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Die Geschichte der Sprachen im abendländischen Denken Von Arno Borst über die Sprache denkt der Mensch nicht schon nach, seitdem er sie spricht, sondern erst nachdem ihm sein Wesen und sein Weltbild fragwürdig geworden sind.! Er freut sich noch an dem \Vunder, daß er sich mitteilen, andere anrufen, Dinge bezeichnen, Ereignisse festhalten kann, und grübelt schon über dem Rätsel, daß sich ihm mit alledem das Wesen von Mensch und Welt nicht kundgibt. So fragt er nach dem Wesen der Sprache, die ihm gehört und ihm doch das Letzte versagt. Er sucht die Antwort gern im Innern der Sprache selbst, rückt sie von seinem schwankenden Dasein ab, bezeichnet sie gar als das verborgene, bergende "Haus des Seins". Martin Heidegger will so "die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen"; wie einst Heraklit von Ephesos umkreist er mit tiefsinnigen, dunklen Wortspielen das immergleiche Geheimnis. Die Geschichte lichtet es kaum, denn sie ist "die Wiederkehr des Möglichen"; Geschichtlichkeit ist unser stetes Schicksal, die Frage nach der Sprache ist immer dieselbe. Darum darf Heidegger die Methode Heraklits wieder aufnehmen. Zwar liegen zwischen dem Griechisch Heraklits und dem Deutsch Heideggers zweieinhalb Jahrtausende, die im Denken und Sprechen der Menschen tiefe Spuren hinterließen; doch Heidegger ent- zieht sich diesen Eindrücken, indem er sich seine eigene Sprache schafft. Sie ist schwer verständlich und ungesellig; sie vernachlässigt also eine Aufgabe der Sprache, um das' Wesen der Sprache zu bedenken. Wer umgekehrt verfährt, wer seine geschichtliche Welt mitsamt den Mitmenschen und Umständen sprachlich bewältigen will, muß einen anderen, kaum minder hohen Preis zahlen: Er hängt unweigerlich a~ von den jeweiligen sprachlichen Lautungen und geschichtlichen Geschehnissen, und sie be- schränken ihn. Auf diese Beschränkung stoßen die Menschen schon ohne pblloscphlsche Besinnung, wenn sie ihre Umwelt erfahren. Sie ärgern sich, daß Ausländer sie nicht begreifen, und sind von der unverständlichen Hinterlassenschaft ihrer Vorfahren befremdet. Dann fragen sie wohl nach der Geschichte der Sprachen, der geistigen Gebilde, die sich unterscheiden und verwandeln. Sie finden die Antwort in den weitläufigen Museen des Wissens, in entfremdeten, versachlichten Systemen von Fakten und Daten. Die Sprach- wissenschaft etwa erforscht wie Jacob Grimm die geschichtlichen Änderungen sprach- licher Formen und findet Lautverschiebungen, Sprachverwandtschaften, Sprach- strukturen. Die Historie untersucht wie Leopold Ranke die sprachlich überlieferten geschichtlichen Materialien und entdeckt die Begebenheiten "in ihrer menschlichen Faßlichkeit, ihrer Einheit, ihrer Fülle". Aber was besagen dem lebendigen Menschen, der nach seiner Sprache fragt, tote Buchstaben und vergangene Vorgänge, die bloß der Spezialist versteht? Bleibt nicht doch eine Kluft zwischen dem Jeweiligen und dem Immergleichen, den Sprachen und der Sprache, den Geschehnissen und der Geschieht- lichkeit, den Schöpfungen des Menschen und seiner Beschaffenheit? Und liegt nicht in dieser Lücke die Antwort auf unsere Frage nach der Sprache? Wilhclm von Humboldt hat darauf längst eine Antwort gegeben, die man heute wieder zu verstehen beginnt: Das Allgemeine verwirklicht sich nur im einzelnen. Sprachliche Bildungen entspringen dem Bewußtsein des Menschen; sie verkörpern als geschicht- liche Formen den Willen des Menschen. Die einmaligen Äußerungen sind Teile unseres Innern; jede sprachliche Erscheinung ist als geschichtliche Erfahrung ein Stück von uns. 1 Der Aufsatz baut einen Vortrag weiter aus, mit dem die Goethe-Gescllschaft Hannover im Januar 1960 einen Zyklus "Von der Sprache" eröffnete. 129

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Die Geschichte der Sprachen im abendländischen Denken

Von Arno Borst

über die Sprache denkt der Mensch nicht schon nach, seitdem er sie spricht, sondernerst nachdem ihm sein Wesen und sein Weltbild fragwürdig geworden sind.! Er freutsich noch an dem \Vunder, daß er sich mitteilen, andere anrufen, Dinge bezeichnen,Ereignisse festhalten kann, und grübelt schon über dem Rätsel, daß sich ihm mit alledemdas Wesen von Mensch und Welt nicht kundgibt. So fragt er nach dem Wesen derSprache, die ihm gehört und ihm doch das Letzte versagt. Er sucht die Antwort gern imInnern der Sprache selbst, rückt sie von seinem schwankenden Dasein ab, bezeichnetsie gar als das verborgene, bergende "Haus des Seins". Martin Heidegger will so "dieSprache als die Sprache zur Sprache bringen"; wie einst Heraklit von Ephesos umkreister mit tiefsinnigen, dunklen Wortspielen das immergleiche Geheimnis. Die Geschichtelichtet es kaum, denn sie ist "die Wiederkehr des Möglichen"; Geschichtlichkeit istunser stetes Schicksal, die Frage nach der Sprache ist immer dieselbe. Darum darfHeidegger die Methode Heraklits wieder aufnehmen. Zwar liegen zwischen demGriechisch Heraklits und dem Deutsch Heideggers zweieinhalb Jahrtausende, die imDenken und Sprechen der Menschen tiefe Spuren hinterließen; doch Heidegger ent-zieht sich diesen Eindrücken, indem er sich seine eigene Sprache schafft. Sie ist schwerverständlich und ungesellig; sie vernachlässigt also eine Aufgabe der Sprache, um das'Wesen der Sprache zu bedenken. Wer umgekehrt verfährt, wer seine geschichtlicheWelt mitsamt den Mitmenschen und Umständen sprachlich bewältigen will, muß einenanderen, kaum minder hohen Preis zahlen: Er hängt unweigerlich a~ von denjeweiligen sprachlichen Lautungen und geschichtlichen Geschehnissen, und sie be-schränken ihn.Auf diese Beschränkung stoßen die Menschen schon ohne pblloscphlsche Besinnung,wenn sie ihre Umwelt erfahren. Sie ärgern sich, daß Ausländer sie nicht begreifen, undsind von der unverständlichen Hinterlassenschaft ihrer Vorfahren befremdet. Dannfragen sie wohl nach der Geschichte der Sprachen, der geistigen Gebilde, die sichunterscheiden und verwandeln. Sie finden die Antwort in den weitläufigen Museen desWissens, in entfremdeten, versachlichten Systemen von Fakten und Daten. Die Sprach-wissenschaft etwa erforscht wie Jacob Grimm die geschichtlichen Änderungen sprach-licher Formen und findet Lautverschiebungen, Sprachverwandtschaften, Sprach-strukturen. Die Historie untersucht wie Leopold Ranke die sprachlich überliefertengeschichtlichen Materialien und entdeckt die Begebenheiten "in ihrer menschlichenFaßlichkeit, ihrer Einheit, ihrer Fülle". Aber was besagen dem lebendigen Menschen,der nach seiner Sprache fragt, tote Buchstaben und vergangene Vorgänge, die bloß derSpezialist versteht? Bleibt nicht doch eine Kluft zwischen dem Jeweiligen und demImmergleichen, den Sprachen und der Sprache, den Geschehnissen und der Geschieht-lichkeit, den Schöpfungen des Menschen und seiner Beschaffenheit? Und liegt nicht indieser Lücke die Antwort auf unsere Frage nach der Sprache?Wilhclm von Humboldt hat darauf längst eine Antwort gegeben, die man heute wiederzu verstehen beginnt: Das Allgemeine verwirklicht sich nur im einzelnen. SprachlicheBildungen entspringen dem Bewußtsein des Menschen; sie verkörpern als geschicht-liche Formen den Willen des Menschen. Die einmaligen Äußerungen sind Teile unseresInnern; jede sprachliche Erscheinung ist als geschichtliche Erfahrung ein Stück von uns.

1 Der Aufsatz baut einen Vortrag weiter aus, mit dem die Goethe-Gescllschaft Hannover im Januar 1960einen Zyklus "Von der Sprache" eröffnete.

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Damit verändert sich die Frage nach der Sprache zur Frage nach dem Menschen, aber siebleibt beim Thema; denn der Mensch ist das geschichtliche Wesen, welches spricht.Unsere Sprache und Geschichte, alles, was wir sagen und tun, kommt uns von weit herals Erbe zu; keiner kann sich seine Sprache allein zimmern, keiner seine geschichtlicheLage selbst einrichten. Traditionen und Situationen begrenzen unsere Inspirationen;die Muttersprache und die Umstände bestimmen weithin unser Weltbild. Wir sinddennoch frei und verwenden das überkommene, als wäre es unser; für einen Augenblickhaben wir es in der Hand. Dann aber entflieht es uns ohne mögliche Wiederkehr; waswir einmal gesagt und getan haben, ist unwiderruflich und wirkt in eine Zukunft, überdie wir nicht verfügen. Unser sprachliches und geschichtliches Leben ist also punktuellund fragmentarisch; es gestattet uns nicht, die dauernde und ganze Wahrheit zu er-fahren. Aber wir können uns ihr - auf einem anderen Wege als Heidegger - nähern,wenn wir die Punkte verbinden und die Fragmente sammeln, wenn wir also die be-fragen, die vor uns unser Schicksal teilten und doch ihr eigenes Leben lebten. In derGeschichte wurden vielleicht noch nicht alle Möglichkeiten des Menschseins verwirk-licht, aber zumindest mannigfaltigere, als ein einzelner ausdenken könnte; aus derGeschichte läßt sich also wenn nicht vom Wesen, dann doch von der Rolle der Sprachemehr entnehmen als aus einsamer Meditation, und am meisten wohl aus der Sichtungvon Zeugnissen, die in einer geschichtlich bedingten Sprache und Lage von der Ge-schichte der Sprachen handeln. Denn dann greifen wir beides, Formen und Gedanken,Bedingtes und Dauerndes,Diachronisches und Synchronisches, Werden und Wesen derSprachen und der Sprache.Der Ausschnitt, den ich biete, ist punktuell und fragmentarisch, wenn auch nichtbeliebig. Ich befrage hier nur sechs Zeugen aus jeweils verschiedenen Zeiten, Nationenund Wirkungsbereichen; nur so läßt sich die ganze Spannweite des geschichtlichVerwirklichten andeuten. Aber jeder dieser Männer hat in seinem Kreise Weltrang, undjeder steht beherrschend an einer Zeitwende. Hinter den Aussagen stehen Schicksale;was da über die Geschichte der Sprachen gesagt wurde, war einmal Wirklichkeit undhat lange nacligewirkt. Deshalb lasse ich die Zeugen möglichst selbst sprechen underteile ihnen keine Zensuren, auch wo ich ihnen nicht glaube. Verstehen ist schon genug;es ist auch schwer genug.

*Umdas Jahr 600nach Christus wird in Sevillader Provinzialrömer Isidorzum Bischofgeweiht .. Er spricht lateinisch, lebt mit dem klassischen Erbe und träumt noch vomrömischen Weltreich, das in der katholischen Kirche fortlebe. Aber dem romanischenGeist tritt die germanische Macht entgegen; das Spanien Isidors ist beherrscht von denWestgoten, die bis vor kurzem ein nichtrömisches Christentum vertraten, auch jetztnoch eine fremde Sprache reden und der lateinischen Kultur mißtrauen. Die rohe Kraftdroht die hohe Bildung zu erdrücken. Doch Isidor bleibt nicht im Elfenbeinturm; erbejaht das Geschehene und sucht das Auseinanderklaffende neu und fest zu verbinden.Er tritt zu den westgotischen Königen, deren Freund er wird, und lehrt sie, die römischeSprache, Kultur und Kirche von innen her zu ergreifen; dabei lernt er von ihnen dieAbsage an Roms Staatsmacht, den Glauben an Spaniens umgrenzte Größe und an diesichere Ordnung des Weltgefüges. Isidor von Sevilla schreibt nicht gotisch, sondernbleibt beim Latein, doch anders als Cicero. Aus der fein abgetönten, kompliziert ge-stuften Literatensprache wird ihm ein Verständigungsmittel mit übersichtlichem Satzbauund kärglichem Wortschatz, mehr der Klarheit als der Feinheit dienstbar, eine Brockezu den Barbaren. Diese Sprache gibt runde Realitäten; jedes Wort hat seinen festen Ort,und in jedem ist ein Stück Welt abgebildet. Im Klang des Wortes enthüllt sich schon

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seine Bedeutung; wer genau hinhört, vernimmt aus der Sprache die Stimme desSchöpfers und den Sinn des Seins. Das lateinische Wort für "Sprache", lingua, kommtvon ligare, binden: Sprache verbindet Worte durch artikulierte Laute.s Sermo, die Rede,entstand aus serere, zusammenfügen; Das Gespräch verbindet die Redenden.s In denWörtern für "Sprache" ist also bereits die Leistung der Sprache definiert: Sprache ver-bindet. Darum koppelt Isidor tausendfach den Wortklang mit der Wortbedeutung undschlingt die Sprache als Band um den natürlichen, geschichtlichen und geistigen Kosmos,den seine Enzyklopädie beschreibt.Dieses große Werk, "Zwanzig Bücher Etymologien oder Ursprünge", bei IsidorsTode 636 noch unvollendet, soll das antike Wissen für die barbarische Zeit kom-primieren und der Gegenwart den Weg zurück zum Ursprung bahnen, wieder von derSprache her. Denn der Christ Isidor vertraut der Heilsgeschichte: Aus dem Gleichklangder Worte ergibt sich ihr Ursprung, und wer die Worte kennt, hat die Sachen selbst;denn beide kommen von Gott. So hätte Gott diesen Einklang von Lautung und Sinnund Ding bei der Schöpfung ersonnen? Aber nein, Sprache ist Sache des Menschen.Die Bibel berichtet im ersten Buch Mose, daß Gott die Tiere zu Adam führte, damitdieser ihnen Namen gebe. Der erste Mensch also schuf die Sprache, denn er war weiseund kannte die Natur der Dinge; er bannte sie ins hebräische Wort.4 Spätere Menschengaben freilich den Dingen neue Namen, weniger nach Einsicht als nach Willkür; dennder Besitzer kann sein Eigen nach Belieben nennen.! Sprache ist nicht nur Abglanz derWelt, auch Werkzeug des Menschen. Erklärt sich daraus schon die Vielfaltder Sprachen?Nein, denn nicht das Hebräische allein ist treffend; wer sich heutigentags genau aus-drücken will, muß lateinisch reden.s Jedes Zeitalter hat also eine eigene und einzigeSprache. Auch der Einzelmensch ist zwar befähigt, jede mögliche Sprache zu erlernen;doch im sicheren Besitz hat er nur eine, seine Sprache, und sie genügt." Dieses geschicht-liche Schicksal ist gut, denn es ist kein Zufall; Gott gab es. Moses erzählt, daß alle Welteinerlei Sprache hatte, bevor sie anfing, den Turm von Babel zu bauen; um das Werkzu hemmen, verwirrte Gott ihre Sprache und zerstreute so die Völker. Die eine hebräi-sche lingua, die alle Wörter und Sachen und alle Menschen miteinander verbunden hatte,wurde bei diesem einmaligen Anlaß zerspalten, und mit ihr die Menschheitjf denn essind die Sprachen, die die Völker bilden.t Aber Gott hat die Sprachen geteilt; darumgibt es nach der alten kosmischen Symbolzahl genau 72 Sprachen.I? Und darum sagensie mit all ihren unterschiedlichen Benennungen dasselbe. Die jeweilige Sprache erlaubtden Zugang zur ewigen Wahrheit, und die Geschichte verstellt ihn nicht.Isidor betont, daß das Latein gerade jetzt, durch die Barbaren der Völkerwanderung,vermischt und verderbt wird.ll Dennoch kann er auch jetzt noch Gottes Schöpfung undVorsehung aus lateinischen Vokabeln entziffern. Vor Gott - und das heißt schon: inihrer Struktur - hat jede Sprache gleichen Rang. Zwar sind Hebräisch, Griechisch,Latein besonders geheiligt, weil sie über dem Kreuze Christi standen und weil in ihnendie Bibel verbreitet ist;12 sie vertreten auch die natürlichen Grundformen der Artiku-lation: Hebräisch ist guttural, Griechisch palatal, Lateinisch dental.P Doch heilig ist nurihr geistlicher Gehalt, nicht ihre natürliche Gestalt; denn Sprache als Form ist bloßmenschlich. Gott und die Engel reden nicht; Gottes Wort schuf die Welt lautlos. Undmit dem WeItende werden die Sprachen wieder aufhören; im Himmel singen die Heiligen

I Etymologiarum sive originum libri Xx, hg. W. M. Lint/ray, 2 Bände, Oxford 1911, unpaginiert,hier XI, 1,51.• VI, 8,3. ' XII, 1,1-2. a I, 29, 2-3.• n, 16,2. 7 IX, 1, 10. • IX, 1, 1.I IX, 1, 14. It IX, 2, 2. 11 IX, 1,7.• IX, 1,3. 11 IX, 1,8.

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nicht hebräisch.l+ Aber so hoch das Ewige über dem Geschöpflichen steht, Gott segnetalle Sprachen und die ganze Weltgeschichte; und der Mensch vermag in allem denSchimmer der Wahrheit zu erkennen. Dennoch bleibt Raum für die Menschen, für ihreweitverzweigte Geschichte, ihre selbstbewußten Völker und ihre mannigfaltigenSprachen. Im Vorübergehenden ist das Dauernde enthalten; Sprache und Geschichtesind handgreiflich und doch gestuft bis in die Wolken. So hilft Isidor die Synthese vongermanischer Staatlichkeit, lateinischer Bildung und katholischem Glauben begründen,die das abendländische Mittelalter kennzeichnet; so wird Isidors Enzyklopädie zu einemGrundbuch des Mittelalters, das darin tausend Jahre lang die Wunderwerke Gottes be-nannt und bestimmt findet. Und in Isidors spanischer Heimat wird lange danach, nochzur Zeit des Cervantes, der Glaube fortleben, daß die Sprache den Kosmos spiegelt unddaß der Mensch, auch der Dichter, die göttliche Schöpfung nur hörend und nach-gestaltend wiederholt. Die sprachliche Aussage wird zur Etymologie, zur Bekundungder Wahrheit.

*Im Jahre 1302 wird Dante Alighieri aus seiner Vaterstadt Florenz verbannt; denner steht zwischen den Fronten seiner Zeit, zwischen dem geistlichen und politischenUniversalismus des mittelalterlichen Papst- und Kaisertums und der Autonomie desmodernen Bürgertums. Daß er im Exil bleibt und die Parteien geistig vereint, macht ihnunglücklich und unsterblich. Irdisches Glück erhofft er sich nicht von städtischerFreiheit oder von geistlicher Gewalt, sondern von einem profanen Weltkaiser. Abergeistigen Halt findet er in der kirchlichen Scholastik; er bildet sich am Latein. Doch mitdessen Hilfe schafft er den Städtern ein neues Ausdrucksmittel, die italienische Literatur-sprache, und er schafft sie aus der heimischen Mundart von Florenz, in der die Weibleinredcn15 und die Eltern sich liebend fanden.l8 Diese Muttersprache ist indes nicht dieerste und die beste, wie jeder gerne möchte; auch der Florentiner hat doch dieganze Weltzum Vaterland, so wie der Fisch das ganze Meer. Deshalb wird Dantes Buch "Von derVolkssprache" lateinisch geschrieben. Die älteste und treffendste Sprache ist allerdingsweder die der Mutter abgelauschte noch auch die in der Schule erlernte, sondern dasHebräische; denn wir würden es ohne Mutter und Schule sprechen, wenn unsere Artnoch wie im Anfang wäre. Diese geheiligte Sprache wurde der Menschennatur bei derSchöpfung mit Wortschatz, Grammatik und Aussprache eingepflanzt als Leihgabe derewigen WahrheitP Sie hervorzubringen, war freilich die Tat des Menschen. Freiwilligwandte er sie sofort dem Schöpfer zu; Adams erstes Wort, sei es als Frage, sei es alsAntwort, war das freudige EI, das hebräische "Gott".18 Sprache ist Gespräch mit Gott,Gebet einerseits und Gnade anderseits; noch den begnadeten Dichter befähigt dashimmlische Wort, den Kosmos nachzuschaffen.19 •

Doch die ursprüngliche Gabe ist uns nicht geblieben; wir selbst haben sie verscherzt.Als die Menschen hochmütig den Turm von Babel bauten, verfielen sie ihrer Eigensucht,und wie sie das Gebet versäumten, vergaßen sie durch Gottes Wunder die hebräischeSprache der Natur und Gnade. Die Berufszweige beim Turmbau, Architekten, Stein-metzen, Lastträger, bauten nun, jeder, für sich, nach ihrer Willkür neue Idiome zu-sammen; sie sind spezialisiert, ungenau und darum verschieden.w Ihr aller erstes Worthieß "Wehe!", sie sind Früchte von Sünde und Leid.21 Dante glaubt, daß die Namen

U IX, I, 11-13.U Epistola X, 10, hg. A. MonIi, Le lettere di Dante, Mailand 1921, S. 340.11 Il Convivio 1,13,4-5, hg, G. Bume/li - G. Vande/li, Opere di Dante, Bd. 4, Florenz 1934, S. 83.17 De vulgari eloquentia 1,6, hg. A. MarigIJ, Opere di Dante, Bd, 6, Florenz 1938, S. 30-36.11 I, 4, 4 S. 22. 10 I, 1, 1 S. 4. '0 I, 7 S. 38-44. 11 I, 4, 4 S. 22.

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die Konsequenzen der Dinge sein müßten;22 aber sie sind es nicht mehr. So hoch DanteIsidor von Sevilla in den Himmel hebt,23seine Etymologien überzeugen ihn nicht mehr;er meidet Wortspiele. In der Sprache hausen heute weder Wahrheit noch Natur mehr.Wer die Wahrheit weiß wie die Engel, steht über den Worten; auch wer wie die Tiereinstinktiv handelt, bleibt sprachlos.ss Nur wir Menschen, zwischen Normen und Faktenirrend, brauchen die Sprache wie der Reiter das Pferd,26 um zu uns selbst und zu denMitmenschen zu gelangen.P Der Weg ist uns durch die Geschichte erschwert; seitBabel verwandeln Zeit und Raum die Idiome, und Gott hütet sie nicht mehr. Manfindet keine symbolische Ordnung von 72 Sprachen; die Erfahrung zählt allein inItalien mehr als tausend Dialekre.s? Und jede Sprache besagt etwas Eigenes, zumal diedichterisch geformte: Homer und die Psalmen lassen sich nicht recht ins Lateinischeübersetzen." Diese Bürde ist nun freilich zugleich Würde, wenn auch nur im begrenztenKreis der Heimat. Die Volkssprache ist weder heilig noch allgemein, aber lebendig undbiegsam. Einst war Hebräisch unsere Muttersprache, aber heute ist unser Toskanischedler als alle toten Idiome.P Der Ausländer versteht uns nicht, und auch die antikenBewohner unserer Städte würden, wiederauferstanden, ihre modernen Nachfahren nichtbegreifen.s? Die Volkssprache spiegelt zudem nicht die reine und ruhende Wahrheit,sie bedarf der persönlichen Anstrengung des Dichters. Doch eben dadurch wird sieunvergleichlich.In der "Göttlichen Komödie" verleiht Dante dem Italienischen diesen Rang. Das Werkumfaßt noch einmal wie Isidors Enzyklopädie kosmisch Natur, Geist und Geschichte;doch es schildert zugleich die Heilsgeschichte eines einzelnen, nämlich Dantes selber. ImWeg des Dichters faßt sich die Welt zusammen, in seiner Sprache wird sie offenbar.Gewiß, die Natur schenkte uns Sprache; aber der Mensch macht daraus, was ihmgefällt, secondo ehe v' abbella, So war es schon immer; bereits Adams Idiom wurdespielerisch abgewandelt und ging lange vor Babel unter. Vielleicht sprach Adam garnicht Hebräisch; sein erstes Wort war der emotionale Freudenruf 1.31 Dantes Ge-sinnungswandel ist tief begründet. Sprache ist nun Ausdruck der Seele, Schönheit undKunst, und so ist ihre Geschichte nicht mehr Sündenschuld; denn jeder Mensch mußseine Sprache reden, jeder hat auch seine eigene Weltgeschichte. Selbst im Jenseits sinddie menschlichen Charaktere nicht verwischt, die Idiome nicht aufgehoben; Dante trifftdort seine Zeitgenossen wieder, und man erkennt auch ihn am Dialekt als Florentiner.PNur darf er nicht nach italienischen Volksgenossen fragen.aa Denn alle Menschen sindgleich, vereint in Strafe, Buße oder Jubel; sie verstehen einander alle, soweit sich jederzu sich selbst bekennt. Unverständlich stammelt nur, wer sich nicht entscheidet: diefeigen Engel, die beim Kampf zwischen Michael und Luzifer abseits standen,34 oderNimrod, der den Turm von Babel bauen wollte und alleingelassen wurde. Man hört ihnschreien: RapheI mqj amech zabl alm}, und niemand versteht das.35 Sprache und Geschichtebezeichnen also den Menschen in seiner Einmaligkeit und Endlichkeit; diese Aktualitätaber hat durch Gottes Willen ewige Bedeutung. Jede menschliche Eigenart ist Teil desgöttlichen Plans, jedes Ereignis ist Zeichen; der sinnliche Laut verweist auf menschlicheSchicksale und geistige Gründe. Darum ist Dantes Italienisch sinnenhaft, anschaulich,

•• La Vita Nuova XIII, 4, hg, M. Barbi, Edizione nazionale delle opere di Dante, Bd. 1, Florenz 1932,S.53. '13 La Divina Commedia, Paradiso X, 131, hg. G. Vandelli, 16. Aufl., Mailand 1955, S. 699.It De vulgari eloquentia I, 2 S. 10-16.15 11, 1, 8 S. 168.Ja 11Convivio I, 7, 15 S.46£.10 I, 9, 7 S. 70.n Inferno X, 25£. S.75... Inferno Ill, 25 S.21.

11 I, 3,2 S. 18. 17 I, 10, 9 S. 86-88.It De vulgari eloquentia I, 1,4 S.8.11 La Divina Commedia, Paradiso XXVI, 124-138 S.852ff.11 Purgatorio XIII, 85-96 S.413 .BI XXXI, 67 S. 260.

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aus dem Alltag des Volkes geschöpft und zugleich lateinisch gelehrt, vergeistigt, hinter-gründig; darum durchzieht musikalische Bewegung die strenge Versform der Terzinen;darum häufen sich die poetischen Bilder, die hinter der wörtlichen Bedeutung einentieferen Sinn enthüllen. Aber diese Zusammenhänge sind keine zuständlichen Glei-chungen wie bei Isidor, sondern bewegende Gleichnisse. Der Dichter findet sienicht vor, er stiftet sie erst; er schafft durch seine Sprache eine neue Welt der Kunst.Noch vertritt sie den Kosmos der Schöpfung, aber halb verdeckt sie ihn schon; dieRenaissance wird den Menschen selbst zum Schöpfer erheben. Von Dantes Synthesezwischen Wirklichkeit und Gedanke, Aktualität und Poesie werden die Dichter zehren;die Italiener werden Dante den Glauben an die dauernde Harmonie des geformtenKlangs verdanken. Die sprachliche Gestaltung wird zur Dichtung, zur Verkündurig derSchönheit.

*Im Oktober 1517 erhebt in Wittenberg Martin Luther den großen Protest der gott-suchenden Seele gegen die verdinglichte Theologie des Mittelalters, die der Mönch undProfessor bislang lehrte und nicht zu beleben vermochte. Die Welt erweist sich nichtals ruhendes System, auch nicht als bewegte Harmonie, sondern als ein Hinderniszwischen der betenden Seele und dem gnädigen Gott. Dazwischen soll sich von nun ankeine irdische Macht, weder die katholische Kirche noch die lateinische Sprache,drängen. Die kraftvolle Mundart des Reformators, in der seine Seele schwingt, stehtunvermittelt vor dem ehernen Worte Gottes, der Heiligen Schrift. Leidenschaftlichdrängend, faßt Luthers Deutsch das persönliche Erleben in plastische, strömende Sätze.Luther fragt die mutter jhm hause, die kinder auf! der gassen, dengemeinen man auf! dem marcktund schaut ihnen auf! das maul.SG Doch inparadoxer Wendung verwirft eben diese hand-feste Sprache die Welt und beschwört den Geist Gottes. Die geballte Wucht vonLuthers Bibelübersetzung wird die deutsche Hochsprache grundlegen; doch Lutherwill nicht dies, sondern jedem Gläubigen seinen Weg zum Worte Gottes ebnen.Im Anfang war das Wort, jedoch nicht das menschlich-irdische. Wahre Sprache kommtvon Gott her und ruft den Menschen an; dieser kann nur antworten. Zwischen derUrsprache Gottes und den Menschensprachen tut sich ein ewiger Abgrund auf, denIsidor nicht sah und Dante verdeckte. Wohl benannte der erste Mensch die Welt, aberohne Gottes Vollmacht, also unverbindlich. wy mans nent, alßo ists genent. Sprache istVorrecht des Menschen, aber was Adam tat, können wir auch; denn Adam heißt zuDeutsch Mensch, und alle Menschen sind ein kuch mit Adam.S? Schon die älteste Sprachehatte wenig Autorität. Hebräisch ist wohl unter den Idiomen das allereinfachste, 38allerbeste und reichste, majestätisch, herrlich und rein; doch schon bald unterlag es demgeschichtlichen Verfall.39 Was im menschlichen Sprechen etwa noch Gültiges blieb,zerfiel beim Turmbau von Babel; hier maßten sich die Menschen eigensüchtig das Gött-liche an und verloren es,völlig.s? Seitdem ist unser Reden ein Irren; Babel wiederholtsich in jeder eigenmächtigen Auslegung von Gottes Wort, in jeder Abkehr von ihm.41So ist der babylonische Turmbau Sinnbild der Welt, der geistlichen mit Papsttum undBettelorden, der politischen mit tyrannischen Fürsten und Türken.P Diese mensch-11 Sendbrief vom Dolmetschen, in: Werke, Gesamtausgabe, Weimar seit 1883 (abgekürzt: WA), hierBd. 3011, S.637.a7 Predigten über das erste Buch Mose, WA Bd. 14, S.I25£ •.. Neue Tischreden Nt. 7167, WA Bd.48, S.700.31 Tischreden Nr. 1040, WA Tischreden Bd. t, S. 524£.; Nr. 3271, Bd. 3, S.243£.'0 Vorlesungen über 1. Mose, WA Bd. 42, S.413.Cl Dictata super Psalterium, WA Bd. 3, S. 308.&! Predigten über das erste Buch Mose, WA Bd. 14, S.212.

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lichen Zusammenrottungen gegen Gott werden heute wie in Babel gestraft durch Krieg,Hunger und Niedergang des wahren Glaubens.O Die Wirrnis ordnet sichnicht mehrzur Symbolzahl, gleich als mmten es gerad zwey und siebenzig sprachen sein.U Solange dieDingwelt nicht vor dem Worte Gottes verstummt, wird sie weiter in ihrer Konfusionverkommen.Ein ittlige sprag hatt ir eigen art.45 Aber ihre Formen vergehen, nur ihr Gehalt besteht.Gesegnet ist bloß die Sprache, die von Gott kommt und die zu Gott geht: die Bibel-sprache und die Gebetssprache. Die Bibelsprache: Wir müssen Hebräisch und Griechischfur allen andern ehren, weil sie das Alte und das Neue Testament bewahren; sie sind diescheyden, darynn dis messer des geysts stickt. Der tiefere Sinn der Sprachengeschichte ist esdenn auch, Gottes Wort auszubreiten. Die Römer durften Latein zur Weltsprachemachen, damit das Evangelium überall Frucht trage; die Türken durften Konstan-tinopel erobern, damit die verjagten Griechen dem Abendland das Neue Testamenteröffneten.U Auch das Plingstwunder bescherte den Aposteln die Kenntnis allerSprachen, damit sie Gottes Wort verstehen und es allen Völkern predigen konnten.s"So erwächst aus allen Zungen das eine Gottesvolk, in dem wir alle ussers Gottis sprachlind wort kennen und von Gott nicht anders reden als er selbst.48 Da Christus zu allenMenschen in allen Zungen spricht, darum sollen auch wir ihn in allen Zungen loben;und der deutsche Beter ruft seinen Gott auf deutsch.w Die Gebetssprache: Ich danckGott, das ichyn deutscher Zllngen meynen gott alßo hö"reund jinde; als ich und sie mit myr a/hernit funden haben, widder in lateynischer, krichscher noch hebreiseher zungen.50 Luther liebt seineMuttersprache (er führt das Wort Muttersprache ins Hochdeutsche ein), doch heilig istsie ihm nicht; denn sie ist wandelbar und begrenzt. Einst war sie wohl mit dem Griechi-schen verwandt, das so voll und schön klingt, und mit seiner einfachen Wahrheitsliebeund Innigkeit mag das Deutsche auch heute noch die vollkommenste Sprache sein;51was finster bleibt, ist nicht wal deudschgeredet.52 Aber das betrifft nur den Sprachgeist. DieForm zerfiel in Dutzende von Dialekten; die groben Bayern verstehen sich nicht einmalmehr gegenseltig.s' Luther freut sich, daß Kaiser Maximilian und die kursächsischeKanzlei die Mundarten in eine getzogen haben zu jener Meißener Sprache, die LuthersBibel dann zur deutschen Hochsprache machen kann.5t Doch ordnet auch diese weltlicheEinung das Irdische nur partiell; denn Meißener, Böhmen, Polen und Schlesier bleibeneinander fremd.65Geschichtliche Zufalle regieren die Welt: Die babylonische Gefangenschaft verdarb dasreine Hebräisch ganz;58 hätte Hannibal die Römer besiegt, die gelehrte Welt sprächeheute Punisch statt Larein.P Aber was liegt auch daran? Zwar leben in der Völker-geschichte Gottis wunder lind werck und gewaltige Exempel von Glauben und Unglauben ;58

U Vorlesungen über 1. Mose, WA Bd. 42. S.421f.U In Genesin declamationes, WA Bd. 24. S.227." Tischreden Nr. 5521. WA Tischreden Bd. 5, S.212." An die Ratherren aller Städte deutsches Lands, WA Bd, IS, S. 37£.n Hauspostille von 1544, WA Bd. 52, S. 315." An die Ratherren aller Städte deutsches Lands. WA Bd. IS, S.41.CI Tischreden Nr. 2388, WA Tischreden Bd. 2, S. 443.iD Vorrede zu der vollständigen Ausgabe der "deutschen Theologie", WA Bd, 1, S.379.11 Tischreden Nr. 4018, WA Tischreden Bd. 4, S.78f.It Deudsch Catechismus, WA Bd. 30 I, S. 198.63 Tischreden Nr. 4018, WA Tischreden Bd. 4, S. 79." Nr. 2758, WA Tischreden Bd. 2. S.639£.55 Nr. 6108, WA Tischreden Bd. 5. S. 492••1 Nr. 2758, WA Tischreden Bd. 2, S.639.67 Nr. 3766, WA Tischreden Bd. 3, S.597.61 An die Ratherren aller Städte deutsches Lands. WA Bd. IS, S. 52.

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doch als dingliche und irdische bleibt die Historie verfallen und heillos. Der Etymologekann die Welt nicht ordnen, der Dichter sie nicht verklären; auch im Sakrament werdenWort und Zeichen allein durch den inneren Glauben zusammengezwungen. Die Seeleverschmäht die Welt, die Gott ihr entzieht. Aber wenn sie vor die Offenbarung tritt,dann darf sie nicht ekstatisch murmeln, sie muß sich erklären und den unfaßbaren Gottmit verständlichem, gefaßtem Wort rufen. Dann wird sie seine Stimme, Gericht undVerheißung, hören, lautlos, aber vernehmlich. Von' den Sprachen im Jenseits sagtLuther nichts. Sein Beispiel wird die neuere Theologie auf das innere Wort hinlenken,das sich nicht verleiblicht; Luther wird die Deutschen anleiten, ihre Muttersprache zulieben, aber allein den Geist zu beachten und die Form geringzuschätzen. Die sprach-liche Außerung ist Theologie, Bekenntnis vor Gott.

*Im November 1688landet in England das Schiff, das Wilhelm von Oranien und JohnLocke aus Holland bringt. Beide, der König und der Philosoph, vollenden die eng-lische Revolution; sie ersetzen absolutes Gottgnadentum durch parlamentarischeKonstitution, Hegemonie durch Gleichgewicht, Religionskämpfe durch liberaleToleranz, Rationalismus durch Empirismus. Zwei Jahre später, 1690, begründet Lackes"Abhandlung über den menschlichen Verstand" den Umbruch. Das Buch ist nichteinsam ergrübelt, sondern vielfach mit Freunden besprochen.w Locke möchte lieberblind als taub sein, er braucht das Gespräch. Man spürt es an seiner Sprache. Sie istnüchtern und umgänglich, weitschweifig, um deutlich zu werden, unscharf, um höflichzu bleiben. Ohne gelehrte Etymologien, dichterische Bilder und geistliche Steigerungenspricht hier ein Laie, der lieber in die Welt horcht als seinen Theorien traut. Der Stil istder Mensch; Locke, von Beruf Arzt, glaubt allein an die sinnliche Erfahrung, nicht andie Postulate der Religion und Vernunft, nicht an die heilsgeschichtliche Vorsehung,nicht an die Ordnungsmacht der Sprache. Immerhin war es Gott, der den Menschensprachbegabt schuf, weil er ihn zum geselligen Wesen bestimmte; Gemeinschaft setzteVerständigung voraus.t? Aber diese Sprache, die die Gesellschaft verbindet, kann nurGedanken mitteilenjs! sie verkündet keine ewigen Ideen. Es gibt keine angeborene Ideeoder Sprache, keine Tradition der Wahrheit; der Mensch benennt die Dinge nach WiIl-kür.62 Die Namen der Dinge rühren nur in gewissem Grade an deren Wesen;63 viel eherkönnen sie uns über den Ursprung unserer Ideen aufklären. sc Sprache bildet sich nämlichaus seelischen Vorstellungen; sie können bei unerfahrenen Menschen falsch sein.Woher etwa sollte der erste Namengeber Adam Erfahrung haben? Er hatte Phantasie,nichts weiter.es Seine Nachkommen teilen und entfalten seine Macht; sie verfeinern dieSprache, indem sie aus dem Sichtbaren höhere Begriffe ableiten. 66 Spirit bedeutete an-fangs nichts Geistiges, bloß den Hauch des Atems; das Wort Angeh für die unsichtbarenEngel meinte eigentlich nur "Boten".67 Die sinnliche Erfahrung ist also die Grundlageunseres Denkens und Sprechens; doch wir können uns nicht einmal an sie exakt halten.Oft verwechseln wir unsere Worte mit den Dingen, oft denken wir uns beim Sprechengar nichts.68 Die mathematisch-physikalische und die moralische Gewißheit ist derLautsprache unerreichbar; sonst würde sie dem Japaner und dem Taubstummen ebenso

it An Essay Concerning Human Understanding, The Epistle to the Reader, hg. J. A. SI. John, ThePhilosophical Works of John Locke, 2 Bände, London 1901, hier Bd, 1, S.118.'0 Ill, 1, 1 Bd.2, S. 1. 11 11, 18,7 Bd. 1, S. 347; Ill, 6,33 Bd.2, S. 63f.; Ill, 10,23 S.108.IS Ill, 2, 1 Bd.2, S.4. la Ill, 2,2 S.4£. " n, 15,4 Bd. 1, S. 319Ci Ill, 6, 44 Bd.2, S. 69£. .. 111,6,45 und 51 S. 70£. und 73£. 17 III, 1,5 S.2 .•• II, 13,18 Bd. 1, S. 291; 11, 32,7 S. 522; III, 2, 5 Bd.2, S. 7; III, to, 4 S. 95£.; III, 10, 14 S.101.

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wie dem Engländer einleuchten.w Weil Sprache beliebig ist, deshalb sind die Sprachenveränderlich und verschieden, geprägt von geschichtlichen Mächten, der Lebensweiseund Gewohnheit des Landes.I? Kaum eine von zehn Vorstellungen läßt sich adäquatübersetzen; "ein Pfund" ist für den modernen Engländer etwas ganz anderes als für denalten Römer."! Fremde Sprachen und frühere Zeiten bauten sich andere Vorstellungs-welten auf als wir; darum verstehen wir sie nicht. Ja, jeder einzelne spricht nach seinenindividuellen Erfahrungen. "Gold" ist für den einen nur etwas glänzend Gelbes, für denzweiten auch etwas Schweres, für den dritten dazu etwas Bildsames; niemand kann dasDing "Gold" durch dieses eine Wort vollständig beschreiben.P Diese theoretischeAutonomie und Aporie der Sprache wird in der Bibel als Sprachverwirrung geschildert:In Babel verstand jedermann nur noch sich selbst; die Sprache diente nicht mehr derKonversation.P Das biblische Ereignis macht also einerseits die Grundstruktur vonSprache überhaupt sichtbar, und es war anderseits nur ein momentanes Durcheinanderder Begriffe, nicht aber die Geburtsstunde der neueren Sprachen. Denn diese sind zwarnicht weniger unvollkommen als Sprache überhaupt, aber sie wurden von Gemein-schaften praktisch erprobt.Ihre soziale Funktion mindert den Erkenntnisdefekt; the convenience of communicationschränkt die Willkür der Benennungen ein.74 Die Sprache kann nicht wahr, doch siemuß verständlich sein.75 Ihre Geschichte ist zuvorderst Sozialgeschichte. Diese aberspielt nur in geschlossenen, gleichzeitigen Verbänden, sie begründet keine Tradition.Geschichte ist das Spielfeld für freie Experimente; wir können daraus nur liberaleLebensweisheit lernen, kein verpflichtendes Erbe empfangen.P Warum zum Beispielsollen alle Nachkommen Adams zur Erbsünde verdammt sein, wegen des Sündenfalls,von dem die meisten Menschen nie gehört haben? Es gibt keine Heilsgeschichte, kaumeine Weltgeschichte. Antike Autoren sind uns unverständlich, ihre historischen Nach-richten sind unzureichend überliefert, gefälscht oder erlogen, mindestens schwer zudeuten. Für unser Leben brauchen wir nicht jene vergangenen Welten, sondern dasNächste, nicht das Latein, das der Erwachsene im Alltag, tausend gegen eins, niemalsbenutzt, sondern unsere englische Muttersprache; und wenn wir außerdem Fremd-sprachen lernen, dann am besten das Französische, die Sprache unserer heutigen Nach-barn."? übrigens eignen wir sie uns nicht nach grammatischen oder rhetorischen Schulpregeln an; man lernt eine Sprache am besten beherrschen durch lebendiges Schreibenund Sprechen, das die innere Tätigkeit unserer Seele ausdrückt.ts Auch in Zukunft wirdder Mensch in seine Umwelt hinaushorchen, sich von ihr bilden lassen und sich nichtauf seinen kleinen Verstand verlassen. Töricht wäre es, die Idiome der Welt pfingstlichdurch eine künstliche Universalsprache reformieren zu wollen. Auch die Muttersprachemuß bleiben, wie sie gerade ist, mehr vom Gebrauch der Massen als von der Einsichtder Klugen geformt. Denn der Klugen sind wenige, die Sprache aber ist für alle; dasVolk setzt die sprachlichen wie die staatlichen Normen, und sie sind allemal praktisch."Niemals wird die Sprache zum fortschreitend gefüllten Schatzhaus menschlichen Wissens,weil sie demokratisch und mittelmäßig bleibt; der große Weltkaiser Augustus hattenicht mehr Gewalt über sie als jedes lallende Kind.s? An der immergleichen mensch-

It I, 3, 19 Bd. I, S. 173.7' III, 2, 3 S. Sf.n Ill, 2,8 Bd. 2, S. 74.Tt Some Thoughts Concerning Education § 182, in: The Works of John Locke, Bd, 8, London 1794,S.174f.f7 § 162-164 S. 152f.; § 189 S.181£.n § 165 S. 153f.; § 168 S. 160.7t An Essay Concerning Human Understanding Ill, 6,25 Bd.2, S. 55£.10 Ill, 2, 8 S. 8.

70 Il, 22,6-7 Bd. 1, S.417£.71 1II, 6, 28 S. 59.

71 111,5,8 Bd.2, S.34£.7& 11, 28, 2 Bd. 1, S. 483.

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lichen Durchschnittlichkeit ändern Adam, Babel, Pfingsten nichts. Versuchen wir, "mitunserer Mittelmäßigkeit zufrieden" zu leben;81 denn die Wahrheit ist nicht für uns. DasBand zwischen Wahrheit, Sprache und Geschichte wird zerschnitten; entschiedener alsLuther trennt Locke die Geschichte von Gott, den Menschen von der Natur. Wir ver-nehmen noch die ewig wahre, stumme Sprache Gottes und der Natur, aber wir könnensie nicht in unsere Worte übersetzen, die Gott und Welt nicht mehr zu Gesprächs-partnern haben. Die Sprache, jede Sprache bleibt auf unser Innenleben beschränkt, mehrals psychologische Wahrheit kann sie nicht vermitteln; sie bietet also eher Empfindungenals Erkenntnisse, leichter den Augenblick als die Zeitenfolge. Von diesen Lehren Lockeswird das 18. Jahrhundert die Vorliebe für sentimentale Gefühle, das Vertrauen zurNatur, den Glauben an die Erfahrung, das Mißtrauen gegen die Überlieferung lernen;Locke wird die angelsächsische Philosophie auf die praktische, technische Nützlichkeitverweisen, der englischen Sprache ihre unlogische Sachlichkeit bestätigen und eineganze Epoche anregen, sich illusionslos in dieser Welt einzurichten, ohne sie überwindenoder verstehen oder verbessern zu wollen. Der sprachliche Ausdruck ist Psychologie,Kunde von der Menschenseele.

*Im Frühjahr 1794lieferte man den Marquis Antoine de Condorcet in ein französi-sches Provinzgefängnis ein; hier endete tags darauf durch Gift dieser nicht geniale,aber typische Geist, der kein Zeitgenosse aller Zeiten, doch in seinen Tagen berühmtwar. Durch Arbeiten zur Integralrechnung und Kometentheorie bekanntgeworden,wandelte sich der Mathematiker zum Theoretiker der Französischen Revolution; derAdlige proklamierte die Republik des souveränen Volkes. 1792 wurde er Präsident derNationalversammlung und suchte durch Schulreformen der Revolution auch' dieZukunft zu sichern. Das souveräne Volk muß eins werden, also eine Sprache reden. Diearistokratische Bildung vermittelte bisher den Privilegierten an Hand der lateinischenKlassiker eine schwülstige, abstrakte, mit Gleichnissen überladene Hochsprache, dievom unverbildeten Volk nicht verstanden wurde. Künftig aber müssen alle in derVolksschule die gleiche Sprache lernen, ohne alte Bücher und antike Idiome, die nochvoller Irrtümer stecken; mit dem Latein müssen auch die rückständigen bäuerlichenMundarten Frankreichs im historischen Museum verschwinden. Die Sprache derZukunft wird das moderne, unteilbare, klare Französisch sein. Condorcet erlebte dieZukunft nicht mehr; als 1793 die Blutherrschaft der radikalen Jakobiner die intellek-tuellen Weltverbesserer stürzte, mußte sich der Präsident in der Provinz verstecken, umder Guillotine zu entgehen. In dem Dreivierteljahr zwischen Sturz und Selbstmord,1793/94, schrieb Condorcet in seinem ländlichen Versteck die "Skizze eines historischenAbrisses der Fortschritte des Menschengeschlechts". Sie ist nicht die originellste, wohlaber die konsequenteste Darstellung der revolutionären Geschichts- und Sprach-auffassung, typisch bis in Condorcets Sprache hinein. Sie spiegelt einen farblosen Mannund seine leidenschaftliche Parteinahrne; schmucklos und schwungvoll entwirft sie eineleicht faßliche und höchst dynamische Sozialmathematik, ohne menschliche Intimität,mit grausamer Präzision.Der Mensch, so lesen wir, erfand ja die Sprache nicht selbstherrlich, denn er ist einGeschöpf der Natur; Rousseau hatte es gelehrt. Sprache entstand also als Eindruck vonNaturerscheinungen auf die empfängliche Seele; aus der Natur schöpfte die erste para-diesische Sprache dichterische Gleichnisse. Ihrer bedienten sich bereits vor der Grün-dung politischer Gruppen die ersten Menschen, die wenigen Jäger und Fischer; denn

11 Lockes Grabschrift.

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die Sprache ist Ursprung und Anfang jedes ordre social.82 .Ähnlich dachte Locke; dochbei Condorcet sind Sprache und Geschichte wieder zusammengefaßt als Teile einesunaufhaltsamen Prozesses, der die sozialen Lebensformen von Fortschritt zu Fortschritttreibt. Indem die Jäger und Fischer sich allmählich zu größeren Hirtenvölkern ver-sammelten, wurde ihre Sprache geschmeidiger und vielfältiger, blieb aber bildhaft undnaturnahe.P Als dann der Ackerbau differenziertere Umwelten schuf, trennten sich dieSozialverbände, und die Sprachen erlebten ihr Babel; jede Gruppe erarbeitete sich ihreSondersprache. Sie änderte sich im Laufe der Zeit, wenn im Handel oder Krieg dieVölker sich trafen. Auch im Innern des Volkes spalteten sich Sprache und Sozialordnung,seitdem die Priester die tätigen Schichten unterdrückten. Diese schlauen Schurken ver-besserten die Sprache zu einem willkürlichen, aber zugleich fast mathematischen Systemabstrakter Zeichen, die die höhere Wahrheit des Gedankens wiedergaben. Doch hieltdie Priesterkaste diesen bedeutsamen Fortschritt streng geheim. So entstanden zweiKlassen, die Sprache wurde doppeldeutig: Abbild der Natur und Sinnbild des Denkens,Ausdruck der Dichtung und Instrument der Wissenschaft.84 In der klassischen Antikeblieben die sozialen Schichten und auch die Sprachstrukturen auf diese Weise getrennt.Immerhin drangen die höheren Bildungssprachen dank der römischen Weltherrschaftüber alle Grenzen hinweg und regten den geistigen Austausch wenigstens der Oberenan.85 Er erlosch allerdings im Mittelalter unter der barbarischen Herrschaft der Priester;der Fortschritt wurde gewaltsam aufgehalten. Es blieb der Zwiespalt zwischen demgelehrten Latein und den rohen Volkssprachen. 86 Erst Dante zerbrach die Fesseln derFrömmler; Humanismus und Buchdruck gestalteten die Volkssprachen vollends zuInstrumenten des Denkens für alle Stämme und Stände.s? Dies ist der gegenwärtigerreichte Zustand; der Fortschritt von Bildern zu Gedanken, von Eindrücken zumAusdruck ist allgemein geworden. Am geschliffensten und deshalb am weitesten ver-breitet sind die Sprachen der gelehrtesten und freiheitlichsten Völker, der Engländerund der Franzosen.w Französisch wird bereits zur Gemeinsprache Europas.s'' ,Wenn Revolution und Aufklärung erst überall sich durchsetzen, dann wird "die Spracheeines großen Volkes" die ganze Welt erobern: und diese pfingstliche Sprache wirdwiederum das Französische sein, dessen Reinigung und Einigung Condorcet soebenbefohlen hat.90 Doch sobald die Vernunft allein regiert, muß sich auch der Fortschritt.beschleunigen, unwiderstehlich wie das Gesetz der Schwerkraft, und dann wird keinEinzelvolk mit seiner Sprache mehr dominieren können: dann werden alle Völkerbrüderlich gleich und vollkommen sein.91 Sie werden zusammen die vagen und dunklenSprachen der Dichter und der Denker ersetzen durch eine wahrhafte langue universelle,die exakte Sprache der Algebra und Chemie. Sie wird endlich die Natur selbst definierenund vom Irrtum frei sein; sie wird alle Sprachen in sich vereinen und in alle anderenübersetzt werden können.92 Dann wird die Geschichte und vielleicht sogar der Todüberwunden von der klassenlosen Universalgesellschaft, die das Jenseits überflüssigmacht. Condorcets Bild ist der christlichen Deutung der Heilsgeschichte recht genaunachgestaltet, braucht aber Gott nicht mehr: die Vernunft selbst wird zur Religion,und die Mathematiker sind ihre Historiker und ihre Propheten. Condorcet selbstfühlt sich als Priester des Fortschritts, und es erschüttert ihn nicht, wenn die Revolutions-mechanik sein Leben bedroht und auslöschen wird. Die voraussehbare Geschichte derimmer größeren Verbände überrollt das Individuum: der Fortschritt der Gattung zu11 Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain, hg, O. H. Prior, Paris 1933, S. 1,3,6,8,16.sa S. 24. .~ S. 27, 31, 41 If.u S.93. .7 S. 117£., 1371f.•t S.195. •• S.9.IS S. 174, 180ff., 225f., 233ff.

11 S. 50,79..a S.198.tl S.204.

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ihrem Optimum kann nach dem Schicksal von Einzelmenschen nicht fragen und darfnichts historisch Gewachsenes bestehen lassen, weder die Sprachen noch die Völker.Aus französischem Vernunftglauben erwächst Condorcets unbändiges Vertrauen ZumFortschritt, nicht als wissenschaftliche Folgerung, sondern als Wunschtraum. Er wirddie Gesellschaftslehre des 19. Jahrhunderts befruchten; er wird durch alle Katastrophenungeschmälert fortwirken, wenn man in Amerika Übersetzungsmaschinen baut und vonElektronengehirnen eine Universalsprache errechnen läßt; er wird auch den dialekti-schen Materialismus beseelen, der die klassenlose Gesellschaft als irdisches Paradies ver-heißt. Die sprachliche Formel ist Soziologie, Produkt einer Gruppe.

*Zwischen dem 20. Juni und dem 2. August 1950 druckte die Moskauer "Prawda" fünfBriefe von J osef Stalin ab, die dann unter dem Titel "Der Marxismus und die Fragender Sprachwissenschaft" als Broschüre erschienen. Auf ihren sechzig Seiten stürzte derkommunistische Diktator und Chefideologe die materialistische Welt- und Geschichts-auffassung um. Nicht zufällig gab die Sprachtheorie den Anstoß. Die Sprache kannGedanken lenken; darum ist sie das wichtigste Machtmittel jeder Ideologie. Ein Werk-zeug des Kampfes war sie schon 1904 für den jungen Stalin. Und er hatte es gebilligt.daß die offiziöse Geschichtslehre der Sowjetunion bis 1950 auf den Thesen eines Sprach-forschers ruhte. Dieser, Nikolai Marr, hatte sie etwa im Geiste Condorcets formuliert.Grundlage der Geschichte sind die gesellschaftlichen Entwicklungszustände der Mensch-heit. Im paradiesischen Urkommunismus, als alle körperlich arbeiteten, bedurfte eskeiner Sozialordnung und nur einer Gestensprache; erst die priesterlichen Unterdruckererfanden die Wortsprache, um die Ausbeutung ideologisch zu verteidigen. A.hnlichsollen die derzeitigen Nationalsprachen die kapitalistische Ordnung stützen. Diekünftige klassenlose Gesellschaft wird sich eine ganz neue Weltsprache aufbauen, diehandfest und doch durchgeistigt ist, also die Klassensprachen überwindet; sie kann,wie in der Urzeit, auf die Lautsprache wohl ganz verzichten. Denn Sprache und Geistsind ideologische Klassenprodukte, Überbau ohne Eigengewicht; den ruckartigen,aber konsequenten Veränderungen der ökonomischen Basis folgen sie sklavisch, ent-wickeln sich also nicht linear. Auch innerhalb jeder Entwicklungs- und Produktions-stufe bilden die Sprachen ein sinnloses Chaos von Kreuzungen und Mischungen, das derbabylonischen Sprachverwirrung 'gleicht. Ihr Geist, ihre Form und Geschichte sind derBeachtung kaum wert. Daraus folgt in der Praxis jene Sprachbarbarei mit Abkürzungen.Fremdwörtern, immer wiederholten Propagandaformeln, die wir auch aus der deutschenErfahrung kennen, und die noch heute als Begleiterscheinung des Materialismus auchin der westlichen WeIt grassiert.Dagegen wendet sich nun Stalin 1950, in einer gewandelten Situation. Der "Vater-ländische Krieg" gegen Hitler rief die nationalrussischen Gefühlswerte wach; Mao TseTung war in China damit vorangegangen. Der Bolschewismus herrscht nun in vielenLändern; gleichwohl (oder deshalb) kann er die Geschichte nicht, wie er plante, aus denAngeln heben; nicht einmal in Rußland ist das Endziel der klassenlosen Gesellschafterreicht. Jetzt verschiebt eine "Revolution von oben"93 die Akzente von der unbe-dingten Hoffnung zur geschichtlichen Leistung. Stalin vergöttert die Geschichte; sogardie marxistischen Dogmen sind historisch zu prüfen, nicht blindlings hinzunehmen.wDie Schematik des Diamat löst sich in Geschichte auf, die man studieren muß und nichthinterm Ofen aus dem Kaffeesatz herauslesen kann.95 Die Freiheit des Geistes wirdanerkanntj'" denn die Sprache ist frei. Sie ist kein ideologischer Überbau, nicht derIS Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, Berlin 1953, S. 35.It S. 12, 66. .. S.41. .. S. 38.

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ökonomischen Basis verhaftetj+? von den sprunghaften, dialektischen Revolutionen derKlassen bleibt sie unberührr.w Das Russische zum Beispiel blieb von Puschkin bis heutegleich, während Rußland doch zwei gesellschaftliche Umstürze, den kapitalistischen undden sozialistischen, erIebte;99 auch die Französische Revolution war keine sprachlicheUmwälzung.loo Denn die Sprache ist nicht von einer ephemeren Klasse geschaffen,sondern "durch den ganzen Gang der Geschichte der Gesellschaft", durch "die Be-mühungen Hunderter von Generationen".IOI Sprache berührt "ausnahmslos" jedeTätigkeit des Menschen und den Menschen selbst;I02 er braucht sie zum Umgang mitseinesgleichen, auch mit seinen Feinden.lo3 Und die Geschichte tut das Notwendige:Schon immer besaß der Mensch eine Lautsprache.ws Sie entstand in der kommunisti-schen Urgesellschaft an einer einzigen Stelle; so primitiv und dürftig sie war, sie wurde"im grauesten Altertum" zur Grundlage der modernen Sprache.los Stalin distanziertsich von der Theorie der Ursprache.P! wohl weil er die Sprache nicht auf ein überzeit-liches oder geistliches Podest heben will; aber ein Urphänomen ist sie ihm doch.Woher kommt dann die Verschiedenheit und Verwandlung der Idiome? Offenbar vomFortschritt. Soziale, wirtschaftliche, politische und geistige Phasenunterschiede trenntendie Stämme voneinander, aber zugleich bereicherten Erfahrungszuwachs und -austauschdie differenzierten Sprachen.tv? Ihre Mannigfaltigkeit ist also kein Abfall vom Ideal.Der Babylonische Turm über diesen dynamischen Systemen fehIt freilich nicht; es sinddie reaktionären Großreiche wie das Imperium der römischen Sklavenhalter oder dermittelalterliche Feudalismus. Imperialistisch zersplittern und verwirren sie die Völker-schaften und Sprachzonen, ohne lebensfähige größere Einheiten zu schaffen.los Dasfeudale Chaos wurde in der frühen Neuzeit durch die Nationen und ihre National-sprachen überwunden. Diese sind nicht von den Kapitalisten gemacht, sondern ruhenauf urtümlichem Grund; die bourgeoisen Krämer haben sie zwar durch ihren Jargonverschandelt, aber nicht verwandelt.P" Noch in der sozialistischen Epoche gelten dieNationalsprachen weiter; zu ihnen gehört das Russische. Darum will Stalins Sprachformnun russisch wirken, Fremdwörter meiden, flüssig und sprachgerecht sein. Stalin nimmtdie gegenwärtige Sprachenvielfalt sogar in Schutz gegen die angelsächsische Fort-schrittsideologie; diese will die gewachsenen Idiome imperialistisch durch die eng-lische Weltsprache unterdrücken. Der wahre Fortschritt, auch der russische Traum vonder Welterlösung, wird zum Fernziel. Erst nach dem Endsieg des Sozialismus könnendie Nationen mit ihren Hunderten von Sprachen frei zusammenwirkenjl-" dann werdensich die nationalen Sprachen zu zonalen und diese zu einer internationalen vereinen. Dieswird "natürlich weder die deutsche noch die russische noch die englische, sondern eineneue Sprache sein, die die besten Elemente der nationalen und zonalen Sprachen in sichaufgenommen hat".11l Doch es wird kein mathematisches Zeichensystem sein, wieCondorcet und Marr meinten; ohne Lautsprache verstehen die Menschen einander nie.Stalin preist die Sprache als Attribut des Menschen, als eigene Größe von "nahezuunbegrenztem" Wirkungsbereich.ll2 Sie ist weder auf die ökonomische Wirklichkeitnoch auf die ideologischen Gedanken beschränkt; sie ist nach einem Wort von Kar!Marx "die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens".1l3 In der Sprache wird also dasDenken zur geschichtlichen, weltverwandelnden Macht. Die Wirkung von StalinsGedanken mag durch seinen Tod 1953 gehemmt worden sein, beendet ist sie vermutlichnoch längst nicht. Denn unabhängig von Stalin und außerhalb der ideologischen Lager17 S.5ff. la S.9. .. S. 6f., 10f.

lOO S. 19f., 33£. 101 S.8. 101 S. 13,29.101 S. 8,27. 101 S.55. m S. 14, 32.101 S.42. 107 S. 14,32. 101 S. 14f.lot S. 15, 18. 110 S.64£. III S. 62,65.UI S. 13. 11a S. 48.

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kommen heute viele zu dem ähnlichen Ergebnis, daß die Sprache eine Gestalt, also einGanzes sei. Sie entstammt der menschlichen Seele, doch sie wendet sich nach außen undbaut unsere Welt. Aber sie besteht nicht ohne den Menschen. Die Untersuchung derSprache führt zur Anthropologie, zur Besinnung auf das Wesen des Menschen.

*Die sechs hier' kurz skizzierten Beispiele bieten uns grundverschiedene Weltbilder undSprachauffassungen; sie lassen sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, es seidenn der allgemein menschliche. In einem Punkte nämlich kommen sie überein : Bei alldiesen Menschen sind Sprachdenken, Geschichtsauffassung, Sprachform und geschicht-liche Lage eng miteinander verquickt; die Idee läßt sich von der Wirklichkeit, derGedanke von der Form nicht ablösen. Zwar ließe sich leicht (wie manche Forscher eslieben) das historisch Bedingte, um nicht zu sagen das Falsche, ausscheiden; nur würdeman dabei die befragten Gestalten selbst mitten durchschneiden und ihnen das Lebennehmen. Man muß sie so verstehen, wie sie waren; und sie verstanden allesamt dasDasein als Ganzes. Sie entzogen sich ihrer Gegenwart mit ihren Irrtümern nicht; sieblickten auf die Vergangenheit und in die Zukunft von einem jeweils sehr entschiedenenStandpunkt aus, mit dem sie die Welt aus den Angeln zu heben gedachten. Sie warennämlich alle aktive Naturen, nicht eigentlich Schreibtischgelehrte ; auch was sie schrieben,stand unter dem Primat der praktischen über die reine Vernunft. Unsere Auswahl istalso einseitig, aber sie muß es sein. Es gab und gibt bedeutende Denker, die die Spracheals geschlossenes System oder als zeitloses Spiel betrachten; sie trennen in ihrem Denkenund Wirken sehr viel schärfer den Inhalt von der Form, die Sprache von der Geschichte.Aber wer so die Probleme voneinander isoliert, isoliert sich gewöhnlich selbst von seinerZeit, meist nicht so vollständig, wie er möchte, aber so weit, daß er ihr nichts Verbind-liches mehr sagen will.Für unsere sechs Zeugen dagegen ist Sprache kein sauber präpariertes Phänomen, son-dern als Form ein Bekenntnis, das den ganzen Menschen ausspricht, und als Inhalt einAufruf, der alle Menschen anspricht. Weil diese Sprache nicht erdacht, sondern gelebtwurde, bezeichnete sie wirklich den Menschen. Darum schloß sich nicht nur bei jedemeinzelnen der Kreis von Sprache und Geschichte; sie setzten auch in ihrer Reihe ins-gesamt einige Marksteine für die historische Entwicklung des Sprach-, Geschichts- undMenschenbildes, ja für die Wesensbestimmung von Mensch, Geschichte und Spracheselbst. Denn es sind nicht allein Phasen der abendländischen Anthropologie, es sind auchGrundzüge möglichen menschlichen Verhaltens, die wir beobachtet haben: die Ver-herrlichung des Schöpfers durch sein Geschöpf, der Stolz auf die nachschaffende Machtdes kreatürlichen Menschen, die Einsicht in die Brüchigkeit des Irdisch-Menschlichen,die Hinnahme der alles bestimmenden physischen Natur, die Hoffnung aufVerbesserungdes sozialen Daseins, die Unterwerfung unter die Gesellschaft. In gleicher Weise bildendie untersuchten Geschichtsauffassungen eine Kette durch die Zeiten und zugleicheinen Kreis um das Problem: Geschichte ist möglich als heilsgeschichtliche VorsehungGottes, als Aktualisierung des menschlichen Augenblicks, als Verfallenheit der Welt,als Experiment der Gesellschaft, als Anlauf zu einer höheren Zukunft, als zwangsläufigeMechanik. Ebenso sind die Ansichten von der Sprache nicht bloß Stadien eines Ab-laufes, sondern auch Teilaspekte eines Sachverhaltes: Sprache kann verstanden werdenals Stimme Gottes und Bekundung der Wahrheit, als Ausdruck der Seele und Verkün-dung der Schönheit, als Sinnbild der korrupten Welt und Bekenntnis zu Gott, als Ein-druck der Natur und Kunde von der Menschenseele, als Verständigungsmittel undProdukt einer Gruppe, als gestalthaftes Zeichen des menschlichen Daseins.

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Page 15: Die Geschichte derSprachenim abendländischen · PDF fileDie Geschichte derSprachenim abendländischen Denken VonArno Borst über die Sprache denkt der Mensch nicht schon nach, seitdem

Jedes der sechs vorgeführten Weltbilder ist in sich schlüssig; aber sie sind miteinanderunvereinbar, sie lassen sich nicht zusammenfassen zu einer Summe, zur ganzen Wahrheitüber Mensch, Geschichte und Sprache. Und daran würde sich wenig ändern, wenn wiran Stelle von sechs ein paar tausend Zeugen verhören wollten.114 Nicht als ob sich dannTausende von völlig getrennten Wahrheiten ergäben. So unübersehbar vielfältig diegeschichtlichen Situationen und die jeweiligen Inspirationen auch sind, es gibt dochnicht unbegrenzt viele Grundstrukturen menschlichen Verhaltens zum Problem Spracheund Geschichte. Einige, wenn auch nicht alle,werden von unseren Kronzeugen repräsen-tiert, und man könnte sie leicht zu reinen Idealtypen abstrahieren. Dann freilich könntensie keine Normen setzen, weder für die Erkenntnis noch gar für das Handeln. Wirksamsind sie nur in geschichtlichen Verkörperungen; diese aber lassen sich nicht verall-gemeinern. Isidors System und Stalins Situation sind exemplarisch, aber nicht übertrag-bar. Wir können sie nicht miteinander vertauschen und nicht einfach für uns verwenden.Was nützen sie aber dann noch für die Frage nach dem Wesentlichen, für uns? Bleibt unsnicht doch bloß die Weisheit Heraklits, daß alles fließt und niemand zweimal in den-selben Fluß steigen kann?Es bleibt uns doch mehr. Eine vollständige und klare Ordnung ist wohl deshalb unmög-lich, weil die Geschichte kein geschlossenes System ist, sowenig wie die Sprache, so-wenig wie der Mensch selbst. Weil der Mensch fragmentarisch ist, darum braucht er jaSprache und Geschichte, darum teilt er sich mit, ruft andere an, beschwört Gegenständeund Geschehnisse; darum ist er auf Traditionen und Situationen angewiesen. Aber er tutdas nicht, um sich hinter Fremdem zu verstecken, sondern um sich selbst deutlich undeindeutig zu bestimmen. Er hört von allen Seiten vielerlei Stimmen, die ihn angehen;aber er muß darauf antworten, die Verantwortung für das übernehmen, was zu ihmgehört. Diese auswählende Selbstbestimmung ist seine Freiheit und seine Pflicht. Vor-gänge und Vorbilder zwingen ihn nicht zur Nachahmung von Beliebigem, sondern zurEntscheidung und zum Standhalten. Eben dies lehrt die historische Betrachtung, dasGespräch mit dem Vergangenen. So trostlos das Chaos des Bekannten ist, so tröstlichist die Chance des Bekennens. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende; auch die heutigeEntfremdung des Menschen von seiner Sprache und Geschichte muß nicht das letzteWort sein. Sprache und Geschichte werden morgen anders sein, als sie jemals waren;aber sie könnten morgen wieder das sein, was wir sind. Was die Sprache ist und was ausunserer Sprache wird, hängt jedenfalls davon ab, wie wir zu unseren Worten stehen.

u, Dies geschieht in meinem auf 6 Bände geplanten Buch: Der Turmbau von Babel, Geschichte derMeinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Stuttgart seit 1957, bisher 4 Bände.Dort findet man das Gesamtproblem erörtert und die Sekundärliteratur aufgeführt.

SONDERDRUCK AUS "WIRKENDES WORT"HEFT 3, JAHRGANG 10

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