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Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst* Von Wolfgang W ELSCH (Bamberg) 1. Scheinklarheiten Was postmoderne Philosophie sei, glaubt man im allgemeinen nicht wissen zu müssen, denn da nicht einmal sicher ist, ob es eine „Postmoderne“ gibt, ist der mögliche Sinn der Rede von „postmoderner Philosophie“ vollends zweifelhaft. Hingegen glaubt man sehr genau zu wissen, was moderne Kunst sei. Ehedem ein Skandalon, ist diese Kunst inzwischen zu einem fest etablierten Bestandteil der Kultur geworden - auf dem Kunstmarkt lukrativ und in den Reflexionen der Phi- losophie attraktiv. Ebenso zählt die Moderne insgesamt, die sich in dieser Kunst exemplarisch artikulierte, mittlerweile zu den unbestrittenen Grundlagen und Aktivposten unseres Selbstverständnisses. Kein Aufklärer oder Gegenaufklärer, kein Progressiver oder Konservativer, kein Pragmatiker oder Visionär, der sich nicht auf die Moderne beriefe oder der zumindest beteuerte, daß man deren Er- rungenschaften nicht preisgeben dürfe. Nur jene dubiosen Postmodernisten scheinen fahrlässigerweise zu dergleichen bereit zu sein - ein Grund mehr, sie nicht ernst zu nehmen, sondern zu bekämpfen. Allerdings: Da alledem, was man dabei für ausgemacht hält, in Wahrheit nicht so ist - da also weder der Begriff der Moderne unproblematischer ist als der der Postmoderne; da zudem jede Berufung auf „die“ Moderne unweigerlich die Ab- lehnung einer anderen Moderne impliziert; und da schließlich die Postmoderne nicht die Verabschiedung der Moderne, sondern deren radikale Befragung bedeu- tet und nicht durch einen Bruch von der Moderne getrennt, sondern durch spezi- fische Verflechtungen mit ihr verbunden ist -, da alledem also anders ist, als es sich von der Galerie selbstgefälliger Zufriedenheit aus darstellt, sei im folgenden der Versuch unternommen, die liebgewordenen Mißverständnisse zu korrigieren, indem just das nachgewiesen wird, was dem geläufigen Schema zufolge ausge- schlossen sein müßte: eine Kongruenz postmodernen Denkens mit spezifischen Errungenschaften der Moderne. Ich will dies insbesondere anhand der künstleri- schen Moderne tun - man könnte es ähnlich in bezug auf die wissenschaftliche und soziale Moderne zeigen. Ich beginne diesen Versuch, indem ich einen bedeu- tenden Künstler der Moderne - Jean Dubuffet, einen Hauptvertreter des Informel - als Postmodernen avant la lettre zur Geltung bringe. * Vortrag vor der Philosophischen Sektion der Görresgesellschaft anläßlich der Generalversammlung in Bayreuth am 4. Oktober 1988. Die Redefassung wurde weitgehend beibehalten.

Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist ......18 Wolfgang Welsch nen Divergenzen, Brüchen und Unvereinbarkeiten rechnen. Dazu wäre viel zu sagen. Hier sei nur die methodische

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  • Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst*

    Von Wolfgang W E L SC H (Bamberg)

    1. Scheinklarheiten

    Was postmoderne Philosophie sei, glaubt man im allgemeinen nicht wissen zu müssen, denn da nicht einmal sicher ist, ob es eine „Postmoderne“ gibt, ist der mögliche Sinn der Rede von „postmoderner Philosophie“ vollends zweifelhaft. Hingegen glaubt man sehr genau zu wissen, was moderne Kunst sei. Ehedem ein Skandalon, ist diese Kunst inzwischen zu einem fest etablierten Bestandteil der Kultur geworden - auf dem Kunstmarkt lukrativ und in den Reflexionen der Philosophie attraktiv. Ebenso zählt die Moderne insgesamt, die sich in dieser Kunst exemplarisch artikulierte, mittlerweile zu den unbestrittenen Grundlagen und Aktivposten unseres Selbstverständnisses. Kein Aufklärer oder Gegenaufklärer, kein Progressiver oder Konservativer, kein Pragmatiker oder Visionär, der sich nicht auf die Moderne beriefe oder der zumindest beteuerte, daß man deren Errungenschaften nicht preisgeben dürfe. Nur jene dubiosen Postmodernisten scheinen fahrlässigerweise zu dergleichen bereit zu sein - ein Grund mehr, sie nicht ernst zu nehmen, sondern zu bekämpfen.

    Allerdings: Da alledem, was man dabei für ausgemacht hält, in Wahrheit nicht so ist - da also weder der Begriff der Moderne unproblematischer ist als der der Postmoderne; da zudem jede Berufung auf „die“ Moderne unweigerlich die Ablehnung einer anderen Moderne impliziert; und da schließlich die Postmoderne nicht die Verabschiedung der Moderne, sondern deren radikale Befragung bedeutet und nicht durch einen Bruch von der Moderne getrennt, sondern durch spezifische Verflechtungen mit ihr verbunden ist - , da alledem also anders ist, als es sich von der Galerie selbstgefälliger Zufriedenheit aus darstellt, sei im folgenden der Versuch unternommen, die liebgewordenen Mißverständnisse zu korrigieren, indem just das nachgewiesen wird, was dem geläufigen Schema zufolge ausgeschlossen sein müßte: eine Kongruenz postmodernen Denkens mit spezifischen Errungenschaften der Moderne. Ich will dies insbesondere anhand der künstlerischen Moderne tun - man könnte es ähnlich in bezug auf die wissenschaftliche und soziale Moderne zeigen. Ich beginne diesen Versuch, indem ich einen bedeutenden Künstler der Moderne - Jean Dubuffet, einen Hauptvertreter des Informel - als Postmodernen avant la lettre zur Geltung bringe.

    * Vortrag vor der Philosophischen Sektion der Görresgesellschaft anläßlich der Generalversammlung in Bayreuth am 4. Oktober 1988. Die Redefassung wurde weitgehend beibehalten.

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    2. Jean Dubuffet - ein Postmoderner avant la lettre

    Wolfgang Welsch

    1951 schrieb Jean Dubuffet: „Unsere Kultur ist ein Kleid, das uns nicht paßt.“ 1 „Gegenwärtig vollzieht sich, in der Kunst wie in allen möglichen anderen Bereichen, eine tiefgreifende geistige Wandlung und Neuorientierung.“ 1 2 Dubuffet nennt vier Hauptpunkte des anstehenden Wandels:

    1) Wir rücken vom abendländischen Anthropozentrismus, von der Sonderstellung des Menschen, ab.3 Dubuffet spricht diesbezüglich von „Enthumanisierung“ - und meint dies positiv.4

    2) Wir rücken vom Primat der Vernunft und der Logik ab. Die Ideen, die uns wirklich bewegen, sind mit rationalen Mitteln nicht zu erfassen, sondern werden durch sie allenfalls kaserniert oder erstickt. Unsere wesentlichen Ideen „sind wie ein Dampf, der bei der Berührung mit dem Bereich der Vernunft und Logik zu bloßem Wasser wird. Ich glaube nicht, daß sich das Beste des Denkvorgangs auf dieser Ebene abspielt . . . Ich trachte vielmehr danach, das Denken an einem Punkt seiner Entwicklung zu fassen, der dieser Ebene der ausgearbeiteten Begriffe vorausliegt.“ 5 - Das ist zwar keine Generalabsage an Rationalität, wohl aber bedeutet es eine einschneidende Relativierung derselben; wichtiger als rationale Gehalte werden fortan nicht-rationale Momente und prä-rationale Vollzüge.

    3) Für die Kunst kommt es darauf an, nicht eindeutige, sondern vieldeutige Werke zu schaffen; zudem soll sich diese Polysemie nicht bloß nebenbei ergeben, sondern bewußt initiiert werden.6

    4) Schließlich soll die Kunst nicht nur schöne Objekte mit kunstvoll arrangierten Formen und Farben zum Vergnügen der Augen produzieren, sondern Gebilde von tieferer und reicherer Faszination hervorbringen. Diese wenden sich - so Dubuffet - nicht an die Augen, sondern an den Geist.7

    Dubuffet macht diese kulturdiagnostischen und philosophie-einschlägigen Aussagen als Künstler - als moderner, reflektierender Künstler. Als ihn ein Interviewpartner einmal darauf anspricht, ob sich ähnliche Äußerungen nicht auch bei Heidegger fänden, winkt Dubuffet ab: „Lassen Sie Heidegger in Ruhe.“ 8 Eigentlich meint er wohl: Lassen Sie mich mit Heidegger in Ruhe. Er fügt hinzu: „Ich mag die Philosophie nicht, es sei denn als implizite.“ 9

    Dieser moderne Künstler weiß also sehr wohl, daß sein künstlerisches Denken philosophisch Relevantes enthält - jedoch in impliziter Form. Die explizite, die akademisch real existierende Philosophie empfindet er dagegen als ärgerlich unin

    1 J. Dubuffet, Positions anticulturelles, in: ders., L ’homme du commun à l’ouvrage (Paris 1973) 67- 75, hier 68.2 Ebd. 67.3 Ebd. 68 f.4 J. Dubuffet, Prospectus et tous écrits suivants, 2 Bde. (Paris 1967) II, 131.5 Jean Dubuffet, Positions anticulturelles, a. a. O. 69.6 Vgl. ebd. 55.7 „L ’art s’adresse à l’esprit, et non pas aux yeux“ (ebd. 73).s Γ. Dubuffet, Prospectus et tous écrits suivants, a. a. Ο. II, 221.9 Ebd.

  • Die Geburt der postmodemen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst 17

    teressant, weil sie von den oben genannten bewegenden Impulsen nichts mehr enthält.10 - Muß das so sein, und mußte es so bleiben? Könnte nicht inzwischen eine andere Philosophie zutage getreten sein, die den imphziten philosophischen Gehalten der modernen Kunst sehr wohl gerecht wird, ja diese explizit formuliert? Ist seit diesen Äußerungen Dubuffets von 1951 eine derartige Philosophie entstanden?

    3. Postmoderne als Nachhut

    Man wird unschwer erraten, worauf ich mit diesen Bemerkungen abziele: Die vier Momente, die Dubuffet - als exemplarischer Künstler der Moderne - herausgestellt hat, also das Abrücken vom Anthropozentrismus, das Abrücken vom Primat der Logik, das Abrücken von der Monokultur des Sinns und das Abrücken von der Prävalenz des Sehens, diese vierfache Kritik an Anthropozentrismus, Lo- gozentrismus, Monosemie und Visualprimat formuliert Kernpunkte des Poststrukturalismus und damit Definitionsmarken dessen, was man inzwischen „postmoderne Philosophie“ nennt. Namen wie Foucault, Derrida, Lacan und Lyotard stehen heute für die Gesichtspunkte, die Dubuffet 1951 programmatisch verkündet hat.

    Dubuffet hat also als moderner Künstler Leitvorstellungen postmodernen Denkens ausgesprochen. Damit hoffe ich fürs erste die im Titel ausgedrückte These von der Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst diskutabel gemacht zu haben. Im folgenden muß ich diese These nun erhärten und suche das in vier Abschnitten zu tun.

    Zuerst möchte ich meine Auffassung an einem prominenten Autor der philosophischen Postmoderne belegen, an Lyotard. Zweitens will ich sie durch Einbeziehung anderer Autoren - Foucault und Derrida - ergänzen. Drittens werde ich fragen, was die ästhetische Herkunft für das postmoderne Denken auf Dauer bedeutet. Bleibt es in besonderer Weise ästhetisch geprägt? Und ist es das - wenn ja - in einem eher dubiosen oder in einem vorteilhaften Sinn? Schließlich wird zur Leitfrage der Tagung, zum Verhältnis von Kunst und Philosophie unter den besonderen Bedingungen des 20. Jahrhunderts, Stellung zu nehmen sein.

    Eine letzte Vorbemerkung noch: Natürlich kann ich die angesprochene Problematik nicht erschöpfend behandeln, sondern bloß anschneiden. Ich kann nicht einmal das Gebotene tun, nämlich: einen Begriff von postmoderner Philosophie geben, dann einen Begriff der modernen Kunst entfalten und schließlich noch die Beziehung beider diskutieren. Ich kann das nicht nur aus Platz-, sondern schon aus Sachgründen nicht, denn die genannten Phänomene sind keineswegs so einheitlich, wie die Bezeichnungen „die moderne Kunst“ und „die postmoderne Philosophie“ es suggerieren. Vielmehr muß man gerade hier mit beträchtlichen inter-

    10 Einen ersten Versuch, Dubuffets Arbeiten für philosophische Fragestellungen fruchtbar zu machen, habe ich unternommen in: Art den Grenzen des Sinns. Ästhetische Aspekte der Malerei des Informel (Dubuffet), in: Philosophisches Jahrbuch 86 (1979) 84—112.

  • 18 Wolfgang Welsch

    nen Divergenzen, Brüchen und Unvereinbarkeiten rechnen. Dazu wäre viel zu sagen. Hier sei nur die methodische Direktive genannt, die für meine Ausführungen daraus folgt: Ich kann lediglich eine Perspektive exponieren, in der die genannten Fragen sich stellen und beantwortbar werden. Ich wähle diejenige, die ich verteidigen würde, im Unterschied zu anderen, die ich nur darstellen könnte.

    1. Lyotard oderDie künstlerischen Avantgarden und das postmoderne Denken

    Lyotard ist der Autor des Postmodernismus in der Philosophie. Kein anderer hat vergleichbar früh, vergleichbar präzise und ähnlich explizit ein Konzept von postmoderner Philosophie entwickelt. An Lyotard gilt es Maß zu nehmen.

    1. Lyotards Kunstnähe

    Die Nähe zu ästhetischen Fragen ist bei Lyotard von Anfang an unverkennbar. Er hat mit Künstlern zusammengearbeitet, über Künstler geschrieben und selber kunstnahe Tätigkeiten ausgeübt. Schon sein erstes großes Buch - „Discours, figure“ - von 1971 war Fragen der Kunst gewidmet. Weitere Schriften befaßten sich mit Künstlern wie Duchamp, Newman, Buren oder Adami und Arakawa.11 Dabei sind Lyotards Reflexionen zur Kunst für ihn stets auch philosophisch von entscheidender Bedeutung. Im Blick auf Lyotard glaube ich die These von der Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst bestens belegen und verständlich machen zu können.

    Zuvor möchte ich allerdings noch einen hermeneutischen Kniff eingestehen. Ich betrachte die moderne Kunst - wer könnte es anders? Und wer könnte ohne Selbstblindheit daraus einen Einwand schmieden? - nicht neutral, sondern bereits durch eine bestimmte Brille. Ich weiß und sage es ausdrücklich: Ich visiere sie aus der Perspektive postmodernen Denkens an, blicke sozusagen mit Lyotards Augen auf sie. Das ist für mein Vorhaben doppelt günstig: Es erspart interpretatori- sche Umwege und zeitraubende Erklärungen. Denn daran, wie eine postmoderne Philosophie die moderne Kunst sieht, vermag schon deutlich zu werden, wie sie sich von ihr inspiriert wissen kann. Zudem wird man bemerken: Diese postmoderne Perspektive auf die moderne Kunst ist nicht extravagant, sondern bringt mittlerweile geläufige Interpretations-Standards auf den Begriff. Außerdem würde der Einwand, daß sich unter Zugrundelegung dieser Perspektive eine Kongruenz von postmoderner Philosophie und moderner Kunst natürlich als schlichter Perspektiveneffekt ergeben müsse, so daß das Ergebnis von vornherein präjudi- 11

    11 Vgl. J.-F. Lyotard, Discours, figure (Paris 1971); ders., Die Transformatoren Duchamp (Stuttgart 1986); ders., Der Augenblick, Newman, in: Zeit. Die vierte Dimension in der Kunst, hg. von M. Baudson (Weinheim 1985) 99-105; ders., Über Daniel Buren (Stuttgart 1987); ders., Que peindre? Adami, Arakawa, Buren, 2 Bde. (Paris 1987).

  • ziert sei, auf einer logischen Verwechslung beruhen. Denn zwar muß eine generelle Entsprechung zwischen der postmodernen Perspektive und ihren kunstbezogenen Aussagen bestehen, aber das bedeutet noch lange nicht, daß diese Aussagen eine Kongruenz dieser Philosophie und jener Kunst zum Gehalt haben müßten - das Gegenteil, eine drastische Verwerfung der modernen Kunst durch eine solche Philosophie, wäre mit dieser generellen Bedingung vielmehr ebenso verträglich. Im einzelnen ist also nichts präjudiziert.

    Um Lyotards Sicht der modernen Kunst zu umreißen, greife ich auf Publikationen aus den Jahren 1982-1986 zurück. An erster Stelle steht dabei sein programmatischer Essay „Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?“, also seine Replik auf Habermas’ Adorno-Preis-Rede von 1980. Während sich Habermas gegen die postmodernen Strömungen auf das „Projekt der Moderne" berufen hatte, verteidigte Lyotard das postmoderne Denken gerade unter Berufung auf die Ä sthetik der Moderne.12 Des weiteren beziehe ich mich auf den Vortrag „Das Erhabene und die Avantgarde“ , ferner auf die Aufsatzsammlungen „Immaterialität und Postmoderne“ sowie „Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimen- tierens“ , schließlich auf die älteren „Essays zu einer affirmativen Ästhetik“ .13 Wenn man diese Stellungnahmen Lyotards bündelt, ergibt sich ein Bild der modernen Kunst, das ich im folgenden sukzessive anhand der fünf Aspekte Dekomposition, Reflexion, Ästhetik des Erhabenen, Experiment und Pluralität darstellen möchte.

    Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst 19

    2. Grundzüge der modernen Kunst - postmodern betrachtet

    a. Dekomposition

    Die moderne Kunst nimmt Lyotard zufolge eine Dekomposition der Kunst vor. Sie schafft nicht mehr Kunstwerke im Sinn des überlieferten, integralen Kunstbegriffs, sondern führt isolierte Elemente des Bildnerischen, Strukturen des Kunstbegriffs, Teile des Integralphänomens Kunst vor Augen. Die moderne Malerei bestimmt sich durch eine „Auflösung der Objekte, der Zustände, der Konfigurationen, der Orte, der Arten ... , welche bis jetzt die Institution Malerei ausmachten“ .14 Lyotard beschreibt diesen Prozeß einerseits als „Auflösung der Malerei". So spricht er vor allem in den siebziger Jahren von einer Lyse des traditionellen pikturalen Raumes und drängt - weitergehend - auf eine Lyse des Wer-

    12 Gegenübergestellt finden sich die beiden Texte erstmals in: Wege aus der Moderne, Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, hg. von W. Welsch (Weinheim 1988) 177-192 (Habermas) und 193-203 (Lyotard).° J.-F. Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, in: Merkur 424 (1984) 151-164; ders. mit anderen, Immaterialität und Postmoderne (Berlin 1985); ders., Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens (Berlin 1986); ders., Essays zu einer affirmativen Ästhetik (Berlin 1982).14 J.-F. Lyotard, Essays zu einer affirmativen Ästhetik, a. a. O. 51.

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    kes selbst.15 Andererseits bezeichnet er diesen Vorgang (vorwiegend in späteren Texten) auch als Analytik der Malerei. Hinsichtlich der Auflösung weist er auf Adornos These hin, daß der Niedergang der Metaphysik die moderne Kunst ermöglicht habe: „Schönberg und Beckett auf Grund von Hegels Erbenlosigkeit.“ 16 Hinsichtlich der Analytik gebraucht er hingegen die Formel vom Reflexivwerden der Kunst (die man freilich sehr gut an Hegel anschließen könnte).

    b. Reflexion

    Der Zug zur Reflexion ist Lyotard zufolge das entscheidende Moment für die Veränderung der Kunst. Traditionelle Kunst vertraute auf eine Wirklichkeit, die sie wiedergeben, überhöhen oder beschönigen konnte. Die moderne Kunst tut das nicht mehr. Ihr hegt vielmehr ein veritabler Nihilismus zugrunde. Sie hat erkannt, daß es mit der Wirklichkeit nichts ist und daß die Malerei folglich nicht von einer Realität, sondern von sich selbst ausgehen, mithin reflexiv verfahren muß, will sagen: sich je auf die Suche nach der Regel ihres Tuns begeben und immer neue Regel-Experimente durchführen muß. Das ist - um Mißverständnissen vorzubeugen — nicht gleichbedeutend mit l’art pour l’art. Anders als bei derlei artistischer Selbstgenügsamkeit bildet hier die dramatische Erfahrung einer „geborstenen Realität“ den Ausgangspunkt der künstlerischen Experimente.17 Das Zerplatzen der Wirklichkeit war deren Initialzündung.18 Wenn die moderne Malerei sich noch einmal auf Wirklichkeit bezieht, dann gerade, um zu zeigen, „wie wenig wirklich die Wirklichkeit ist“ ,19 anders gesagt: um Nietzsches Lektion vom Fiktions-Charakter alles Wirklichen bis in ihre äußersten Konsequenzen auszutragen.

    Dadurch gelangt diese Malerei zu einer permanenten Infragestellung und Überschreitung aller scheinbaren Verbindlichkeiten. „Alle Definitionsversuche der ,Avantgarden' sind von einer Frage geleitet: Was ist Malerei? Was ist dazu nötig: Farbe, Zeichnung, Perspektive, Formgebung, Rahmung, das Bedecken eines Trägers mit Farbsubstanzen, ein besonderer Ausstellungsort, Beständigkeit an einem Ort oder Transportierbark eit, z. B. die Unabhängigkeit vom Körper des Künst

    15 Ebd. 50 u. 52 bzw. 88 u. 92.16 J.-F. Lyotard, Über Daniel Buren, a. a. O. 20.17 Ödipus oder Donjuán? Legitimierung, Recht und ungleicher Tausch. Ein Gespräch zwischen J.-F. Lyotard und J. P. Dubost, in: J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (Bremen 1982) 127-150, hier 127.18 Insofern trifft Alfred Hrdlicka mit seiner Polemik gegen die abstrakte Malerei etwas Richtiges. In der Kunst ist in der Tat, wie er sagt, die Atom- bzw. Neutronenbombe längst explodiert. Nur irrt Hrdlicka sich in seiner Wertung und Schuldzuweisung. Die Malerei reflektiert dieses Zerbersten der Wirklichkeit (das übrigens den philosophischen Gründungsurkunden der Neuzeit längst folgenreich eingeschrieben war), keineswegs propagiert sie es zynisch. Angesichts dieser Sachlage ist es auch abwegig, wenn Hrdlicka umgekehrt durch Wirklichkeitsbeschwörung noch einmal Realismus zur Basis guter Kunst erklären möchte.19 J.-F. Lyotard, Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, a. a. O. 199.

  • Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst 21

    lers etc.? Jede Form von Malerei hat versucht, am einen oder anderen jener Zwänge etwas zu ändern, die seit drei Jahrhunderten als konstitutive Regeln der Malerei gegolten haben. Die Malerei ist wesentlich reflexiv geworden.“ 20

    c. Das Erhabene

    Diese Umstellung der Malerei zieht den Wechsel von einer Ästhetik des Schönen bzw. der Beschönigung zu einer Ästhetik des Erhabenen nach sich. Als reflektierende ist die Kunst der Moderne ein Unternehmen nicht mehr nur der Sinne, sondern auch des Geistes und Denkens. Sie wendet sich ausdrücklich gegen die Beschränkung aufs bloße Sehen und aufs bloß sinnliche Wahrnehmen generell. So war Buñnuels Schnitt durch das Auge (Un Chien andalou, 1928) eine exemplarische Tat dieser modernen Kunst. „Die ,modernen' Maler entdecken, daß sie etwas darzustellen haben, das . .. nicht darstellbar ist. Sie beginnen die vermeintlichen ,Gegebenheiten' des Visuellen in einer Weise umzuwälzen, die sichtbar macht, daß das Gesichtsfeld Unsichtbares verstellt, und die verlangt, daß das Bild nicht nur im Auge entsteht, sondern auch im Geist.“ 21 Durch diesen Zug zum Denken und durch die Aufmerksamkeit auf das Unsichtbare wird diese Kunst - zumindest tendenziell - zu einer Kunst des Erhabenen. Denn indem sie Momente ins Spiel zu bringen sucht, die nicht sichtbar, sondern nur denkbar sind, knüpft sie ihrer Struktur nach an das Erhabene an, das schon Kant ein „Geistesgefühl“ genannt hat,22 weil es die „Erweckung des Gefühls eines übersinnlichen Vermögens in uns“ bedeutet, welches die Fähigkeiten der Einbildungskraft prinzipiell überschreitet.23 Eine derartige Kunst ist - mit einem Wort von Paul Klee gesagt - rein diesseitig und sinnenhaft nicht mehr zu fassen;24 sie spielt vielmehr ständig auf etwas an, das nicht dargestellt, sondern nur im Ausgang von der künstlerischen „Darstellung“ (die eigentlich eine Nicht-Darstellung ist) gedacht werden kann.25

    Kunstgeschichtlich gesprochen, hat hier die Kunst selbst einen ikonoklasti- schen Zug angenommen. In ihr wird etwas vom alttestamentarischen Bilderverbot lebendig. Man könnte dafür auch sagen, daß diese Kunst grundsätzlich auf Anästhetisches bezogen ist.26 Das gehört zu jeder Erfahrung des Erhabenen, so

    20 J.-F. Lyotard mit anderen, Inunaterialität und Postmoderne, a. a. O. 38.21 Ebd.97.22 I. Kant, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, Originalhandschrift H 67.23 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, B 85. - Lyotard hält die Entsprechung sogar für so eng, daß er sagen kann, der Avantgardismus sei „keimhaft in der kantischen Ästhetik des Erhabenen enthalten“ (J.-F. Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, a. a. O. 158).24 Vgl. Paul Klees Selbstcharakterisierung „Diesseitig bin ich gar nicht faßbar“ (P. Klee, Gedichte, hg. von F. Klee [Zürich 21980] 7).25 Ein Paradebeispiel dafür ist „Das große Glas“ von Marcel Duchamp.26 Daraus erklärt Lyotard übrigens die Entstehung der abstrakten Malerei: „In dieser Erfordernis indirekter, fast ungreifbarer Anspielung aufs Unsichtbare im Sichtbaren liegt der Ursprung der ,abstrakten' Malerei seit 1912.“ (J.-F. Lyotard mit anderen, Immaterialität und Postmoderne, a.a.O . 99) Es

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    fern es dabei um das Gefühl eines sinnlich nicht mehr Faßbaren bzw. das paradoxe ästhetische Gefühl eines Anästhetischen geht. Daher spricht Lyotard neuerdings häufig auch von einer „anästhesierenden“ Wirkung dieser Kunst.27

    Beides zusammen, den Duktus des Erhabenen und den Gestus des Denkens, könnte man mit und gegen Hegel auch so formulieren: Wohl stimmt es, daß „der Gedanke und die Reflexion . . . die schöne Kunst überflügelt“ haben28 - aber eben nur die schöne Kunst. Und diese Überflügelung vollzieht sich nicht - wie Hegel meinte - ausschließlich in der Wissenschaft, sondern - wie die Geschichte gegen Hegel gezeigt hat - in der Kunst selbst, und zwar genau in deren Übergang zu einer Kunst des Erhabenen. Die Kunst der Avantgarde ist eine solche Kunst des Erhabenen und des Denkens zumal.

    Lyotards Bezugnahme auf das Erhabene, die in der zeitgenössischen Debatte so hohe Wellen schlägt - kein Vorlesungsverzeichnis heute, das nicht in Kunstgeschichte, Philosophie, Literaturwissenschaft und manchmal sogar Theologie Lehrveranstaltungen zum Erhabenen aufwiese 29 - setzt die Distanzierung von einer traditionellen, nämlich von der monumentalischen Form des Erhabenen voraus. Damit haben es die Franzosen leichter als die Deutschen. Das französische „le sublime“ enthält von vornherein nicht die bombastischen Assoziationen, die den deutschen Ausdruck „das Erhabene“ belasten. Es trägt eher Konnotationen des Feinen, Feinsinnigen und Hohen - eben Sublimen.

    d. Experiment

    Lyotard will das Erhabene nicht erbaulich verstanden wissen, sondern - und damit komme ich zum nächsten Punkt seiner Charakterisierung der modernen Kunst - experimentell. Sowohl die Experimentalität wie die nachher zu erörternde Pluralität folgt aus der Prägung dieser Kunst durchs Erhabene. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um die Darstellung einer Entität namens Undarstellbares, sondern um die Erfahrung, daß keine Darstellung hinreichend, endgültig, definitiv ist. Auf das Nicht-Darstellbare kann man nur anspielen und die Unmöglichkeit seiner Präsentation fühlen lassen.30 Damit verliert die Bezugnahme aufs Erhabene das mögliche falsche Pathos. Lyotard bemüht sich - so hat es Christine Pries formuliert - nicht um das Metaphysisch-, sondern um das Kritisch-Erhabene.31 Lyotard vertritt keine Metaphysik der Transzendenz, sondern eine Ontologie der unabsehbaren Möglichkeiten, und das Erhabene ist nicht vertikal, sondern hori

    wäre interessant, diese These mit den Analysen zu vergleichen, die Gottfried Boehm in seinem Sektionsvortrag vorgenommen hat.27 Vgl. J.-F. Lyotard, L ’inhumain. Causeries sur le temps (Paris 1988) 200.n G. W. F. Hegel, Ästhetik, hg. von F. Bassenge, 2 Bde. (Frankfurt a. M. o. J.) I, 21.29 Die Substanz der Debatte ist mittlerweile dokumentiert in: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, hg. von Chr. Pries (Weinheim 1989).30 Vgl. J.-F. Lyotard, Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, a. a. O. insbes. 202.31 Chr. Pries, Einleitung, in: Das Erhabene, a. a. O. 1—30, hier 28.

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    zontal zu deklinieren und gewinnt genau dadurch kritische Funktion. Denn in der Vielfalt der Realisationen gilt: Kein Kunstwerk ist das Kunstwerk, kein Stil der Stil, kein Ansatz der Ansatz. Alle Gestaltung bewegt sich vielmehr auf einem „Boden" von Nihilismus und in einem Raum unabschließbarer Potentialität. Diese Verfassung gilt es gegen alle Kurzschlüsse zu bezeugen und zu verteidigen. Dies und nichts anderes meint das Erhabene im postmodernen Sinn. Es ist nicht retrograd, sondern kritisch und experimentell. Noch einmal Lyotard: „Zugleich führen die Avantgarden aus der romantischen Sehnsucht heraus, denn sie suchen das Undarstellbare nicht als einen verlorenen Ursprung oder Zweck in der Ferne im Sujet des Gemäldes zu repräsentieren, sondern in der Nähe, in den Bedingungen künstlerischer Arbeit selbst.“ 32 Sie „widmen sich . . . der Aufgabe des Experi- mentierens“ .33 „Ihr Erhabenes ist kaum nostalgisch; es richtet sich eher aufs Unendliche der durchzuführenden plastischen Versuche als auf die Vorstellung eines Absoluten, das verloren ist.“ 34 So wird das Erhabene in Lyotards Verständnis zur Matrix und zum Motor einer unabsehbaren Reihe von Möglichkeits- und Wirklichkeitsexperimenten.35

    Diese Version des Erhabenen — seine Transformation in eine Serie von Experimenten - wendet sich kritisch gegen jegliche Endgültigkeitsbehauptung, gegen den Positivismus des Realen, gegen alle offenen oder verdeckten Absolutheitsanmaßungen. So ist wohl auch der folgende Herzsatz Lyotards zum Erhabenen zu verstehen: „Die Frage des Undarstellbaren . . . ist in meinen Augen . . . die einzige, die im kommenden Jahrhundert den Einsatz von Denken und Leben lohnt.“ 36

    e. Pluralität

    Ist schon der experimentelle Charakter eine Konsequenz des Erhabenen, so ist es die Pluralität noch einmal. Sie entfaltet den Möglichkeitscharakter positiv. Als Grundzug der modernen Kunst ist solche Pluralität unübersehbar. Angelegt ist sie schon in der Dekomposition, sofern diese nicht naiv oder nostalgisch, sondern konstruktiv betrieben wird. Denn dabei werden einzelne Momente des traditionellen Kunstbegriffs ins Extrem ihrer bildnerischen Möglichkeiten verfolgt. Was kann man aus einer einzigen Farbe wie Rot machen? Gibt es eine Gestalt aus Weiß - oder vielleicht auch aus Nichtweiß? Läßt sich der Bildrand zum Thema machen, läßt er sich sprengen? Wie können Bilder Unsichtbares zur Erfahrung bringen? Ist Frenhofer verrückt oder unser aller Bruder, sofern wir Moderne sind? So lauten die Fragen, Experimente, Unternehmungen der modernen Künstler.

    32 J.-F. Lyotard mit anderen, Immaterialität und Postmoderne, a. a. O. 99.33 Ebd.34 Ebd.35 Die „Aufgabe bleibt das immanent Erhabene, nämlich anzuspielen auf ein Undarstellbares, das nichts Erbauliches an sich hat, sondern im Unendlichen der sich wandelnden ,Realien' liegt“ (ebd. 101).36 Ebd. 100.

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    Damit wird die Skala der künstlerischen Möglichkeiten - angefangen vom bildnerischen Ausgangspunkt über die jeweilige Entwicklungslogik bis hin zu den Gestaltungsregeln und Kriteriensätzen - in höchstem Maße plural. Um ein Beispiel zu geben: Man kann ein konstruktivistisches Bild nicht mit surrealistischer Bildlogik fortsetzen (und umgekehrt). Während das erstere eine gleichsam mathematische Entwicklung verlangt, erfordert das letztere gerade den Gegenschlag, den Zusammenstoß, das unerwartete Einbrechen des Heterogenen, verlangt Zündung statt Konsequenz - freilich auch dies nicht in beliebiger Weise, sondern (der surrealistischen Bildlogik gemäß) nach Maßgabe des erzielbaren Spannungspotentials.

    Diese heterogenen Ansätze bedingen eine Unterschiedlichkeit nicht nur der Bildfakten und ihrer Darstellungsgesetze, sondern noch der Beschreibungs- und Beurteilungsformen. Das gilt in der ganzen Breite der diversen Stile, Ismen und Richtungen. Die verschiedenen künstlerischen Möglichkeiten verkörpern Grundmöglichkeiten, die heterogen und inkommensurabel sind, weshalb das Feld der modernen Kunst plural nicht in einem oberflächlichen, sondern in einem einschneidenden und radikalen Sinne ist.

    3. Moderne und Postmoderne - Einheitssehnsucht versus Vielheitsoption

    Die Bewertung dieser pluralen Verfassung - die als Signum der Moderne unstrittig ist - kann freilich recht unterschiedlich ausfallen. Man muß die Pluralität nicht positiv bewerten wie Lyotard, sondern kann sie auch kritisch sehen - wie beispielsweise Adorno. Anhand des konträren Votums dieser beiden Protagonisten läßt sich der generelle Unterschied zwischen moderner und postmoderner Option erfassen. Lyotard sagt wie Adorno, ja mit Adorno, daß die moderne Kunst plural sei, weil sie aus der Auflösung des Ganzen, dem „Niedergang der Metaphysik", hervorgegangen sei.37 Doch für Adorno war dies eine Feststellung von tiefer Ambivalenz. Er hielt die Befreiung des Vielen - das Glücksversprechen der Moderne - für ein eher trügerisches und gleisnerisches Versprechen. Verheißen wird die Befreiung der „Partialtriebe“ .38 Aber selbst wenn diese Befreiung wirklich gelänge, würde sie keineswegs das Heil bedeuten. Adornos Grund dafür: Heil kann nur im Ganzen, in der vollständigen Versöhnung, nicht in der Fremdheit eigenentfalteter Teile liegen. Dieser Einheits- und Ganzheitswunsch ist eine Grundprämisse des modernen Denkers Adorno. Das postmoderne Denken hingegen hat sich gerade von dieser Einheits- und Ganzheitsokkupation befreit. Es bejaht den Übergang in die Pluralität und bewertet ihn positiv. Warum sollte man das Nebeneinander konstruktivistischer und surrealistischer Werke als Zu

    37 J.-F. Lyotard, Über Daniel Buren, a. a. O. 20.38 Th.-W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Frankfurt a. M. 1973) 318.

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    stand von Entfremdung diskreditieren müssen? Könnte nicht umgekehrt gerade die Entfaltung des Vielen eine eigene und zukunftsträchtige Glücksvision darstellen? Einheit - der Ansätze, Durchführungen und Kriterien - wäre auf dem Stand der entwickelten Moderne ohnehin nur noch über Maßnahmen der Unterdrük- kung zu erreichen. Das gesteht auch Adorno zu. Aber warum dann ein Bannspruch gegen diesen Zustand? Warum soll das Heil partout in Einheit liegen müssen? Wenn etwas die Postmoderne von Prämoderne und Moderne unterscheidet, dann ihre von Grund auf andere Vision: die Utopie von Vielheit als Glücksgestalt. - Woraus man nebenbei ersehen kann, daß es in der Postmoderne nicht so sehr um neue Inhalte als vielmehr um eine andere Grundeinstellung geht.39 Das Bewertungsraster hat sich geändert. Der Wechsel von der Einheitssehnsucht zum Vielheitsplädoyer ist die einschneidendste dieser Veränderungen.40

    Übrigens hat Lyotard sein Plädoyer für Pluralität schon früh in pointierter Wendung gegen Adorno formuliert (mit dem ihn sonst vieles verbindet). Er hat seinen ästhetischen Entwurf als affirmative Ästhetik bezeichnet - in Absetzung von der negativen Adornos. Und wenn Lyotard dabei ebenso wie Adorno auf die Sprache der Psychoanalyse rekurrierte und die moderne Kunst als „polymorphpervers" charakterisierte,41 so meinte er dies eben ganz und gar positiv: Wie für das Kind Freud zufolge die gesamte Körperoberfläche eine Sphäre möglicher erotischer Einschreibungen ist, so experimentiert die plurale Kunst der Moderne mit der Gesamtheit aller medialen Möglichkeiten.42 Das belegt noch einmal den Grundunterschied von moderner Einheitssehnsucht und postmoderner Vielheitslust.

    4. Die Homologie von moderner Kunst und postmodernem Denken

    Wenn ich mit den letzten Überlegungen längst von der Bestimmung der modernen Kunst zur Kennzeichnung der postmodernen Philosophie übergegangen bin, so war dies just aufgrund der Kongruenz beider möglich. Diese Entsprechung sei noch durch einige Äußerungen Lyotards untermauert, ihr Generalnenner lautet: Die postmoderne Philosophie artikuliert diskursiv, was die moderne Kunst künstlerisch vorexerziert hat.

    Signifikant dafür ist schon ein Buchtitel wie „Philosophie und Malerei im Zeit

    39 „ ,Postmodern' bezeichnet einfach einen Gemüts- oder vielmehr einen Geisteszustand." (J.-F. Lyotard, Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, a. a. O. 97)40 Näher habe ich dies dargestellt in Unsere postmoderne Moderne (Weinheim 21988). Dort finden sich auch genauere Erläuterungen zum Verhältnis von Einheit und Vielheit. Es geht nicht um das törichte Plädoyer für reine Vielheit; es genügt aber auch nicht der konventionelle Hinweis auf die Unumgänglichkeit von Einheit; vielmehr ist der anspruchsvolle Gedanke einer Einheit gefordert, die Vielheit nicht „befaßt", sondern mit ihr „einig" ist. - Ich habe mir erlaubt, Platons „Sophistes" als Trainings-Programm vorzuschlagen. Man merkt es der Kritik an, daß sie den Vorschlag nicht aufgegriffen hat.41 J.-F. Lyotard, Essays zu einer affirmativen Ästhetik, a. a. O. 91.42 Vgl. ebd.

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    alter ihres Experimentierens“ . Er zeigt an, daß das Entscheidende in der modernen Kunst, das Experimentieren, zugleich die Bestimmung heutiger Philosophie ausmacht. Entsprechend hat Lyotard die Künstler und Philosophen als „Brüder im Experimentieren“ bezeichnet.43 Beide betreiben ein wesentlich reflektierendes Geschäft: Sie machen sich immer wieder auf die Suche nach der Regel ihres Tuns.

    Ebenso unterstreicht Lyotard die Parallelität von moderner Kunst und postmodernem Denken, wenn er auf die Entsprechung zwischen der Pluralität der künstlerischen Ansätze und der gegenwärtigen Ontologie der Potentialität hinweist,44 oder wenn er programmatisch sagt: „Was seit einem Jahrhundert in der Malerei oder in der Musik geschehen ist, antizipiert gewissermaßen die Postmoderne, die ich meine.“ 45 (Das letztere ist fast eine wörtliche Formulierung meiner Titelthese.)

    Vor allem zwei hervorstechende Züge der modernen Kunst bilden Leitmotive in Lyotards Denken: Heterogenität und Inkommensurabilität. Was Lyotard bezüglich der verschiedenen Sprachspiele, Diskursarten, Denkformen und kulturellen Codes zu zeigen versucht, daß nämlich zumindest manche von ihnen im Kern heterogen und inkommensurabel sind, das hat die moderne Kunst in ihrer Domäne der Wahrnehmung und der Grenzen der Wahrnehmbarkeit längst demonstriert. Entsprechend sagt Lyotard denn auch, Duchamp habe „Material, Werkzeuge und Waffen für eine Politik des Inkommensurablen“ geliefert,46 und generell stellt er bezüglich der Avantgarden fest: „All die Forschungen der wissenschaftlichen, literarischen, künstlerischen Avantgarden gehen seit hundert Jahren dahin, die gegenseitige Inkommensurabilität der Spracharten aufzudecken.“ 47

    Mir scheint, daß Lyotards Denken in allen zentralen Punkten als Übersetzung von Charakteristika der modernen Kunst in philosophische Optionen aufgefaßt werden kann. Der Dekomposition der Kunst entspricht das Ende der Meta-Er- zählungen; die künstlerische Reflexivität hat ihre Parallele in der Grundverfassung des Denkens, stets auf der Suche nach seiner Regel zu sein; das Pendant zur Ästhetik des Erhabenen ist die Offenheit des Denkens für Paradoxien und Unfaßliches; im Experimentieren sind die Künstler und Philosophen „Brüder“ ; und Pluralität - im einschneidenden, durch Heterogenität und Inkommensurabilität bestimmten Sinn - bildet den Kern von Lyotards Konzeption. Bei Lyotard ist zudem nicht nur die Homologie von postmodernem Denken und moderner Kunst offenkundig, sondern wird auch die genealogische Inspiration dieses Denkens durch jene Kunst deutlich.

    43 J.-F. Lyotard mit anderen, Immaterialität und Postmoderne, a. a. O. 102.44 Vgl. J.-F. Lyotard, Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, a. a. O. 70.45 J.-F. Lyotard mit anderen, Immaterialität und Postmoderne, a.a. O. 38.46 J.-F- Lyotard, Die Transformatoren Duchamp, a. a. O. 22. Überhaupt betrachtet Lyotard Duchamp als ein Exempel dessen, worum es heute auch im Denken geht (vgl. J.-F. Lyotard, Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, a.a. O. 62).47 J.-F. Lyotard. Tombeau de l’intellectuel et autres papiers (Paris 1984) 84.

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    5. Moderne Kunst als Kriterium im Streit zwischen Moderne und Postmoderne

    Zum Abschluß dieses Lyotard-Teiles möchte ich unter Bezugnahme auf die Kontroverse mit Habermas noch einmal deutlich machen, wie postmodernes Denken sich für seine Absetzung von mancher Version modernen Denkens gerade auf die moderne Kunst berufen kann. Habermas hat in der schon erwähnten Adorno-Preisrede die Idee Albrecht Wellmers aufgegriffen, daß die Kunst eine Versöhnung zwischen den ausdifferenzierten Rationalitätskulturen einerseits und der Lebenswelt andererseits leisten könne. Lyotard hingegen hält die Idee einer solchen Versöhnung für dubios und betont vor allem, daß eine solche Idee mit dem Charakter der modernen Kunst unvereinbar sei. Denn diese Kunst ist dissoziativ und plural verfaßt und hat Versöhnung weder zu ihrem Ideal noch zu ihrer Regel. Wer daher der modernen Kunst noch einmal die Aufgabe der Versöhnung zuschieben möchte, der hat sie offenbar noch immer nur unter dem einigermaßen anachronistischen Blickwinkel des Schönen, nicht des Erhabenen aufgefaßt und damit elementar verfehlt.48 Die „nicht mehr schönen Künste“ der Moderne widmen ihre Energie eher der Sprengung als der Synthese und sind an der Schaffung von Diskontinuitäten, nicht an der Erzeugung eines Amalgams interessiert. Man sollte sie nicht an die Kette altmoderner Einheitsintentionen zurücklegen.

    Das Interessante an dieser Kontroverse ist, daß hier ein postmoderner Denker gerade für den Kernpunkt seines Unterschieds von einem dezidiert modernen Denken, für das Motiv der Heterogenität, die moderne Kunst als Zeugen aufzurufen vermag. Daran wird noch einmal klar, wie innerlich diese postmoderne Philosophie mit Motiven der modernen Kunst verbunden ist.

    II. Erweiterungen

    Bevor ich die anhand von Lyotards Konzeption gewonnenen Einsichten in einem weiteren Abschnitt vertiefe, möchte ich sie zunächst in einem Zwischenabschnitt erweitern. Ich will noch einmal auf Dubuffets Bestimmungen der modernen Kunst und ihre Parallelen in der postmodernen Philosophie zurückkommen, um anschließend zu zeigen, wie sich diese Kongruenz auch bei anderen Autoren aus dem Spektrum der Postmoderne, etwa bei Foucault und Derrida, bestätigt.

    48 Das konnte Adorno nicht passieren. Er hatte erkannt, daß in der Moderne „das Erhabene ... zum geschichtlichen Konstituens von Kunst selber“ geworden ist (Th.-W. Adorno, Ästhetische Theorie [Frankfurt a. M. 1970] 293). Vgl. W. Welsch, Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen, in: Das Erhabene, a.a.O . 185-213.

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    1. Programmpunkte Dubuffets und postmoderne Topoi

    Bei Dubuffet war von vier Abschieden die Rede: Abschied vom Anthropozen- trismus, vom Logozentrismus, von der Monosemie und vom Visualprimat. Alle vier Abschiede finden sich bei Lyotard, also im Schnittfeld postmodernen Denkens und moderner Kunst, wieder. Der Abschied vom Primat des Sehens und der Sichtbarkeit erfolgt durch die Hinwendung zum Nicht-Darstellbaren und durch die Anstrengung der postmodemen Philosophie, vom Nicht-Darstellbaren Zeugnis abzulegen. Der Abschied von der Monosemie und deren ganzem Denkhorizont (dem Denken der Repräsentation und Präsenz) wird in den verschiedenen Weisen der Dekonstruktion vollzogen. Der Abschied vom Logozentrismus ergibt sich daraus, daß die Rationalität in der Postmoderne plural geworden ist und der traditionelle Logos-Begriff mit seinem zentristischen und hierarchischen Vernunftverständnis dieser Pluralität nicht mehr gerecht zu werden vermag; darüber hinaus wird sich zeigen, daß in der Postmoderne die traditionelle Herrschaft des Logos durch eine stärkere Berücksichtigung der Aisthesis durchkreuzt wird. Schließlich ist auch der Abschied vom Anthropozentrismus bei den Poststruktu- ralisten offenkundig. Wie die moderne Kunst das Menschliche zu überschreiten suchte - ins Kosmische (Malewitsch), ins Intentionslose (Surrealismus), ins Materiale (arte povera) -, so zielt auch das postmoderne Denken auf eine Überwindung der „humanistischen“ Konzeptionen des Menschen. Schon der Ausdruck „Postmoderne“ signalisiert ja (unter anderem) den Abschied vom menschenbezogenen Fortschrittskonzept und verweist auf die „Desidentifizierung“ des Menschen;49 vollends geschieht dergleichen in der Zuwendung zum Inhumanen. Daß der letztere Ausdruck ein Schlüsselbegriff sowohl bei Apollinaire und Adorno als auch bei Dubuffet und Lyotard ist,50 bezeugt einen Zusammenhang, der verständlich macht, warum die Verächter der Postmoderne im Grunde zugleich Verächter der Moderne sein müssen.

    2. Foucault: Bekenntnis zur Literatur und Nähe zur Malerei

    Schließlich sei noch anhand von Foucault und Derrida kurz dargelegt, wie sich auch bei anderen postmodernen Autoren die These einer Kongruenz dieses Denkens mit Intentionen moderner Kunst bestätigt.51 Foucaults Inspiration durch

    49 J.-F. Lyotard, Die Immaterialien, in: Das Abenteuer der Ideen. Architektur und Philosophie seit der Industriellen Revolution (Berlin 1984) 185-194, hier 189.50 Apollinaire sagte von den Künstlern, sie seien vor allem „Menschen, die inhuman werden wollen“ . Adorno hielt fest: „Kunst wird human in dem Augenblick, da sie den Dienst kündigt. Unvereinbar ist ihre Humanität mit jeglicher Ideologie des Dienstes am Menschen. Treue hält sie den Menschen allein durch Inhumanität gegen sie.“ (Th.-W. Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O. 293) Dubuffet hat, wie schon erwähnt, in zustimmendem Sinn von „Enthumanisierung“ gesprochen. Und eine der letzten Veröffentlichungen Lyotards ist dem Thema des Inhumanen gewidmet (L’inhumain. Causeries sur le temps [Paris 1988]).51 Einen vorzüglichen Überblick gibt David Carroll, Paraesthetics, Foucault-Lyotard-Derrida (New York und London 1987).

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    Ideale der modernen Kunst ist offensichtlich. Explizit ist dies dort der Fall, wo Foucault selbst der Literatur eine Leitfunktion zuschreibt, so z. B. gegen Ende seiner berühmten Schrift „Die Ordnung der Dinge“ , wo er das Telos des Abschieds vom Menschen durch ein Ideal von Sprache, durch die Sprache Mallarmés bestimmt sein läßt: Im reinen „Sein der Sprache“ soll „der Mensch verschwinden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ .52

    Insgeheim scheint mir aber auch Foucaults späteres Denken, das von dieser früheren Konzeption abgerückt ist, ästhetisch inspiriert und signiert zu sein - diesmal aber nicht von der Literatur, sondern von der Malerei her. Man kann nämlich Foucaults Konzeption der Mikrophysik der Macht und der vielfältigen Verzweigung der Rationalitäten zutreffend als macht- bzw. rationalitäts-theoreti- sche Transposition von Motiven der modernen Kunst und insbesondere der Malerei des Informel auffassen - wobei noch einmal Dubuffet anklingt, womit ich aber (nach einem kurzen Zwischenverweis auf Deleuze, für den das Informel ebenfalls Schlüsselbedeutung besitzt, hat er doch selbst die Vorstellung eines „informellen Chaos“ als Matrix seines Hauptwerks „Différence et répétition“ bezeichnet)53 nun gleich zu Derrida übergehen möchte, und zwar ebenfalls zu der weniger bekannten Seite seiner Beeinflussung durch die moderne Kunst.

    3. Auch Derrida: Mallarmé und Informel

    Denn gewiß, es ist bekannt, daß Derrida an literarischen Autoren wie Artaud, Bataille, Blanchot und Kafka sein Denken entwickelt, ja anhand ihrer sich recht eigentlich erklärt hat und daß die tiefste Beeinflussung wohl durch Mallarmés „Un coup de dés jamais n’abolira le hasard“ erfolgte; das führte bei Derrida bis zur Verwischung der Grenzen zwischen Philosophie und Literatur.54 Kunstnahes Schreiben und philosophische Reflexion durchdringen - die Kritiker sagen: verschlingen - einander in seinen Schriften. Die unbekannte Seite dieser Nähe von Kunst und Philosophie aber ist mindestens ebenso interessant: Derridas Denken weist in seinen elementarsten Kategorien eine auffällige Affinität zur schon mehrfach erwähnten Kunst des Informel auf. Spur, Marke, Fährte, Verstreuung, Bahnung, der Aufschub des Sinns und ein generalisierter Schriftbegriff - alles Schlüsseltermini in Derridas Werk - signalisieren essentielle Gemeinsamkeiten seines Denkens mit gestalterischen Eigenarten des Informel.55

    52 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge (Frankfurt a. M. 1971) 457 bzw. 462.53 G. Deleuze, Différence et répétition (Paris 1968) 356.54 Insgesamt bezieht sieb die Homologie von postmodemer Philosophie und moderner Kunst nicht nur auf die Malerei, sondern auch auf die Literatur. Ähnliches gilt für andere Kunstarten (Musik, Film etc.). Meine Ausführungen legen der Kürze halber den Akzent überwiegend auf die Malerei. Selbst dabei muß ich allerdings darauf verzichten, wichtige strukturelle Differenzen (z. B. von impliziter und expliziter Collage, Mehrfachkodierung und Hybridbildung) zu diskutieren.55 Bedenkt man noch, daß sich Derridas Denken in den fünfziger Jahren, also gerade in der Blütezeit des Informel formiert hat, dann wird die hier erwogene Genealogie geradezu wahrscheinlich. Gesprächsweise hat Derrida die Hypothese auch bestätigt.

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    Damit hoffe ich, die These von der Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst einleuchtend gemacht und durch verschiedene Anknüpfungspunkte gesichert zu haben.56 Die Homologie ist in jedem Fall unbestreitbar. Die Genealogie mag nicht überall so deutlich sein wie bei Lyotard; aber dieser ist immerhin der „postmoderne“ Denker par excellence, und im übrigen ist bei Geburten aus dem Geist die Homologie stets gewichtiger als die unmittelbare Ableitbarkeit.

    4. Moderne und Postmoderne: Verflechtungen und Verlagerungen

    An dieser Stelle sind einige Klarstellungen zum Verhältnis von Moderne und Postmoderne angezeigt. Der These meiner Ausführungen und den inzwischen erbrachten Nachweisen zufolge besteht eine Kongruenz zwischen der Sphäre der Kunst und dem Bereich der Philosophie: Was in den künstlerischen Avantgarden der Moderne richtungweisend wurde, das ist philosophisch im postmodernen Denken zum Tragen gekommen.

    Daraus wird erstens ersichtlich, daß der Unterschied zwischen Moderne und Postmoderne nicht absolut ist, anders gesagt: daß die Postmoderne nicht einfach die Trans- oder Anti-Moderne sein kann, zu der ihre Gegner sie stilisieren möchten, In sachlicher Betrachtung erweist sie sich vielmehr als Einlösungsform radikal moderner Gehalte bzw. als exoterische Alltagsform von einst esoterischen Errungenschaften der Moderne.57

    Zweitens bestätigt sich, daß die moderne Kunst, gesamtkulturell betrachtet und besonders im Vergleich mit der zeitgenössischen Philosophie, deutlich avanciert war. Während die letztere - etwa bei Husserl - noch Projekten einer Philosophia perennis nachhing, hatte die Kunst längst Elemente eines neuen Wirklichkeitsverständnisses erobert. Aus diesem Avanciertsein der Kunst erklärt sich auch das hohe Identifikationspotential, das ihr in diesem Jahrhundert zukam. Wer einen Zugang zu den neuen Wirklichkeitsverhältnissen und Verstehensweisen der Gegenwart gewinnen wollte, war gut beraten, sich mehr der Kunst als der Philosophie zuzuwenden. Pointiert ausgedrückt: Die eigentlich philosophische Aufgabe der Gegenwartsverständigung wurde von der Kunst weit eher und besser wahrgenommen als von der Philosophie - zumindest der akademisch etablierten Philosophie (von einer Ausnahmegestalt wie Nietzsche wird gleich noch zu sprechen sein).

    56 Ein weiterer Punkt muß hier vorerst noch unerörtert bleiben: der Schritt von der Beachtung der Pluralität zur Aufmerksamkeit auf Verflechtungen. Bei der postmodernen Kunst liegt - im Unterschied zur modernen - der Akzent auf dem letzteren Pol. Das bedeutet freilich nicht, daß die postmoderne Philosophie nun bald bezüglich solcher Verflechtungen ein weiteres Mal Nachholarbeit zu leisten haben wird. Vielmehr hat das postmoderne Denken - obgleich um das Motiv der Pluralität zentriert — von Anfang an auch auf Verflechtungen geachtet. Das ist insbesondere bei Deleuze und Derrida der Fall.57 Näher habe ich dies ausgeführt in Unsere postmoderne Moderne, a.a.O. insbes. 185-206.

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    Sofern also die Kunst antiquiert-moderne Positionen schon früher hinter sich ließ, als andere Weisen unserer Selbstverständigung dies taten, kann es drittens nicht verwundern, daß der Terminus „postmodern“ ursprünglich der Sphäre der Kunst entstammt - wobei es nicht darauf ankommt, ob man eher an die Malerei denken möchte, bezüglich derer sich der Ausdruck erstmals 1870 in England findet, oder an die Literatur, die gegen 1959/1960 in den USA die bis in unsere Tage reichende Debatte um die Postmoderne provoziert hat, oder an die Architektur, die seit 1975 zum Hauptfeld der Auseinandersetzung geworden ist. In die Philosophie hingegen wurde der Terminus erst spät, nämlich 1979 - durch Lyotard - eingeführt.5 * * 58

    Viertens definiert die geschilderte sachliche Verzahnung von modernen und postmodernen Momenten die Kriterien, die man beachten muß, wenn man zu verläßlichen Unterscheidungen kommen will. Diese sind gerade nicht durch rabiate chronologische Schnitte zu erlangen, sondern allein durch eine gewissermaßen tiefenanalytische Eruierung inhaltlicher Differenzen. In solcher Einstellung läßt sich dann gut verstehen, daß beispielsweise ein Avanciert-Moderner wie Adorno, dessen Denken von der Erfahrung der Kunst geprägt war, einerseits eben deshalb deutliche Schritte in Richtung Postmoderne unternehmen konnte, andererseits aber - als Hegelianer, der „trotz aller Hegelkritik bei Hegel geblieben“ ist59 - hinsichtlich des Dreh- und Angelpunkts von Einheitsoption versus Vielheitsakzeptanz letztlich ein „Moderner“ blieb. Nur Tiefenbetrachtungen dieser Art können hier triftige Kriterien an die Hand geben und zu verläßlichen Unterscheidungen führen. Ein undifferenziertes Vorgehen hingegen produziert heillosen Wirrwarr - wobei sich im allgemeinen die Gegner der Postmoderne durch eine noch größere Beliebigkeit und oftmals skandalöse Mißachtung der modernen Standards von Redlichkeit und Wissenschaftlichkeit hervortun als die Partout- Apologeten auch noch des überdrehtesten Postmodernismus.

    5. Die Vorläuferschaft Nietzsches

    Ein letztes erklärendes Wort zum Titel: Die Anspielung auf Nietzsches Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ von 1871 hat einen sachlichen Hintergrund. Nietzsche entwickelt in jener Schrift bekanntlich die Auffassung, daß die attische Tragödie aus Chor und Dionysoskult hervorging, bevor mit Euripides und Sokrates ein Verfall dieses Griechentums eintrat und die dionysische Begeisterung in den trockenen Bahnen der Vernunft und des theoretischen Denkens erstarrte, die alles Inkommensurable zu eliminieren suchten.60

    5S J.-F. Lyotard, La Condition postmoderne, Rapport sur le savoir (Paris 1979); dt.: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (Graz-Wien 1986).59 H. Schnädelbach, Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno, in:Adorno-Konferenz 1983, hg. von L. v. Friedeburg und J. Habermas (Frankfurt a. M. 1983) 66-93,hier 89.60 F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: ders., Sämtliche Werke. Kri

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    Diese Erstarrung und Austreibung des Inkommensurablen, die seither durch den Siegeszug der Wissenschaft besiegelt wurde und gegen die Nietzsches Kritik sich insgesamt richtet, wird von der modernen Kunst und der postmodernen Philosophie rückgängig gemacht. Denn die moderne Kunst zielt nicht mehr auf Schönheit und Beruhigung, sondern strebt die Aussetzung ins Unfaßliche an, und die postmoderne Philosophie stellt sich entschieden dem Inkommensurablen und sucht dieses wieder in seine Rechte einzusetzen.61 Nicht nur entspricht daher - das ist der erste Sinn meines Titels - das Verhältnis von postmoderner Philosophie und moderner Kunst genealogisch der Beziehung von Tragödie und Musik bei Nietzsche, sondern die postmoderne Philosophie vollzieht - so der zweite und wichtigere Sinn meiner Anspielung - genau das, wozu Nietzsche durch seine Programmschrift auffordern wollte: die Übersteigung der restriktiv gewordenen Rationalität durch eine erneute Berücksichtigung des Inkommensurablen. So löst die postmoderne Philosophie in der Tat Nietzsches (des Stammvaters Nietzsche) Projekt und Prophetie ein - und wenn sie dies nicht allenthalben wörtlich, sondern (im Unterschied zu bloß historisierender Tradierung) gemäß heutigen Bedingungen tut, so ist gewiß auch dies noch einmal in Nietzsches Sinn.

    III. Nach Geburt und Kindheit: Erwachsenwerden oder Vom postmodernen zum aisthetischen Denken

    In diesem dritten Teil will ich eine Frage aufwerfen, die mir besonders wichtig zu sein scheint und im Verlauf von deren Beantwortung ich auf eigene Ansätze eingehen werde. Was bedeutet die ästhetische Initiierung des postmodernen Denkens für dieses auf Dauer? Bleibt es auch weiterhin ästhetisch geprägt, und wenn ja: gereicht ihm dies zum Vorteil, und wenn wiederum ja: welche Vorzüge gewinnt es dadurch?

    1. Postmoderne Denker als ästhetische Denker (Baudrillard, Kamper, Sloterdijk)

    Daß das postmoderne Denken ästhetisch bestimmt bleibt, ist offenkundig und läßt sich bei allen prominenten Autoren des Postmoderne-Diskurses nachweisen,

    tische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von G. Colli und M. Montinari (München 1980) I, 9-156. Zum Inkommensurablen: ebd. 80 f.61 Noch die Umschlagserfahrung, die von der wissenschaftlichen Kultur zu einer erweiterten Kultur führt, hat Nietzsche in jener Erstlingsschrift treffend prognostiziert. Versteht man unter Wissenschaft den „Glauben an die Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens", so wird dieser „Anspruch auf universale Gültigkeit“ in dem Moment zusammenbrechen, wo „der Geist der Wissenschaft bis an seine Grenze geführt“ wird und „in das Unaufhellbare starrt“ . Er wird dann in Kunst als eine neue, das „Unaufhellbare“ nicht mehr negierende, sondern anerkennende Gestalt des Geistes „Umschlagen“ (ebd. 111, 101, 99). Lyotards Verständnis der wissenschaftlichen „Grundlagenkrise“ des 20. Jahrhunderts ist dem genau analog.

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    also über die schon genannten hinaus etwa auch bei Baudrillard, Kamper oder Sloterdijk.

    So hat Jean Baudrillard verschiedentlich ästhetische Phänomene benutzt, um von ihnen aus gegenwärtige Wirklichkeitsverhältnisse zu erschließen. Beispielsweise hat er an den Nonsense-Sätzen amerikanischer Graffiti abgelesen, daß wir es längst nicht bloß in akademisch abgehobenen post-strukturalistischen Theorien, sondern auch im Alltag mit dem frei flottierenden Signifikanten ohne Signifikat zu tun haben, daß die Zeichen in der Realität deckungslos geworden sind, daß die Semiokratie lügt und daß dies aufzudecken eine der wenigen noch möglichen kritischen Interventionen ist.62

    Oder er hat es verstanden - und auch dies ist für ein ästhetisches Denken charakteristisch -, bestimmte Einzelphänomene der Gegenwart zugleich metaphorisch als Schlüsselphänomene unserer Gesamtwirklichkeit vor Augen zu bringen, so z. B. den Krebs und das Klonen. Krebs, die maßlose Wucherung des Gleichen, und Klonen, die identische Reproduktion des Gleichen, stehen symbolisch für die Grundtendenz der Gegenwart zur gefräßigen Ausbreitung des Standardisierten und zur finalen Erstarrung in Uniformität.

    Ähnlich geht Dietmar Kamper bei seinen Analysen gegenwärtiger Erscheinungen immer wieder von Ambivalenzen des Bildlichen aus. Die Bilder enthalten älteste Glückversprechen, und doch gerät deren Einlösung schal und trügerisch. Bei ihrer Realisierung schlagen die Heilsvisionen in Unheilsaktionen um.63 Die Bildergesellschaft der Gegenwart ist eine Sozietät des Imaginären mit letalen Folgen, nicht eine Republik des Imaginativen, der schöpferische und befreiende Kräfte zuzuerkennen wären. Und doch hilft gegen die Haftbande des Imaginären noch einmal nur der Rekurs auf die Einbildungskraft.64 Richtige gegen falsche Bildlichkeit, das ist eine grundlegende Oppositionslinie in Kampers Denken, das sich darin insgesamt als ästhetisch geprägt erweist.

    Eine derartige ästhetische Imprägnierung ist auch bei Peter Sloterdijk offenkundig. Seine Analysen sind mit Bildbeispielen durchsetzt, und seine Sprache ist von Metaphorizität durchzogen. Ästhetisch ist sein Denken auch insofern, als in ihm überall ein melodischer Duktus vernehmbar wird - übrigens laut Nietzsche nicht das schlechteste Zeichen, daß es sich um einen veritablen Philosophen handelt.

    Bei Sloterdijk deutet sich zudem eine Verlagerung im Begriff des Ästhetischen an, auf die ich nachher noch gesondert zu sprechen kommen werde. Sloterdijk sagt (in einem Buch, das bezeichnenderweise als „Ästhetischer Versuch“ unterti-

    62 Vgl· J· Baudrillard, Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, in: ders., Der symbolische Tausch und der Tod (München 1982) 120-130.63 Schon Adorno hat diese Figur negativer Erfüllung - die gegenwärtig offenbar werdende Dialektik der Heilsvisionen - hellsichtig beschrieben. Im Blick auf den aktuellen Triumph gesellschaftlicher Integration diagnostizierte er: „Subjekt und Objekt sind, in höhnischem Widerspiel zur Hoffnung der Philosophie, versöhnt.“ (Th.-W. Adorno, Gesellschaft, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8 [Frankfurt a. M. 21980] 9-19, hier 18)64 Vgl. D. Kamper, Aufklärung-was sonst?, in: Merkur 436 (1985) 535-540, hier 539.

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    telt ist), daß heute die Schranke zwischen dem Ästhetischen und dem Logischen hinfällig wird: „Etwas merken ist Wahrnehmung, ist Ästhetik im weitesten Sinne und bleibt bis in die letzte Instanz die Angelegenheit des Denkens."65 Er bezieht sich also auf einen weiten Sinn von Ästhetik, der nicht durch Kunstbezug, sondern durch Wahrnehmungsakzentuierung bestimmt ist.66 Ein solches Wahrnehmen macht für Sloterdijk den Nukleus des Denkens aus. Darin ist eine Wendung enthalten, die m. E. für das postmoderne Denken und seine ästhetische Imprägnierung insgesamt charakteristisch ist.

    2. Von der Ästhetik zur Aisthetik

    Was Sloterdijk hier „Ästhetik im weitesten Sinne“ nennt, habe ich an anderer Stelle unter der Bezeichnung „Aisthetik“ thematisiert.67 Das postmoderne Denken scheint mir recht eigentlich ein „aisthetisches Denken“ zu sein und genau damit seiner ästhetischen Initiierung die wirklich fruchtbare Wendung zu geben. Der Ausdruck „Aisthetik“ zeigt den elementaren Rückbezug dieser Ästhetik auf aisthesis, auf Wahrnehmung, an. Dieser Rückbezug macht den Kern „aistheti- schen Denkens“ aus. Dessen folgende Skizze muß ich nun sehr knapp halten.68

    Die genannten postmodernen Autoren thematisieren die Kunst bezeichnenderweise nicht in erster Linie, um sich zur Kunst zu äußern, sondern um von Wahrnehmungen aus (die sie unter anderem der Kunst entnehmen) unsere Wirklichkeit zu begreifen. Die Kunst ist nicht der Ziel-, sondern ein Modellbereich der Reflexion. Dazu wird sie, weil sie Wahrnehmungspotentiale bereitstellt und besondere Wahrnehmungsfähigkeit verlangt sowie freisetzt. Auf dieses Wahrnehmen kommt es dem „aisthetischen Denken“ an.

    Dabei ist keineswegs bloß an sinnliche Wahrnehmung zu denken, sondern an Wahrnehmung allgemein, vornehmlich an ein Erfassen originärer Sachverhalte, die als originäre eben nur durch wahrnehmungsartige Vollzüge erschlossen und nicht etwa logisch-induktiv oder -deduktiv gewonnen werden können. Wahrnehmungen dieser Art haben mit Innewerden, Gewahrwerden, Merken und Spüren zu tun. Es geht darum, Erstbedeutungen auf die Spur zu kommen - gerade auch solchen, die das Sinnenhafte überschreiten. Ich erinnere noch einmal an Lyotards Thematisierung des Erhabenen: Dort ging es um ein Wahrnehmen des Scheiterns der Sinnlichkeit, also um ein Gewahrwerden von Transästhetischem, ja Anästhe

    65 P. Sloterdijk, Kopemikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Ästhetischer Versuch (Frankfurt a. M. 1987) 125.66 Wenig später betont Sloterdijk, daß er mit seinem Plädoyer für Ästhetik nicht „der lauten Akklamation von Kunstwerken" das Wort reden wolle - „Kunstbedarf ist eher ein Indiz von struktureller Barbarei“ -, sondern daß es ihm um eine „Kultur der Wahrnehmung“ gehe (ebd. 126).67 W. Welsch, Zur Aktualität ästhetischen Denkens, in: Kunstforum International, Bd. 100: „Kunst und Philosophie" (1989) 135-149.68 Ausführlicher sind die folgenden Überlegungen in dem zuletzt genannten Aufsatz dargestellt.

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    tischem. Das Wahrnehmen solcher Grenzen und Überschreitungen des Ästhetischen - das in der traditionellen Ästhetik keinen rechten Ort hatte - wird für eine Aisthetik der skizzierten Art zentral. Man könnte geradezu den ganzen Unterschied von Postmoderne und Moderne in dieser Unterscheidung von Aisthetik und Ästhetik gespiegelt sehen. Darin kehren all die genannten Oppositionen - Grenzbewußtsein versus Globalanspruch, Erhabenheits- versus Schönheitsprimat, Lyotardsche versus Habermassche Option - wieder.

    3. Aisthetisches Denken: das heute realistische Denken

    Ein wahrnehmendes Denken dieser Art - also eines, das von Wahrnehmungen ausgeht und sich auch auf anästhetische Bestände einläßt, kurz: ein aisthetisches Denken, das sowohl Ästhetik wie Anästhetik umfaßt - scheint mir gegenwärtig aus nicht etwa, wie manche argwöhnen, modischen Gründen, sondern wegen seiner Begreifenskapazität und Wirklichkeitskompetenz ander Zeit zu sein. Es ist - so meine These - heute das eigentlich realistische, will sagen: das der gegenwärtigen Wirklichkeit (der schier nichts mehr gewachsen ist) noch am ehesten, nämlich wenigstens stellenweise gewachsene Denken. Die einst für dubios gehaltenen ästhetischen Perspektiven erweisen sich zunehmend als die wirklichkeitsnaheren und erschließungskräftigeren.69

    Ausschlaggebend für diese Veränderung in der Kompetenz eines Denktypus - für diese Verlagerung von einem logozentrischen zu einem aisthetischen Denken - ist eine Veränderung der Wirklichkeit selbst. Heutige „Wirklichkeit" ist wesentlich über Wahrnehmungsprozesse, vor allem über Prozesse medialer Wahrnehmung konstituiert. Daher ist ihr auch nur noch mit einem wahrnehmungsfähigen Denken beizukommen. Das gilt, scheinbar paradox, selbst noch für anästhetische Phänomene - und wir alle wissen seit dem 26. April 1986, dem Tag von Tschernobyl, daß die entscheidenden Bedrohungen der Gegenwart anästhetischer Art sind, daß sie nicht mehr sinnlich wahrgenommen werden können, sondern daß erst ihre Schäden die Sinnlichkeit betreffen, sprich zerfressen. Nur für den ästhetisch Eingestellten und zumal für einen solchen, dessen Augenmerk den anästhetischen Überschreitungen des Ästhetischen gilt, sind solche Befunde von alarmierender Relevanz. Anästhetik muß heute zu einem Fokus der Ästhetik werden.

    69 Wieder einmal war es Adorno, der früh schon diese Umstellung bemerkt und ihre Ignorierung den Geisteswissenschaften vorgehalten hat: „Was ... den gegenwärtigen Geisteswissenschaften als ihre immanente Unzulänglichkeit: ihr Mangel an Geist vorzuwerfen ist, das ist stets fast zugleich Mangel ati ästhetischem Sinn.“ (Th.-W. Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O. 344) Auch diese Einsicht stellt ein Erbe Nietzsches dar. Mit Nietzsche hat dieser Avantgardismus eines anderen, eines aisthetischen Denkens begonnen, der heute bei den postmodernen Denkern zur Entfaltung gelangt.

  • 36 Wolfgang Welsch

    4. Kunst als Modellsphäre

    Während das aisthetische Denken einerseits die Kunst überschreitet, kommt andererseits innerhalb seiner der Kunsterfahrung noch einmal spezifische Bedeutung zu, und zwar gerade hinsichtlich des Begreifens heutiger Wirklichkeit, um das dieses aisthetische Denken sich insgesamt bemüht. Die Kunst kann als Modellsphäre für Pluralität dienen - jedenfalls ist dies die Perspektive, die ich abschließend entwickeln möchte.

    Wirklichkeitsbezogenes Denken muß sich heute einer Wirklichkeit stellen, die einschneidender, als wir das bislang kannten, und legitimer, als wir es bisher wußten, durch Pluralität gekennzeichnet ist. Dafür ist ein durch Kunsterfahrung inspiriertes aisthetisches Denken in besonderer Weise kompetent. Denn die Kunst ist eine exemplarische Sphäre von Pluralität. Sie demonstriert deren Struktur im einzelnen wie im ganzen, und an ihr kann man den Normenkatalog einer solch pluralen Grund verías sung deutlicher ablesen und evidenter einüben als anderswo. An der Kunst vermag für jedermann deutlich zu werden, daß es für den jeweiligen Ansatz und dessen Gestaltungslogik ein spezifisches Sensorium braucht und daß nichts falscher wäre - beckmesserisch nämlich und banausisch -, als sämtliche Ansätze nach einem einzigen Maß und mit einem einzigen Kriteriensatz zu beurteilen. Gegen diesen Elementarfehler in einer Situation der Pluralität, gegen diesen kleinen Anfang von Terror, dessen Ende unabsehbar groß werden kann, vermag Kunsterfahrung kritisch und aufklärend zu wirken. - Was an Kunstformen abzulesen ist, gilt es dann analog auf Lebensformen zu übertragen und in Wirklichkeitsverhältnissen fruchtbar zu machen.

    Wenn für uns heute zunehmend deutlich wird, daß jedes Sprachspiel, jede Lebensform und jedes Wissenskonzept im Grunde spezifisch und partikular ist, dann plaudert Kunsterfahrung - ich variiere einen Satz Adornos - aus der Schule dieser Einsicht und bietet ein Exerzitium unserer heutigen Situation und ihrer Verbindlichkeiten. In diesem Sinn kann Hegels Diktum vom Vergangenheitscharakter der Kunst als überholt gelten. Die Kunst hat neue Bedeutung gewonnen, indem sie unsere Grundverfassung - eben die der Pluralität - so nachhaltig zur Erfahrung bringt wie kein anderes Medium sonst. Von daher kommt einem ästhetisch geschulten aisthetischen Denken auch Orientierungs- und Handlungskompetenz für diese Welt zu. Denn wer mit der Verfassung und den Geboten der Pluralität von Grund auf vertraut ist, der vermag sich in einer Situation realer Pluralität angemessen zu bewegen; er muß sie nicht fürchten, sondern kann in ihr agieren. Aisthetisches, pluralitätsbewußtes Denken wird daher zu einem probaten Orientierungsmedium der Gegenwart. Noch einmal: Seine Konjunktur ist nicht Effekt einer Mode, sondern Ausdruck der normativen Verfassung einer plural gewordenen Wirklichkeit.

    Mit den letzten Überlegungen wollte ich deutlich machen, daß die ästhetische Inspiration des postmodernen Denkens als aisthetische Grundierung desselben wirksam bleibt, und daß dies zum Vorteil dieses Denkens geschieht, zum Vorteil seiner besonderen Erschließungskraft für heutige Wirklichkeit. - Die Geburt der

  • Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst 37

    postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst scheint mir keine Last dieses Denkens zu sein, sondern eher seine List auszumachen - und wohl auch die Lust von manchem, der damit sich befaßt.

    IV. Kunst und Philosophie - ein abwechslungsreiches Verhältnis

    Das Thema hat mir erlaubt, einen sehr spezifischen und ungewohnten Typ des Verhältnisses von Kunst und Philosophie vor Augen zu bringen. Nicht dekretiert hier die Philosophie, was die Kunst ist und sein soll; und nicht bringt sie sich philosophie-immanent durch eine Kritik älterer Philosophie oder Ästhetik voran; sondern sie läßt sich durch das andere Medium, die Kunst, inspirieren - um nicht zu sagen: erwecken.

    Freilich war das nur aus zwei Gründen möglich. Zum einen, weil die Kunst der Moderne in sich schon philosophische Relevanz besaß. Sie arbeitete Strukturen eines avancierten Wirklichkeitsverständnisses heraus. Zum anderen, weil die Philosophie im Verhältnis dazu weithin retardiert war und das groß teils auch blieb. Für das Verständnis der Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts hat die Kunst (und natürlich auch die Wissenschaft, etwa in der „Grundlagenkrise“) mehr geleistet als die akademische Philosophie. Erst das postmoderne Denken hat das moderne Wirklichkeitsverständnis der Künste und Wissenschaften konzeptionell aufgenommen und damit die Verspätung der Philosophie beseitigt.

    Die geschilderte Präzession der Kunst scheint mir, geschichtlich gesehen, allerdings ein ziemlich ungewöhnlicher, ein für das 20. Jahrhundert spezifischer Befund zu sein. Damit will ich auch sagen: Von der Erhebung dieses oder eines anderen Verhältnisses von Philosophie und Kunst zu deren Generalverhältnis oder von seiner Verrechnung im Rahmen einer generellen Geschichtslogik vermöchte ich nichts zu halten. Geklärte, auf den Begriff gebrachte Empirie bietet zu derlei Konstruktionen keinen Anlaß - von einem Rückhalt ganz zu schweigen.

    Ich hätte gerne möglichst wenig von „Postmoderne“ gesprochen. Ich habe daher, obwohl zu diesem Thema eingeladen, nicht nur von Postmoderne, sondern möglichst auch von dem zu sprechen versucht, wovon meines Erachtens gesprochen werden muß: von Aisthetik. Anders gesagt: Genau diese Aisthetik scheint mir den gewichtigen Kern dessen auszumachen, was man „Postmoderne“ nennen mag - oder auch nicht. Der letztere Ausdruck kann uns erspart bleiben, das ais- thetische Denken sollte uns wichtig werden.