelt. Mächtige Formeln ...«
»Aha«, meinte Wigor. »Formeln. Wie ein
Wunderheiler! Schwarzkünstler!« Arzan Shor hob
drohend die Faust und schüttelte sie. »Das sagt Ihr
nicht mir, nicht Arzan Shor, der Königen in die Seele
gesehen hat ...!«
Eine neue Stimme ließ sie beide herumfahren. Das
Mädchen hatte sich in den Fesseln aufgebäumt und
starrte die beiden an. Ihr Gesicht war verzerrt vor
Anstrengung – weitaus mehr Anstrengung, als für das
Aufbäumen notwendig gewesen wäre. »Wigor!«
kreischte sie. »Töte ihn!«
Aber Wigor fühlte keinerlei Verlangen danach.
Ubali entspannte sich, als er es sah. Und Arzan Shor
tat, als war das selbstverständlich für ihn. Das
Mädchen hingegen sah ungläubig von einem zum
ändern.
»Warum gehorchst du mir nicht, mein Geliebter?«
»Das ist vorbei, Sela«, erklärte Wigor ruhig. »Binde
sie los, Ubali.« Er trat zu ihr und drehte ihr Gesicht,
daß sie ihn ansehen mußte. »Es gibt jetzt nur noch eine
Macht, die mich an dich kettet – die des Herzens. Und
das verdanken wir diesem Meister aller ...« Verblüfft
stellte er fest, daß sich der Magier aus dem Staub
gemacht hatte. Von der Straße drangen hastige Schritte
herauf.
Ubali grinste. »Scheint seine Art zu sein. Er lief auch
beim erstenmal weg.«
Sela sah Wigor bleich an und setzte sich auf, als die
letzten Stricke fielen. »Dieser Scharlatan hat wahrhaftig
alles ausgelöscht, was du von mir in dir hattest?«
»Allerdings, mein Liebling«, erwiderte Wigor. »Und
ich bin einigermaßen froh darüber. Das kannst du mir
wohl glauben ...«
»Oh, ihr Götter!« flüsterte sie. Sie sank zurück auf
den Tisch und barg den Kopf in den Armen. »Oh, ihr
Götter«, schluchzte sie.
6.
Als der Morgen dämmerte, waren sie bis zur Nachhut
zurückgefallen. Kapitän Liglin hatte wohl im stillen
beschlossen, abzuwarten, denn er unternahm nichts
gegen die Männer der Wellenreiterin.
Sie waren weit außerhalb der Flotte gesegelt, um
König Jellis aus dem Einflußbereich des
Schlangenpriesters zu bringen, denn Jaggar war fest
davon überzeugt, daß mit der Entfernung die Kraft
schwand.
Er behielt auch recht.
Nach und nach fiel alle Benommenheit von Jellis ab.
Er konnte freier denken. Ein porgisches Fischerboot
begegnete ihnen. Sie mußten sich also bereits auf der
Höhe von Porga befinden. Mit gutem Wind würde die
Flotte am nächsten Morgen vor Myra stehen.
Ein Späherschiff kam näher, erkannte die Meleqa.
Die Männer winkten. Sie hatten keinen Verdacht, und
sie schienen nichts von den nächtlichen Geschehnissen
zu wissen.
Jaggar weckte den König aus seinem Schlummer,
um ihn von der Lage zu unterrichten. Die Gelegenheit
wäre günstig gewesen, das Späherschiff auf ihre Seite
zu bringen. Es war an der Zeit, ihre Streitmacht zu
vergrößern, denn früher oder später wurden sie sich
gegen den falschen König stellen müssen.
Jellis fühlte sich völlig frei von jedem Zwang.
Serphats Griff war gebrochen, Die Erleichterung in
Jaggars Zügen entlockte dem König ein Lächeln.
»Später«, sagte er, »wirst du mir berichten, wie das
alles geschehen ist.« Er erhob sich und griff nach
seinem Waffengurt. Er sah Daraq im Hintergrund der
Kajüte und nickte dem Mann zu, der seinen Schlaf mit
dem Schwert bewacht hatte.
»Ich habe tapfere Männer um mich und weiß es
nicht. Was bin ich nur für ein König! Aber ihr sollt
nicht länger allein kämpfen.«
»Als erstes«, sagte Jaggar, als sie die Kajüte
verließen, »gilt es, Kapitän Liglin zu überzeugen. Er
denkt, wir hielten dich gefangen. Er versteht nicht, daß
es nur zu deinem Schutz war, daß wir dich festbinden
mußten ...«
»Ihr mußtet mich festbinden?« fragte der König.
»Ja, König. Der Priester hatte dich so fest in seiner
Gewalt. Du wolltest über Bord. Es gibt nur eine
Erklärung dafür: Er wollte dich töten.«
Jellis nickte langsam. »Das mag schon sein. Damals
in Candis, als du in den Palast kamst, da glaubte ich dir
nur halb. Aber inzwischen hat Serphat seine Maske
fallenlassen. Er ließ es mich fühlen, daß ich nach
seinem Willen tanzte. Und er wird es büßen.«
Kapitän Liglin verlor seine feindliche Haltung
weitgehend, als er Jaggar an der Seite des Königs auf
Deck sah. Aber er beobachtete Jaggar mißtrauisch.
»Käpt‘n Liglin«, sagte Jellis streng. »Hab ich dir
nicht befohlen, den Befehlen dieses Mannes Folge zu
leisten?« Dabei deutete er auf Jaggar.
Liglin nickte unsicher.
»Statt dessen bekämpfst du ihn. Bist du von
Sinnen?«
Bleich antwortete der Kapitän: »Ich wähnte dich in
Gefahr, mein König. Es sah aus, als ...«
»Kümmere dich nicht darum. Es sind Teufelskräfte
in mir, die nur langsam ihre Wirkung verlieren. Jaggar
weiß es. Er weiß auch, wann sie beginnen, und was zu
tun ist. Behindert ihn nicht mehr, Kapitän. Er hat mein
volles Vertrauen.«
»Ja, mein König«, beeilte sich Liglin zu versichern.
Er sah noch immer nicht ganz klar, aber er hatte
erkannt, daß Jaggar nicht der Schurke war, für den er
ihn gehalten hatte.
Aber weder der König noch Jaggar hatten Zeit,
nachtragend zu sein. Außerdem war beiden klar, daß
Liglin nur aus gutem Gewissen so gehandelt hatte und
auf des Königs Seite stand.
Es galt keine Zeit zu verlieren. Das Späherschiff
schien genug gesehen zu haben. Es fiel zurück und
nahm Kurs auf Porga.
»Wer ist der Kapitän dieses Schiffes?« fragte Jellis.
»Larenque«, erwiderte Liglin.
Der König nickte. »Einer der Bruderschaft also. Gut.
Gebt ihm Signal, längsseits zu gehen. Ich möchte an
Bord.«
Der Kapitän ließ Klüver- und Besansegel einholen,
was die Geschwindigkeit des Schiffes merklich
verringerte. Hornsignale machten die Maranqa, so hieß
das Späherschiff, auf ein Bord-an-Bord-Manöver
aufmerksam.
Von da an schien alles einfach.
Die Maranqa stellte sich ohne Zögern in den
persönlichen Dienst des Königs. Nach ihr auch zwei
Nachhutschiffe, die Sturmvogel und die Meliqa.
Sie hatten nun genügend Männer, um auch die
Wellenreiterin ausreichend zu bemannen. Qarin war
erfreut, sie wiederzusehen. Er hatte schon Angst
gehabt, die Gefährten in Ketten in Myra
wiederzutreffen.
Die kleine Flotte von fünf schnellen Seglern nahm
unter der Führung der Schwarzen Wellenreiterin, auf
der sich nun auch der König befand, Kurs nach
Nordosten, zur Insel Vassor. Für Jaggar war dies ein
vertrautes Gebiet. Dorthin hatten seine Beutefahrten
ihn oft geführt. Von dort aus gelangte man an einen
günstigen Punkt der myranischen Küste, von dem aus
Myra zu Pferd in wenigen Stunden erreichbar war.
Die Kapitäne hatten anfangs darauf gedrängt,
weitere Schiffe auf ihre Seite zu bringen, aber Jellis
wollte die Flotte nicht schwächen.
»Ihr werdet verstehen, daß es im Grunde völlig
gleich ist, wer Myra erobert. Dieser Priester vermag das
ebenso gut wie ich. Was ihm an strategischem Verstand
fehlen mag, ersetzt er durch andere Eigenschaften. Mit
diesem Aufgebot an Schiffen und dem überraschenden
Auftauchen der Flotte müßte es mit Quel zugehen,
wenn wir Myra nicht im Handstreich nehmen.«
Die Kapitäne nickten. Jaggar nur zögernd. Gewiß, es
war eine gewaltige Macht. Aber dieser Dragon hatte
nicht nur eine Stadt erobert, sondern das ganze
myranische Reich. Er mußte stark sein. Die Dinge
wiederholten sich, dachte er ein wenig bitter. Nun
stand er wieder vor dem König und warnte ihn.
»Es dürstet diesen Priester nach Myra«, fuhr Jellis
fort. »Er will es um jeden Preis haben. Er wird alles tun,
um es zu erobern. Einen besseren Verbündeten
könnten wir uns gar nicht wünschen – bis nach der
Schlacht.« Er sah von einem zum anderen. »Solange er
sich als der König ausgibt, und seine
gestaltwandlerische Fähigkeit macht ihm dies leicht
genug, solange gehorchen ihm die Kapitäne der
Bruderschaft ohne Disput. Er wird also seine Maske
solange wie möglich aufrechthalten, und wir werden
sie nicht aufdecken. Aber er wird den Thron Myras nie
besteigen. Ich werde es sein. Und keiner wird den
Tausch bemerken ...«
»Warum erst so spät?« wandte einer der Kapitäne
ein. »Warum ein Risiko eingehen, wenn du die Flotte
um vieles besser führen könntest? Wäre es nicht
möglich, ihn bereits auf dem Schiff ...«
»Nein«, entschied der König. »Das wäre das
wirkliche Risiko. Jaggar mag ein Lied davon singen,
wie schwierig es ist, an das Flaggschiff
heranzukommen. Die meisten würden in gutem
Glauben und Gewissen so handeln wie Kapitän Liglin
...«
»Und dann ist noch etwas zu bedenken«, ergriff
Jaggar das Wort. »Wir standen diesem Teufel schon
einmal auf der Wellenreiterin gegenüber, und später
auf dem Boot Moraqs. Es ist zu leicht für ihn, dem
Feuer zu entkommen. Er ist der Priester der Schlange,
vergeßt das nicht. Und als solcher ist das Wasser sein
zweites Lebenselement. Er braucht nur über Bord zu
verschwinden. In Myra aber haben wir ihn an Land.
Dort mag es eher gelingen, ihn in die Enge zu treiben
und sich zu vergewissern, daß nichts den Flammen
entkommt.« Nachdenklich fügte er hinzu. »Ich warne
immer noch vor einem allzu sorglosen Angriff auf
Myra, aber unter den gegebenen Umständen ist des
Königs Plan der beste.«
Der Wind blieb günstig während der ganzen Fahrt. Sie
vermieden die gefährlichen Gewässer der
Marakorinseln mit ihren Untiefen und Tangfeldern.
Unangefochten erreichten die fünf Schiffe in der
Abenddämmerung Vassor, wo sie sich bis Einbruch der
Dunkelheit verborgen hielten.
Als der Mond aufging, wagte sich die kleine Flotte
an die myranische Küste heran. Das Wasser war ruhig,
fast glatt, die Nacht unglaublich still. Sie machten nur
geringe Fahrt in dem spärlichen Wind.
»Bei Quel«, murmelte der König. »Eine Flaute hat
uns noch gefehlt.«
Jaggar gab keine Antwort. Leises Plätschern
übertönte gelegentlich das Rauschen des Wassers an
Bug und Heck. Die vier Schiffe waren nicht mehr als
dunkle Flecken hinter ihnen, kaum vom Wasser zu
unterscheiden.
Jaggar begab sich zum Ausguckposten am Bug.
»Was ist da draußen los?«
»Nichts zu sehen, Käpt‘n. Ich denke, es sind Haie.
Soll eine Menge davon hier geben.«
Jaggar nickte. »Halte die Augen offen.«
»Sicher, Käpt‘n.«
Nach einer Weile hatte er das Gefühl, daß sich ihre
Fahrt beschleunigte. Der Bootsmann blickte von der
Reling auf und starrte verwundert auf die kaum
geblähten Segel.
»Käpt‘n«, sagte er, »ich weiß, es ist unmöglich, aber
wir machen plötzlich mehr Fahrt!«
»Allerdings«, knurrte Jaggar. »Und es gefällt mir so
wenig wie dir.«
Er begab sich an die Reling und starrte in das
Wasser. Zu sehen war nichts. Sollte es hier Strömungen
geben? Sie waren ihm bei seinen bisherigen Fahrten in
diesem Gebiet verborgen geblieben. Aber es gab keinen
Zweifel, sie wurden merklich schneller, und auch die
Richtung stimmte nicht mehr.
Er lief zum Steuerhaus. Im Mondlicht sah er
plötzlich nasse Fußspuren quer über das Deck.
»Was zum ...!« entfuhr es ihm. Irgendwoher kam ein
Stöhnen. Er hielt den Atem an und lauschte. Es kam
von unter Deck. Er wollte sich der Kajütentreppe
zuwenden, als der Steuermann aus seinem Haus kam.
»Käpt‘n!« rief er.
Jaggar lief auf ihn zu. »Wir sind vom Kurs ab,
Mann!« sagte Jaggar barsch, um das Gefühl der
Unsicherheit zu verbergen. »Siehst du das nicht?«
»Doch, Käpt‘n!« erwiderte der Steuermann
keuchend. »Aber das Steuer spricht nicht an. Sieh
selbst!«
Es stimmte. Jaggar drehte, aber das Schiff behielt
seinen Südostkurs bei. Irgend etwas geschah mit ihnen.
Die Gefahr schien fast greifbar.
Da war eine Bewegung an Deck, zu rasch, um sie
genau zu erfassen. Vom Bug her war ein kurzes
Aufblitzen zu sehen. Jaggar stürmte an Deck. Als er am
Bug angelangte, sah er frische Fußspuren- naß, als wäre
jemand aus den Fluten gestiegen und über Deck
gelaufen, Wasser um sich sprühend. Der Bootsmann
war verschwunden.
Von plötzlicher abergläubischer Furcht erfüllt,
starrte er um sich.
An Deck war alles still. »Steuermann!« rief er
halblaut.
Keine Antwort.
Er hastete zurück. Es war leer. Das große Rad drehte
sich unter unsichtbarer Führung. Die Haare in seinem
Nacken begannen sich zu sträuben. Aus den
Augenwinkeln glaubte er eine Bewegung zu sehen.
Rasch fuhr er herum. Aber das Deck war leer bis auf
diese nassen Fußstapfen, die quer über Deck zum
Steuerhaus führten.
Die Segelstangen knarrten leise an den Masten. Wie
in Panik fuhr Jaggar herum. Aber es war nur der Wind.
Er sah nach dem Heck.
Neues Entsetzen packte ihn. Die vier Schiffe waren
verschwunden.
»Verrat!« rief er. »Mein König ...!«
Eine nasse, kalte Hand legte sich über seinen Mund
und erstickte die Rufe. Ein Arm umschlang seinen
Körper und preßte seine Arme an seinen Körper. Der
Geruch von Meerwasser war das letzte, das seine Sinne
wahrnahmen.
7.
Als der erste Schimmer der Morgendämmerung hinter
den Hügeln Myras in den Himmel griff, lag die Flotte
in Formation vor dem Kap von Karanya.
Seit einer guten Stunde waren zwei Späherboote
unterwegs, um den Hafen auszukundschaften und
Lotungen vorzunehmen.
Merkin, der bärtige Kommandant der Garde, blickte
düster in das schwachschimmernde Wasser des
Hafens. Noch war nichts zu erkennen, außer den
helleren Umrissen des Wassers. Er wandte sich um und
musterte den König mit einem tiefempfundenen
Mißtrauen. Seit dem Besuch Jaggars und dem Brand
auf dem Schiff war mit dem König etwas geschehen.
Gewiß war es nichts Neues. Seit der Ankunft des
Priesters der Mis in Candis war der König schon
seltsam verwandelt gewesen. Aber hier hatte es sich
noch verstärkt. Der Priester selbst war seit Jaggars
Flucht nicht mehr an Deck gewesen.
Es war eine schweigsame Fahrt gewesen während
der letzten beiden Tage. Verschlossen wie des Königs
Miene war auch die Mannschaft ihrer Arbeit
nachgegangen.
Der Schlachtplan war besprochen, die Schiffe lagen
zum Losschlagen bereit – zum Losschlagen auf einen
Feind, der im eigenen Blut erwachen würde aus seiner
Ahnungslosigkeit.
Der Haß in den Augen und Worten des Königs war
es vor allem, der Merkin zu denken gab. Denn es war
nicht des Königs Art, zu hassen. Sein Jähzorn mochte
ihn zu manchem hinreißen, aber er hatte nie gehaßt.
Die Männer ließen sich auch nicht anstecken davon.
Sie waren hier, weil sie sich stark fühlten, weil sie auf
Eroberung aus waren, weil sie reiche Beute erhofften-
aber nicht, weil sie haßten!
Leise Ruderschläge näherten sich dem Flaggschiff.
Der König erwachte aus seiner brütenden Starre.
Merkin sah eines der Späherboote aus der Dunkelheit
auftauchen. Einer der Männer kam an Bord und
erstattete Meldung.
Tatsächlich schien Myra völlig ahnungslos. Einige
Kriegsschiffe lagen im Hafen, auch einige Händler,
aber keine abwehrbereite Flotte.
»Könnte es eine Falle sein?« fragte Merkin und
erntete dafür einen kalten Blick des Königs.
»Wenn, dann ist es eine verdammt gute und auf
lange Zeit vorbereitet ...«
»Wenn sie von unserer Ankunft wüßten, dann
würde hier heute keine Seele schlafen«, unterbrach ihn
der König ungeduldig. »Sie könnten es nicht früher als
ein paar Stunden vor unserer Ankunft erfahren haben
und hätten kaum Zeit gehabt, Vorbereitungen zu
treffen.«
»Trotzdem erscheint es mir verwunderlich«,
erwiderte Merkin, »daß keine Flotte im Hafen ist, daß
Myra so vollkommen schutzlos daliegen sollte ...«
»Da kann ich dich beruhigen, Kommandant«,
meinte der Späher. »Sie hatten ihre Hafenschenken
noch auf. Wir konnten einiges erfahren. Sie erwarten
Schiffe aus Dan und Nicos. Es scheint ziemlich wichtig
zu sein, denn ein Teil der Flotte ist als Begleitschutz
unterwegs ...«
»Und der Rest?« fragte Merkin mißtrauisch.
»Das war nicht zu erfahren. Leider, Kommandant«,
meinte der Mann.
»Sie muß in der Nähe sein ...«, begann Merkin.
»Und wenn schon«, schnitt ihm der König das Wort
ab. »Wir haben nicht erwartet, Myra auf goldenen
Tabletten überreicht zu bekommen. Natürlich wird es
Kampf geben. Doppeltes Glück, daß die halbe Flotte
unterwegs ist. So machen wir in Ruhe die eine Hälfte
fertig und warten auf die andere. Wie ist die Einfahrt?«
»Nicht sehr breit, mein König. Links ist das Wasser
zu seicht. Dort ankern auch keine Schiffe ...«
»Wie viele nebeneinander?«
Der Mann runzelte die Stirn. »Es war sehr dunkel
und schwer abzuschätzen, aber ein halbes Dutzend,
wenn sie dicht fahren. Aber ich fürchte, da werden die
Ruder einander behindern. Drei nebeneinander wären
eine sichere Sache ...«
»Wir fahren zu sechst«, sagte der König hart.
»Das ist gefährlich in der Dunkelheit«, wandte
Merkin ein, und der Kapitän pflichtete ihm bei. »Die
Schiffe werden sich behindern ...«
»Genug!« sagte der König scharf. »Der erste Schritt
ist der wichtigste. Die vordersten Reihen müssen den
empfindlichsten Schlag führen. Wir haben nicht den
ganzen Morgen Zeit, um einzulaufen. Irgendwo im
Osten der Stadt lagert das Urgoriterheer, das uns
früher oder später auf den Pelz rücken wird. Zu
diesem Zeitpunkt müssen wir die Stadt in der Hand
haben. Es wird leichter sein, sie gegen ein Heer zu
verteidigen, als sie einem Heer abzunehmen. Zu sechst
also. Und laßt keinen mehr etwas über die Dunkelheit
sagen. Die Schiffe, die am rechten Ufer ankern, werden
uns den Weg leuchten. Gebt das Zeichen!«
Lichter flammten auf. Signalmänner schwenkten
Laternen und Fackeln. Am Flaggschiff vorbei glitten
die großen, dunklen Formen der Galeeren unter dem
dumpfen Trommelschlag des Rudermeisters und dem
Ächzen der Rudersklaven, dem Geklirr ihrer Ketten
und gedämpften Kommandorufen.
Sie formierten sich weit voraus in eine Sechserreihe.
Eine zweite folgte. Eine dritte, vierte ...
Fünf Dutzend Schiffe fuhren in den schmalen
Meeresarm, der schließlich in den Hafen von Myra
mündete.
Dann setzte sich das Flaggschiff in Bewegung. Ein
weiteres halbes Hundert Galeeren folgte. Damit glitt
ein Großteil von Jellis‘ Macht in den Hafen. Zurück
blieben die kriegsuntüchtigen Händlerschiffe, die
rekrutiert worden waren, um den Waffen und
Nahrungsnachschub zu tragen, und etwa zehn
Dutzend schnelle Segler, die in dem schmalen
Hafenbecken zu eingeengt gewesen wären, um viel zu
leisten. Ihre Stunde war gekommen, wenn der erste
Schlag getan war. Ein Dutzend Galeeren blieben zu
ihrem Schutz bei ihnen, für den Fall, daß die
myranische Flotte einen Angriff wagen sollte, die
Serphat-Jellis nicht sehr schlagkräftig einschätzte, und
die Dan wohl nur erobert hatte, weil dieses keinen
Widerstand leistete.
Merkin sah, wie auf einem der in der wachsenden
Dämmerung nun deutlich gegen den östlichen Himmel
erkennbaren Berge ein großes Feuer aufflackerte.
»Das ist das Leuchtfeuer von Faraun«, murmelte
einer der Männer, die mit dem Schwert in der Faust an
der Reling standen. »Jetzt haben sie uns entdeckt.«
Drinnen im Hafen antwortete ein Feuer. Das Signal
war gesehen worden. Nun würden sich die wenigen
wachen Augen auf die Hafeneinfahrt richten und es
nicht fassen. Der Auftakt zur Panik!
Rechterhand hoben sich die felsigen, teils
verwachsenen Hänge steil in den Himmel. Hier war
kein Landen möglich. Es gab keinen Uferweg.
Feuerpfeile zuckten weit voraus in die Dunkelheit
zur Rechten. Zögernd erst, dann immer rascher fraßen
sich die Flammen in das erste der ankernden Schiffe. Es
wurde zu einer gewaltigen Fackel, die bis in den Hafen
hinein leuchtete und die ersten Häuser des
Hafenviertels in fahles, flackerndes Licht tauchte. Die
Hügel hinter dem Hafen erwachten aus ihrer
Düsternis. Zahllose Lichter flammten auf.
Merkins Lippen wurden zu einem schmalen Strich.
Der Schwertgriff fühlte sich klamm an in seiner Faust.
Das große Erwachen begann. Für viele das letzte.
Der östliche Himmel hinter der Stadt wurde heller,
rötlich in der Vorahnung des Blutes. Ein Regen von
Feuerpfeilen ergoß sich gegen das dunkle Ufer. Zwei,
drei, vier Schiffe begannen zu brennen. Die Einfahrt
begann taghell zu werden.
Das Flaggschiff glitt an dem ersten der brennenden
Schiffe vorbei. Der Gluthauch nahm den Männern den
Atem. Ein starker Geruch von Oliven lag in der Luft.
Dann griff der Kapitän sich plötzlich an die Brust.
Zwei Bootsleute neben ihm ebenfalls. Sie taumelten,
brachen zusammen- lautlos in dem ohrenbetäubenden
Prasseln der Flammen. Merkin sah gefiederte Schäfte
aus ihren Körpern ragen. Die Umstehenden hatten es
noch nicht begriffen. Selbst der König stand schutzlos
auf Deck, hell beleuchtet von dem brennenden Schiff,
hinter dem sich die Schützen befinden mußten.
An der Reling taumelten die Männer zurück und
stürzten, als mähte eine unsichtbare Hand sie nieder.
Eine Falle! dachte Merkin. Ihr Götter, es war doch
eine Falle. Er wollte schreien, aber wie gelähmt sah er,
wie das Deck plötzlich gespickt war von dunklen
Schäften, wie der König gegen den Mast gerissen
wurde von der Gewalt der Pfeile. Und sein Grauen
wuchs, als er sah, wie der König sich losriß von seinen
gefiederten Nägeln, ohne daß Wunden blieben. Aber er
kam nicht mehr dazu, über dieses unheimliche
Geschehen nachzudenken.
Zwei, drei Pfeile bohrten sich mit pochendem
Aufschlag in die Planken zu seinen Fußen. Zwei
durchbohrten seine Brust und rissen ihn herum wie ein
welkes Blatt.
Wigor starrte in die Finsternis jenseits des Hafens.
Wenn die Tainu recht gehabt hatten, mußte die Flotte
bereits da draußen stehen. Aber es war zu dunkel, um
irgend etwas zu erkennen. Das Boot, das vor einer
Weile im Hafen angelegt hatte, mochten Späher
gewesen sein, aber das war von hier aus nicht zu
erkennen.
Er kauerte hinter den Felsen des Steilhangs. Seine
war die dritte Hundertschaft von Männern, die
kampfbereit in den Felsen lauerten. Unter ihnen,
zwischen den Büschen und vereinzelten Bäumen
standen vier der mächtigen Schleudermaschinen und
warteten auf das Kommando. Sechs weitere standen
bis zum eigentlichen Stadtbeginn, die letzte zwischen
den ersten Häusern. Man würde sie vorrollen, sobald
der Feind in Schußweite war.
Weitere fünf Hundertschaften sperrten den Uferweg
in die Stadt. Aus dem Hafenviertel selbst waren alle
Frauen, Kinder und älteren Leute in Sicherheit
gebracht worden, mit Ausnahme der Spelunken, in
denen noch vereinzelte Mädchen den flüchtigen
Beobachter darüber hinwegtäuschten, daß die ganze
Stadt ein Heerlager war.
Auch das jenseitige Ufer der Bucht war besetzt, und
keine Maus würde unbemerkt einen Fuß an Land
setzen. »He, laßt los!« hörte er plötzlich eine weibliche
Stimme in der Dunkelheit hinter sich. »Von solch
trautem Führen war nicht die Rede! Ihr solltet mich
lediglich zu eurem Kommandanten bringen.«
Selas Stimme! durchfuhr es ihn. Gleich darauf kam
das Mädchen zwischen den Felsen hervor, flankiert
von zwei Soldaten, die sie mehr oder weniger robust in
ihrer Mitte hatten. Sie konnten nicht wissen, daß Sela
vermutlich besser kletterte als sie und ihnen
wahrscheinlich auch mit dem Schwert überlegen war.
Aber Sela hatte ungewöhnliche Geduld mit ihnen. Das
mußte Gründe haben.
Die beiden Soldaten nickten Wigor zu. »Sie wollte
unbedingt zu dir, Kommandant.«
»Es ist schon recht. Seid bedankt.« Die beiden
zögerten. »Wenn du uns brauchst, um das Fräulein
zurückzubringen ...«
»Ich finde den Weg allein«, sagte Sela heftig.
»Schon gut, schon gut«, lachte der eine.
»Da ist Feuer drin, was?« meinte der andere. Dann
machten sie, daß sie wegkamen.
Wigor nahm das verärgerte Mädchen in die Arme
und zog sie zu sich auf den Boden.
»Es ist verrückt, jetzt hierherzukommen«, sagte er.
»Jeden Augenblick mag der Angriff folgen ...«
»Ich habe mir alles überlegt«, unterbrach sie ihn.
»Du liebst mich, und ich gehöre zu dir. Oder hast du
inzwischen begonnen, mich zu hassen?« »Nein«, sagte
er rasch. »Trotz all der Dinge, die ich ...?« »Nein«,
wiederholte er. »Du bist eine Iquani, und du bist
anders als die gewöhnlichen Menschen. Ich darf dich
nicht mit ihren Maßstäben messen. Es scheint mir, ihr
könnt nicht lieben- nicht mit dem Herzen. Ich bin
traurig darüber, weil es uns beide trifft. Aber wie
könnte ich dich deshalb hassen, wenn ich dich liebe?«
Er küßte sie, und sie ließ es willig geschehen. Sie
schlang sogar die Arme um ihn. Das war die erste
Zärtlichkeit, die sie ihm erwies, seit sie aus Arzan Shors
Turm zurückgekehrt waren.
»Es ist zu gefährlich, hierzubleiben«, sagte er. »Geh
in den Palast zurück, ich ...«
»Hältst du mich für ein myranisches Mädchen?«
unterbrach sie ihn. »Hast du vergessen, wie wir auf der
Wellenreiterin kämpften? Ich wäre dir eine schlechte
Gefährtin, wenn ich jetzt nicht an deiner Seite bliebe.
Laß mich an deiner Seite kämpfen! Laß mich es sein,
die deinen Rücken deckt! Laß mich so beweisen, daß
ich ...«
»Daß du mich doch liebst?« fragte er.
»Daß du mir soviel bedeutest wie mein Leben«,
ergänzte sie. »Vielleicht ist das ein wenig von der
Liebe, die du möchtest.« Sie spürte plötzlich ein
unwirkliches Gefühl von Geborgenheit, als er sie an
sich gedrückt hielt. Es war vollkommen ungewohnt –
etwas, das wohl noch keine Iquani empfunden hatte.
Das Verlangen, etwas Männliches zu ... sie fand kein
rechtes Wort dafür. Aber es erfüllte sie mit einem
plötzlichen Drang, sich anzuvertrauen, zu reden ...
»Ich bin keine Iquani mehr!« stieß sie hervor, und
bevor Wigor es richtig begriffen hatte, fuhr sie fort:
»Das, was die Iquani Liebe nennen – daß sie einem
Mann die Seele nehmen, um sie für ihre Tochter zu
besitzen –, das geschieht nur einmal im Leben eines
Iquani-Mädchens. Danach nie wieder. Daß dieser
Magier dich mir genommen hat, bedeutet, daß das
Kind, das du mir gezeugt hast, nicht sein wird wie eine
Iquani Tochter. Ich bin noch zu jung, um es genau zu
verstehen, aber die alten Mütter wissen es. Sie sagen,
daß ein Teil der Kraft des Mannes während der
Schwangerschaft auf die Frau überfließt, und daß sie
mit dieser Kraft das Kind in ihrem Leib formt, so daß
es wird wie sie – ihr Ebenbild.«
Sie stockte, fuhr dann aber tapfer fort: »Von dir
fließt nun keine Kraft über. Ich fühle mich so leer. Ich
werde mein Kind nicht formen können. Es wird keine
Iquani. Es wird vielleicht nicht einmal ein Mädchen. Es
wird nackt und schutzlos sein. Vielleicht werde ich es
nicht einmal lieben können. Würdest du es denn
lieben? So wie mich?«
»Ja«, sagte er einfach, und sie empfand es
wundervoll tröstlich. »So wie dich ...«
»Auch wenn sie ohne Seele ist?« Sie hielt den Atem
an.
Er lächelte, aber sie sah es nicht in der Dunkelheit.
»Ich glaube viel eher, daß es nun eine Seele bekommen
wird. Ich bin sehr froh darüber, was mit uns geschehen
ist ...«
Eine Weile saßen sie stumm in der Finsternis,
aneinandergelehnt. Dann flüsterte Sela: »Ich auch ...
eines Tages. Ja, eines Tages, Wigor ...«
Das Leuchtfeuer in Faraun flammte auf.
»Sie kommen«, murmelte Wigor. Er hatte keine
Furcht, aber er fühlte sein Herz wilder schlagen, wie
immer vor dem Kampf. Mochten sie kommen, die
Teufel aus dem Süden. Er hatte Sela gewonnen. Er
würde auch eine Schlacht gewinnen!
»Versprich mir eines, mein Geliebter«, sagte Sela.
»Mein Vater wird nicht durch deine Hand fallen, wenn
es die Götter wollen, daß du ihm gegenüberstehst.«
»Du hast mein Wort. Und versprich du mir eines:
Jaggar wird nicht durch deine Hand fallen!«
»Du magst ihn?« Sie nickte. Es war eigentlich keine
Frage. »Ich auch. Er war der einzige, der meinem Vater
zu widersprechen wagte. Ich möchte noch immer
wissen, warum er mich auf sein Schiff entführt hat. Er
war der einzige außer dem König, der von mir wußte
...«
»Es war die beste Tat seines Lebens. Du wärst heute
nacht nicht an meiner Seite ohne ihn!«
Zwei seiner Männer kamen aus den Stellungen
unter ihm. »Sollen wir sie zurückbringen,
Kommandant?«
»Nein, sie bleibt hier. Wir können jeden Mann
brauchen ...«
»Mann?« meinte einer.
Wigor grinste. »Im Kampf zählt nur die Klinge,
Freund.« Er sah aus den Augenwinkeln, wie Sela ihre
Röcke abstreifte. Sie trug die Beinkleider der Soldaten
darunter und die Stiefel mit dem Eisen an Schienbein
und Ferse und über dem Hemd das bis auf die
Schenkel reichende Kettenhemd.
Aber sie hatte keine Waffen. Die Männer boten sich
an, ihr welche zu bringen, und kamen gleich darauf mit
einer Klinge und Schild zurück.
Inzwischen hatten unten am Ufer die ersten
Kampfhandlungen begonnen. Brennende Pfeile von
den Angreifern steckten eines der geankerten Ölschiffe
in Brand.
»Sie schaufeln sich ihr eigenes Grab«, murmelte
Wigor und sah fasziniert die schier endlose Reihe von
nun nicht länger gedämpften Lichtern und Fackeln, die
in den Hafen glitt. Noch fiel kein menschlicher Laut.
Noch hielt alles den Atem an.
Weitere Schiffe gingen am Ufer in Flammen auf. Es
wurde hell im Hafen. Die Sechserreihen der
angreifenden Schiffe waren deutlich zu erkennen. Die
Männer standen im hellen Licht.
Die ersten Schiffe hatten fast die Kais erreicht, als die
Falle in Bewegung kam. Die myranischen Bogen
begannen zu singen und pflückten die Krieger auf den
Schiffen wie reife Früchte von überladenen Bäumen.
Die gleichmäßigen Ruder wurden stockend. Die
ufernächsten Schiffe fielen aus der Formation und
verkeilten sich mit ihren Nachbarn. Schreie klangen
hoch, vermischt mit dem Prasseln und Knacken des
Feuers und halb verweht vom Wind.
Sie schienen langsam da unten zu begreifen, daß sie
in der Falle saßen. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
Sie versperrten einander selbst den Weg. Sie hatten
nicht damit gerechnet, umkehren zu müssen. Sie waren
auf einen leichten Sieg gekommen.
Aber das war erst der Beginn.
Die in den Uferhängen aufgestellten
Schleudermaschinen traten in Aktion. Sie warfen
schwere Gesteinsbrocken bis in die dritte und vierte
Reihe der Schiffe. Das Krachen und Bersten
splitternden Holzes erfüllte den Hafen, vermischt mit
vielfachen Schreien.
Vereinzelte Schleudermaschinen auf den Schiffen
warfen Feuerbrände gegen die Uferhänge, und wo sie
auf das trockene Buschwerk trafen, begann es
lichterloh zu brennen. Aber die Angreifer waren noch
immer blind. Sie warfen aufs Geratewohl. In den
zerklüfteten Felswänden waren die Verteidiger nur
schwer zu sehen. Außerdem blendeten sie die
brennenden Schiffe am Ufer, während sie selbst ein
deutliches Ziel abgaben.
Dann barst das erste der Ölschiffe auseinander, das
bis auf den Laderaum niedergebrannt war. Die
Flammen schlugen haushoch in den Himmel. Öl aus
Dutzenden von Fässern floß zwischen die Angreifer-
und die Flammen mit ihm. Ein Teil des Hafens war ein
Flammenmeer geworden. Dutzende von Schiffen
wurden vom Feuer erfaßt und konnten sich nicht mehr
befreien. Es fraß mit gierigen Zungen alles, was
brennbar war- die Schiffe, die Männer, den Traum vom
Sieg. Die Schwerter und Äxte und Schilde sanken auf
den Meeresgrund hinab wie in einen dunklen Schlund
hinter dem feurigen Rachen.
Einige der Galeeren versuchten, sich auf das andere
Ufer zu retten, aber sie blieben im Sand der Untiefen
hängen, und das Feuer holte sie ein.
Die Haie hatten reiche Beute. Und die wenigen
Krieger, die das Ufer schwimmend erreichten, wurden
zwischen den Felsen mit scharfen Klingen empfangen.
Das zweite und dritte Ölschiff brachen fast
gleichzeitig auseinander, und nun brannte beinahe die
gesamte rechte Hälfte der Hafeneinfahrt bis Faraun
und wetteiferte mit der Helligkeit der ersten
Sonnenstrahlen, die auf den Schauplatz des Dramas
fielen.
Mehr als dreiviertel der feindlichen Galeeren
brannten, und die Glut ließ die Männer an den Hängen
schwerer atmen. Noch hatte kein feindlicher Krieger
den Fuß auf myranischen Boden gesetzt.
Jene, die ihren Blick auf das offene Meer richteten,
sahen auch jenseits von Faraun schwarzen Rauch in
den Himmel steigen. Dort hatte König Dragon mit der
myranischen Flotte den zweiten Teil der Candisser
Streitmacht angegriffen.
Wigor dachte an die Rudersklaven, die in ihren
Ketten da unten verbrannten, ohne eine Chance zu
haben. Und es erfüllte ihn mit Stolz und Dankbarkeit,
daß auf myranischen Schiffen solches Unrecht nicht
mehr geschah; daß die Männer das Ruder mit der
Klinge vertauschen konnten, wenn der Augenblick
gekommen war.
Das Chaos im Hafen hatte seinen Höhepunkt
erreicht.
Die wenigen Schiffe, die sich aus den verkeilten
hilflosen, brennenden Wracks zu lösen vermochten,
sahen nur eine Chance – die Küste zu erreichen und
sich dem Feind entgegenzuwerfen. Nicht mehr als ein
halbes Dutzend Galeeren erreichten das Ufer. Die
Krieger sprangen an Land; rußgeschwärzt tauchten sie
aus dem Flammenmeer auf und kamen wie Dämonen
aus der Unteren Welt herangestürmt.
Eine der aufgehäuften Steinlawinen ergoß sich
zwischen sie und begrub die meisten. Dann begannen
die ersten Schwerter aufeinanderzuklirren, und der
metallische Klang von Schwerthieben auf die runden
Schilde hallte über den Hafen.
Das letzte der manövrierfähigen Schiffe legte mit
einem Brechen von Rudern an Wigors Teil der Küste
an. Er hörte, wie Sela den Atem scharf einzog und nach
ihrem Schwert griff.
Jetzt war der Augenblick des Kampfes gekommen-
Mann gegen Mann.
Als die Krieger aus dem Schiff stürmten, gab Wigor
Befehl, die Steine loszulassen. Ein Schwert durchhieb
ein Seil, und- wie an den anderen vorbereiteten Stellen
auch- eine Lawine von Felsgestein begann ins Tal zu
poltern. Aber nur ein kleiner Teil der Angreifer wurde
von ihr überrascht. Als der Staub sich legte, sah Wigor,
die Angreifer ausschwärmen. Er gab Befehl zum
Angriff.
Dann stürmten sie hinab. Wigor vergewisserte sich,
daß Sela bei ihm blieb. Sie in diesem Kampf zu
verlieren, wäre unerträglich für ihn gewesen. Aber sie
blieb an seiner Seite, auch als sich ihnen die ersten
Gegner in den Weg stellten. Es gab Augenblicke, da
waren sie vollkommen von feindlichen Kriegern
umgeben. Schon im nächsten aber mochte es sein, daß
Wigors Männer tiefe Lücken in die feindlichen Reihen
hieben. Schreien und Klirren und der Geruch von
Schweiß war um sie; wütende Rufe, Flüche, die
Geräusche von Töten und Sterben.
Dann standen sie plötzlich vor dem Schiff. Hinter
ihnen erklang nur noch vereinzelt Kampf lärm.
Das Schiff ragte vor ihnen auf- leer und verlassen.
Sie kletterten an Bord. Es lag seltsam tief im Wasser.
Als sie unter Deck starrten, sahen sie, daß der
Ruderraum voller Wasser war. Die spitzen Felsen
mußten den Rumpf aufgerissen haben. Die
Rudersklaven waren alle ertrunken.
Sie kamen an Deck zurück. Sela deutete auf einen
Segler, der scheinbar steuerlos heranglitt. Er mutete
seltsam an, denn er war das einzige Segelschiff des
Feindes, das in den Hafen gekommen war.
Es war die Seehexe.
»Vaters Schiff!« entfuhr es Sela.
»Das Flaggschiff?«
»Ja.« Sie wich zurück. »Es wird uns rammen!«
Jetzt erst bemerkten sie die einsame Gestalt am Bug,
halb auf dem Klüverbaum stehend.
Als der Bug des Seglers scharrend und polternd die
Bordwand der Galeere entlangscheuerte, sprang er.
»Vater!« rief Sela, die sofort König Jellis erkannte.
Aber der König kümmerte sich gar nicht um das
Mädchen. Er schien sie nicht zu erkennen. Sie war auch
nicht erkennbar in den Soldatenkleidern, mit dem
verrußten Gesicht und dem blutigen Schwert in der
Faust.
Der König eilte an ihr vorüber.
»Vater!« rief sie erneut. »Ich bin es, Sela ...!« Sie
stürzte auf ihn zu, als er über die Bordwand an Land
klettern wollte, um ihn aufzuhalten. Sie warf das
Schwert fort und griff nach ihm.
Wigor machte unwillkürlich einen Schritt auf die
beiden zu, als Sela mit einem spitzen Aufschrei
zurückfuhr und zu Boden stürzte.
Wigor lief zu ihr und sah das Entsetzen in ihren
Augen. »Er war ...«, stammelte sie, »... kalt wie Eis ...«
»Wie Eis?« rief er, als die Erinnerung auftauchte an
das nächtliche Erlebnis auf der Wellenreiterin.
»Serphat!« stieß er hervor. »Das ist nicht dein Vater
gewesen, Sela. Das war Serphat in seiner Gestalt ...!« Er
sprang auf und starrte auf den von Männern
schwärmenden Hang.
Es war unmöglich, einen einzelnen herauszufinden.
Bleich lehnte er sich an die Reling des Totenschiffs.
Nun war das Grauen in Myra gelandet.
Dragon versuchte den dichten Qualm zu
durchdringen.
Seine Schiffe standen in weitem Halbkreis vor der
Bucht, so daß dem Feind nur die Wahl blieb, in den
Hafen zu fahren- aber da hielt der Tod reiche Ernte-
oder sich zum Kampf zu stellen.
Und das tat er – siegessicher mit mehr als zehn
Dutzend kampffähigen Schiffen und schnellen Seglern.
Aber dann hatte plötzlich ein Alptraum begonnen.
Bei Dutzenden von Schiffen gehorchte gleichzeitig
das Steuer nicht mehr.
Die Schiffe prallten gegeneinander, verkeilten sich
auf dem offenen Meer. Manche sanken. Es war ein
gespenstischer Anblick, der die Männer mit
abergläubischer Furcht erfüllte.
Dragons Männer beobachteten es nicht minder
fasziniert. Aber sie empfanden keine Furcht. Sie
wußten, daß ihre Verbündeten, die Wassermenschen
mit ihren Delphinen, am Werk waren und die
Steuerruder der feindlichen Schiffe verkeilten.
Dann begann der zweite Streich.
Während die feindliche Flotte ihre
Schleudermaschinen nicht in Schußstellung zu bringen
vermochte, da die Schiffe ihnen nicht gehorchten,
begannen Dragons Katapulte einen wahren Feuerhagel
auf den in Panik geratenen Feind. Immer mehr der
Schiffe gerieten außer Kontrolle.
Gleichzeitig mußten sie mitansehen, wie im Hafen
der Hauptteil ihrer Kriegsschiffe in Flammen aufging.
Sie begannen sich zu ergeben- vereinzelte Schiffe
erst, die die Aussichtslosigkeit des weiteren Kampfes
einsahen und bemerkten, daß ihnen auch eine Flucht
verwehrt war; und nach und nach die gesamte Flotte.
Beziehungsweise die Schiffe, die noch von ihr übrig
waren.
Gegen Mittag erst ließ sich das volle Ausmaß der
Verwüstung abschätzen. Von den über hundert
Galeeren, die in den Hafen eingedrungen waren, hatte
keine den Kampf unbeschädigt überstanden. Die
meisten waren verbrannt oder gesunken, viele lagen
halb mit Wasser vollgelaufen auf den untiefen Stellen
der Hafenbucht.
Die Besatzungen der Galeeren waren bis auf etwa
hundert Gefangene ertrunken, verbrannt oder
erschlagen. Das war mehr als die Hälfte von König
Jellis Streitmacht. Beinahe zwei Dutzend
Hundertschaften.
Von König Jellis selbst fehlte jede Spur.
Wigor und Sela berichteten Dragon von ihrer
Begegnung mit dem König, der niemand anderer
gewesen sein konnte als der Schlangenpriester Serphat
oder – wie Dragon ihn nannte – Cnossos.
Cnossos in Myra – kein angenehmer Gedanke. Auch
wenn er eben wieder eine Schlappe erlitten hatte.
Yina brachte dann die verblüffendste Botschaft von
Issola und den Tainu:
Fünf Schiffe seien auf dem Weg nach Myra, eines
davon die Schwarze Wellenreiterin. Auf ihr seien
König Jellis und ein alter Bekannter von Yina: Kapitän
Jaggar.
Die Schiffe waren in der Nacht von den Tainu
gekapert worden und die Mannschaften
gefangengenommen. Ihre Gedanken gaben reichlich
Aufschluß über die Geschehnisse der letzten Tage.
8.
Jellis blickte düster auf den myranischen König, der
nicht einen Fingerbreit von seinen Forderungen
abwich.
Die Hälfte der verbliebenen Flotte sollte in Myra
bleiben, unter anderem die Wellenreiterin.
Wie sollte er mit dem kärglichen Rest an Schiffen die
Schlangeninsel verteidigen, wenn es diesen
verdammten Kyriern einfallen sollte anzugreifen? Aber
man hielt ihm entgegen, daß er sich um diese Frage
auch nicht gekümmert habe, als er mit der gesamten
Flotte nach Myra aufbrach.
Richtig? Richtig.
Die Auflösung der Bruderschaft!
Welch ein Jammer, diese Geißel des Großen Meeres
einfach auszulöschen! Niemand würde mehr ein
Piratenschiff von der Schlangeninsel fürchten- weil
keine Macht mehr dahintersteckte!
Zudem waren es zwei Gründe, daß sein engster
Vertrauter ihn verließ. Kapitän Jaggar würde unter
Dragons Flagge segeln, mit Wigor zusammen, der sich
seine Iquani-Tochter angelacht hatte.
Der Junge würde sich noch wundern.
Jaggars Abschied war am schmerzlichsten für Jellis.
Aber er wußte, daß Jaggar auch an seinem Hof nur die
Bruderschaft gehalten hatte, und die Freiheit, die sie
ihm garantierte, und das Abenteuer, das er auf den
Meeren fand.
Dies alles konnte ihm jetzt nur noch Dragon bieten.
»Ihr werdet einen Eid schwören, König von Candis«,
sagte Dragon fest, »bei der Ehre Eures Königshauses
und bei Eurem Leben, daß unter Eurer Regentschaft
künftig weder Ihr noch einer Eurer Untertanen die
bewaffnete Hand erhebt wider ein myranisches Schiff
oder Leben oder gegen einen Wassermenschen. Vor
den hier versammelten Zeugen, Euren Kapitänen der
einstigen Bruderschaft, erklärt Ihr Euch selbst für
vogelfrei, wenn Ihr Euer Wort brecht. Dann mag Euch
jeder einfache Mann töten, jeder Bürger Eures Landes,
ohne daß er dafür bestraft wird. Schwört es, Jellis!«
Und Jellis schwor- mit zusammengebissenen
Zähnen. Dann meinte er: »Aber eines mußt du
einsehen, König von Myra, das Volk der
Schlangeninsel ist arm. Wenn wir keine Flotte mehr
haben, um uns zu nehmen, was wir brauchen, wird
unsere Armut ohnegleichen sein. Du kannst nicht
verlangen, daß wir auch die Sklaverei abschaffen. Sie
ist die Grundlage unserer ...«
Dragon unterbrach ihn tadelnd: »Wir wollen nicht
verhandeln, König. Ihr habt meine Bedingungen zu ...«
Ubali unterbrach den König mit einem warnenden
Ausruf. Seine Hand deutete zum Himmel.
Über der Stadt schwebte ein ungewöhnlich großer
Geier.
»Cnossos!« entfuhr es ihm.
Auch die anderen starrten nun, während das Tier
majestätisch seine Kreise zog- so, als wollte es gesehen
werden. Es hielt etwas Weißes in den Krallen, das aus
dieser Entfernung nicht zu erkennen war.
Plötzlich schien der Geier der Kreise müde zu sein.
Er stieß einen Schrei aus, der triumphierend klang, und
verschwand mit mächtigen Flügelschlägen nach Süden.
Yina wurde mit einemmal aschfahl. Mit zitternder
Stimme sagte sie: »Onkel ... da ist eine Nachricht von
Kim aus dem Palast ... Prinz Atlantor ist
verschwunden ...«
ENDE
Die »Bruderschaft des Großen Meeres« mußte
kapitulieren, der Kampf um Myra wurde zugunsten
des Atlanters entschieden.
Dennoch kann auch der Balamiter einen wichtigen
Punkt für sich buchen, indem es ihm gelingt, Dragons
Kind aus dem myranischen Königspalast zu entführen
und den König zu erpressen.
Die erste Forderung des Cnossos lautet: »Töte den
WÄCHTER DER TOTENKÜSTE« ...
WÄCHTER DER TOTENKÜSTE unter diesem Titel
erscheint auch der nächste Dragon-Band. Verfasser des
Romans ist Ernst Vlcek. Der Roman selbst wird, wie
seit Anbeginn der Serie, nach einem Expose von G. M.
Schelwokat geschrieben.