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Die Erdmessung des Poseidonios, hermeneutische Skrupel und mathematical literacy

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Page 1: Die Erdmessung des Poseidonios, hermeneutische Skrupel und mathematical literacy

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Lutz Ftihrer

Die Erdmessung des Poseidonios, hermeneutische Skrupel und mathematical literacy

Gedanken zum Aufsatz "Die Bestimmung des Umfangs der Erde als Thema einer ma­thematikhistorischen Unterrichtsreihe" von M. R. Glaubitz und H. N. Jahnke in: JMD 24.2 (2003), S. 71-95.

Zusammenfassung: Anhand einiger Detaililberlegungen zur Parallelitat von Stemenlicht und zur Frage nach der Genauigkeit von Poseidonios' Erdumfangsbestimmung, wird die Auffassung ver­treten, dass historische Quellentexte, ihre Autoren und Bezugspersonen Mittel des Mathematikun­terrichts bleiben sollten, nicht Untersuchungsgegenstiinde. Jeder Versuch, solche Texte eindeutig oder gar mit heutigem, meist auch nur geglaubtem Wissen "besser zu verstehen" als ihre Autoren selbst, \\ie es Dilthey der Hermeneutik ins Gesangbuch geschrieben hat, setzt mehr historischen Takt voraus als Schiilern zumutbar ist, die noch mit den darnals schon reflektieren Phanomenen selbst ihre Not haben.

Abstract: In their recent JMD-article on a famous text of Cleomedes Glaubitz and Jahnke dis­cussed two thrilling questions by the way, namely the parallelism of starlight und the accuracy of Poseidonios' earth measurement. The present commentary examines both questions to illustrate a principal objection concerning the function of historical sources in mathematics education: In the annotator's opinion historical material and historical personages should - in the mathematics class­room - not be seen as objects of interpretation in the sense of German hermeneutics, i.e. in the sense of deeper understanding as the former authorities themselves could have had, especially not without serious efforts concerning their brilliant physical, cultural and intellectual backgrounds.

Den Kleomedes-Text im folgenden Kasten tiber "Die GrOBe der Erde" hatten M. R. Glaubitz und H. N. Jahnke einer Unterrichtsreihe in einer 9. Gymnasialklasse zugrunde gelegt, tiber die sie kiirzlich im Journal fur Mathematik-Didaktik berichteten. Obwohl ich im Folgenden recht kritisch auf einige Aspekte des dort geschilderten Unterrichts eingehe, mochte ich vorweg betonen, dass mich das gewahlte Thema, der Einstieg tiber historische Quellen und viele der bei GlaubitzlJahnke ausgesprochenen Hoffnungen tiberzeugt haben. Die Erdmessung ist ja auch nieht irgendein Thema, sondern seit der franzosischen Revolution Grundlage unseres GroBensystems und deshalb heimlicher Be­standteil unser Wahrnehmungsgewohnheiten. Ich meine tiberdies, konstruktive Rat­schlage zu Unterichtsentwtirfen, z. B. auf der Grundlage ganzheitlicher Berichte tiber reale Unterrichtsablaufe, kommen im JMD neuerdings viel zu kurz - und kritische Aus­einandersetzungen <iuch.

[ ... ] Es hellit, dass Rhodos und Alexandria auf dem gleichen Meridian liegen. [ ... ] Der Abstand zwischen den beiden StMten wird auf 5000 Stadien gescMtzt. Es moge vorausgeschickt werden, dass das zutrim.

[ ... ] Poseidonius sagt nun, dass im Siiden ein sehr heller Stem (der Kanopus) im Steuer des Schiffes Argo sei. Dieser kann in Griechenland nicht gesehen werden. [ ... ] Wennjemand nun von Norden nach Siiden geht, so erblickt er ihn zum er­sten Mal in Rhodos. [ ... ] Sobald wir nun die 5000 Stadien von Rhodos gefahren

(JMD 24 (2003) H. 3/4, S. 236-251)

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und in Alexandria angekornrnen sind, hat der Stem [ ... J eine Hohe gleich dern vierten Teile eines Zwolftels des Tierkreises, also gleich dessen 48sten Teile. Es folgt also, dass das Sttick des Meridians, das tiber der Strecke zwischen Rhodos und Alexandria gelegen ist, der 48ste Teil des ganzen Meridians ist, weil der Ho­rizont der Rhodier und der Horizont der Bewohner von Alexandria urn den 48sten Teil des Bogens der Kreisperipherie voneinander abweichen. Da nun die Strecke auf der Erde, die diesern Bogen des Himmelsrneridians entspricht, auf 5000 Stadien geschlitzt wird, so ergibt sich, dass auch die tibrigen Strecken auf der Erde, die den tibrigen 47 Teilen des Meridians entsprechen, 5000 Stadien lang sind. Und so wird die Lange des gro6ten Kreises der Erde zu 240000 Stadi­en gefunden, vorausgesetzt, dass Rhodos von Alexandria 5000 Stadien entfemt ist.

Keornedes, zit. n. GlaubitzlJahnke 2003, S. 79

Inhaltlich geht es urn eine Bestimmung des Erdumfangs, die der stoische Philosoph Poseidonios rund einhundertfiinfzig Jahre nach Eratosthenes auf der Insel Rhodos ge­lehrt haben solI. Kleornedes berichtet (vermutlich im 1. Jh. n. Chr.), Poseidonios habe den Stem Canopus, den zweithellsten Stem nach Sirius, der nach heutigern Wissen ca. 100 Mio. Licht jahre von der Erde entfemt ist, gerade am Horizont beobachtet, wahrend derselbe Stem 5000 Stadien weiter sfidlich, in Alexandria 1148 des Vollkreises - also 7,5 0 nach heutiger Schreib- und Denkweise - fiber dern Horizont zu sehen war.

Die Idee von Poseidonios' Bestirnrnung des Erdurnfaogs

In Alexandria wurde die Sternhohe (X, = Vollkreis/48 fiber dern ortlichen Horizont h beobachtet, wahrend Cano­pus gleichzeitig am Horizont von Rhodos auftauchte. Beide Horizonte stehen senkrecht auf den jeweiligen Radien, und die Sehstrahlen zurn Canopus sind parallel. Daher fmdet sich (X, an der Parallelen p durch Rhodos wieder, und links davon 900

_

(X,. Da p parallel zwn Alexan-dria-Horizont veriauft, steht C.nopus die gestrichelte Hilfslinie senkrecht auf dern Erdradius nach Alexandria, folglich ist (X, auch der Winkel zwischen den beiden Erdradien. (Es lasst sich auch so ein­sehen: Dreht man h samt dern anhangenden Alexandria-Erdradius mit (X, urn die Erdmitte M, dann geht h in den Sehstrahl nach Canopus tiber, und der Alexan­dria-Erdradius in den von Rhodos.)

Da Alexandria sUdlich von Rhodos liegt, d. h. (fast) auf dernselben Meridian, ist a der Unterschied der geografischen Breiten beider Stadte, und die angegebene

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Entfernung von 5.000 Stadien ist die Lange des Meridianbogens zwischen den beiden. Der gesamte Meridian hat folglich die Lange 48,5.000 Stadien = 240.000 Stadien. (Eratosthenes hatte ca. einhundertfiinfzig Jahre frtiher 50'5.000 Stadien = 250.000 Stadien herausbekommen.)

Poseidonios war schon wer. Er gilt noch heute als Entdecker des Zusammenhangs zwi­schen Tiden und Mondumlauf, und es hellit, Cicero, Pompejus, Hortensius, vielleicht auch Geminus gehOrten zu seinen Bekannten (Cantor 1906, S. 365; Krafft 1999/2003, S. 344 0. Ein paar Surfminuten zum Thema "Poseidonios" brachten mir neben vielem An­deren den Link http://www.gnomon.ku-eichstaett.deILAG/poseidonios.html ein. SchUler haben da noch viel mehr Zeit und Geduld. Merke: Jede Internet-Recherche tiber Posei­donios verhindert ein paar Video-Spiele, und Besseres kann Geschichte gar nicht tun ...

Mit Bezug aufPISA kntipfen Glaubitz/Jahnke an ihren Bericht eine Reihe von padagogi­schen Hoffnungen, insbesondere die, mit der Lektiire und einfiihlenden (Re-) Interpreta­tion historischer Texte zur "Weiterentwicklung des Mathematikunterrichts" durch "Ak­zentverschiebung" in Richtung "oifener", lese- und sprachf6rdernder, "kommunikati­onsbetonter und argumentierender Mathematik" beizutragen. Am Ende der diesbzgl. Ausfiihrungen von S. 72 f. hellit es dann:

"Wie in der folgenden Unterrichtsreihe noch deutlich werden wird, ist auch der Gesichtspunkt des Modellierens bei der Lektiire historischer Quellen zentral. Die antike Astronomie macht bewusst von gewissen Vereinfachungen Gebrauch, die sich mit Gewinn unter dem Stichwort ,Modellieren' thematisieren lassen."

MiT scheint nun, dass die Kollegen Glaubitz und Jahnke bei ihrem Unterrichtsversuch einiges Wesentliche verschenkt haben, indem sie den Kleomedes-Text in der Manier von Historiographen eher als Untersuchungsgegenstand nahmen denn als Schltissel zu einem provozierenden Vorbild menschlichen, von heutigen SchUlern intertemporar teilbaren Bemtihens urn positives Weltwissen. Mit anderen Worten: Es widerspricht m. E. dem Wunsch, "mathematical literacy" zu verbreiten, wenn die Forderung an die Klasse, "sich bewusst in die Situation des Poseidonius in der damaligen Zeit hineinzudenken und sich zu fragen: Wovon konnte er ausgehen? Was konnte er beobachten?" (S. 84) nicht in die Bahn "was konnten wir jetzt in Rhodos oder Alexandria sehen und messen?" bzw. "wie konnen wir wirklich wissen?" lenkt, sondern lediglich das ebenso positive wie triviale Wissen tiber "die antike Astronomie" generiert, dass sie "von gewissen Vereinfachungen Gebrauch" gemacht habe (so als mten wir es nicht mehr). Welche "Thematisierung" des Modellierens darf man sich nach dieser hermeneutisch verstandlichen, naturwissenschaft aber sterilisierenden Distanzierung von "antiken" Vorgehensweisen noch vorstellen?

Urn die perspektivische Verengung an Beispielen zu erlautern, nicht urn die geschilderte Unterrichtsreihe nachtraglich auszuweiten, solI die Bestimmung des Erdumfangs durch Poseidonios in zwei Punkten etwas genauer betrachtet werden, auf die GlaubitzlJahnke nur recht kursorisch eingehen: die Parallelimt von Sternenlicht und die Genauigkeit der "Messung". Es geht mir nicht urn die folgenden Details, die ich auch nicht an einem Tag gelernt habe, sondern urn eine offenere, gegenwartsbezogenere Herangehensweise an hi­storische Themen. SchUler sollen "die Alten" nicht schulterklopfend anerkennen, son­dern mittels Empathie nach Verfremdung von zeitlos klugen Kopfen lernen.

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Wie parallel ist das Licht von Sonne, Mond und Sternen?

GlaubitzlJabnke berichten (S. 84), ihre Neuntklassler hatten die Parallelitat des Sternen­lichts angezweifelt:

,,1m Hinbliek auf die nieht exakt gegebene Parallelitat wurde zunachst angezwei­felt, ob Poseidonius' Uberlegung aufgrund dieses Mankos uberhaupt Anspruch auf GUltigkeit besitzen konne. Schliefilich sei im Unterricht gerade der Aspekt der Exaktheit immer das Charakteristikum der Mathematik gewesen. Dass SchUlerin­nen und SchUler sieh schwer taten, eine Naherungslosung als ,mathematisch' zu akzeptieren, zeigt, wie einseitig ihre diesbezuglichen Vorstellungen und AttitUden entwickelt sind."

Schlimm genug! Es scheint aber nicht nur bei den SchUlern Verstandnisprobleme bzgl. der Natur dieser "Naherungslosung" gegeben zu haben, denn ein paar Seiten zuvor schrieben die Autoren (S. 74):

"Poseidonius' Gedankengang enthalt allerdings eine delikate Naherung, die Kleomedes nicht explizit nennt: Offenbar muss man doch annehmen, dass die (gedachte) Strecke RK, die Rhodos mit Kanopus verbindet, parallel zu der Strek­ke AK liegt, die Alexandria mit Kanopus verbindet. Diese Naherung ist nur dann gerechtfertigt, wenn man annimmt, dass die Sterne eine betrachtliche (,unendli­che') Entfernung zur Erde aufweisen. Poseidonius war hiervon offenbar uber­zeugt, und auch Kleomedes schreibt: ,... so scheint auch die Erde fur sieh be­trachtet von betrachtlieher Grofie zu sein, ... aber zur GrOBe der Sonnenbahn oder gar zur ganzen Welt hat sie uberhaupt kein Verhaltnis mehr. Wir.sagen namlieh, dass eine GrOBe zu einer anderen Grofie in einem Verhaltnis stehe, wenn die gro­fiere durch die kleinere ausgemessen werden kann, wenn sie also etwa zehnmal so grofi wie die kleinere oder allenfalls auch etwa zehntausendmal so grofi. '"

Wieso behauptet Kleomedes, die Erde habe gar "kein Verhaltnis mehr"? Immerhin schrieb er mindestens zweihundertfunfzig Jahre nach Aristoteles' Buch tiber den Him­mel (vgl. etwa Szabo 1994, S. 43 ff.) und zweihundert Jahre nach Archimedes, der in seinem "Sandrechner" gezeigt hatte, dass viel, viel grofiere Zahlen als Myriaden von Myriaden Sinn machen und dass die Erde sich verschwindend klein zur Fixsternsphiire ausnimmt. Vielleicht nahm der fachlich durchaus versierte Kleomedes einfach nur den Standpunkt eines Praktikers ein: Unterschiede, die nicht wirklich messbar sind, sind nicht wirklich Unterschiede - was sonst sollte die Rede "zur ganzen Welt" bedeuten, die damals wohl als Inneres der Fixsternsphiire zu denken war, ohne je ins Gehege mit Eu­klids unbegrenzeten Geraden und Ebenen zu kommen. NatUrlich war der Himmelsradius viel grofier als der der Sonnenbahn und der der Wandelsterne, weilletztere ja die Sterne von Zeit zu Zeit bedeckten und weil man bei irdischen Bewegungen keine Parallaxe sah.

Bekanntlieh hangt (fast) alles an der Tatsache, dass die Planeten und Sterne sehr, sehr weit entfernt sind. Meist wird gesagt - so auch sinngemafi in dem zitierten Aufsatz -, das Licht sei zwar nicht ganz parallel, aber die Abweiehung sei wegen der grofien Ent­fernungen "unmerklich", so dass man "naherungsweise" annehmen dUrfe, das Licht komme parallel an. Dazu gibt es dann Abbildungen wie die folgende aus dem Aufsatz von GlaubitzlJabnke (S. 75), unter der es dann heifit:

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" . .. Der (gestri­chelte) Sehstrahl von Alexandria (A) zum Stem Kanopus (K) ist annahemd paral­lel zum Horizont in Rhodos (R)."

(Die Beschrif­tung fehlt im O­riginal, ist aber kanonisch. )

Lutz FOhrer

--- .... AJa .. nc:tN: IUf't ~

Wie kann man Siebentklasslern einen angemessenen BegrifJ von dieser Behauptung ge­ben?

Auf dieser Schulstufe kann man natiirlich nicht mit dem Pythagorassatz oder gar mit Trigonometrie argumentieren (obwohl Herbart genau das einst vorschlug). Es wird wohl nichts anderes iibrig bleiben, als mit langen, schmalen, immer langeren, immer schmale­ren Dreiecken zu argumentieren, urn das allmahliche Abmagem bzw. "Verschwinden" des Winkels an der Spitze deutlich zu machen, das fur die Parallelitat an der "Basis" ent­scheidend ist. Lange, schmale Dreiecke im Heft iiberzeugen vielleicht nicht recht und bestimmt nicht jeden, obwohl schon hier der Winkelmesser versagt und sich unter der Lupe als ganz untauglich krumpelig erweist. Auf dem Schulhof kann und sollte man viel handgreiflicher erfahren lassen, was ein richtig gro6es, schmales Dreieck in Wirklichkeit ist: z. B. ein Dreieck mit einer Seite zu lOem und zwei Seiten a 3m. Oder mit zwei Seiten a 5m? Oder gar 50m? Da muss man sich schon einiges einfallen lassen, urn so ein Drei­eck "aufzufiihren": Straffe Seile reichen nicht, Bindfaden oder Drahte sind besser, am besten geht's mit einem Fernrohr auf Zuruf, wie die Landvermesser... Wie groB ist der Winkel an der Spitze? Das kann man ohne Priizisionsgerate gar nicht mehr messen.

Aber die Prazisionsgerate wiirden nicht einmal sehr viel bringen: Ein wirklich groBes Dreieck ist das lOem-50m-Dreieckja auch noch nicht. Wir reden doch von astronomisch gro6en Dreiecken! Wie ware es mit einem, das eine lOem-Seite und zwei Seiten von der Lange des Erdradius batte (6.366 km laut Geografiebuch oder Lexikon)? Hier konnten wir den Winkel an der Spitze sogar genau angeben:

y = A}~~~7_ ·360° = At) t)t)~~t)t) "" ·360° = 0,0000009° ~ 1 Millonstel-Grad

(Natiirlich sind die beiden rechten Winkel an der lOcm-Basis entsprechend "schief".)

1st das ein richtig "astronomisch langes Schmaleck"? Kaum! Konnen wir den Spitzen­winkel in noch langeren lOem-Dreiecken berechnen, z. B. mit dem Erddurchmesser als Hohe? Wir konnen, und dazu brauchen wir nur ein paar gleichschenklige Dreiecke im Kreis:

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Diskussionsbeitrage 241

<.....4 o ? I j10cm ::;;> J

Das ist verallgerneinerungsfahig: Verdoppelt man die Hohe, dann halbiert sich der Spit­zenwinkel des 10cm-Dreiecks. Die Daten in der folgenden Tabelle sind fur ein gleich­schenkliges IOcm-Dreieck mit sehr langen Schenkeln berechnet.

Hohe des gleichschl. Dreiecks Spilzenwinkel r

Erdradius 1 Millionstel-Grad

Erddurchmesser 11 Millionstel-Grad

2 Erddurchmesser Y4 Millionstel-Grad

4 Erddurchmesser Ys Millionstel-Grad

8 Erddurchrnesser }{6 Millionstel-Grad

16 Erddurchmesser 'x2 Millionstel-Grad

32 Erddurchmesser ~ Millionstel-Grad (etwa Mondentfemung) I

I

zwischen 213 und i4 zwischen Ys und i

Erddurchmessem }{6 Milliardstel-Grad I

(Sonnenentfemung) (Bern.: 210 ~ 1000)

~, Millionstel-Grad ~

236 Erddurchmesser Ii, . /(16')' Millionstel-Grad (Entfemung zu Canopus)

,::::: 8 Trillionstel-Grad

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242 Lutz Fuhrer

(Natiirlich ist das ein besonders hannloser Spezialfall des Umfangswinkelsatzes - aber das spielt hier keine Rolle. Die Grundidee ist ubrigens auch nicht neu: Sie spielt in diver­sen hOheren Varianten bei Ptolemaios' Berechnung der attesten uberlieferten Sehnenta­fel die Hauptrolle; vgl. etwa Pedersen 1974.)

Da wir es leider mit einem ungleichschenkligen Dreieck zwischen Rhodos, Alexandria und Canopus zu tun haben, mussen wir noch ein wenig uberlegen, wie viel das andem kann: Urn die Sehstrahlen von Rhodos und Alexandria nach Canopus in ein gleich­schenkliges Dreieck einzupassen, kann man sich den Alexandria-Sehstrahl durch die Er­de himeichend verlangert denken. Anhand einer kleinen Zeichnung und mit etwas Dreisatzrechnung findet man, dass die entstehenden Basis x gewiss kleiner als 100 km ist (tat­sachlich etwa 30 km). Weil 100 km = l.OOO.OOO·1O em ist, ver­gleiche man mit einem gleich­schenkligen 1Oem- Dreieck, das nur" 236/106 Erddurchmesser

~216 Erddurchmesser lang ist. Es hat, wie seine millionenfache Vergrofierung, einen Spitzen­winkel von etwa Y64 Milliard­stel-Grad (s. o. Sonnenentfer­nung). - Man konnte auch mit 611km statt mit 10em starten, al­so in der Weise, dass man sich die (krumme) Basis Rhodos-Alexandria als (Bogen uber der) Basis eines Dreiecks mit Spitze Canopus Caonopus vorstellt. Dieses Drei-eck hatte natlirlich einen viel grofieren Sptzenwinkel als das wahre Dreieck, aber schon der vergrOfierte Spitzenwinkel ist sehr klein: Aus 8 Trillionstel-Grad am Ende der letzten Tabelle wlirden bei analoger Herleitung 8 Trillionstel von 5,50 werden.

Nun gut, der Spitzenwinkel y ist fur Mond-, Sonnen- und Stemenlicht sehr, sehr, sehr klein, aber er wird nie gleich Null! Heifit das: doch nicht ganz parallel, sondem ein ganz, ganz, ganz kleines Bisschen schrag vom Himmelskorper zur Erde auseinander laufend -so wie mit dem gestrichelten Sehstrahl im obigen Bild aus GlaubitzlJahnke angedeutet?

Nein, das heillt es mitnichten. Wir konnten den Mond, die Sonne und erst recht Canopus gar nicht sehen, wenn sie punktlormig waren! Der Mond ist zwar kleiner als die Erde, aber die Sonne und erst recht Canopus sind viel, viel grOfier. Wenn wir sie also mit unse­ren Augen, mit Messgeraten oder mit anderen irdischen Bildfangem wahmehmen, dann lauft das eingefangene Licht incl. Randstrahlen auf die GrOfie der Bildfanger zusammen. Das eingefangene Strahlenblindel bildet in jedem Fall einen Lichtkegelstumpf mit der Schmalseite zum Beobachter hin - also genau anders herum als auf dem obigen Bild. Vergleicht man freilich mit der maximalen Au:flosung unserer Augen (Biolehrer oder Arzte fragell!), mit der Au:flosung irgendwelcher Messgerate (Geodaten fragen!) oder auch nur mit denkbaren "Lichtstrahlminimaldurchmessem" (physiklehrer fragen!), dann

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Diskussionsbeitrage

wird deutlich: Es ist reichlich un­realistisch, Stemenlicht als "nahe­rungsweise" parallel zu bezeichnen, erst recht in Verbindung mit Ent­femungsmessungen tiber' See und mit Winkelmessungen mit bloBem Auge in Skaphen oder mit Winkel­peilungen an horizontnahen Ster­nen. Nicht einmal beim Mond, erst recht nicht bei echten Stemen wie Sonne und Canopus Mnnen Seh­strahlen vom irdischen Beobachter zum Himmelsk6rper hin zusammen laufen.

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Metallene "Skaphe" (Kugelschale mit Schattenzeiger) Mit elnem solchen Geri:it soli Eratosthenes nach Kle­omedes' Berlcht den Sonnenwlnkelln Alexandria ge­messen haben. Fur Hohenwinkel von Stemen ist ei­ne Skaphe ungeelgnet. (Abb. Richter 1992, S. 121)

Wie gut hat Poseidonios den Erdumfang gemessen?

Auf der eben schon zitierten Seite S. 74 von GlaubitzJJahnke hellit es auch:

"Da nicht genau bekannt ist, welche Lange einem Stadion entspricht, kann hier nicht viel tiber die Genauigkeit dieses Ergebnisses [von Poseidonios] ausgesagt werden. Wenn wir gemiiB Dreyer (1953,175) von 157,5 m ausgehen, erhalten wir urngerechnet 37 800 krn - das ist ein Wert, der in der richtigen GrOBenordnung liegt."

Gegentiber dem richtigen Erdumfang von 40.000 krn ist Poseidonios' Ergebnis urn 5,5% zu klein.! 1st das ein Wert, "der in der richtigen GrOBenordnung liegt"? Soll man das wirklich glauben? Canopus wurde doch am Horizont von Rhodos gesichtet! Jeder See­mann, WId davon gab es in Griechenland viele, weiB, dass horizontnahe Beobachtungen sehr witterungsanfallig und entsprechend UIlZuverlassig sind. Ptolemaios hat sich etwa zur Zeit des Kleomedes heftig daruber beklagt, dass sogar die babylonischen Langzeitda­ten ganz unbrauchbar waren, wenn es urn horizontnahe Beobachtungen gehe. AuBerdem gilt ausgerechnet unser Gewahrsmann Kleomedes als Entdecker oder wenigstens als Erstberichter der atmospharischen Strahlenbrechung ... Und die Entfemung von 5.000 Stadien zwischen Rhodos und Alexandria? Musste sie nicht tiber See gemessen werden? Wie denn, etwa mit dem Log bei genauer Nord-Siid-Fahrt? (V gl. hierzu Hockmann 1985, Neuburger 1919, Taylor 1971.)

Passen die 5.000 Stadien des Poseidonios nicht verdachtig gut zu den 5.000 Stadien von Eratosthenes? Und hatte es Ptolemaios nicht vorgezogen, die Gedachtnisstele zur Erin­nerung an seine "groBe Zusammenfassung" 146 n. Chr. statt in Alexandria im ruhigeren Kanopus aufzustellen, das den Alexandrinem damals als Ausflugsziel diente und das vielleicht auch tiber vierzig Jahre Refugium und Ort der Stemwarte dieses groBen Ge­lehrten war? (Vgl. Ekschmitt 1989, S. 178; Pedersen 1974, S. 12.) Alles Zufall? Deutet

Als Lange des Meridians des Standard-ErdeUipsoids wird 40.008 Ion angenommen, der ideale Aquator ist langer und kein Kreis ... FUr unsere Betrachtungen spielen die uberschussigen 8 km keine nennenswerte Rolle.

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nicht der von Kleomedes wiederholte Vorbehalt, dass die 5.000 Stadien voraussetzungs­gemafi stimmen mogen, Zweifel an?

Gehen wir der Sache einmal nach: Schon ein Blick in meinen alten Dierke-Atlas von 1979, Doppelseite Mittelmeer, lehrt: Nordliche Breite von Rhodos rund 36°-36,5°, nord­liche Breite von Alexandria rund 31°.2 Das gibt mit Dreyers Stadionlange:

5.000 ·0,1575km = 787,5km:::; 790km bei Poseidonios

gegentiber einer tatsachlichen Entfemung zwischen

5 5° 5 0° -'-·40.000km = 611km und -'-·40.000km = 556km. 360° 360°

Nimmt man zu Poseidonios' Gunsten an, er habe sich im Norden der Insel Rhodos be­funden, wo heute die Stadt Rhodos liegt, dann betrug sein "MessfehIer" fur die Entfer­nung 29%. Je weiter im Stiden der Insel er sich aufhielt, umso gro.Ber war sein "Mess­fehIer" (his zu 42%). Bei alledem muss freilich noch bedacht werden, dass wir von Dreyers Stadionlange ausgegangen sind. Wie Freudenthal (1986) in einem Aufsatz tiber die Erdmessung berichtete, wei.B man heute ziemlich sicher, dass die Stadioniange des Eratosthenes nicht mehr rekonstruierbar ist. Man wei.B nicht viel mehr, als dass ein Sta­dion die Strecke war, die ein trainierter Schnellaufer durcheilen konnte, ohne neuen Atem zu schOpf en, und dass 1 Stadion = 600 Fuft war - aber auch von den "Fii.Ben" und den damit eng verbundenen "Ellen" waren bis ins Aufklarungszeitalter sehr viele ver­schiedene in Gebrauch, aus Handelsgriinden natUrlich auch gleichzeitig. Man darf des­halb wohl annehmen, dass statt Dreyers 157,5 m manch andere Stadionlangen fur Posei­donios' "Messung" infrage kommen. Trapp (1992, S. 208 if.) gibt z.B. fur das attisch­soionische Stadion 177,6 m und fur das spatere romische Stadion sogar 185 m an, was Poseidonios' Entfemungsbestimmung auf 888 km bzw. 925 km und seinen Entfemungs­fehier auf mindestens 45% bzw. sogar auf 51% erhOhen wiirde. Neuburger (1919, S. 506) bietet 192,5 m fur das olympische Stadion, was auf 963 km und mindestens 58% Entfemungsfehier fuhren wiirde, und Richter (1992, S. 121) nennt noch das ptolemai­sche Stadion mit 210m, zu dem 72% FeWer gehOren wiirden. Auf der Eratosthenes-Site von www.sc-vermessung.de wird ohne nahere Quellenangabe mitgeteilt (vgl. jedoch SzabO 1994, S. 125, Nr. 49), es seien sieben Stadionma.Be zwischen 99m und 210m be­kannt und "die Wissenschaft nimmt heute an, dass Eratosthenes mit dem nach ihm be­nannten Stadion gerechnet hat, welches einer babylonischen Normung entsprach", nam­Iich 148,5m (21,5% FeWer bzgl. 611km, aber 11% FeWer fur den Erdumfang). Da sich

2 Wer es genauer haben mochte, wird im Internet fundig: Gibt "man" oder ein paar Schii­ler/innen "geografische Breite von Rhodos" bei Google ein, dann kommt nicht viel heraus. Aber nach ein paar iihnlichen Versuchen merkt ,,man", dass an den allgegenwiirtigen Ferien­angeboten vorbeigesurfl werden muss. Wer braucht geografische Koordinaten? Piloten! Also "longitude latitude Rhodos". TUI teilt freundlicherweise in English mit: Rhodos Airport 36°24'12 North. Bei ,Jongitude latitude Alexandria" geht's daneben: Die Amerikaner drangeln sich mit irgendeinem Alexandria vor. Also "longitude latitude Alexandria Egypt". Das gibt ein paar verschiedene, aber immerhin nahe beieinander liegende Daten. Ach ja, Alexandria war/ist doch die groBte agyptische Hatenstadt und immer noch sehr groB. Also: "longitude ... + Har­bour". Das liefert 31°11.0' North. Zwischen Rodos Airport und Alexandria Harbour liegen folglich 580 km, was Poseidonios' Fehler auf 36% erhOhen Wiirde - vorausgesetzt Dreyers Stadionmaj3 trim die Sache ...

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Diskussionsbeitrage 245

die Messung aber in Agypten abgespielt habe, werde "oft auch von einem Stadion der agyptischen Normung gesprochen", das angeblich 157,5m entsprach. Das ist wieder Dreyers Empfehlung, die aber schwer zu den diversen nachgewiesenen Ellen- und FuB­maBen im damaligen Agypten passt (vgl. etwa Rottlander 1979). 3

Wie man es auch dreht, Poseidonios hat die Entfernung d zwischen Rhodos und Alexan­dria wahrscheinlich urn 20-30% zu grofi angenommen. Woher dann sein guter Gesamt­wert fur den Erdumfang?

Nun. Poseidonius rechnete sinngemaB nach der Forme!

3600

Erdumfang = --. d, a

wobei d die Entfernung von Rhodos nach Alexandria und ex. der Hohenwinkel von Canopus in Alexandria sind.

Wird in dieser Formel d zum Beispiel urn den Faktor 1,3 vergrofiert, dann musste ex. mit ungefahr dem gleichen Faktor iiberschatzt werden. urn ein 5,5%-genaues Ergebnis zu bekommen. Eine Uberschatzung des Hohenwinkels ist sogar glaubhaft, denn Sterne werden durch die atmospharische Strahlenbrechung umso mehr angehoben, je naher die dem Horizont sind. Canopus kann aufgrund der Refraktion (Strahlenbrechung) dann und nur dann auf dem Horizont von Rhodos beobachtet werden. wenn er in Wahrheit un/er diesem Horizont steht. Die iibertriebene Abbildung (frei nach ResnikofflWells 1983, S. 83) auf der nachsten Seite zeigt anhand des Fermat-Prinzips fur die Strahlenbrechung, warum das so ist 4. Der Horizont, der einen gedachten geraden Sehstrahl zum Canopus enthalten konnte und der seinerseits rechtwinklig auf dem ortlichen Erdradius stiinde, gehOrte zu einem OTt, der ein betrachtliches Stiick naher an Alexandria lage als Rhodos, namlich rund ein halbes Grad. 5

3 Kleinere Stadionliingen als rund 150m dUrften eher illlgebrauchlich gewesen sein (sie wiirden auch kein gutes Licht auf die "trainierten Schnelllaufer" werfen). Aber selbst wenn Poseido­nios 99m oder gar 122,2m benutzt hatte, dann ware zwar Poseidonios' Entfemilllgsfehler auf 19% bzw. 0% geschrumpft, dafur hatten diese Stadionmafie aber sein Ergebnis fur den Erdum­fang erheblich verschlechtert, niimlich auf 41 % bzw. 27%.

Nach Sclun~idler (1989, S: 441) betragt der Winkelgewinn b~i Hor:izontbeobachtungen rund 34 Bogenmmuten. Trotz Wltterungsbedmgter Schwankungen relcht dlese GroBenordnilllg nicht aus, urn Poseidonios' ,,Mess"fehler zu erklaren, zurnal ja noch der Refraktionsgewinn in Alex­andria abzuziehen ware. 1m Ralunen illlserer Betrachtungen reicht dafur die bei Scluneidler erlauterte Faustregel "walire Sternhohe = beobachtete StemhOhe ex. minus R Bogenminuten", wobei sich R fur ex. ~ 50 aus der Zenitdistanz durch R ~ tan (900 -a.) schatz en laBt.

Dreht man Poseidonios' Argumentation vom Canopus-Hohenwinkel in Alexandria zur Brei­tendifferenz der beiden Beobachtungsorte urn, dann hatte man in Alexandria a. ~ 50 statt a. = 7,so beobachtel1 miissen, namlich 5,50 wegen der geografischen Breitendifferenz, abZiiglich rund 25' Refraktionsgewinn (gemaB der vorigen FuBnote 34' in Rhodos gegen rund 10' in Alexandria). Der Beobachtungsfehler des Canopus-Hohenwinkels hatte demnach im Weltwis­senschaftszentrum Alexandria 50010 betragen. Das ist kaurn zu glauben!

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Wer Detailfehler der Eratosthenes- oder Po­seidonios-Messung (Genauigkeit von Skaphen, Lage von Assuan 250km nord­lich des Wendekreises, Meridianabweichun­gen von Rhodos und Syene, Entfemungs­messmethoden) im Un­terricht erortem moch­te, findet dazu Tipps in Fuhrer 1992, SchUtz 1986, Szab6 1994 und in www.sc-vermes­~@gc~l~ .. Die flir die Erdumfangsmessung damals erreichbare Ge­nauigkeit wird in der

Lutz Fuhrer

Horlzont von Rhodes

In den auBeren. dOnneren LufischiChten kann sJch das Stemenlicht rascher bewegen, daher trifft ein gew()lbtes StrahlenbOndel ins Auge des Beobach­ters auf Rhodos, und der Stem scheint dort iJber dem Horizont zu stehen.

Regel auf rund 10% geschatzt, wobei die Hauptfehler in der Entfemungsmessun§ und im Problem einer brauchbaren Bestimmung der geografischen Lange bestanden. Das Liingenproblem wurde bekanntlich erst im 17. und 18. Th. befuedigend gelost.

Wie gut war Poseidonios' Erdmessung, was hat das mit Kolumbus zu tun, und was mitPISA?

Vielleicht ist die erste Frage falsch gestellt: Poseidonios scheint gar nicht gem essen zu haben.

Nach Szab6/Maula (1982, S. 208) hat er fUr die Canopus-Hohe in Alexandria auch nicht ~ des Vollkreises, sondem ein Viertel eines (Tierkreis-) Zeichens angegeben, was nach allgemeinem Verstandnis unter Astronomen einer Woche entsprochen haben diirfte und viel weniger ambitioniert klingt als ein Achtundvierzigstel (oder gar 7,5°). Vielleicht hat Poseidonios nur Eratosthenes' altere und bessere Messung zu Vorlesungszwecken, viel­leicht gar unter Anspielung auf den zum Badeort fUr besserverdienende Alexandriner verkommenen einstigen agyptischen Haupthafen Kanopus, mit ein wenig Datenkosmetik

6 Das folgende Zitat aus SchUtz (1986, S. 70) legt auch sehr nahe, dass das eigentliche Problem die Entfernungsschatzung tiber's Meer war: "Vor ihm [Emtosthenes] werden Archytas von Ta­rent (428-365) und der Mathematiker Kleomedes erwiihnt [;t dem Astronomen Kleomedes, von dem der l>oseidonios-Bericht stammt; L. F.], dessen astronomische Methode tiberliefert ist: ,Denen, die in Lysimachia wohnen, steht der Kopf des Drachen im Scheitelpunkte, in Sye­ne aber steht der Krebs im Zenit. Der Raum zwischen dem Drachen und dem Krebs ist der 15. Teil des Merididankreises zwischen Lysimachia und Syene und, da diese 20.000 Stadien von­einander entfernt sind, so erhalt der ganze Kreis 300.000 Stadien.' (Oppenheim 1906, S. 26) Auch Archimedes verwendet diese Zahl fim ,Sandrechner'; L. F.]. Lysimachia liegtjedoch am Nordufer des Hellespont, die Strecke nach Syene fiihrt also auch tiber das Mitte1meer und wird danlit unkontrollierbar."

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Diskussionsbeitrage 247

empirisch gestylt und mit einer Prise Lokalkolorit eingefarbt, urn seine wohlhabenden Horer da abzuholen, wo sie bequem safien - namlich auf oder in Rhodos, wo die Sonne niemals auch nur annahemd so im Zenit steht wie in Syene/ Assuan. Wahrscheinlich hat sich der naturwissenschaftlich gebildete Stoiker Poseidonios fiber die Genauigkeit der verfugbaren Messdaten auch weit weniger lllusionen gemacht als viele seiner heutigen Kolporteure. 7

Was geht uns die Poseidonios-Geschichte heute noch an? Sehr viel! ResnikoffIWells (1983, S. 83; vgl. auch Fischer 1975 und Rozanskij 1984) berichten fiber eine ganz er­staunliche Verwicklung, die sich an diese Erdumfangsbestimmung knfipfte:

"In dieser Hinsicht war die Methode von Eratosthenes besser, die die Position der Mittagssonne benutzte. Ein Fehler in der Schatzung der Entfemung zwischen Rhodos und Alexandria gleicht den anderen Fehler zum Teil aus, und so kam Poseidonios auf 38.600km Umfang. Ware die Sache so geblieben, wie sie war, hatten zukUnftige Mathematiker und Astronomen eine dieser beiden akkuraten Messungen benutzt. Der einflussreichste Sanunler geografischer Informationen seiner Zeit, Strabo (63 v. Chr. bis 21 n. Chr.) schrieb jedoch:

, ... von Poseidonios, der abschatzte, dass ihr Umfang [d. h. der Erde] etwa ein­hundertachtzigtausend Stadien ist. .. '

Dieser Wert von etwa 28.500 km ist aber urn annahemd 25% kleiner als der wah­re Wert. Strabos falsches Zitat fiber Poseidonios blieb haften, und Kolurnbus verwendete es als Argument, die ostindischen Inseln von der iberischen Halbinsel erreichen zu konnen.

Geniale Argumente sind vorgebracht worden, urn zu erklaren, warum [der sonst sehr vertrauenswnrdige; L.F.] Strabo Poseidonios falsch zitierte. Heath nimmt an, dass der unnamrlich konservative Strabo wahrscheinlich die kleinste Schatzung der Entfemung von Rhodos nach Alexandria benutzte (interessanterweise kam diese von Eratosthenes!): etwa 603km, anStatt Poseidonios' Schatzung ... "

Andere verwiesen auf gewisse Verwicklungen durch politische Zwange zu Poseidonios' Zeiten, die moglicherweise Poseidonios selbst zu einer Umrechnung auf viel grofiere persische Stadien (264 m; nach KahntlKnorr 1987) gezwungen hatten, deren Anzahl -ein olympisches Poseidonios-Stadion von 192,5m vorausgesetzt - bei 180.000 gelegen haben konnte und ohne diesbzgl. Angaben Strabo in die Hande gefallen sein mag, der sie vielleicht kompatibler mit Eratosthenes' Entfemungsschatzung fand. Noch wichtiger als Strabos Zeugnis dUrfte die Tatsache gewesen sein, dass Ptolemaios - zwar nicht im Al­magest, aber - in seinen "planetarischen Hypothesen" und in seiner einflussreichen "Geographie" als Erdumfang ebenfalls 180.000 Stadien angegeben hatte, leider ohne Quellenangabe.8

In http://www.rescon.deIWissenlmatheellemass3.html wird darauf hingewiesen, dass schon Eratosthenes' ,,Messung" verdachtig gut zu (6·60}60~. altbabylonischen oder gar su"!erischen Ellen von rund SO-S2cm passte (vgl. dazu etwa Rottlander 1979). Dem habe auch vIe1 spater die Vorgehensweise bei der Meterdefmition nach dem Vorschlag von P. S. Laplace aus 1791 entsprochen: Man nehme 400 (dezimale frz. Neugrad! )·1 05 m fur den Erdumfang.

8 Es ist aber nachweisbar, class Ptolemaios gem stoische Auffassungen fibernahm (s. Pedersen 1974), und so kann sein Wert direkt oder fiber Strabo von Poseidonios gekommen sein.

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Wie auch immer. Kolumbus schatzte die Entfernung von Europa nach Zipangu (Japan) auf etwa 4.800 Ian statt der in Wahrheit 17.700 lan, wobei er neben StraboslPtolemaios' Verschlimmbesserungen der Poseidonios-"Messung" auch noch grobe Fehlschatzungen fiber die Breite der Oikumene (bewohnte Welt) von Ptolemaios, Marco Polo und Tosca­nelli ins Feld fiihren konnte (Problem der Uingenbestimmung!).

Asien

~o CJ Japan C1" C:J··.o,U

Aq uator Q' ()

oc=o° A () P

~ V O(J~t)

~ DOstindische [nseln

Der amerikanische Kontinent in der Toscanelli-Karte, auf die sich Kolumbus berief. (Abb. aus ResnikoffJWelis 1983, S. 157)

Da man zu Kolumbus' Zeiten nicht viel Hinger ohne Nachschub auf See bleiben konnte als etwa einen Monat, waren die tatsachlichen Entfernungen fUr Kolumbus' Entde­ckungsfahrt hoffuungslos gewesen. Am portugiesischen Hof wusste man sehr wohl, dass Kolumbus die GroBe der Erde weit unterschatzte und dass die entsprechende Karte von Toscanelli nichts taugte, aber am damals provinzielleren spanischen, "der vom Wissen und der Skepsis hervorragender Mathematiker unbelastet war", offenbar nicht:

Dort, im gerade von Mauren und Juden "befreiten" Spanien Threr katholischen Majestat, " ... wurde Kolumbus, wie wir alle wissen, wesentlich warmer empfan­gen. So spricht heute ganz SUdamerika, mit Ausnahme von Brasilien spanisch und nicht portugiesisch ...

Interessanter ist die Erkenntnis, dass die wissenschaftliche Meinung fiber wissen­schaftliche Moglichkeiten im Grunde konservativ ist, obwohl die Forschungsta­tigkeit selbst oft revolutionar ist. Deshalb war die Ansicht der Kommission von Johann II. [von Portugal; L. F.] zwar wissenschaftlich gerechtfertigt, dass kleine

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Diskussionsbeitrage 249

Sehiffe nieht iiber ausgedehnte Meere naeh Japan segeln konnen. Sie fuhrte je­doeh zur Entmutigung fur die Erforsehung der westliehen Meere und sehliefilieh zu einer enonnen Besehrankung Portugals." (Resnikoff/Wells 1983, S. 157)

Was hat das alles mit PISA zu tun? Das Vergniigen, iiber die offensiehtlieh sehr vieWH­tigen Querbeziige zu den meisten Sehlagwortem im Dunstkreis der "mathematieallitera­ey" naehzudenken (dt. vielleieht: "auf zeitgemafi informelle und gesellsehaftlieh unan­sto8ige Weise mathematiseh gebildet sein"), sei dem einsehHigig geneigten Leser iiber­lassen. Nur eine diesbzgl. Uberzeugung, die ieh in meinem unten zitierten Aufsatz nailer begriindet habe, moehte ieh hier unterstreiehen:

Historisehe Quellenstudien, Interpretationen und henneneutisehe Skrupel sind fur den Gesehiehtsunterrieht konstitutiv. Fiir den Mathematikunterrieht gilt das nieht. 1m erste­ren sind Quellen Gegenstand, im letzteren sollten Quellen zu Quellen faehliehen Wis­sens funktionalisiert werden - neben anderem Wiehtigen aueh zu Quellen von Sehiiler­mathematik. Kultur-, Sozial- und Wissensehaftsgesehiehte und im Besonderen aueh ein­sehHigiges Quellenmaterial sind insofem "nur" Mittel des Mathematikunterriehts, nieht Gegenstande henneneutiseher Exegesen. Aber es sind keine beliebigen Mittel, denn es sind erstens Sehliissel zu zeitlosem Methodenwissen, zweitens dureh Verfremdung "attraktivierte" Muster natiirlieher Ersehlie8ung ohne teehnisehen Gro8aufwand, und es sind drittens und vor allem Ubungen in Empathie, denn friihere Gelehrte daehten nieht diimmer als heutige, sondem anders. Man konnte historisehe Ingredienzen des Mathema­tikunterriehts "Initiationsmittel" nennen, weil sie es - wie andere Mittel kaum - erlau­ben, den Lemenden von der Besehranktheit seiner geistigen Eigenproduktionen zu e­manzipieren, urn ihn als Mitwirkenden eines internationalen und intertemporaren "hu­man endeavor" urn Weltwissen zu enkulturieren. Konkret auf unser Beispiel bezogen: Poseidonios niitzt den Sehiilem zumindest im Mathematikunterrieht mehr, wenn sie von ihm oder dureh ihn Mathematik lemen, und - dabei unvermeidlieh - aueh noch das eine oder andere iiber den faehliehen Tellerrand hinaus. Die Welt, die Gesehiehte und die Wissenschaften hinter der Poseidonios-Geschichte konnen warten. Sie sollten es, weB sie reifen miissen.

Meinen Kollegen Detlef Lind (Wuppertal) und Fritz Siemsen (Frankfurt) danke ieh fur ihre Ermutigung aufgrund von Vorfonnen dieses Manuskripts und speziell fur einige Naehhilfe zum Thema Refraktion in Horizontnalle.

Literatur:

Zur Erdmessung von Eratosthenes:

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250 Lutz FOhrer

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Diskussionsbeitrage 251

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Auto,: Prof. Dr. Lutz Fiihrer, Institut fiir Didaktik der Mathematik der Goethe-Universitat, Sen­ckenberganlage 9, 60054 Frankfurt am Main. E-Mail: [email protected]