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Die Holocaust-Trilogie

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Die HOLOCAUST-Trilogie

Der strahlende Tod Leben aus der Asche

So grün wie Eden

Nach dem Weltuntergang 1995 soll eine neue, bessere Zukunft aufgebaut werden – doch auch das Böse hat überlebt.

Jene Menschen, die gegen das negative Erbe antreten, entdecken „Greenlife“ – etwas, das sich als Segen oder Fluch für die neue Menschheit erweisen kann.

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Die Clark Darlton-Werkausgabe erscheint im Verlag Arthur Moewig GmbH

CLARK DARLTON

Die HOLOCAUST-Trilogie

Erster Teil

Der strahlende Tod

Redaktion: Horst Hoffmann Titelbild: Alfred Kelsner

Copyright © 1986 by Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt

VERLAG ARTHUR MOEWIG GMBH, 7550 RASTATT CLARK DARLTON-Taschenbuch erscheint alle zwei Monate im Verlag

Arthur Moewig GmbH, Rastatt Copyright © 1966 by Walter Ernsting Copyright © 1985 by Verlag Arthur

Moewig GmbH – Neuauflage –

Titelbild: Les Edwards Redaktion: Günter M. Schelwokat

Printed in Germany

Juli 1985 ISBN 3-8118-3307-3

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Weltuntergang – Mai 1995 Der strahlende Tod überraschte die Bevölkerungszentren der Welt im Mai des Jahres 1995 und bringt Chaos und Vernichtung über die Menschheit.

Von den wenigen Männern und Frauen, die dem Holocaust durch Zufall entgehen, sind einige bereit, eine neue, hoffentlich bessere Zivilisation aufzubauen.

Doch in ihren strahlungs- und bombensicheren Bunkern haben auch jene überlebt, die das böse Erbe der Menschheit bewahren.

Sie gilt es zu besiegen, wenn die Menschheit eine neue Chance bekommen soll.

1.

Die Luft flimmerte vor Hitze. In den Straßenschluchten kochte der

Asphalt. Der Mann, der langsam durch die Stadt ging, schwitzte und fror zugleich. Er trug eine zerschlissene Cordhose, ein offenes Hemd, eine speckige Lederjacke und einen altmodischen Rucksack. In der rechten Hand hielt er eine Maschinenpistole.

Der Mann war erschöpft. Er war seit Tagen unterwegs. Das Geräusch, das seine Sandalen beim Gehen verursachten, war das

einzige Geräusch, das er hörte. Es war früher Nachmittag in der Stadt, aber es gab keinen Verkehrslärm. Es gab nichts mehr in dieser Stadt, was früher charakteristisch für sie gewesen war: endlose Autokolonnen, schrill pfeifende Polizisten, die vergeblich versuchten, Ordnung in dieses Chaos zu bringen; Menschen, die eilig von der Mittagspause an ihren Arbeitsplatz zurückkehrten; schreiende Zeitungsverkäufer, die die neuesten Schlagzeilen in die Menge der vorüberströmenden Menschen brüllten.

Die Stadt war leer. Und sie war still. Die Stadt war so still, wie sie es nicht einmal am Wochenende

gewesen war, wenn die meisten Menschen ihre Freizeit auf dem Land verbrachten. Trotzdem gab es noch alles, was es auch vorher gegeben hatte: die Geschäfte mit ihren lockenden Auslagen, die Drugstores mit Werbeschildern für erfrischende Getränke über der Tür, die Wohnhäuser mit der endlosen Reihe der Namensschilder an der Haustür, die Ampeln über der Straße, den Dreck in den Rinnsteinen, die U-Bahnstationen.

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Der Mann ging langsam und schleppend. Aber er ging nicht so sorglos wie ein Mann, der von der Arbeit nach Hause zurückkehrt. Der Mann war wachsam. Ab und zu drehte er sich um. Er blickte nach oben. Die Spitzen der Wolkenkratzer strahlten in einem grünblauen Licht. Die Sonne schien durch einen blaßroten Schleier. Der Mann blieb vor einem Laden mit Kinderspielzeug stehen. Im Schaufenster lagen Spielzeugautos, Bälle, Brettspiele und Cowboyausrüstungen. Und kleine Panzer, Flugzeuge, Raketen und Raketenabschußrampen und kleine, rot angemalte Bomben. Der Mann holte tief Luft. Dann preßte er die Lippen zusammen; er hob den Kolben der Maschinenpistole und schlug mit zwei heftigen Bewegungen die Schaufensterscheibe ein. Immer wieder trat er nach den kleinen Raketen und den Bomben, bis von dem Spielzeug nur noch ein Haufen zersplitterter Plastikteile übriggeblieben war. Das Klirren der zerbrechenden Scheibe war unerträglich laut gewesen. Der Mann zuckte zusammen, als käme ihm der Krach erst jetzt zu Bewußtsein. Er blickte mißtrauisch die Straße entlang. Aber es war nichts zu sehen.

Ich muß mich beherrschen, dachte er, als er weiterging. Das darf mir nicht noch einmal passieren. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

Als er die Hand zurückzog, war sie naß vom Schweiß. Er ging weiter, bis er zu einem Warenhaus kam. Er schlug die Tür ein und ging zur Lebensmittelabteilung. Ein widerlicher, süßlicher Geruch hing im Raum. Der Mann spürte, wie sich sein Magen umdrehte. Er lehnte sich erschöpft an eine Wand und wartete, bis die Übelkeit nachließ. Er beachtete die ausgelegten, offenen Eßwaren nicht, sie waren verdorben. Der Mann stopfte ein paar Konserven in seine Tasche und verließ das Warenhaus. Er ging weiter, bis er zu einem Drugstore kam. Die Tür war nicht verschlossen. Der Mann stellte sich neben die Tür und stieß sie mit dem Fuß auf. Dann wartete er einen Augenblick. Als er nichts hörte, trat er ein. Die Maschinenpistole trug er entsichert in der rechten Hand. Er ließ die Tür eine Handbreit offen und stellte einen Stuhl mit der Lehne unter die Türklinke davor. Er setzte sich hinter die Theke, öffnete eine Konserve, eine Dose Bier und begann zu essen und zu trinken. Als er damit fertig war, rauchte er eine Zigarette. Dann stand er auf, nahm einen Stuhl, stellte ihn links neben die Tür und setzte sich darauf. Nach wenigen Minuten war er eingeschlafen.

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Das Geräusch war so schwach, daß er es eigentlich gar nicht hätte hören können. Aber der Mann hatte während seines langen Streifzugs gelernt, daß sein Leben von Kleinigkeiten abhing – zum Beispiel davon, daß er auch das winzigste Geräusch wahrnahm und sofort reagierte. Seine Sinne waren empfindlicher geworden.

Der Mann hatte auch während seines kurzen Schlafs die Waffe nicht aus der Hand gelegt. Er war nur leicht zusammengezuckt, als er das Geräusch hörte. Es war ein Scheuern und Stoßen an der Tür. Es klang so, als versuche jemand, die Tür nach innen aufzustoßen. Der Mann zog ein Taschentuch aus der Tasche, knüllte es zusammen und drückte es fest um den Sicherungsflügel der MPi. Dann legte er den Hebel um. Die Waffe war entsichert. Das knackende Geräusch des Sicherungsflügels war durch das Taschentuch erstickt worden. Lautlos erhob sich der Mann von seinem Stuhl. Mit einem Satz war er vor dem schmalen Türspalt. Er hatte die Waffe im Anschlag.

„Nur herein“, sagte er. Aber er bekam keine Antwort. Draußen, vor der Tür, stand ein

Hund. Und Hunde können nicht reden. Der Mann war noch nicht beruhigt. Er riß die Tür auf und blickte vorsichtig hinaus. Aber es war nichts zu sehen. Der Mann wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und wandte sich dem Hund zu. Das Tier war so abgemagert, daß man seine Rippen zählen konnte. Als der Mann sich niederbeugte, um es zu streicheln, wich es zurück und knurrte ihn an.

„Na, hör mal“, sagte der Mann, „ich tue dir doch nichts. Na, komm doch her. Ein schönes Gebiß hast du, mein Lieber. Wenn du genug zu fressen bekommst, bist du sicher ganz schön gefährlich, wenn du jemanden nicht leiden kannst, was?“

Der Mann ging in den Drugstore und öffnete eine Fleischdose. Er schüttete das Fleisch auf den Fußboden. Dann setzte er sich auf einen Stuhl und sah dem Hund zu. Der Hund kam schnüffelnd näher. Immer wieder sah er mißtrauisch zu dem Mann hoch. Der Mann redete langsam und mit ruhiger Stimme auf ihn ein. Der Hund umkreiste das Fleisch. Schließlich konnte er der Versuchung nicht mehr widerstehen. Er fraß schnell und gierig.

„Na, siehst du“, sagte der Mann, „jetzt sind wir schon einen Schritt weiter.“

Er redete weiter auf den Hund ein, und nach einer Weile hatte der Hund sein Mißtrauen überwunden und kam schwanzwedelnd näher.

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Der Mann klopfte ihm auf den Rücken, und der Hund ließ es sich gefallen.

„Wie soll ich dich bloß nennen?“ fragte der Mann. „Schließlich mußt du doch einen Namen haben. Ich werde dich Paul nennen. Du bist zwar kein reinrassiger Schäferhund, aber irgendwo in deiner Ahnengalerie war bestimmt einer dabei.“

Als der Mann aufbrach, lief Paul in ein paar Metern Abstand hinter ihm her.

Der Mann suchte nichts Bestimmtes in der Stadt. Wenn man ihn gefragt hätte, er hätte nicht zu sagen vermocht, weshalb er überhaupt hierhergekommen war. Doch: vielleicht, um Menschen zu treffen. Aber der Mann wußte selbst gut genug, daß andere Menschen für ihn den Tod bedeuten konnten. Und trotzdem trieb es ihn immer weiter.

Die blaßrote Sonne stand tiefer am Himmel. Aber die Hitze hatte kaum nachgelassen. Der Mann versuchte auszurechnen, wie lange es noch dauern würde bis zur Dunkelheit. Er wußte, daß es gefährlich war, in der Nacht weiterzugehen. Er blieb vor einem großen Gebäude stehen, in dessen Vorderfront eine Uhr und ein automatischer Kalender eingebaut waren. Sein Mund verzog sich zu einem ironischen Lächeln, als er das Datum las. 14. Mai, 1995. Zeit: sechs Uhr morgens. Die Zeit stimmte natürlich nicht. Und das Datum stimmte auch nicht. Es stimmte nichts mehr von dem, was so präzise und gut funktioniert hatte. Der Mann wußte nicht, was für ein Tag heute war. Er war schon vor langer Zeit mit der Rechnung durcheinandergekommen. Und schließlich hatte er es aufgegeben, sich darüber Gedanken zu machen, an welchem Tag er lebte. Es war wichtiger, daß er überhaupt lebte, und er hatte genug damit zu tun, am Leben zu bleiben.

Der Hund rieb sich an seinen Beinen. Der Mann griff ihm gedankenverloren ins Fell und streichelte ihn.

„Ich möchte mal wissen, wo du zu der Zeit gewesen bist“, sagte er und lachte leise. Dann ging er mit schnellen, entschlossenen Schritten weiter.

Als er in eine Gegend kam, in der er immer mehr eingeschlagene Schaufensterscheiben und geplünderte Geschäfte sah, wurde er vorsichtiger. Er hätte diese Gegend am liebsten schnell hinter sich gelassen, aber er wußte, daß er die Stadt vor dem Einbruch der Dunkelheit nicht mehr verlassen konnte. Er mußte sich hier ein

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Quartier für die Nacht suchen. Und er mußte in dieser Nacht unbedingt einmal durchschlafen, denn er war schon zu lange ohne Schlaf ausgekommen. Das minderte die Aufmerksamkeit und die Reaktionsfähigkeit. Der Mann wollte kein Risiko eingehen. Er hatte zuerst daran gedacht, einfach in ein Appartementhaus zu gehen und sich dort ein Zimmer auszusuchen. Aber das war zu gefährlich. Wenn noch jemand in diesem Haus war, konnte er ihn so lange belagern, bis er aufgeben mußte. In ein Warenhaus zu gehen, war auch nicht ratsam. Warenhäuser stellten das bevorzugte Ziel von Banden dar, die überall im Lande herumzogen. Der Mann hatte keine Angst, denn er besaß eine Waffe. Aber er dachte daran, daß er mit seiner Munition sparen mußte. Sein Geist war auf ganz primitive Überlebensgedanken gerichtet; Sentimentalität konnte er sich nicht leisten. Wenn er angegriffen wurde, mußte er sich wehren.

Ein Keller, dachte er. Ein Keller wäre das beste für die Nacht. Er öffnete die Tür eines Wohnhauses so vorsichtig, daß man nicht erkennen konnte, daß sie aufgebrochen worden war. Dann ging er mit dem Hund in den Keller des Hauses. Es war ein geräumiger Keller, in dem nur ein Öltank für die Heizung und ein paar Kisten herumstanden. Dann kundschaftete er das Haus aus. Er schickte den Hund vor und beobachtete ihn genau. Das Tier lief schnüffelnd von einem Zimmer zum anderen. Aber nichts verriet, daß sich noch jemand im Hause aufhielt. Es schien auch niemand hiergewesen zu sein, nachdem es passiert war. Der Mann suchte sich ein paar Decken zusammen und breitete sie für sich und den Hund im Keller aus. Er legte sich so hin, daß er den Hund mit einem Arm sofort erreichen konnte. Sie hatten ihr Lager hinter dem Heizungstank, so daß sie nicht gesehen werden konnten, wenn jemand den Raum betrat.

Der Mann legte sich nieder und zog ein Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche.

„124. Tag danach. Datum: unbekannt. Ich habe die Stadt erreicht. Es war alles so, wie ich es mir gedacht

habe. Die Höhenstrahlung ist schwach wie überall. Ich nehme an, daß sie ungefährlich ist. Wenn nicht, ist es sowieso zu spät und spielt keine Rolle mehr. Ich weiß nicht mehr, wann ich aufgebrochen bin. Es scheint so, als könne ich die Gedächtnislücke nicht mehr ausfüllen, seit es passierte. Ich versuche pausenlos, mich zu erinnern, aber es ist sinnlos. Es fällt mir einfach nicht mehr ein; es ist, als hätte es vorher

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einfach nichts gegeben. Ich habe niemand getroffen bis auf den Hund Paul, der mich jetzt begleitet. Ich versuche mir vorzustellen, was ich sagen werde, wenn mich später jemand fragt, wie es gewesen ist und wie alles ausgesehen hat. Aber ich muß feststellen, daß meine Ausdruckskraft nicht ausreicht, das alles zu beschreiben. Es ist wie in den Träumen, in denen man unaufhörlich geht und nicht von der Stelle kommt. Alle Farben und Empfindungen sind unwirklich geworden, weil es kein Echo gibt, weil die gewohnten Geräusche fehlen, mit denen ich bisher gelebt habe. Ich muß manchmal den Impuls unterdrücken, Selbstgespräche zu führen. Ich weiß, daß das der Anfang vom Ende sein kann. Ich muß ganz nüchtern und kühl bleiben. Die Spitzen der Häuser strahlen in einem gleichbleibenden, grünlichblauen Licht. Mittags, wenn die Sonne am höchsten steht, vereinigen sich die Farben zu einer schrecklich-schönen Symphonie. Ich bin an Häusern vorbeigekommen, die so intensiv strahlten, daß ich meinte, meine Hautfarbe verändere sich. Ich selbst schien die Farben zu reflektieren. Aber ich habe nach wie vor nicht die geringsten Schmerzen. Nichts von den bekannten Strahlungssymptomen hat sich bei mir eingestellt. Ich kann essen, ohne daß mir übel wird, ich bin sicher, daß ich gesund bin. In manchen Straßen der Stadt, besonders in den Geschäftsvierteln, herrscht ein unerträglicher Gestank. Die Eßwaren in den meisten Geschäften sind zu einer übelriechenden braunen, breiigen Masse zusammengelaufen, die Pilze treibt. Genießbar sind nur noch die Konserven. Ich habe mitgenommen, soviel ich tragen konnte, denn ich muß ja nun für zwei sorgen. Es gibt jetzt drei Dinge, die für mich am wichtigsten sind: der Hund, die Maschinenpistole und das Tagebuch.“

Der Mann steckte das Notizbuch wieder ein. Dann streckte er sich aus. Er konnte lange keine Ruhe finden, obwohl er sehr müde war. Aber schließlich überwältigte ihn doch der Schlaf.

Er hatte nichts gehört. Es war eine Reflexbewegung. Seine rechte Hand war in die Nähe des Hundes geraten. Er wollte ihn streicheln. Aber der Hund war nicht mehr da. Der Mann fuhr hoch und war sofort hellwach. Mit einem Griff hatte er die MPi entsichert. Er richtete sich lautlos auf und lauschte. Er sah zur Tür. Der Hund stand vor der Tür. Er hatte die Schnauze am Boden und schnüffelte an dem Spalt zwischen Boden und Tür. Seine Nackenhaare waren aufgerichtet. Der Mann zischte leise. Der Hund drehte sich herum, machte ein paar

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Schritte auf ihn zu und lief dann wieder zur Tür. Der Mann streifte sich schnell die Schuhe ab und ging zur Tür. Er packte den Hund und schob ihn weg. Er legte sein Ohr an die Tür. Der Mann wartete ein paar Sekunden. Schließlich war es ihm, als habe er oben im Haus ein Geräusch gehört. Es war stockdunkel, als er vorsichtig die Tür öffnete und die Treppe hochging. Er hatte den Hund mehrmals zurückstoßen müssen, weil er vorlaufen wollte. Als sie den Korridor erreicht hatten, entwischte ihm der Hund und lief los. Der Mann erreichte die Wohnzimmertür. Durch den Türspalt fiel kein Licht. Aber der Mann erinnerte sich genau daran, daß er die Tür fest verschlossen hatte, bevor er in den Keller gegangen war.

Der Mann hätte gern den Hund in das Zimmer vorgeschickt, aber er wußte nicht, wo das Tier war. Er konnte Paul auch nicht rufen, weil er sich damit verraten hätte; denn er war inzwischen fest davon überzeugt, daß sich jemand in dem Zimmer befand. Und dieser Jemand verhielt sich mucksmäuschenstill. Er verhielt sich wie jemand, der solche Situationen kennt und mit ihnen fertig wird.

Ich kann hier nicht ewig so stehenbleiben, dachte der Mann, ich muß etwas tun.

Er schob die Tür mit dem Fuß auf. Die Türangeln waren noch gut geölt, es war nicht das leiseste Geräusch zu hören. Der Mann wartete. Aber es geschah nichts. Entweder war niemand im Zimmer oder es war tatsächlich jemand, der eiserne Nerven hatte und der in aller Ruhe seine Chancen abwartete. Der Mann trat einen Schritt vor. Er stand jetzt unmittelbar vor dem Türspalt. Er lauschte angestrengt. Und plötzlich wußte er mit aller Sicherheit, daß jemand im Zimmer sein mußte. Er erinnerte sich daran, daß die Fensterrolläden nicht herabgelassen waren, als er das Zimmer verlassen hatte.

Jetzt aber war es so dunkel im Zimmer, daß er nichts mehr von den strahlenden Häusern draußen wahrnehmen konnte. Die Rolläden waren also herabgelassen worden. Es war jemand in dem Zimmer.

Der Mann ließ sich auf Hände und Füße nieder und kroch in den Raum. Als er die Tür passiert hatte, hielt er an und lauschte wieder. Aber er konnte nicht mal die Atemzüge des anderen hören. Der Mann wäre am liebsten hinter die halb geöffnete Tür gekrochen, aber er fürchtete, daß dort der andere stehen könnte. Er versuchte fieberhaft, die Einrichtung des Zimmers in seinem Gedächtnis zu rekonstruieren. Wenn es ihm gelang, hinter die große Musiktruhe vor den Fenstern zu

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kriechen, hatte er eine gute Deckung. Lautlos bewegte er sich weiter. Als er hinter die Truhe gelangt war, suchte er mit der linken Hand

den Knopf für die Fensterrolläden. Er fand ihn endlich und drückte ihn ein. Als die Rolläden hochschossen, füllte sich das Zimmer mit dem Widerschein der strahlenden Häuser.

Der Mann blieb noch einen Augenblick in seiner hockenden Stellung. Dann packte er seine Waffe fester und richtete sich auf. Aber er kam schon nicht mehr dazu, sich ganz aufzurichten.

Ein Schlag gegen seine Schläfe ließ ihn zurücktaumeln. Er stürzte zu Boden. Er versuchte, sich wieder aufzurichten, war noch halb betäubt von dem Schlag. Und die Waffe nützte ihm auch nichts; denn der Mann, der ihn niedergeschlagen hatte, hatte sie längst mit dem Fuß weggestoßen.

Er stützte sich auf den linken Ellbogen und versuchte, den Brechreiz zu überwinden. Er fühlte sich so, als habe er einen Tritt in den Unterleib bekommen, statt einen Schlag gegen den Kopf. Er hob den Kopf und sah seinen Gegner an. Er blickte in die Mündung seiner MPi.

Der Mann war nicht besonders groß. Er hatte eine scharf gebogene Nase und ein ausgeprägtes Kinn. Seine Haare waren lang und fielen ihm tief in die Stirn. Hinten im Nacken hingen sie ihm bis weit über den Kragen. Die Ohren wurden fast völlig verdeckt. Der Mann sah aufmerksam zu ihm hinab. In seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen; kein Triumph, kein Ausdruck der Freude über seinen Sieg.

„Das nennt man Pech“, sagte der Mann. „Stehen Sie auf und setzen Sie sich auf einen Stuhl, es ist so ein bißchen unbequem für Sie, sich zu unterhalten.“

„Wie kommt es, daß ich Sie nicht früher bemerkt habe?“ fragte der Mann, nachdem er sich gesetzt hatte.

„Weil ich schon vor Ihnen hier im Hause war“, sagte der andere. „Versteh“ ich nicht. Ich habe doch extra den Hund vorgeschickt, er

hätte Sie doch wittern müssen.“ Der andere lachte leise. „Der Hund gehört mir“, sagte er. „Dann bin ich also in die Falle gegangen wie ein Anfänger.“ „Das sind Sie allerdings.“ „Und was wird nun?“ Der andere zuckte die Schultern und sah ihn weiter aufmerksam an.

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„Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?“ „Ich würde Sie vermutlich erschießen.“ „Sehen Sie.“ „Oder ich würde Sie nicht erschießen. Ich würde versuchen, mich

mit Ihnen zu einigen.“ „So kommen wir nicht weiter. Eben waren Sie ehrlich. Sie haben

gesagt, daß Sie nicht zögern würden, mich zu erschießen. Was, glauben Sie, werde ich nun tun, nachdem ich weiß, wie Sie sich in so einer Situation verhalten werden? Sie würden nur darauf warten, mich zu töten. Denn Sie wollen die MPi wiederhaben. Die bekommen Sie aber nicht wieder, weil ich sie haben will.“

„Glauben Sie, daß die Menschen überhaupt noch eine Zukunft haben, wenn sie jetzt anfangen, sich gegenseitig umzubringen?“

„Jetzt werfen Sie wohl etwas durcheinander. Sie vergessen, daß Sie mich praktisch dazu zwingen, Sie zu beseitigen, damit ich am Leben bleiben kann. Sonst hätten Sie vorhin anders sprechen müssen.“

„Sie legen jedes Wort auf die Goldwaage, was?“ „Nein. Aber ich höre genau zu, wenn ich mit jemandem rede. Was

waren Sie denn früher von Beruf, Sie Menschenfreund? Philosoph vielleicht?“

„Ich war Fleischer. Und Sie?“ Der andere lachte wieder. „Die Situation ist nicht ohne Komik“, sagte er, „ich war

Schriftsteller. Ich habe Bücher geschrieben. Ich dachte, mit Bücherschreiben kann man etwas erreichen. Ich dachte, man könne dadurch die Menschen ändern, verstehen Sie?“

„Nein, das kann man wohl nicht“, sagte der Mann, „oder Sie waren nicht gut genug. Ich verstehe nichts von Büchern.“

Und die ganze Zeit wartete er darauf, daß der andere in seiner Wachsamkeit nachlassen würde. Aber vorerst sah es nicht so aus. Er mußte ihn weiterbeschäftigen. Er durfte nicht aufhören, zu reden, sonst kam, was kommen mußte.

Es entstand eine kleine Pause. Er versuchte krampfhaft, sich eine neue Frage auszudenken; denn langsam stellte sich die Angst ein, daß der andere der Sache überdrüssig wurde und einfach abdrückte.

„Wie heißen Sie?“ fragte er schließlich. „Zimmermann“, sagte der andere, „ich heiße Robert Zimmermann.

Was anderes ist Ihnen wohl gar nicht eingefallen zu fragen, was?“

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„Nein“, sagte der Mann. „Wo wollen Sie hin? Sind Sie schon lange in der Stadt hier?“

„Ich habe die Stadt nicht verlassen – seitdem. Ich war die ganze Zeit in diesem Vorort. Und wo wollten Sie hin?“

Mein Gott. Er hat gesagt: Und wo wollten Sie hin. Er hat nicht gesagt, wo wollen Sie hin, dachte der Mann.

„Ich wollte aufs Land hinaus. Ich wollte Menschen finden. Die Städte sind praktisch leer. Ich weiß auch nicht, ob die Strahlung wirklich harmlos ist.“

„Was wollten Sie bei den Menschen? Sie umbringen mit Ihrer Maschinenpistole? Oder einen neuen Krieg vorbereiten?“

„Was sind Sie eigentlich für einer. Ein Kommunist oder so was?“ Zimmermann verzog das Gesicht. „Wenn jemand etwas sagt, was Ihnen nicht sofort in den Schädel

geht, dann ist er gleich Kommunist, klar. Haben Sie eigentlich immer noch nicht begriffen, daß es auf solche Bezeichnungen wie Kommunist, Kapitalist oder Weißer und Neger oder Autofahrer und Fußgänger überhaupt nicht ankommt?“

„Wenn Sie so klug sind, was haben Sie dann damit bezweckt, in der Stadt zu bleiben wie die Maus in ihrem Loch, können Sie das nicht mal erklären?“

Zimmermann sah ihn nachdenklich an. Nach einer Weile sagte er: „Ich habe an meinem Buch weitergeschrieben. Das kommt Ihnen

natürlich reichlich verrückt vor.“ „Es ist verrückt. Denn es ist niemand mehr da, der es drucken

könnte. Und es ist niemand mehr da, der es lesen könnte. Sie müssen ganz schön feige sein, daß Sie sich so vor der Wirklichkeit verkriechen. Sie haben resigniert. Und Sie denken nur an sich. Sie machen sich etwas vor. Sie tun so, als gäbe es das Vorher noch. Aber das ist vorbei, mein Lieber. Und darauf müssen Sie sich einrichten.“

„Wenn ich so weltfremd wäre, wie Sie behaupten, dann säße ich jetzt auf dem Stuhl da und nicht Sie.“

Sie schwiegen. „Sie wollen mich immer noch umlegen, nicht wahr?“ fragte der

Mann schließlich. „Ich weiß es nicht mehr“, sagte Zimmermann. „Ich weiß es wirklich

nicht mehr. Zumindest in einem Punkt haben Sie recht. Es hat keinen Sinn, sich zu verkriechen. Es liegt daran, daß ich seit Monaten keinen

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Menschen mehr gesehen habe. Aber ich habe auch kein großes Bedürfnis danach verspürt. Denn schließlich waren es ja auch Menschen, die ... Lassen wir das!“

Er brach mitten im Satz ab. „Wollen wir nicht zusammen weitergehen?“ fragte der Mann. Zimmermann sah ihm voll ins Gesicht. „Denken Sie mal daran, was Sie vorhin gesagt haben. Ich glaube

nicht, daß Sie der Typ sind, der sich gern etwas sagen läßt. Sie wollen der Führer sein. Führer aber ist nur der, der die Waffe hat. Und die habe ich. Und ich werde sie auch nicht wieder hergeben. Damit müssen Sie sich abfinden. Können Sie das? Und wollen Sie das?“

„Ich kann mich einer neuen Situation anpassen“, sagte der Mann. „Und warum sollten Sie mich jetzt zum Beispiel nicht anlügen, um

Ihr Leben zu retten?“ „Das ist Ihr Risiko“, sagte der Mann. Der Mann griff in die Tasche. Zimmermann hob die MPi. „Aber, aber“, sagte der Mann, „ich will Ihnen doch nur eine

Zigarette anbieten. Seien Sie nicht so mißtrauisch.“ Er warf ihm eine Zigarette zu. Zimmermann fing sie mit einer Hand

auf und zündete sie an. Sie rauchten schweigend. Zimmermann trat die Zigarette auf dem Fußboden aus. Sein Gesicht

spannte sich etwas, als er sagte: „Gut, ich nehme Sie mit. Wir gehen zusammen weiter. Sie kennen

meine Bedingung.“ „Okay“, sagte der Mann. Zimmermann drehte sich um und ging zum Fenster. Der Mann blieb

ruhig auf seinem Stuhl sitzen. Zimmermann nahm etwas vom Fensterbrett auf und wandte sich zur Tür.

„Kommen Sie“, sagte er. „Wir wollen gehen.“ Der Mann versuchte es, als sie auf dem Flur waren. Er warf sich von

hinten auf Zimmermann, der ihm den Rücken zugekehrt hatte, und umklammerte dessen Hals. Aber er hatte nicht mehr mit dem Hund gerechnet.

Der Hund kam von irgendwo aus dem Dunkel geschossen und verbiß sich in seinem Bein. Mit einem Schrei ließ er Zimmermann los. Der Hund sprang dem Mann an die Kehle und warf ihn nieder. Sie rollten die Treppe hinunter.

„Walker!“ schrie Zimmermann,

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„Walker, hör auf! Komm sofort her!“ Er schaltete hastig die Flurbeleuchtung ein. Es war zu spät. Der

Mann lag mit zerrissener Kehle am Fuß der Treppe. Zimmermann lief zu ihm. Der Mann lebte noch. Seine brechenden Augen sahen ihn flehend an.

„Es tut mir leid“, sagte Zimmermann. Der Mann versuchte, seine Lippen zu bewegen. „Es tut mir leid“, sagte Zimmermann noch einmal. Und dann schoß er.

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2.

Als die ersten blassen Sonnenstrahlen den neuen Tag ankündigten, verließ Robert Zimmermann die Stadt. Er hatte von den Sachen des Toten an sich genommen, was er gebrauchen konnte, die Maschinenpistole, die Munition und die Konserven. Sogar Zigaretten und ein Feuerzeug hatte er gefunden. Und er hatte das Tagebuch und den Bleistift mitgenommen.

Er untersuchte das Magazin der Waffe und lud einen Schuß nach. Ich habe einen Menschen getötet, dachte er. Zimmermann haßte das Töten. Er haßte es in jeder Form. Und die Kaltblütigkeit, mit der er dem Mann gegenübergetreten war, war gespielt gewesen. Er war alles andere als kaltschnäuzig. Es war ein merkwürdiges Gefühl, das er empfand, wenn er an den Toten dachte; es war keine Reue. Das Unbehagen, das sich bei diesem Gedanken einstellte, war so stark, daß er es sogar körperlich empfand. Es war wie ein Knoten im Magen und in der Kehle. Er kam sich vor wie ein Kind, das bei etwas Verbotenem ertappt worden ist. Aber er wußte genau, daß es niemanden mehr gab, der ihn dafür zur Rechenschaft ziehen konnte. Sooft er sich in Gedanken auch versicherte, daß es reine Notwehr gewesen war, und daß er den Kampf gar nicht hatte beeinflussen können – Walker war zu schnell gewesen –, er wurde dieses Unbehagen nicht los.

Er steckte die Konserven in einen kleinen Rucksack. Das Magazin der MPi schob er in die linke Hosentasche.

Vorsichtig betrat er die Straße. Es war niemand zu sehen, und er hatte es auch nicht anders erwartet.

Zimmermann machte sich auf den Weg, er kannte die Stadt schon lange. Genaugenommen hatte er sie kaum jemals verlassen. Im Sommer war er manchmal in Europa gewesen, zur Erholung und zum Schreiben, aber das hatte er sich nur leisten können, wenn eines seiner Bücher besonders gut gegangen war und er einen ordentlichen Vorschuß bekommen hatte. Zimmermann kannte diese Stadt. Er kannte sie wie seine Westentasche. Und er gehörte zu den Menschen, die mit dieser Stadt in einer Art Haßliebe verbunden waren.

Der Krieg hatte alles verändert. Die Stadt war nicht mehr so wie früher. Die Stadt war leer. Zimmermann hatte zuerst tatsächlich allein in seiner Wohnung gesessen und an seinen Manuskripten

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weitergearbeitet. Er war einfach nicht bereit dazu, die Realität zu akzeptieren. Und wenn es Abend wurde und er müde war von seiner Arbeit, dann starrte er das Telefon auf seinem Schreibtisch an, als erwarte er, daß es gleich klingeln würde und einer seiner Freunde anrief, um ihn zu fragen, was er heute abend vorhabe. Ja, er hatte tatsächlich darauf gewartet. Er, dem man mehr Phantasie und Vorstellungsvermögen nachsagte als vielen anderen Schriftstellern, er wartete darauf, daß sich seine alten Freunde meldeten. Seine Freunde, die längst tot waren.

Der Hund Walker hatte jemandem in dem Hause gehört, in dem er gewohnt hatte. Durch irgendeinen Zufall hatte er überlebt. Er hatte ihn zu sich genommen.

Es war Juli oder August. Die Sonne wärmte schon in den frühen Vormittagsstunden. Er schwitzte, aber er hätte sich nie von seiner Jacke getrennt, denn die Nächte waren manchmal kühl, und irgendwann würde es auch wieder Winter werden. So, als ob nichts gewesen wäre, würde es Winter werden.

Zimmermann versuchte, ein Auto zu finden, aber das war nicht leicht. Denn Autos standen jetzt nicht mehr einfach so herum. Die meisten befanden sich in den Tiefgaragen. Und dann war es immer noch nicht gesagt, daß sie auch volle Tanks hatten.

Zimmermann sah den Schatten einer Bewegung. Der Sicherungsflügel der MPi knackte, als er ihn umlegte. Aber er

ließ die Waffe sofort wieder sinken. Eine dunkelgraue Katze rannte quer über die Straße. Walker sah nicht mal hin.

Auf der Ausfallstraße nach Westen lagen die Trümmer eines riesigen Verkehrsflugzeugs. Es hatte einen großen Krater geschlagen. Das ausgelaufene Benzin hatte Feuer gefangen und die Erde und das Flugzeugwrack schwarz verbrannt.

Zimmermann machte einen Umweg. Auf den Straßen waren keine Anzeichen zu erkennen, daß hier noch vor kurzem Menschen gewesen waren. Die Bäume und Büsche an den Rändern der Straße waren verdorrt. Trotzdem gab es einige Gewächse, denen die Strahlung anscheinend nichts ausmachte. Sie wuchsen sogar noch besser als vorher.

Der Straßenbelag war kaum beschädigt. Gelegentlich gab es Beulen im Asphalt, die aussahen wie Frostaufbrüche.

Und Zimmermann ging und ging. Am Nachmittag hatte er die Stadt

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endgültig hinter sich. Plötzlich fing Walker an, wie wild zu bellen. Zimmermann zuckte zusammen. Mit einem Satz war er im

Straßengraben und entsicherte die MPi. Er beobachtete, wie Walker auf etwas zuging, das wie leblos mitten auf der Straße lag. Seine Nackenhaare hatten sich gesträubt. Aber er bellte nicht mehr. Er schnüffelte daran herum. Zimmermann konnte nicht erkennen, was es war.

Zimmermann wartete noch ein paar Minuten, dann verließ er den Graben.

Der Mann, der dort auf der Straße lag, lebte nicht mehr. Er konnte noch nicht lange tot sein, denn die Blutlache war noch nicht eingetrocknet. Der Mann hatte einen zertrümmerten Schädel.

Zimmermann blickte sich nach allen Seiten um. In der Nähe gab es keine Deckung. Die nächsten Häuser waren mehr

als einen Kilometer entfernt, und der Wald lag noch dahinter. Die Mörder waren fort.

Der Tote hatte nur noch seine zerlumpte Kleidung, alles andere hatte man ihm abgenommen. Vielleicht hatte er Lebensmittel besessen oder Konserven.

Zimmermann preßte die Lippen zusammen. Er wußte, daß er alles andere als sicher war, und die Gefahr würde nicht abreißen, solange er sich weiterbewegte.

Ich habe eine Waffe, dachte er. Sollen sie nur kommen. Er versuchte, sich Mut zu machen; denn er hatte ihn nötig. Robert Zimmermann war alles andere als ein Held. Er war ein Mann wie jeder andere in der großen Stadt gewesen. Lediglich sein Beruf hatte ihn von anderen Männern unterschieden. Zimmermann dachte an seinen Beruf, und er dachte an die Bücher, die er geschrieben hatte. So blödsinnig einfach diese Feststellung ist, dachte er, sie ist wahr: In Wirklichkeit sieht alles ganz anders aus. Früher hatte ich keinem Spatzen etwas zuleide tun können, und jetzt hatte er schon einen Menschen getötet.

Er holte tief Luft und ging weiter. Auf einem Schild an der Straße stand, daß der nächste Ort zwei

Kilometer entfernt war. Es war ein kleiner Ort. Er überlegte, ob er nicht lieber einen Umweg machen sollte, um der Gefahr aus dem Wege zu gehen.

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Aber dann schüttelte er entschlossen den Kopf. Er konnte der Gefahr auf die Dauer doch nicht ausweichen. Und der Tote war nicht erschossen worden. Also hatten die Mörder keine Schußwaffen.

Walker trottete wieder voran. Er hatte eine gute Nase, Zimmermann verließ sich ganz auf ihn.

Es war tatsächlich ein kleinerer Ort. Walker war plötzlich stehengeblieben und sicherte. Zimmermann spürte das Gewicht der Maschinenpistole.

Dann ging Walker weiter und wedelte mit dem Schwanz. Er hatte keine Witterung bekommen.

Zimmermann hielt bald an. Der lange Marsch war anstrengend gewesen, vor allen Dingen für ihn; er war schließlich keine Gewaltmärsche gewöhnt.

Er legte eine Pause zum Essen ein. Als er sich sattgegessen hatte, zündete er sich eine Zigarette an und las in dem Notizbuch des Mannes.

Zimmermann fand, daß der Mann manche gute Beobachtung gemacht hatte, obwohl er doch alles andere als ein Literat gewesen war. Er schrieb in kurzen Worten dort weiter, wo der Mann aufgehört hatte. Er schilderte das Ende des Mannes.

Bald darauf zogen sie weiter. Sie waren etwa eine Stunde unterwegs gewesen, als es passierte. Der Überfall kam so überraschend, daß er nicht mehr an Gegenwehr denken konnte. Selbst Walker hatte ihn nicht warnen können. Die Männer kamen aus den Büschen neben der Straße. Walker wurde von einem Stein an den Kopf getroffen und fiel um. Er blutete.

Zimmermann riß die Maschinenpistole hoch und zielte auf die Männer. Die Angreifer waren nur mit Messern und Steinen bewaffnet. Einen Augenblick blieben sie wie erstarrt stehen. Zimmermann entsicherte die Waffe.

Er brauchte nur abzudrücken. Aber er drückte nicht ab. Und als die Männer das merkten, waren sie schon bei ihm und

schlugen ihn nieder. Er schwamm in einem Meer von Schmerzen. Und es war der

Schmerz, der ihn zum Erwachen brachte. Zimmermann öffnete die Augen und versuchte, sich aufzurichten, aber er fiel sofort wieder zurück. Der Schmerz zog sich von seinem Nacken über den Kopf bis

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zu den Augen hin. Sein zweiter Eindruck war die Kälte. Er trug nichts mehr am Leibe

außer seiner Unterhose. Er fror. Er zog sich mühsam auf die Knie. Als er sich die Augen rieb und die Hände zurücknahm, waren sie naß.

Sie waren naß von Blut. Von seinem Blut. Es war stellenweise angetrocknet und verschorft. Zimmermann stand auf.

Er öffnete den Mund, um Walker zu rufen, aber zunächst brachte er nur ein unartikuliertes Krächzen heraus.

„Walker!“ Keine Antwort. Zimmermann ging ein paar Schritte weiter, und dann sah er den

Hund. Als Walker ihn kommen hörte, versuchte er, sich aufzurichten. Aber er war noch ziemlich wacklig auf den Beinen. Zimmermann kniete sich hin und nahm das Tier in die Arme. Er tastete seinen Kopf ab und stellte fest, daß der Hund eine riesige Beule hatte, die aufgeplatzt war. Der ganze Kopf war blutverkrustet. Als er ihn streichelte, leckte ihm der Hund die Hände.

Zimmermann nahm den Hund auf und trug ihn von der Straße weg in eine Bodensenke, die von Büschen umgeben war. Dann riß er ein Stück Stoff aus dem Beinteil seiner Unterhose und tupfte damit seine Wunde ab. Der Hund zuckte anfangs zurück, aber dann ließ er seinen Herrn gewähren. Die Zunge und die Nase des Hundes waren heiß. Die Nase war trocken. Vielleicht hatte er Fieber. Aber was sollte er, Zimmermann, jetzt dagegen tun?

Er nahm Walker in die Arme und redete beruhigend auf ihn ein. Und während er da so hockte und den Hund streichelte und auf ihn einredete, wuchs ein Gefühl in ihm, das er bisher noch nicht gekannt hatte. Es war ein völlig neues Gefühl für Robert Zimmermann.

Es war der Haß auf die Männer, die ihn und Walker so zugerichtet hatten. Und Zimmermann war ziemlich sicher, daß es dieselben Männer waren, die den Mann ermordet hatten, den sie vorher auf der Straße gefunden hatten.

Jeder Mensch reagiert anders, wenn er liebt oder wenn er haßt. Manche werden unbeherrscht, brausen auf und verlieren alle Vorsicht. Andere wieder werden hinterlistig und heimtückisch und verbergen ihren Haß hinter einer Maske aus falscher Freundlichkeit.

Zimmermann war anders. Er wurde ruhig und überlegte ganz kalt und nüchtern. Er hatte kein Interesse daran, sich an den Männern zu

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rächen. Das wäre auch unrealistisch gewesen, denn sie waren eindeutig in der Überzahl gewesen. Er wollte nur eines: Er wollte seine Sachen wiederhaben. Und vor allen Dingen die Waffe.

Seine Kopfschmerzen hatten nachgelassen. Er wußte, daß es Zufall war, daß er noch lebte; denn als er wieder seinen Kopf betastete, stellte er fest, daß ihm ein Messerstich eine ganze Haarsträhne herausrasiert hatte.

Die Nacht war dunkel und kalt. Der Mond war nicht zu sehen, und die Sterne wurden von den Wolken verdeckt. Zimmermann wußte, daß es sinnlos war, jetzt schon aufzubrechen und die Männer zu suchen. Er mußte warten, bis es hell wurde. Er mußte mindestens warten, bis der Morgen graute. Er legte sich hin und nahm den Hund ganz nah zu sich, damit sie sich gegenseitig ein bißchen wärmen konnten. Aber trotzdem war die Kälte beinahe unerträglich. Und sein Schlaf war leicht.

Und alles war so, wie er es einmal in einem seiner Bücher beschrieben hatte. Nur, daß er es jetzt war, der ganz auf sich allein gestellt war, und daß er es war, dem etwas einfallen mußte, wenn er überleben wollte.

Und als er in der beginnenden Morgendämmerung erwachte, begann er, sich zu wandeln. Es war eine Wandlung, die unbewußt in ihm schon lange begonnen hatte. Jetzt aber war es so weit, daß sie deutlich und spürbar einsetzte.

Zimmermann sah den Hund aufmerksam an. Die Wunde war nicht ganz so schlimm, wie er zunächst angenommen hatte, und Walker kam auch ohne Schwierigkeiten auf die Beine.

Zimmermann suchte die nähere Umgebung nach Spuren ab, und nach einiger Zeit hatte er auch welche gefunden.

Er setzte Walker darauf an, und der Hund schoß sofort los. Zimmermann konnte ihn kaum halten. Er pfiff ihn immer wieder

zurück und versuchte ihm klarzumachen, daß er nicht bellen durfte. Es schien so, als habe der Hund das begriffen. Es ging fast zwei Stunden quer durch den Wald, bis sie eine große Lichtung erreichten. Auf dieser Lichtung stand ein Haus, das recht verfallen aussah. Aber das nahm Zimmermann kaum zur Kenntnis.

Viel wichtiger war es ihm, daß aus dem Schornstein des Hauses Rauch aufstieg. Also gab es hier Menschen. Er hielt den Hund fest und beobachtete. Ein Mann kam aus dem Haus. Er sah sich nach allen

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Seiten um und ging wieder hinein. Zimmermann war natürlich nicht in der Lage, den Mann

wiederzuerkennen, dazu war alles viel zu schnell gegangen. Es war etwas ganz anderes, was ihn darauf brachte, daß hier die Männer waren, die er suchte.

Der Mann hatte eine Maschinenpistole in der Hand gehabt. Seine Maschinenpistole. Er hatte sie genau erkannt. Zimmermann bewegte sich vorsichtig vorwärts. Er mußte

herausbekommen, in welchem Zimmer sich der Mann aufhielt. Er hatte es bald heraus. Als er unter dem Küchenfenster kauerte, hörte er Geräusche, die darauf hinwiesen, daß hier jemand ein Frühstück bereitete. Er riskierte einen schnellen Blick. Der Mann stand vor dem Herd und stellte einen großen Topf mit Wasser darauf. Er hantierte weiter am Herd herum.

Das war die Entscheidung. Ich muß jetzt handeln, dachte Zimmermann. Die MPi liegt auf dem Küchentisch. Wenn ich jetzt springe, habe ich sie mit einem Griff.

Er zog sich am äußeren Fensterbrett hoch und sprang in den Raum hinein.

Der Mann vor dem Ofen fuhr hoch und drehte sich um. Zimmermann stürzte gegen den Tisch und riß ihn um. Die

Maschinenpistole fiel polternd zu Boden. Es gelang Zimmermann, sie mit dem Fuß beiseite zu stoßen. Jetzt konnten sie beide nicht heran.

Walker war lautlos in der geöffneten Küchentür aufgetaucht. Seine Nackenhaare waren gesträubt. Er stand da, fletschte die Zähne und knurrte.

„Wenn Sie sich ruhig verhalten“, sagte Zimmermann leise, „passiert Ihnen nichts!“

Der Mann starrte ihn an. Er war unrasiert und hatte helle, wache Augen. Und er war größer und kräftiger als Zimmermann.

Der Mann starrte Zimmermann eine Weile an, dann begann er zu grinsen.

„Du hast doch jetzt schon die Hosen voll“, sagte er. Zimmermann trat auf ihn zu und holte aus. Der Mann fing seinen

Schlag ab und schlug erbarmungslos zurück. Zimmermann wurde durch den ganzen Raum geschleudert und krachte gegen die Türfüllung. Walker stürzte sich auf den Mann und verbiß sich in seinen Beinen.

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„Mit dir Kanaille bin ich doch schon mal fertig geworden“, fluchte der Mann und versuchte, Walker abzuschütteln.

Er war so beschäftigt damit, daß er Zimmermann nicht genug Aufmerksamkeit schenken konnte.

Zimmermann machte einen Hechtsprung quer durch den Raum und griff die Maschinenpistole.

Er richtete sich auf und brachte sie in Anschlag. „Walker, stop! Stop!“ sagte er. Der Mann sah ihn voller Entsetzen an. „Sie .. . Sie können doch nicht…“ „Aber natürlich“, sagte Zimmermann. „Umdrehen! Los!“ Der Mann drehte sich um, und Zimmermann schlug ihm den Kolben

der Waffe gegen die Schläfe. Der Mann hatte noch nicht den Boden berührt, da hörte

Zimmermann ein Geräusch an der Tür. Er wirbelte herum. In der Tür stand ein weiterer Mann. „Treten Sie doch näher, oder, besser noch, zeigen Sie mir doch, wo

sich Ihre Kollegen befinden“, sagte Zimmermann. Der Mann zögerte. Zimmermann wedelte mit dem Lauf der MPi. „Ein bißchen plötzlich, wenn ich bitten darf.“ Der Mann drehte sich wortlos um und ging eine Treppe hinauf. Zimmermann beobachtete ihn genau und blieb immer wenige

Schritte hinter ihm. Als der Mann den obersten Treppenabsatz erreicht hatte, war Zimmermann hinter ihm und bohrte ihm den Lauf der Waffe in den Rücken. Er gab ihm einen Stoß. Und dann betraten sie das Zimmer, in dem drei Männer schliefen.

Zimmermann gab dem Mann, der ihn hierhergeführt hatte, einen Stoß in den Rücken, so daß er ins Zimmer taumelte. Einer der Männer wachte auf. Er blickte Zimmermann verständnislos an.

Dann weiteten sich seine Augen vor Schreck. „Wecken Sie Ihre Kollegen“, sagte Zimmermann. „He! Aufwachen“, rief der Mann, „da ist einer, der was von uns

will!“ Zimmermann lächelte grimmig. „Ich will meine Sachen wiederhaben“, sagte Zimmermann, „und das

ein bißchen schnell. Wenn jemand Selbstmordabsichten hat, braucht er sich nur hastig zu bewegen.“

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„Das liegt da alles in der Ecke“, sagte einer der Männer. „Dann werden Sie aufstehen und mir die Sachen bringen!“ „Hol sie dir doch selber!“ Zimmermann überlegte. Dann antwortete er hart: „Ich zähle bis drei. Wenn Sie bei drei nicht aufgestanden sind,

drücke ich ab.“ „Der schießt ja doch nicht, der tut bloß so“, sagte ein anderer Mann. „Eins!“ Zimmermann sprach nicht besonders laut. Er behielt die

Männer genau im Auge. Bei „drei“ griff einer der Männer unter die Decke und zog ein

Messer hervor. Er brachte den Arm zwar noch hoch, aber das war alles.

Zimmermann drückte ab. Der Mann wurde von seinem Lager geschleudert. Er war sofort tot.

„Noch jemand?“ fragte Zimmermann. „Ich habe es jetzt eilig, bringen Sie mir also die Sachen.“

Er ließ sie sich zuschieben. „Ich nehme an, daß mir niemand folgen wird“, sagte Zimmermann,

als er ging. „Wenn es aber doch jemand tut, so sollte er vorher sein Testament machen.“

„Warten Sie doch mal!“ sagte einer der Männer zu ihm, als er schon in der Tür war. Der Mann stand auf. Er war groß und breit und trug einen dunklen Vollbart.

„Was wollen Sie?“ fragte Zimmermann. „Können wir uns nicht einigen?“ Zimmermann wedelte mit der MPi. „Wohl deswegen, was?“ „Deshalb auch. Aber abgesehen davon: Wo wollen Sie hin? Wir

brauchen Leute wie Sie. Zusammen sind wir stärker. Sie werden sich auf die Dauer nicht allein durchsetzen können.“

„Ich schätze Ihre Methode nicht“, sagte Zimmermann. „Wir leben in Zeiten, wo es einen teuer zu stehen kommen kann,

wenn man Skrupel hat“, sagte der Mann. „Wir haben das nicht erfunden, wir müssen nur damit fertig

werden.“ „Das habe ich doch schon mal gehört?“ „Sie sind wohl einer von den Neunmalklugen, was?“ „Ich bin kein Neunmalkluger“, sagte Zimmermann, „ich glaube nur

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nicht, daß Sie mit der alten Methode etwas Neues anfangen können.“ Als Zimmermann das Haus verlassen hatte, trat der Mann an ein

Flurfenster und sah ihm nach. Er stand lange so da. Zimmermann hätte gern gewußt, was der Mann wirklich dachte. Und

wenn er es gewußt hätte, er wäre trotzdem nicht schlau daraus geworden.

Denn der Mann dachte: Den habe ich doch schon mal gesehen, den kenne ich doch. Wo und

wann war das bloß. Ich kenne ihn. Ich weiß genau, daß ich ihn kenne.

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3.

Aus dem Tagebuch des Robert Zimmermann.

Mittags. Ich schreibe während einer kurzen Rast. Ich habe versucht, das Haus

möglichst schnell hinter mir zu lassen, weil ich nicht sicher bin, ob ich verfolgt werde. Aber bisher habe ich noch keine Anzeichen feststellen können. Immer deutlicher wird mir klar, daß ich einen Wagen brauche. Die Entfernungen sind einfach zu groß.

Wenn ich später einmal gefragt werde, was mir am meisten aufgefallen ist nach der Katastrophe, so werde ich antworten: die leeren Städte. Eine große Stadt ohne Menschen ist das Absurdeste, was es gibt. Und jetzt gibt es sie. Es ist kein Traum mehr, keine Erfindung, keine Romanidee: es gibt die leeren Städte. Ob Sie nach Los Angeles gehen oder nach Chikago, nach New York oder nach Detroit, die Städte sind leer.

In den Straßen begegnen Sie altem Zeitungspapier, das nutzlos herumflattert, denn es gibt noch den Wind; und Sie sehen auch noch den Dreck, den es in jeder Straße jeder beliebigen Stadt gibt; es gibt noch alles – auch ein paar Menschen. Aber diese Menschen verstecken sich, denn sie haben Angst. Diese Menschen haben das Grauenvollste erlebt, das ein Mensch erleben kann. Und dieses Erlebnis hat sie verändert. Die Menschen sind furchtsam geworden, und mißtrauisch, und hinterhältig. Diese Eigenschaften wohnen sehr nahe beieinander. Es ist nicht so, daß aus jedem Feigling nun ein Held wird und aus jedem Helden ein Feigling. So einfach ist das nicht. Das ist eine Klischeevorstellung, und mit Klischeevorstellungen kommt man in dieser Welt nicht weit. In dieser Welt, die sich so lautlos verändert hat, so lautlos, so heimtückisch, von heute auf morgen, über Nacht.

Die Menschen, die übriggeblieben sind, befinden sich in einer Ausnahmesituation. In einer Situation, die sich so kraß von der normalen unterscheidet, wie das nur eben auszudrücken ist. Es ist eine Situation, die Veränderungen verlangt. Die Menschen, die übriggeblieben sind, sind nicht mehr Kaufleute, Barbesitzer, Kellner, Angestellte, Lastwagenfahrer, Fleischer – oder Schriftsteller. Es sind Menschen, und es gibt etwas, was sie alle gemeinsam haben. Es ist ein

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Urtrieb, der in jedem Menschen steckt: Sie wollen überleben. Natürlich, auch früher starben die Menschen nicht gern, aber jetzt ist es nicht mehr so einfach, am Leben zu bleiben. Denn es gibt keinen Arzt mehr, von dem man sich behandeln lassen kann, es gibt zwar noch Krankenhäuser, aber sie sind leer wie alle anderen Häuser. Die Vernichtung des Lebens ist beinahe perfekt. Eine starke Grippe, eine Blinddarmentzündung, Krankheiten, die vorher harmlos waren, bedeuten heute den sicheren Tod.

Wer aus dieser Katastrophe lebend hervorgehen will, muß stark sein. Und er muß nicht nur körperlich, sondern auch geistig stark sein. Da ich die Menschen ein wenig kenne, weiß ich, daß sich zunächst die körperlich Starken, die Skrupellosen durchsetzen werden. Aber ich vertraue darauf, daß die Menschen jetzt endlich zur Vernunft kommen und daß sie einsehen, daß ihnen mit dieser Art von Stärke allein nicht gedient ist. Und deshalb hatte der Mann recht, dessen Tagebuch ich hier weiterschreibe. Man kann nicht mehr den Kopf in den Sand stecken. Jetzt wird sich endgültig entscheiden, wie und ob das Leben weitergehen wird. Denn nicht nur im Äußeren, in der Umgebung ähnelt die jetzt vorhandene Situation einer Anfangssituation der Menschheit überhaupt. In allen Teilen der Welt sind Menschen übriggeblieben, und in allen Teilen der Welt stehen sie vor derselben Situation.

Und alle Menschen in allen Teilen der Welt haben dieselben Möglichkeiten, aus dieser modernen Steinzeit, aus dieser Nullpunktsituation herauszufinden.

Aber das ist Theorie. Doch wenn es darum geht, etwas völlig Neues zu beginnen, muß man es zunächst durchdenken. Ich habe mich entschlossen, an dieser Reorganisierung, an diesem Neubeginn mitzuarbeiten, weil es mich genauso betrifft wie jeden anderen. Mit der Parole „Ich mache meinen eigenen Kram“ ist jetzt nichts mehr auszurichten. Ich will Menschen finden und mit ihnen gemeinsam die Ursache des Übels auslöschen: die, die den sinnlosen Krieg begonnen haben. Und wenn die Menschen, die ich treffe, keine Gleichgesinnten sind, so werde ich sie überzeugen. Ich habe die Kraft dazu. Denn wenn diese Leute wieder an die Macht kommen, werden sie über kurz oder lang erneut einen Krieg entfesseln. Das aber soll nie wieder geschehen. Natürlich geht das nicht mit Verbrechern, die ich vorhin getroffen habe. Diese Leute ähneln denen, die den Krieg begonnen

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haben, viel zu sehr. Es fehlt ihnen lediglich an Intelligenz. Ich erinnere mich an ein Lied des amerikanischen Dichters Bob

Dylan. Es heißt: An die Herren der Kriege. Darin kommen die Zeilen vor: „Wie Judas damals / Lügt und betrügt ihr / Wollt mir weismachen / Der nächste Krieg sei zu gewinnen / In euren Augen aber steht Verrat / Und ich durchschaue, was ihr denkt / Ihr habt die schlimmste Angst gebracht / die jemals jemand hat erdacht / Die Angst, in diese Welt / Noch Kinder auszusetzen / Und ihr bedroht bereits mein Kind / Das namenlos und ungeboren / Ihr seid nicht wert, daß Blut / Durch eure Adern fließt.“

Nein, an Mahnungen und Warnungen hat es nie gefehlt. Aber wann hören die, die angesprochen werden, schon darauf?

Die Zeit der Antikriegslieder und der Mahnungen ist vorbei. Es ist geschehen, und das ist endgültig und nicht mehr rückgängig zu machen. Jetzt muß gehandelt werden. Wenn es sein muß, hart. So hart, wie es die Verfechter der Gewaltlosigkeit noch nie getan haben. Aber es gibt gute Gründe dafür. Es muß endlich Frieden einkehren in dieser Welt, deren Geschichte zum größten Teil aus Kriegen und Gewalttaten besteht.

Ich habe, als der Befehl kam, meine Wohnung nicht verlassen. Ich sah nicht ein, warum ich es tun sollte. Die übrigen Hausbewohner begaben sich in den Keller, der maximalen Schutz bieten sollte. Ich habe das immer bezweifelt. Ich war in meiner Wohnung und habe beobachtet. Ich habe den Himmel beobachtet. Vielleicht erwartete ich, daß Feuer am Himmel sei und Rauch und Flammen. Aber es war ganz anders.

Es geschah Minuten nach dem Befehl, die Bunker und Keller aufzusuchen. Es gab weder einen Feuerball, noch einen Knall oder ähnliches, was ich erwartet hatte. Es erschienen keine Raketen am Himmel, keine Atombomber.

Es gab mehrere harte, wellenartige Erschütterungen des Bodens. Manche Häuser sackten etwas in sich zusammen, einige brachen auch auseinander, aber das waren Ausnahmen. Ich wartete lange auf weitere Anzeichen, aber das war und blieb alles. Ich konnte mir das nicht erklären. Schließlich sah ich, wie sich der Himmel verfärbte.

Er wurde zunächst grün, blau und orangefarben. Und dann war langsam festzustellen, woher die Strahlung kam. Die Strahlung kam von unten, aus den Bunkern und Kellern. Es war kein Bombenkrieg,

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jedenfalls nicht überall. Es war ein chemischer Krieg, die Strahlung drang aus den Wasserleitungen. Ich stellte das fest, nachdem ich den Wasserhahn aufgedreht hatte. In Sekundenschnelle hatte sich das Zimmer mit diesen merkwürdigen Strahlen gefüllt. Aber diese Strahlen hatten keinen schädlichen Einfluß auf mich, jedenfalls bis jetzt nicht. Aber wenn es bisher nicht geschehen ist, wird es kaum noch passieren. Ich habe fortan Wasser nur noch aus Flaschen getrunken.

Sofort nach dieser Feststellung bin ich zum Keller des Hauses gegangen. Ich wollte die Leute warnen, nicht von dem Wasser zu trinken, das da aus den Leitungen kam. Aber es war schon Zu spät. Sie hatten es zum Kochen und zum Waschen benutzt, und sie hatten es auch schon getrunken.

Es ging alles sehr schnell. Zunächst stellte sich eine Art Euphorie ein, eine rauschähnliche Stimmung, die entsteht, wenn man Rauschmittel wie LSD oder Haschisch nimmt. Aber diese Stimmung wich bald einer anhaltenden Lethargie. Auf die Lethargie folgten Depressionen und der Tod. Alle Menschen in dem Keller starben. Sie starben einen ruhigen, sanften Tod.

Ich war lange bei einer Frau, die ich gut kannte. Sie erzählte von herrlichen Farben, die sie sähe, von einem nie gekannten Glücksgefühl. Und als sie mich anblickte und sagte, sie sei noch nie so glücklich gewesen, da riß etwas in mir. Sie starb in meinen Armen. Zuletzt hat sie nichts mehr gesagt. Sie hörte auch nichts mehr. Ich weiß natürlich nicht genau, ob sie noch hören konnte, jedenfalls antwortete sie nicht mehr.

Wie ihr ging es allen Menschen in dem Bunker. Ich war der einzige, der nicht von dem Wasser getrunken hatte, und ich war der einzige, der am Leben blieb. Ich verschloß den Keller und ging wieder in meine Wohnung.

Über das, was danach geschah, fällt es mir schwer zu berichten. Es war so, als hätte ich in dem Augenblick, in dem die Frau starb, eine Bewußtseinsspaltung erlitten. Ich lebte einfach weiter wie bisher und ignorierte die Umwelt völlig. Ich war krank. Aber ich war nicht körperlich krank.

Ich weiß nicht mehr, wie lange das ging; ich weiß nicht mehr, ob es Tage oder Wochen waren. Ich hatte mich in eine Scheinwelt geflüchtet, in eine Welt, die es nicht mehr gab.

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In dieser Zeit wurde die Sonne immer blasser. Ich sah zu, wie sie sich veränderte. Die meisten Häuser begannen zu strahlen. Die Strahlung stieg und hielt sich dann an den Spitzen der Häuser und Wolkenkratzer und hing wie eine Glocke über der Stadt.

Ich muß noch einmal sagen, daß mir die Strahlung bisher nicht geschadet hat. Das einzige, was sich langsam bemerkbar macht, ist mein Magen. Ich esse ziemlich unregelmäßig, meistens nur ein- oder zweimal am Tag, und darauf muß sich der Magen erst einstellen. Außerdem habe ich mich von dem bewußten Tage an nur noch von Konserven ernährt.

An dem Tage, als es geschah, haben die Menschen ihrer Obrigkeit gehorcht und sind gestorben. Sie haben sich verkrochen und sind in ihren Löchern verendet wie kranke Tiere. Die Ratten haben in allen Städten in den Bunkern und Kellern das Regiment übernommen. Ihre Nahrung ist reichlich, sie werden nicht hungern. Ich schreibe das auf, um zu registrieren, wie ich es mir zur Aufgabe gemacht habe. Es mag zynisch klingen, aber die Wahrheit ist nicht immer angenehm und schön.

Ich habe in den ersten Tagen nach der Katastrophe unglaubliche Dinge gesehen. Manche Menschen verließen – nach dem Genuß des Wassers die Bunker und tanzten auf den Straßen vor Glück. Aber es war ein trügerisches Glück. Ein giftiges Glück, dessen Folgen in jedem Falle dieselben waren. Es kam nur auf die Konstitution des einzelnen an, wann er in die verschiedenen Stadien des Sterbens eintrat. Um den Tod kam keiner herum.

Und wenn die Menschen merkten, wie das Glücksgefühl einer allmählich stärker werdenden Lethargie wich, dann verkrochen sie sich wieder. Sie gingen wieder dahin, woher sie gekommen waren. In die Keller und in die Bunker.

Ich habe es nicht fertiggebracht, auf die Straße zu gehen und die Menschen zu warnen. Ich habe mit keinem Gedanken daran gedacht, in eine Apotheke zu gehen und irgendwelche Gegenmittel ausfindig zu machen. Ich wußte, daß es vergeblich sein würde. Ich habe wie erstarrt am Fenster gesessen und zugesehen. Und was ich da gesehen habe, hat mir den Verstand vernebelt. Heute denke ich weitaus nüchterner darüber. Aber das hat seine Zeit gedauert.

Ich muß weiter nach Westen und Menschen finden. Auf dem Lande, meine ich, muß es mehr Überlebende geben.

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Zimmermann klappte das Notizbuch zu. Er sammelte seine Sachen zusammen und machte sich bereit zum Weitermarsch. Er schritt zügig aus, obwohl er schon recht Müde war. Die Kopfwunde begann wieder zu schmerzen. Als er den kleinen Wald hinter sich hatte, wurde er von Walkers Gebell aus seinen Gedanken aufgeschreckt und drehte sich um.

Hinter, ihm war der Mann, der ihm nachgestarrt hatte, als er das Haus verlassen hatte. Und Zimmermann brauchte ihn nicht zu fragen, wie er die Strecke so schnell geschafft hatte. Denn der Mann hatte ein Fahrrad. Ein ganz gewöhnliches, altmodisches Fahrrad, auf dem er ihm nachgeradelt war.

Der Mann trug keine Waffe, jedenfalls nicht sichtbar. Zimmermann entsicherte trotzdem die MPi und trat auf ihn zu. „Was wollen Sie noch von mir?“ „Ich will mit Ihnen reden.“ „Ich wüßte nicht, was wir noch zu bereden hätten“, sagte

Zimmermann. „Ich habe vorhin überlegt, wer Sie sind“, sagte der Mann. „Jetzt

weiß ich es. Sie sind Robert Zimmermann. Ich kenne Sie. Ich habe Sie schon mal gesehen.“

Zimmermann hob die Augenbrauen. „Meinetwegen“, sagte er, „was ändert das? Nichts.“ „Ich habe Sie auf irgendeinem Empfang in der Stadt gesehen“, sagte

der Mann. „Warum bleiben Sie nicht bei uns? Werfen Sie Ihre Moral über Bord, damit kommen Sie nicht weit. Ziehen Sie mit uns, wir sind zusammen stärker als Sie allein.“

Zimmermann lächelte müde. „Sehen Sie“, sagte er, „Sie sind nicht unsympathisch. Gerade

deswegen frage ich mich, was Sie bei diesen Burschen verloren haben. Versuchen Sie nicht, mich umzustimmen, es ist sinnlos. Mit Verbrechern will ich nichts zu tun haben.“

„Ich habe Zeit“, sagte der Mann, „und Sie auch. Wir haben jetzt alle viel Zeit. Wir haben so viel Zeit wie noch nie zuvor. Ich will Sie davor bewahren, daß Sie an der nächsten Ecke umgelegt werden; denn Sie allein werden nicht jedesmal mit so einer Situation fertig wie diesmal. Sie sind nicht der Typ dazu. Sie sind kein Killer.“

„Aber darum geht es doch gar nicht“, sagte Zimmermann. „Worum denn wohl sonst?“ fragte der Mann.

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„Sie haben nur halb recht. Entscheidend bleibt für mich, daß ich mich nicht mit Ihrer Bande einlassen will. Ob wir uns nun von früher kennen oder nicht.“

„Na schön. Dann lassen Sie mich mit Ihnen kommen.“ „Nein.“ „Warum denn nicht?“ „Ich will es nicht.“ „Passe ich Ihnen nicht, weil ich zu dieser Bande gehört habe? Ich bin

nicht dabeigewesen, als man Sie überfallen hat.“ „Nein?“ „Nein!“ „Ich will es trotzdem nicht.“ „Aber warum nicht?“ Zimmermann überlegte einen Augenblick. Er wußte sehr gut, warum

er es nicht wollte. Er wollte nicht, weil er dem Mann nicht vertraute. Er fürchtete sich davor, mit dem Mann zu kämpfen. Er fürchtete sich davor, mit dem Mann um die Waffe zu kämpfen. Er fürchtete sich nicht vor dem Kampf. Das nicht mehr. Aber er fürchtete sich davor, daß er dann diesen Mann töten mußte. Diesen Mann, der ihm nicht unsympathisch war.

„Ich vertraue Ihnen nicht“, sagte Zimmermann. „Und jetzt gehen Sie wieder. Wir passen nicht zusammen. Vielleicht irre ich mich. Möglich. Aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen.“

„Na schön“, sagte der Mann, „dann eben nicht. Aber Sie werden noch an mich denken, glauben Sie mir das.“

„Möglich“, sagte Zimmermann. Der Mann wandte sich wortlos um und radelte zurück. Zimmermann

wartete noch eine Weile, um festzustellen, ob der Mann auch nicht zurückkäme, dann ging auch er weiter.

Gegen Abend erreichte er ein Haus. Er hatte schon von weitem gesehen, daß Licht brannte. Zimmermann hatte vorgehabt, das Haus vorsichtig zu umkreisen, um festzustellen, wieviel Menschen in dem Haus waren, aber das gelang ihm nicht. Als er sich dem Haus bis auf etwa hundert Meter genähert hatte, kläffte ein Hund los. Und Walker hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihm zu antworten.

Zimmermann entsicherte die MPi. Im Hausflur flammte Licht auf. Die Tür wurde aufgestoßen. In der

geöffneten Tür stand ein alter Mann mit einer Schrotflinte, die

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mindestens genauso alt war wie er. Der Lichtschein fiel direkt auf Zimmermann.

Der alte Mann blinzelte zu ihm herüber. Zimmermann hätte ihn mit einem Schuß töten können.

„Kommen Sie näher und nehmen Sie die Arme hoch“, sagte der alte Mann, „ich kann Sie so nicht richtig sehen.“

Der gespannte Ausdruck in Zimmermanns Gesicht wich einem Lächeln.

Er trat näher, ohne die Arme hochzuheben. „Sie sollen die Arme hochheben, habe ich gesagt. Was haben Sie

denn da in der Hand.“ „Das ist eine Maschinenpistole“, sagte Zimmermann. „Wenn Sie

Ihren Schießprügel beiseite tun, lege ich sie auch weg.“ „Ich denke nicht daran, das ist mein Haus“, sagte der Alte. Zimmermanns Lächeln verstärkte sich. „Dann eben nicht“, sagte er und ging ruhig weiter. „Bleiben Sie, wo Sie sind, ich will hier kein Gesindel haben!“ „Ich bin nicht von der Sorte“, sagte Zimmermann und sicherte die

MPi. „Reicht Ihnen das?“ Er hängte sich die MPi über die Schulter. „Das sagen alle.“ „Sehen Sie mich an“, sagte Zimmermann. „Du lieber Himmel“, sagte der Alte, „glauben Sie vielleicht, Sie

sehen besonders vertrauenerweckend aus?“ Er starrte auf Zimmermanns Kopfwunde. „Ach ja“, sagte Zimmermann, „das hatte ich ganz vergessen. Ich bin

unterwegs mit ein paar Leuten aneinandergeraten.“ „Das ist nicht zu übersehen“, sagte er Alte. „Darf ich vielleicht hereinkommen und mir die Wunde

auswaschen?“ Der Alte knurrte. Schließlich winkte er mit dem Gewehrlauf. „Gehen Sie vor“, sagte er, „links herein.“ Walker wischte an ihnen vorbei und war als erster im Haus. Zimmermann trat in das Zimmer. Es war einfach eingerichtet. In

einer Ecke, in einem Sessel, saß ein junger Mann und sah ihn erwartungsvoll an.

„Guten Abend“, sagte Zimmermann und setzte sich unaufgefordert. Der Alte nahm ihm gegenüber Platz und hielt das Gewehr weiter auf

ihn gerichtet. Walker spazierte schnüffelnd im Zimmer umher.

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„Mick, setz heißes Wasser auf, der Herr hier ist verletzt.“ „Ich heiße Zimmermann, Robert Zimmermann.“ Der junge Mann, der schon aufgestanden war, blieb überrascht

stehen. „Der Schriftsteller Zimmermann? Das sind Sie?“ Zimmermann lächelte und nickte. „Sie habe ich mir aber ganz anders vorgestellt“, sagte der junge

Mann. „Ich heiße Mick, Mick Jagger, aber eigentlich heiße ich Michael Jonathan, nur nennt mich so niemand. Das ist mein Großvater.“

Zimmermann deutete eine Verbeugung an. Der Alte legte zögernd die Schrotflinte beiseite. „Schreiber sind Sie also“, brummte er. „Sie werden mir das von

vorhin nicht weiter übelnehmen. Man weiß nie, wer sich jetzt hier herumtreibt.“

„Ich verstehe Sie ganz gut, leider muß ich Ihre Erfahrung bestätigen.“

„Was haben Sie vor, wo wollen Sie jetzt hin?“ fragte der Alte. „Ich will weiter. Genau weiß ich selbst noch nicht, wohin. Ich will

Menschen finden, denen ich mich anschließen kann.“ „Ich verstehe. Wenn ich jünger wäre, würde ich mitkommen.“ Zimmermann schwieg. „Sehen Sie, ich habe das Haus hier, und ich habe Mick, meinen

Enkel. Ich könnte auch gar nicht mehr von hier weggehen. Ich bin zu alt dazu. Ich kann nicht noch mal von vorn anfangen. Das ist was für die Jugend. Ich bin zu alt dazu.“

„Sie werden es nicht leicht haben“, sagte Zimmermann, „überall im Land treiben sich jetzt Banden herum. Ich weiß nicht, ob Sie sich immer verteidigen können.“

Der Alte seufzte. „Ich weiß, ich weiß“, sagte er. Der junge Mann kam mit einer Schüssel voll heißem Wasser. Er

stellte sie auf den Tisch und gab Zimmermann einen Lappen. „Danke“, sagte Zimmermann, „ich mache das lieber allein.“ Die Wunde brannte, als er sie auswusch. „Da haben Sie sich aber wirklich ein ganz schönes Ding

eingehandelt“, sagte der junge Mann. Zimmermann verzog das Gesicht.

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„Das kann man wohl sagen“, sagte er grimmig. „Soll ich Ihnen ein Heftpflaster geben?“ „Wenn Sie eins haben, gern!“ Der junge Mann verließ das Zimmer wieder. „Ich weiß, was er denkt“, sagte der Alte, „er wird Sie gleich fragen,

ob Sie ihn mitnehmen wollen.“ „Und was halten Sie davon?“ fragte Zimmermann. „Ich weiß es nicht“, sagte der Alte. Er starrte nachdenklich vor sich hin. „Haben Sie Hunger?“ „Ein bißchen schon, vor allen Dingen der arme Walker.“ Er klopfte dem Hund auf den Rücken. „Hier ist das Heftpflaster.“ „Danke.“ Zimmermann klebte es fest. Sie saßen zusammen und unterhielten sich noch bis tief in die Nacht

hinein. Zimmermann genoß es, wieder mit Menschen zu reden. Er erzählte, was er bisher erlebt hatte, und er hatte zwei aufmerksame Zuhörer. Als Zimmermann ins Bett ging, war er fast heiter gestimmt. Walker rollte sich vor seinem Bett zusammen und grunzte zufrieden.

Am nächsten Morgen weckte ihn strahlender Sonnenschein. Zimmermann war mit einem Satz aus dem Bett, wusch sich und zog sich an. Unten erwartete ihn schon der alte Mann.

„In der Nacht war jemand hier“, sagte er. „Sie haben meinen Hund erschlagen. Ich weiß nicht, wie sie es fertiggebracht haben, daß er still geblieben ist.“

Zimmermann setzte sich. „Ich habe Ihnen gesagt, daß es nicht einfach für Sie werden wird“,

sagte er. „Wie soll es denn nun weitergehen?“ fragte der Alte. „Ich weiß es nicht“, sagte Zimmermann. „Eigentlich können Sie

nicht hierbleiben. Aber mitnehmen kann ich Sie nicht. Das werden Sie verstehen. Die Strapazen werden zu groß für Sie sein.“

„Ich will nicht mit Ihnen kommen“, sagte der Alte, „obwohl ich keinen Augenblick zögern würde, wenn ich jünger wäre. Ich habe Ihnen das gestern schon gesagt.“

Zimmermann nahm seinen Rucksack und packte ein paar Konserven aus.

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„Ich bitte Sie“, sagte der Alte. „Wir haben doch noch genug, lassen Sie Ihre Sachen, wo sie sind. Sie werden sie dringender brauchen als wir.“

Zimmermann sah ihn an. „Robert, ich bitte Sie herzlich: Nehmen Sie den Jungen mit! Ich

kann hier nicht mehr für ihn sorgen. Ich bin selbst schon so alt, daß ich eigentlich eine Stütze brauchte. Aber dazu ist er zu jung. Ich kann und will das nicht von ihm verlangen. Nehmen Sie ihn mit!“

Zimmermann hatte das erwartet. „Ich tue es gern“, sagte er herzlich und griff nach seiner Hand. „Wissen Sie, er ist ein guter Junge, er wird Ihnen keine

Schwierigkeiten machen. Seine Eltern waren in der Stadt, als es passierte. Er verbringt immer seine Ferien bei mir.“

Seine Stimme wurde brüchig. „Ich verstehe“, sagte Zimmermann. „Fragen Sie ihn, wenn er kommt. Wir wollen nicht über seinen Kopf

hinweg entscheiden.“ Als sie beim Essen saßen, fragte Zimmermann unvermittelt: „Mick, ich habe eben mit Ihrem Großvater gesprochen; wollen Sie

mit mir kommen?“ Der junge Mann sah überrascht hoch. „Ich habe daran gedacht“, sagte er zögernd, „aber was wird aus

Großvater, wenn ich fort bin?“ „Es geht in erster Linie um dich“, sagte der Alte, „mach dir um mich

keine Sorgen. Ich komme hier schon zurecht. Genug zu essen ist da, ich habe ein Dach über dem Kopf, mehr brauche ich nicht. Geh mit ihm! Das ist ein guter Mann, Mick. Der läßt sich nicht so schnell unterkriegen. Vielleicht sehen wir uns später einmal wieder.“

Aber er wußte natürlich, daß sie sich nicht wiedersehen würden. Sofort nach dem Essen begannen sie, ihre Sachen zu packen.

„Nehmen Sie nur das Nötigste mit“, sagte Zimmermann, „wir haben einen weiten Weg, es wird Ihnen noch sauer genug werden.“

„Ich habe eine Überraschung für Sie“, sagte Mick. Zimmermann sah ihn an und lächelte. „So?“ „Ich habe einen Wagen!“ „Das ist gut, aber er wird uns nicht viel nützen.“ „Ich weiß schon, was Sie meinen; aber auch dafür ist gesorgt. Ich

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habe noch ein paar volle Benzinkanister. Auf dem Lande finden wir sicher auch noch ein paar Tankstellen, die Vorräte haben. Aber bis wir da sind, haben wir genug von dem Zeug.“

„Na wunderbar. Das ist eine gute Überraschung!“

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4.

Die Abendsonne tauchte die Stadt in ein mildes, rötliches Licht. Es war eine kleine Stadt. Die Häuser und Straßen zeigten schon erste Verfallserscheinungen. Auf den Bürgersteigen lag Putz von den Häusermauern, die Straßen waren an manchen Stellen aufgequollen und aufgebrochen wie nach starkem Frost, manche Häuser standen schief wie nach einem Erdrutsch, auf den Dachziegeln hatte sich Moos angesetzt, und manche Ziegel waren vom Dach heruntergerutscht und auf die Straße gefallen. In der Luft hing ein Geruch, der an Verwesung und Verfall erinnerte.

Einige Vorgärten längs der Hauptstraße verrieten, daß hier noch Menschen wohnten; sie waren bestellt worden. Unter den Dachrinnen standen Regentonnen. Sie waren nur halb voll. Es hatte lange nicht mehr geregnet.

Die Geschäfte an der Straße waren stark beschädigt. Die Schaufensterscheiben waren zersplittert, die Scherben lagen auf dem Bürgersteig, Türen waren aufgebrochen worden und hingen windschief in den Angeln. Die Lebensmittelgeschäfte waren vollständig ausgeräumt worden; übriggeblieben waren nur Wasch- und Putzmittel.

Die Stadt wurde durch eine mit Dieselmotoren angetriebene Kraftstation mit Energie versorgt. Von dort aus ging der Strom über die Transformatoren zu den einzelnen Häusern.

Die Station war noch in Betrieb. In einigen Häusern brannte Licht. Die Läden waren nicht geschlossen. Aus mehreren Schornsteinen quoll Rauch.

In dieser Stadt gab es zwanzig Überlebende. Und es waren zwanzig Männer. Der Zufall hatte sie zusammengeführt. Die zwanzig Männer waren so verschieden, daß sie unter normalen Umständen sicher nicht zusammengelebt hätten.

Als Anführer galt Richard Milton, und auch das war ein Zufall. Milton hatte seit seiner Kindheit in dieser Stadt gelebt. Außer Milton stammte nur noch der alte Smitty aus der Stadt, die anderen waren auf ihren Streifzügen hier vorbeigekommen und waren geblieben. Die übrigen Einwohner der Stadt waren alle tot. Der Fluß hatte ihre Leichen aufgenommen und mit der Strömung weggeschwemmt.

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Milton und Smitty hatten sie zum Fluß geschafft. Sie fürchteten sich vor einer Seuche; und zum Gräberschaufeln war keine Zeit mehr gewesen. Es war keine angenehme Arbeit, tagelang Leichen zum Fluß zu bringen, und Milton war alles andere als ein hartgesottener Typ.

Smitty besaß einen Waffenladen, und als die Fremden in die Stadt kamen, war es nur logisch, daß die beiden sich zusammentaten und die Waffen im Keller eines einbruchsicheren Hauses versteckten. Sie hatten sich auch einen reichen Lebensmittelvorrat angelegt. Deshalb ließen sie die Herumtreiber auch ruhig plündern. Die Konservenvorräte lagerten in Miltons Keller. Die Kühlschränke funktionierten noch, verderben konnte nichts.

Trinkwasser holten sie aus einer Quelle am Fuße des Berges, der gleich vor der Stadt begann. Und wenn die Rohre im Winter nicht vor Kälte platzen würden, hätten sie noch für lange Zeit gutes Wasser.

Die Gruppe der Überlebenden wuchs in wenigen Wochen zu einer zwanzig Mann starken Truppe. Jeder akzeptierte Milton als Anführer, obwohl ihm diese Rolle gar nicht behagte. Aber er traute keinem dieser Neuankömmlinge so sehr, daß er den Posten an ihn abgetreten hätte.

Milton dachte oft darüber nach, was aus ihnen werden sollte. Er wußte, daß sie alle zum Aussterben verurteilt waren, denn es gab nicht eine Frau in der Stadt. Vielleicht aber war das gut so, es würde nur Reibereien geben. Aber er hatte auch daran gedacht, eine kleine Expedition zusammenzustellen und auf die Suche nach Frauen zu gehen. Er fühlte sich verantwortlich dafür, daß das Leben hier weiterging. Der einzige, dem er seine Sorgen anvertraute, war Smitty.

Sie saßen in Smittys Haus. Das Kaminfeuer flackerte und hielt den Raum warm.

„Du wirst auf die Dauer nicht darum herumkommen“, sagte Smitty in Gedanken versunken.

„Warum?“ „Um das Frauenproblem, Dick!“ „Ich weiß ja nicht mal, ob es überhaupt noch Frauen gibt,

geschweige denn, wo.“ „Schon richtig. Aber warum sollten Frauen nicht gegen Strahlung

immun sein? Nein, es gibt bestimmt noch welche.“ Milton stieß nachdenklich die Luft aus. „Sicher! Bleibt nur noch das Problem, wo wir mit der Suche

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anfangen könnten. Wir können doch nicht gut auf blauen Dunst losgehen.“

Smitty zupfte sich nachdenklich an seinem Kinnbart. Er tat das immer, wenn er intensiv über etwas nachdachte.

„Jackville liegt hinter den Bergen. Wir haben keine Ahnung, was da los ist. Wir leben hier völlig isoliert. Eine Radioverbindung gibt es nicht mehr. Ich frage mich nur: Sollen wir den jetzigen Zustand wirklich ändern? Was wird dabei herauskommen?“

„Wenn wir weiterleben wollen, Smitty, müssen wir es tun.“ Smitty nickte langsam und bearbeitete seinen Kinnbart. „Wenn die Menschen ihre Steinzeithöhlen nicht verlassen hätten,

gäbe es uns heute nicht. Allerdings gäbe es auch keinen Krieg.“ „Wenn du so denkst, können wir uns ja gleich aufhängen!“ Smitty winkte ab. „Was ich meine, ist folgendes: Wenn wir jetzt Frauen finden und mit

ihnen Kinder zeugen, dann schaffen wir den Keim eines neuen Krieges.“

»Du hältst wenig von den Menschen, nicht wahr?“ „Im Gegenteil Dick, ich liebe sie. Deswegen möchte ich verhindern,

daß es noch einen Krieg geben wird.“ „Du kannst das nicht verhindern, und du weißt es auch. Nein,

Smitty, wir müssen handeln, wir müssen Frauen suchen.“ „Ist dir wohl dabei, mit dieser Meute loszuziehen?“ „Ganz und gar nicht. Aber es bleibt mir nichts anderes übrig.“ „Was glaubst du, wie diese Männer reagieren werden, wenn ihr

tatsächlich Frauen findet; Frauen, die vielleicht nicht ungebunden sind. Glaubst du etwa, die kümmern sich darum? Hast du daran schon mal gedacht?“

„Ich habe daran gedacht. Und mir ist gar nicht wohl dabei. Aber das ändert nichts an der grundsätzlichen Überlegung.“

„Dein Entschluß steht fest?“ „Schweren Herzens: ja!“ „Dann wirst du die Unterstützung sämtlicher gutgesinnter Götter

brauchen, mein Lieber. Und zwar dringend!“ „Weiß ich, weiß ich, Smitty.“ Es klopfte an der Tür. „Herein“, sagte Milton. Als der Mann den Raum betreten hatte, sagte Smitty spöttisch:

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„Ah, unser Freund McHary! Du klopfst doch eigentlich nur an, wenn du vorher gelauscht hast, oder?“

McHary sah ihn nicht gerade freundlich an. Er ging ein paar Schritte im Raum umher, dann ließ er sich schwer in einen Stuhl fallen.

Milton wollte die peinliche Situation abkürzen. „Vielleicht ahnst du schon, worum es geht“, sagte er, „wir haben

darüber nachgedacht, daß wir Frauen brauchen.“ „Das rede ich doch schon lange“, sagte McHary. „Ich weiß“, sagte Milton, „aber es wird nicht ganz so einfach sein,

wie du dir das vorstellst; wir wissen ja nicht mal, wo es welche gibt.“ „Wenn wir aber weiter hier sitzenbleiben und herumreden, wissen

wir es erst recht nicht!“ „Stimmt, stimmt. Wir werden morgen aufbrechen. Wir werden uns

auf keinen Fall länger als einen Tag aufhalten.“ McHary grunzte beifällig. Er zündete sich eine Zigarette an und

stand auf. „Wo willst du hin?“ fragte Milton. McHary drehte sich langsam um. „Hinausgehen und es den Männern sagen. Es ist ja schließlich ein

erfreuliches Ereignis, daß du dich mal zu etwas entschließt, oder?“ „Das wirst du nicht tun“, sagte Milton fest. „Warum denn nicht, zum Teufel?“ „Ich will nicht, daß voreilige Hoffnungen geweckt werden!“ „Das heißt also, daß auch keine Waffen verteilt werden?“ „Genau das! Wir brechen morgen auf, als sei es eine übliche

Erkundungstour. Und es ist ja auch nicht mehr.“ McHary schlug wortlos die Tür hinter sich zu. Milton starrte schweigend zu Boden. Nach einer Weile sah er Smitty

an und fragte: „Glaubst du, daß er dicht hält?“ „Nein. Der hat nichts Eiligeres zu tun, als das hinauszuposaunen.

McHary wartet doch schon lange auf eine Gelegenheit, die Männer auf seine Seite zu ziehen.“

Richard Milton schwieg. Er wußte, daß es so war, und er wußte auch, warum.

Smitty kratzte sich umständlich den Hinterkopf. „Warst du schon mal in Jackville?“ fragte er nach einer Weile. „Früher schon. Zum Einkaufen.“

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„Es kann doch sein, daß dort auch welche übriggeblieben sind.“ „Sicher. Aber warum haben sie sich dann nicht gemeldet?“ „Haben wir uns denn schon gemeldet?“ „Stimmt“, sagte Milton, „du hast recht, wir reagieren alle gleich. Sie

haben sich aus demselben Grund nicht gemeldet wie wir. Du meinst, wir sollten morgen dort hinfahren?“

„Auf jeden Fall. Wenn du nur einen Tag unterwegs sein willst, ist Jackville die einzige Möglichkeit, überhaupt jemanden anzutreffen.“

„Okay. Miller soll den Lastwagen auftanken.“ Sie saßen noch lange zusammen. Das Feuer im Kamin war fast

erloschen. Nur die dicken Holzscheite glühten noch. „Ich glaube, wir machen Schluß für heute“, sagte Smitty. „Es ist

besser, ihr brecht morgen so früh wie möglich auf. Man kann nie wissen, was euch unterwegs alles begegnet.“

„Du willst nicht mitkommen?“ „Ich bleibe lieber bei den Waffen. Ich habe so ein merkwürdiges

Gefühl.“ „Warum sollte ausgerechnet jetzt etwas passieren? Bis jetzt ist doch

alles gutgegangen.“ „Nichts ist gutgegangen, und du weißt es. Vergiß nicht, Miller

Bescheid zu sagen!“ „Du hast recht.“ Milton stand auf. Smitty gab ihm die Schlüssel. „Eigentlich möchte ich morgen ein paar Gewehre mehr mitnehmen.“ „Würde ich nicht tun. Die Männer könnten auf dumme Gedanken

kommen.“ Milton seufzte. „Na schön“, sagte er. Und dann ging er hinaus. Die Männer saßen um ein Lagerfeuer auf dem kleinen Marktplatz

herum und rauchten und diskutierten. McHary saß stumm vor dem Feuer und starrte in die Flammen. Will McHary war ein großer Mann. Seine irischen Vorfahren hatten ihm die körperliche Konstitution und die roten Haare vererbt. In seinem großen Schädel war kein Platz für komplizierte Gedankengänge. Will McHary hielt nicht viel vom vielen Reden; er zog Taten vor. Aber wie es oft ist bei Männern wie McHary: Er handelte meistens, bevor er über etwas nachdachte. Das hatte ihm schnell den Ruf eines Rauhbeins eingetragen, wo immer er auch war. McHary war früher Transportarbeiter gewesen. Er konnte

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nicht lange zuhören, wenn über etwas geredet wurde. Wenn man gar nicht auf ihn hören wollte, wenn ihn niemand beachtete, dann stand Will McHary einfach auf und löste das Problem mit seinen Fäusten. McHary hatte in der letzten Zeit viel erlebt, was ihn verwirrt hatte. Aber, wie gesagt, er war nicht der Typ, der lange über etwas nachdachte. Nach einigen erfolglosen Versuchen, sich ein neues Weltbild zurechtzuzimmern, war er einfach bei seinen alten Vorstellungen geblieben. Und er hatte sich auch bis jetzt ganz gut damit durchgesetzt. Bis er hierher kam. In diese kleine Stadt. Er hatte hier Männer gefunden, bei denen er bleiben wollte. Aber er war auch auf Richard Milton gestoßen, einen Mann, den er aus ganzem Herzen verachtete. Milton, das stand für McHary fest, war ein Schwächling und ein Schwätzer. Anstatt die Probleme direkt anzupacken, redete er stundenlang herum. McHary war davon überzeugt, daß er einen viel besseren Anführer abgeben würde als Richard Milton. Aber Milton und der alte Smitty hatten die Waffen. Und sie hielten eisern den Daumen darauf. McHary dachte daran, wie er das ändern könnte. Und da er kein Freund langen Nachdenkens war, kam er bald zu dem Schluß, daß man sie ihnen einfach wegnehmen mußte. Er fand, daß er schon viel zu lange gewartet hatte.

„Sag doch auch mal was, McHary!“ „Was soll ich denn sagen, ihr redet doch schon die ganze Zeit!“ „Na, ich meine, was sollen wir machen, wenn wir Frauen treffen,

und Milton läßt uns nicht ran!“ McHary grinste. „Glaubst du, da frage ich ihn lange?“ Die Männer lachten laut auf. „Recht so, Will“, sagte einer. „Ich habe sowieso schon die Nase voll

von der ewigen Bevormundung.“ „Der Bursche hat die Gewehre“, sagte ein anderer, „vergeßt das

nicht!“ „Die hat er nicht mehr lange“, sagte McHary grimmig, „verlaßt euch

darauf!“ „Mensch, ich hätte Lust, Sultan zu spielen“, sagte ein anderer

verträumt, „nach der langen Zeit! Das würde ein Fest!“ McHary sah ihn von der Seite an. Der Mann wich seinem Blick aus. „Ich meine ja nur“, sagte er zögernd, „die anderen denken auch so.“ „Du hältst die Schnauze!“ sagte McHary scharf. „Damit das ein für

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allemal klar ist: Was gemacht wird, das bestimme ich! Ich sage euch schon rechtzeitig, wann es losgeht. Und jetzt quatscht nicht stundenlang herum. Haut euch in die Falle. Morgen müssen wir früh raus.“

Damit stand er auf und verließ das Lagerfeuer. „So einen brauchen wir“, sagte Miller, als McHary außer Sicht war.

„So einen, und nicht so eine Flasche wie Milton. Der weiß wenigstens, was er will.“

„Weiß er auch, was wir wollen?“ fragte ein anderer. „Wir können uns auf ihn verlassen“, sagte Miller. „Das ist so sicher

wie das Amen in der Kirche!“ „Amen“, sagte der andere. „Jetzt wißt ihr’s.“ Damit gingen die Männer schlafen. Am nächsten Morgen ging Milton sofort zu Smitty. Der Alte schlief

noch, als er eintrat. Er rüttelte ihn an der Schulter. „He, wach auf, Smitty“, sagte er, „ich habe es mir überlegt.“ Smitty drehte sich herum und rieb sich die Augen. „Was, zum Teufel, hast du dir überlegt? Kannst du einen alten Mann

nicht in Ruhe ausschlafen lassen?“ Milton lachte. „Smitty, du mußt mitkommen“, sagte er, „ich möchte unbedingt, daß

du mitkommst.“ „Warum denn? Einer muß doch hier bei den Waffen bleiben!“ „Schließ den Keller zu und komm mit. Ich möchte, daß einer bei den

Männern bleibt, wenn ich mit den Leuten in Jackville verhandeln muß. Ich will an die anderen keine Waffen austeilen. Es genügt, wenn wir beide bewaffnet sind.“

Smitty richtete sich auf. „Du traust den Männern nicht.“ Es klang nicht wie eine Frage. Es war auch keine. Smitty hatte eine

nüchterne Feststellung gemacht. Und Milton antwortete nicht darauf. Er wußte, daß er darauf nicht zu antworten brauchte.

„Beeil dich“, sagte er nur. „Okay, okay“, murmelte der Alte, „ich bin ja schon fertig.“ Milton ging hinaus und suchte die Männer aus, die mitkommen

sollten. „Miller, ist der Wagen aufgetankt?“ „Alles klar, Boß“, sagte Miller. Und alle konnten den unterdrückten

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Spott hören, der in den Worten lag. McHary grinste zufrieden vor sich hin. „Ich habe sogar noch Ersatzreifen aufgetrieben.“

„Gut“, sagte Milton, „in einer halben Stunde brechen wir auf. Macht euch fertig.“

Er drehte sich um und wollte zu Smitty zurückgehen. „Milton“, sagte McHary träge, „Milton, willst du nicht noch etwas

sagen, hast du auch nichts vergessen?“ „Was soll ich denn vergessen haben?“ „Willst du uns etwa nackt aufbrechen lassen? Willst du uns

unbewaffnet losschicken?“ Milton holte tief Luft. „Smitty und ich werden bewaffnet sein. Das genügt. Schließlich

fahren wir nicht auf die Jagd.“ „Gib mir ein Gewehr“, sagte McHary, „der Alte kann es ja kaum

noch halten.“ „Du wirst dich wundern, wie gut ich das noch halten kann,

McHary“, sagte Smitty aus dem Hintergrund, „und wenn es mir zufällig einmal losgehen sollte, McHary, wirst du nicht mehr lange Zeit haben, dich darüber zu wundern, wie gut ich noch zielen kann. Ich habe nämlich noch ganz gute Augen für mein Alter. Hast du mich verstanden, McHary?“

McHary knurrte etwas Unverständliches und ging fort. Milton sah Smitty dankbar an. „Das geht nicht immer so gut aus, Richard“, sagte Smitty leise, daß

es die anderen nicht hören konnten. Richard Milton schwieg. Die Straße nach Jackville war voller Schlaglöcher. Der Wagen

rumpelte und schaukelte dahin. Die Männer, die hinten auf dem Wagen saßen, fluchten lautstark vor sich hin. Aber Milton und Smitty, die mit dem Fahrer in der Kabine saßen, hörten das nicht. Miller tat sein Möglichstes, den Schlaglöchern auszuweichen, aber es waren zu viele. Smitty und Milton hatten sich Maschinenpistolen umgehängt. Als Smitty sich umdrehte, stieß er mit dem Lauf gegen die Tür.

„Hoffentlich kriegen wir keine Panne“, sagte er und sah hinaus auf die Straße.

„Wir haben doch Ersatzreifen!“ „Aber es würde uns unnötig aufhalten.“ „Rechnest du damit, daß wir in Jackville niemanden antreffen?“

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„Möglich. Dann müssen wir eben weiterfahren.“ Sie fuhren nicht besonders schnell. An der Straße standen verlassene

Wohnhäuser und Farmen. Auf den Feldern wuchs Unkraut. Das Korn war überreif und hing an vielen Stellen schwer zu Boden. Ein umgestürzter Traktor versperrte die Zufahrt zu einem Hof. Gelegentlich kamen sie an Rindern vorbei. Die Tiere scheuten, als sie das Motorengeräusch hörten.

Als sie die Steigung hinaufgefahren waren und die Paßhöhe erreicht hatten, ließ Milton anhalten. Er stieg aus und ging ein Stück vor. Jackville lag tief im Tal vor ihm. Dicht unterhalb des Sattels begann der Wald. Viele Bäume waren vertrocknet, andere wieder bekamen zum zweitenmal in diesem Jahr Blätter. Die Natur war durcheinandergeraten.

„Am besten lassen wir den Wagen hier stehen“, sagte Smitty, „wenn wir durch den Wald gehen, kommen wir ziemlich nahe an den Ort heran.“

„Du meinst, sie sehen uns dann nicht sofort?“ „Genau.“ „Du weißt, daß ich auf keinen Fall eine Schießerei will, Smitty.“ „Sicher. Trotzdem ist es besser, wenn wir es so machen. Wer weiß,

wie die reagieren.“ Smitty starrte angestrengt in das Tal hinab. „Da ist doch was“, sagte er. Milton beugte sich vor. Auf dem Feld neben der Hauptstraße bewegten sich dunkle Punkte. Milton ging noch ein paar Schritte vor und blickte durch das

Fernglas. Er drehte an der Stellschraube. Plötzlich zog er scharf die Luft ein. Er ging zu Smitty zurück.

„Da unten sind Frauen“, sagte er heiser. Smitty schien nicht sonderlich gerührt. „Wann gehen wir?“ fragte er nur. „Jetzt gleich. Smitty, du gehst mit mir vor. McHary, du folgst uns

mit den anderen!“ Miller lief schnell zum Wagen und nahm den Verteilerkopf heraus.

Sie gingen los. Das Unterholz war nicht sehr dicht, aber es bot genug Deckung. Die Männer bewegten sich im Gänsemarsch, und da das Gelände leicht abfiel, kamen sie schnell vorwärts. Nach einer halben Stunde hatten sie den Waldrand erreicht. Die ersten Häuser von

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Jackville waren keine zweihundert Meter mehr entfernt. Die Menschen, die auf dem Feld arbeiteten, konnten sie deutlich erkennen.

„Teufel“, sagte McHary, „das sind ja Frauen!“ Milton sah ihn warnend an. „Was hast du denn, deswegen sind wir doch schließlich gekommen,

oder?“ knurrte McHary. Smitty kam ein paar Schritte zurück. Er bearbeitete seinen Kinnbart. „Hör mal gut zu, du Riesenbaby“, sagte er und legte ihm dabei die

Hand auf die Schulter, „natürlich sind wir deswegen gekommen. Aber selbst du wirst dir doch ausrechnen können, daß ihre Männer nicht weit sind, nicht wahr? Wenn du auch nur einen Funken Verstand unter deinen roten Haaren hast, dann wirst du den Frauen dort keinen zweiten Blick schenken, klar? Und ich will dir auch sagen, warum du das tun wirst. Du wirst es tun, weil wir selbst Frauen genug bei uns haben, klar?“

McHary sah ihn einen Augenblick verständnislos an. Dann leuchtete sein Gesicht auf.

„Du meinst…“ „Sicher. Die Männer brauchen ja nicht unbedingt zu wissen, warum

wir gekommen sind, nicht wahr. Bis jetzt, mein Lieber, wissen wir nämlich noch nicht, wie ihre Bewaffnung ist.“

McHary sah ihn bewundernd an. „Du bist auch nicht von gestern, was?“ „Da kannst du Gift drauf nehmen“, sagte Smitty trocken. „Aber“, sagte McHary, „dieses komplizierte Hin und Her hätten wir

uns glatt sparen können, wenn uns dein Freund Milton ein paar Feuerspritzen gegeben hätte!“

„Halt jetzt endlich deine große Klappe“, sagte Smitty scharf. „Was Milton sagte, das wird auch getan, klar?“

„Los, wir gehen jetzt weiter“, sagte Milton. Sie erreichten einen Feldweg, der zur Hauptstraße hinabführte. Als

sie an den Feldern vorbeikamen, winkten die Frauen ihnen zu. Das war alles.

„Mensch“, sagte McHary, „Mensch, seht euch das an, sie winken uns zu. Die tun so, als hätten sie nur auf uns gewartet.“

„Warte erst mal ab“, sagte Miller. „Ich bin da nicht so sicher.“ McHary blieb stehen und starrte unverwandt zum Feld hinüber. „Los, los, weiter“, sagte Milton hastig. Er fürchtete, McHary könnte

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ihre Absichten verraten. Sie gingen weiter auf die kleine Stadt zu. Als sie die ersten Häuser

fast erreicht hatten, kamen ihnen drei Männer auf der breiten Straße entgegen. Sie gingen betont langsam. Sie waren bewaffnet mit doppelläufigen Jagdflinten, die sie lässig im Arm trugen.

Milton und Smitty gingen ruhig weiter, bis sie den Fremden gegenüberstanden.

„Hallo“, sagte Milton. „Hallo“, erwiderte einer der Männer. Er mochte an die fünfzig oder

sechzig Jahre alt sein. Er hatte graue Haare und ein kantiges, hartes Gesicht. Die beiden anderen Männer waren jünger. Sie sagten kein Wort und starrten die Fremdlinge unverwandt an.

„Wo kommt ihr her?“ fragte der Ältere. Milton zeigte zum Paß. „Wir leben auf der anderen Seite. Ein Wunder, daß wir noch nichts

voneinander gemerkt haben.“ „Soso“, sagte der Mann. An seinem Tonfall war nicht zu erkennen,

wie er das meinte. Sein Gesicht blieb unbewegt. „Und wir haben uns, ehrlich gesagt, auch gar nicht vorstellen

können, daß hier noch jemand lebt“, sagte Milton weiter. Gleichzeitig ärgerte er sich darüber. Der Mann mußte merken, daß das eine Verlegenheitsbemerkung gewesen war. Und Bemerkungen, die man macht, nur um etwas zu sagen, verraten, daß man etwas anderes überdecken und verschweigen will.

„Und wie ist dieses Wunder gerade heute zustande gekommen?“ fragte der Mann weiter.

„Wir haben kein Fleisch mehr“, sagte Milton. „Aha“, machte der Mann. Und diesmal war Milton ganz sicher, daß

die Entgegnung nicht sehr überzeugt geklungen hatte. „Ich heiße Buchanan“, sagte der Mann, „dies hier sind Grant und

Kemp. Wir bilden den Gemeinderat. Es wird Sie nicht wundern, wenn ich Ihnen sage, daß wir keinen großen Wert auf Fremde legen. Vor allen Dingen, wenn sie in Rudeln kommen.“

Milton versuchte, die Situation durch ein Lächeln zu retten, aber es mißlang ihm.

„Kann ich verstehen“, sagte er, „aber von uns haben Sie nichts zu befürchten.“

„Haben wir auch nicht“, sagte Buchanan, „denn in diesem

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Augenblick sind sechs Gewehre auf Sie und Ihre Truppe gerichtet. Und diese Gewehre sind entsichert und geladen. In den Läufen steckt gehacktes Blei.“

„Sie müssen aber schlechte Erfahrungen gemacht haben“, meinte Milton etwas unsicher.

„Falsch“, sagte der Mann. „Ich will sie gar nicht erst machen, verstehen Sie?“ Er ließ den Lauf seiner Waffe sinken. „Also, was wollen Sie hier?“

Smitty trat einen Schritt vor und schob Milton beiseite. „Nichts“, sagte er, „wir haben von oben den Ort gesehen und wollten

wissen, wer hier noch lebt. Wir bestellen unsere Felder genauso wie Sie. Es geht uns ganz gut, wir haben keinen Grund, kriegerisch aufzutreten.“

„Wer hat schon Grund dazu?“ fragte der Mann. Eine Weile sagte niemand etwas. Plötzlich fragte Buchanan: „Habt ihr eigentlich Frauen in eurem Ort?“

Smitty und Milton nickten wie auf Kommando. Buchanan musterte die Männer, die hinter Milton und Smitty

standen. Sein Blick ruhte etwas länger auf McHary. Milton sah es und verfluchte sich, daß er ihn mitgenommen hatte.

„Woher kennen wir uns, Rotkopf?“ fragte Buchanan plötzlich. McHary wich seinem Blick aus. „Keine Ahnung, kann mich nicht besinnen“, sagte er schließlich. „Es wird mir schon noch einfallen“, sagte Buchanan, „ich habe

nämlich ein gutes Gedächtnis.“ Smitty hängte sich die MPi betont auffällig auf die Schulter zurück.

Milton sah es und folgte seinem Beispiel. „Na, schön“, meinte Buchanan, „wir werden einen zusammen

trinken und dann gehen Sie wieder mit Ihrer Privatarmee.“ Er drehte sich um und schritt weiter in den Ort hinein. Seine beiden

Begleiter folgten ihm wortlos, ohne sich zu vergewissern, ob Milton mit seinen Leuten ihnen folgte.

Als Milton und seine Leute im Ort waren, kamen hinter ihnen Männer aus den Häusern am Rande des Ortes. Sie waren alle bewaffnet.

Jackville sah ganz anders aus als die kleine Stadt, aus der Milton heute morgen aufgebrochen war. Jackville machte einen sauberen und gepflegten Eindruck. Buchanan führte sie zu seinem Haus am

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Marktplatz. Es war ein Lokal gewesen, und es sah ganz so aus, als sei es das immer noch.

Als sie im Innern des Hauses standen, kam es Milton so vor, als sei die Katastrophe spurlos an diesem Ort vorübergegangen. Zu seiner Überraschung bot ihnen Buchanan frisches Bier vom Faß an. Dann nahm er eine Flasche Whisky vom Regal. Grant und Kemp stellten ihnen Gläser hin.

In der offenen Tür standen sechs Männer mit Gewehren. Milton spürte ein unbehagliches Gefühl im Rücken, wenn er daran

dachte, daß die Gewehre geladen waren. „Muß das sein?“ fragte er und machte eine Kopfbewegung zur Tür

hin. „Es muß sein“, antwortete Buchanan gleichgültig. „Sie sind aber wirklich sehr mißtrauisch“, meinte Milton. Er nahm

einen tiefen Zug aus dem Glas und genoß es, wie das scharfe Getränk ihm den Magen wärmte.

„Männer ohne Frauen“, sagte Buchanan langsam, „sind zu allem fähig.“

„Frauen“, sagte Smitty, und lächelte sanft, „interessieren uns am wenigsten. Das scheint wohl Ihr Lieblingsthema zu sein, wie.“

Buchanan lächelte, als er sah, wie Smitty seinen Kinnbart bearbeitete.

„Ihnen glaube ich das gern“, sagte er schließlich. „Aber was die anderen Herren betrifft, da sieht die Sache wohl etwas anders aus.“

„Meinen Sie mich etwa damit?“ fragte McHary plötzlich. Seine Stimme klang aggressiv.

„Du sollst doch deine große Klappe halten“, sagte Smitty, „hast du das schon wieder vergessen?“

„Ich lasse mich doch hier nicht wie den letzten Dreck behandeln“, schrie McHary erbost. „Schließlich haben wir den Burschen hier ja nichts getan!“

„Warum denn so laut“, sagte Buchanan, „bisher haben wir uns ja auch nicht schreiend unterhalten.“

McHary schwieg und funkelte ihn an. Plötzlich drängte sich jemand an den Wächtern vorbei. Es war ein

Mädchen. Das Mädchen ging zu Buchanan und sagte: „Vater, Miß Perkins hat Schwierigkeiten mit den Kindern, sie wollen

die Fremden sehen.“

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„Es geht schon los“, sagte er zu Milton. „Sie bringen unsere ganze Ordnung durcheinander. Ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt wieder gehen. Sie wissen nun, was Sie wissen wollten: Jackville ist noch bewohnt. Und wenn Sie wieder einen Streifzug machen, brauchen Sie nicht mehr hierherzukommen, um das festzustellen. Auf diese Weise können wir beide als friedliche Nachbarn leben. Einverstanden?“

„Sind Sie hier der Prediger oder so was?“ fragte McHary spöttisch. „Ich habe keine Lust, mit Ihnen zu reden“, sagte Buchanan.

„Verschwinden Sie jetzt. Und lassen Sie sich nicht wieder blicken!“ Milton stellte das Glas mit einem Ruck auf den Tisch zurück. „Sie haben nichts gelernt“, sagte er, „nichts haben Sie gelernt. Sie

sind genau wie die, die uns in diesen Schlamassel geführt haben. Sie beurteilen uns pauschal nach einem einzigen.“

Buchanan schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „das tue ich nicht. Aber allein die Tatsache, daß so

ein Bursche bei Ihrer Gruppe ist, sagt mir genug. Ich habe genügend Menschenkenntnis. Mir machen Sie nichts vor. Gehen Sie jetzt.“

Smitty stand auf und streckte ihm die Hand hin. „Vielen Dank für den Drink“, sagte er. Buchanan nahm die Hand, aber er sagte nichts. Smitty ging hinaus, und Milton und die anderen Männer folgten ihm

schweigend. Als sie wieder auf der Landstraße waren, sagte Smitty zu Milton:

„Du mußt zugeben, daß Buchanan kein unsympathischer Mann ist, Dick. Natürlich ist er ziemlich eigensinnig und läßt kaum eine andere Meinung gelten; seine Leute machen aber einen disziplinierten Eindruck.“

Sie erreichten den Waldrand. Plötzlich waren Schüsse zu hören. Die Männer zuckten zusammen und blickten zurück.

„Sie schießen auf uns“, schrie Miller, „verdammt noch mal, sie schießen auf uns! Schießt doch zurück, ihr Idioten! Sollen wir uns vielleicht von denen abknallen lassen?“

Die Kugeln pfiffen über sie hinweg und schlugen klatschend in die Baumstämme.

„Deckung!“ schrie Milton. „Geht in Deckung!“ Smitty kroch auf allen vieren zu ihm heran. „McHary ist weg“, sagte er.

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Milton fluchte. Dann zog er das Fernglas aus dem Futteral und richtete es auf das Feld.

„Das ist ja nicht zu fassen!“ sagte er. „Was ist denn los?“ fragte Smitty. „Da unten läuft er“, sagte Milton. „Und er hat ein Gewehr in der

Hand!“ „Schieß doch zurück, Milton!“ schrie Miller wieder. „Nein“, sagte Milton fest, „nein, ich schieße nicht zurück. McHary

hat sich die Sache selber eingebrockt. Soll er sehen, wie er damit fertig wird.“

„Wir können ihn doch nicht einfach im Stich lassen“, sagte einer der Männer.

Milton antwortete nicht darauf. Er beobachtete, wie McHary hakenschlagend in den Wald zu entkommen versuchte.

„Miller, wir gehen zum Wagen“, sagte er. „Wir werden dort noch eine Weile warten. Vielleicht kann er sich zu uns durchschlagen.“

Sie warteten etwas länger als eine halbe Stunde, bis McHary kam. Er hatte immer noch das Gewehr in der Hand. Mit der linken Hand hielt er sich die Schulter; er hatte einen Streifschuß abbekommen. Er sah Milton herausfordernd an. Milton wich seinem Blick nicht aus. Aber er schwieg.

„Los, auf den Wagen“, sagte er schließlich. „Wir unterhalten uns später.“

„Du mußt ihm das Gewehr wegnehmen“, flüsterte Smitty. Milton schwieg wieder. „Ich fresse einen Besen, wenn die Sache kein Nachspiel hat“, sagte

Smitty, als sie zum Wagen gingen, „das läßt sich Buchanan nicht gefallen. Der nicht.“

„Fahr endlich los!“ sagte Milton zu Miller, „worauf wartest du noch!“

Er hörte McHary auf der Ladefläche des Lastwagens laut lachen. Und er dachte verzweifelt darüber nach, wie er ihm das Gewehr abnehmen könnte. Aber es fiel ihm nichts ein.

Als sie schon länger unterwegs waren, fragte Smitty zu Miller gewandt:

„Findest du das richtig von McHary?“ „Nein“, sagte Miller, „ich finde es nicht richtig. Ich meine, wir

hätten ihn unterstützen müssen.“

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Milton biß sich auf die Lippen. Er wußte, daß die anderen Männer genauso dachten. Und er wußte, daß er machtlos war. Er wußte, daß er sie nicht umstimmen konnte. Richard Milton starrte verbissen auf die Straße.

Neben ihm saß Smitty. Er machte ein sehr nachdenkliches Gesicht. Smitty war sich im klaren darüber, daß das letzte Ereignis symptomatisch gewesen war. Smitty machte sich nichts vor. Milton konnte die Männer auf die Dauer nicht in Schach halten.

Aber wer außer Milton sollte es sonst tun? Wenn wir doch bloß einen Mann wie Buchanan hätten, dachte

Smitty. Wir brauchen einen Mann, auf den alle anderen hören.

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5.

Der Morgen war kalt, trübe und regnerisch. Robert Zimmermann und sein Begleiter, Mick Jagger, waren schon einige Tage unterwegs. Zwar hatte sie der Wagen nicht gerade im Stich gelassen, aber das neueste Modell war er auch nicht mehr; an diesem Morgen hatten sie eine Reifenpanne. Zimmermann war froh, daß Mick etwas von diesen Dingen verstand; er selbst wäre damit kaum fertig geworden, er hatte nie ein Auto besessen.

Der unangenehme Nieselregen hatte sie in kurzer Zeit völlig durchweicht.

Als sie wieder im Wagen saßen, fragte Mick: „Weiter nach Westen?“ „Ja“, sagte Zimmermann. „Ich weiß, warum Sie fragen. Wir haben,

seit wir unterwegs sind, keinen Menschen mehr getroffen; vielleicht finden wir weiter westlich überhaupt nichts mehr.“ Er machte eine Pause und rieb sich den Nacken. „Aber das glaube ich nicht. Ich nehme vielmehr an, daß die meisten Überlebenden weiter ins Land hineingezogen sind, um die großen Städte an der Ostküste, die völlig verseucht sind, hinter sich zu lassen. Denn dort kann man tatsächlich nicht mehr leben.“

„Ich habe daran gedreht“, sagte Mick. Zimmermann suchte m seinem Rucksack herum. „Ich habe noch ein paar Vitaminpillen; wir sollten sie nehmen, damit

wir uns keine Erkältung holen“, sagte er. Jagger legte den Gang ein und fuhr weiter. „Können Sie mit einem Revolver umgehen?“ fragte Zimmermann. „Ich habe nur mal mit einem Jagdgewehr geschossen“, sagte Mick,

„aber so groß wird der Unterschied ja nicht sein, oder?“ Zimmermann griff in die Tasche und zog einen Revolver hervor. „Viel wert ist er nicht“, sagte er, „nicht, weil er besonders alt ist; ich

habe nur keine Munition mehr als die, die in der Trommel ist. Benutzen Sie ihn nur im äußersten Notfall.“

Mick hielt mit der linken Hand das Steuerrad des Wagens, mit der rechten nahm er den Revolver.

„Vielen Dank“, murmelte er, „Sie haben Vertrauen zu mir.“ „Habe ich“, sagte Zimmermann trocken.

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Gegen Mittag klärte sich das Wetter etwas auf. In der Ferne konnten sie schon das Gebirge erkennen. Die Straße führte schnurgerade dorthin. Sie war kaum beschädigt.

Zimmermann wunderte sich nicht mehr darüber, warum er hier keinen Menschen traf; diese Gegend war auch früher dünn besiedelt gewesen.

Sie machten Rast und aßen etwas. Walker lief in der Nähe herum. Ab und zu warfen sie ihm ein paar Brocken zu.

„Da wohnt bestimmt noch jemand“, sagte Mick und nickte in Richtung der Berge.

„Ich glaube schon.“ „Wenn wir so weiterkommen wie bisher, könnten wir gegen Abend

da sein“, meinte Mick. Zimmermann sah ihn forschend an. „Ich werde Sie mal wieder ablösen“, sagte er. Mick protestierte. „Ich fahre jetzt“, sagte Zimmermann, „Jonathan, Sie müssen sich

mal ausruhen!“ Und an diesem kalten, trüben Morgen lernte Mick Jagger zweierlei;

er lernte, daß Zimmermann ihn Jonathan nannte, wenn er etwas bestimmt meinte, und er lernte, daß Zimmermann dann keinen Widerspruch duldete. Und da Michael Jonathan Jagger seine beiden Vornamen nicht recht leiden konnte und die Abkürzung Mick lieber hörte, verzichtete er in Zukunft darauf, Zimmermann zu widersprechen.

Sie fuhren weiter. Walker saß zwischen ihnen auf dem Vordersitz und ließ sich von Mick tätscheln. Der junge Mann war stolz darauf, daß der große Hund seine Freundschaft annahm. Zimmermann hatte ihm erzählt, wie er Walker getroffen hatte, und wie scharf er war.

„Für meine Begriffe ist er einfach zu scharf erzogen worden“, sagte er, „aber ich habe mich schon daran gewöhnt. Und Walker hat schon gemerkt, wie ich ihn haben will. Er gehorcht aufs Wort.“

Nach einer Weile wurde es Mick zu langweilig, untätig herumzusitzen. Er holte seine Gitarre hervor, schlug ein paar Akkorde an und sang leise ein paar Lieder dazu. In den ersten Minuten warf er Zimmermann einen schnellen Seitenblick zu; er wußte nicht recht, ob sein Gefährte es nicht vielleicht ein bißchen albern fände, aber als Zimmermann schließlich sogar mitsummte, wurde er mutiger und

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sang mit lauter Stimme. Mit einemmal sagte Zimmermann: „Die Zeile stimmt nicht, Mick. Sie lautet so: You walk into the

room, with your pencil in your hand.“ Mick sah überrascht hoch. „Sie kennen das Lied?“ „Ich kenne alle seine Lieder“, sagte Zimmermann, „singen Sie

weiter!“ Sie erreichten die Ausläufer der Berge früher, als sie erwartet hatten.

Die Straße führte in einer Schlangenlinie weiter hinauf. Zimmermann beschloß die Pause jetzt schon einzulegen, bevor sie weiterfuhren.

Will McHary hatte das Gewehr auf den Knien liegen. Seit er zurückgekommen war, hatte er es nicht aus der Hand gelegt. Miller hatte ihr deswegen schon aufgezogen, aber sein Blick hatte ihn verstummen lassen.

Sie waren zusammen fünf Männer, und sie saßen in McHarys Wohnung.

„Ich habe die Schnauze voll“, sagte McHary. „Heute habe ich die Schnauze endgültig voll.“

„Na und?“ fragte Miller, der Fahrer. „Wir hauen ab“, sagte McHary. „Und wie?“ McHary beugte sich vor: „Paßt auf! Heute abend, wenn es gerade dunkel ist, gehe ich mit

zwei Männern zu dem Keller, wo der alte Smitty die Waffen versteckt hat. Wir brechen da ein und nehmen uns, was wir brauchen. Dann fahren wir mit dem Lastwagen nach Jackville und besorgen uns Lebensmittel. Die haben mehr als wir, das habe ich gesehen.“

„He“, sagte einer der Männer, „soll das etwa alles sein?“ McHary grinste. „Nein“, sagte er, „das soll nicht alles sein. Ihr werdet schon sehen.

Mein Besuch war zwar nur kurz, aber er hat sich gelohnt. Wartet nur ab. Ich mache das schon richtig.“

„Und was willst du mit Parker machen? Der bewacht doch den Keller!“

„Parker macht mit. Wenn nicht, bekommt er eins über den Schädel.“ Das Wetter hatte sich jetzt völlig beruhigt. Es war ein schöner

Sommerabend, die Luft war mild, und es herrschte vollständige Ruhe

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in der kleinen Stadt. Alles war so, als wäre nie etwas Außergewöhnliches geschehen, und die Ruhe der Natur täuschte darüber hinweg, daß auch in Zukunft nichts Gewaltsames mehr geschehen könne. Richard Milton saß am offenen Fenster und rauchte eine selbstgedrehte Zigarette, Smitty saß neben ihm. Sie redeten nicht viel; nach dem, was in Jackville geschehen war, hatten sie sich nicht mehr allzuviel zu sagen. Jeder wußte, was der andere dachte. Und jeder wußte vom anderen, daß er sich nicht ändern konnte.

Zimmermann war wieder unterwegs. Die Straße wurde enger. Die Dämmerung brach schnell herein.

Zimmermann begann sich gerade darüber zu ärgern, daß er eben eine Pause eingelegt hatte, als er etwas hörte. Es war ein Geräusch, das er lange nicht mehr vernommen hatte.

Das Geräusch kam näher. Es war ein Lastwagen. Sie trafen sich in der Mitte einer Kreuzung. Der Lastwagen bog

scharf nach rechts ab. Zimmermann verminderte die Geschwindigkeit. Mit der linken Hand entsicherte er die MPi. Dann kurbelte er das linke Seitenfenster herunter.

Der Lastwagen, der heulend und quietschend in die Kurve gegangen war, stoppte ebenfalls ab. Zimmermann packte Mick am Nacken und drückte ihn herunter.

„Sie müssen nicht unbedingt gesehen werden“, murmelte er. Jetzt hielten beide Wagen. Zimmermann konnte nicht viel sehen.

Aus den Geräuschen aber hörte er heraus, daß mehrere Männer auf dem Lastwagen sein mußten.

Das Merkwürdige war nur, es stieg niemand aus. Zimmermann überlegte, ob er den Anfang machen sollte. Es wurde

ihm einfach zu dumm, untätig im Wagen zu sitzen und abzuwarten. Er kletterte über Mick hinweg und stieg an der anderen Seite des

Wagens aus, so daß er den Wagen als Deckung zwischen sich und dem Lastwagen hatte. Er hielt die MPi so, daß sie vom Lastwagen aus nicht gesehen werden konnte. In diesem Moment geschah es. Als er sich aufrichtete, prasselte eine Geschoßgarbe herüber. Zimmermann duckte sich sofort. Die Kugeln fuhren heulend und sirrend in das Blech des Wagens. Danach ruckte der Lastwagen an und verschwand um die Kurve.

Zimmermann stand auf und klopfte sich den Staub ab. Mick sprang aus dem Wagen. Er sah ein wenig weiß um die Nase aus.

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„Ist Ihnen auch wirklich nichts passiert? Mann, das waren ja richtige Gangster. Sie konnten ja nicht mal sehen, daß Sie bewaffnet waren!“

Zimmermann nickte müde. „Aber warum haben Sie nicht zurückgeschossen?“ „Es waren mindestens vier Mann. Und sie waren sicher besser

bewaffnet als wir. Wir hatten keine Chance. Außerdem haben wir so Munition gespart, das ist auch wichtig.“

Wenige Stunden später erreichten Zimmermann und Mick die kleine Stadt.

McHary atmete schwer. Er stand an eine Hauswand gepreßt und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Das geringste Geräusch konnte ihn verraten. Der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht und vermischte sich mit dem Staub, der es bedeckte, zu einer grauen, klebrigen Maske. Zwei Männer standen hinter ihm und warteten auf sein Zeichen. Sooft einer der Männer den Kopf vorstreckte, winkte er unwillig ab.

Denn Will McHary stand vor einem Problem. Er hatte alles bis ins letzte geplant, aber er hatte eine Kleinigkeit übersehen. Denn der Mann, der vor dem Waffenkeller Wache hielt, war inzwischen nicht mehr Parker, den er zu überreden gedachte.

Es war Richard Milton. Milton hatte sich seine Gedanken gemacht, als er mit Smitty am

Fenster saß und die idyllische Ruhe des Abends genoß; er erinnerte sich nur zu gut an McHarys Gebaren, als sie von Jackville zurückgekommen waren. Kurz, Richard Milton ahnte etwas. Es genügte ihm nicht mehr, nur Parker als Wache für den Waffenkeller einzuteilen. Richard Milton teilte sich selbst ein. Parker schob Wache direkt vor dem Eingang zum Waffenlager.

McHary war unschlüssig. Milton zu überreden war sinnlos, das hatte er schon oft genug versucht. Einfach über den Haufen schießen wollte er ihn auch nicht. Moralische Bedenken hinderten ihn allerdings weniger daran; er dachte an den Lärm, den der Schuß verursachen würde. Der ganze Ort wäre alarmiert. Und alle Männer hier hatte er durchaus nicht auf seiner Seite.

McHary winkte einen seiner Männer heran. Er drückte ihm sein Gewehr in die Hand und legte den Finger an die Lippen. Dann machte er ihm in Zeichensprache klar, was er vorhatte. Der Mann nickte und zog sich geräuschlos zurück.

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McHary ging ebenfalls ein paar Schritte zurück und ging dann, wie ziellos, als befinde er sich auf einem Spaziergang, auf Milton zu.

„Abend“, sagte McHary zu Milton. Milton grüßte zurück. Aber er war doppelt wachsam. Er wußte, daß

McHary sicher nicht gekommen war, um mit ihm zu plaudern. Der hatte etwas vor. Und Milton konnte sich schon denken, was.

„Du brauchst dir gar nicht erst etwas einfallen zu lassen, worüber du mit mir reden willst“, sagte Milton, „ich glaube dir doch kein Wort.“

McHary stand mit gefurchter Stirn vor ihm. Er hatte, verdammt noch mal, tatsächlich darüber nachgedacht, wie er ein Gespräch in Gang bringen könnte, und nun sagte der so was. McHary wurde wütend. Er wurde immer wütend, wenn ihm andere ihre geistige Überlegenheit allzu deutlich klarmachten.

„Hör zu“, sagte er mit mühsam unterdrückter Wut in der Stimme, „hör mir nur einen Moment zu, Milton, oder du wirst es bereuen, so wahr ich hier stehe. Gib uns Waffen, Milton, und du wirst deine Ruhe haben.“

„Nein“, sagte Milton und hob den Lauf seiner Waffe etwas. „Milton, du machst einen Fehler. Aber ich will dir

entgegenkommen: Wenn du uns Waffen gibst, verschwinden wir von hier. Du siehst uns nie wieder. Das verspreche ich.“

„So, das versprichst du“, sagte Milton. Und wenn er ehrlich war, mußte er sich eingestehen, daß ihm dieser Gedanke gar nicht so unangenehm war. McHary und seine Clique nicht mehr hier! Ein sehr verlockender Gedanke sogar. Es würde keinen Ärger mehr geben. Aber er wollte vorher Waffen haben. Waffen, die Smitty gehörten. Was würde der davon halten? Smitty hatte ihm oft genug klargemacht, was er von McHarys Beteuerungen hielt. Nein, das konnte er nicht machen.

„Hau ab, McHary“, sagte Milton daher, „das wäre wirklich gut, wenn du verschwinden würdest. Waffen bekommst du nicht von mir.“

McHary mochte es nicht, wenn jemand lange redete und doch nur immer dasselbe sagte. Und während Milton redete, wurde McHary so wütend, daß er sich einfach auf Milton stürzte und ihn mit einem gewaltigen Hieb zu Boden schlug. Die Waffe, die Milton auf ihn gerichtet hatte, störte ihn dabei nicht weiter. Milton war ein Mann, der sich nicht aufs Kämpfen verstand; seine Reaktionen waren viel zu langsam für einen alten Haudegen wie McHary.

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McHary drehte sich um und winkte seinen Männern. Als sie heran waren, nahm er Milton die MPi ab und stellte einen Mann als Posten an die Tür.

„Du paßt hier auf“, sagte er. „Wenn jemand kommt, rufst du mich sofort. Wir wollen uns jetzt mal die Sächelchen aussuchen.“

Er hatte nicht mit Parker gerechnet. Als die Männer in den Keller hinunter stürmten, schoß Parker. Der

Mann neben McHary wurde getroffen. McHary lief zurück und nahm seinem Posten die MPi ab. In wenigen Minuten hatte er Parker erwischt.

Er ließ eine ganze Garbe gegen das Kellerschloß rattern, und schließlich hatte er, was er wollte. Die Waffen lagen fein säuberlich geordnet vor ihm.

„Jeder nimmt so viel MPis und Revolver, wie er tragen kann“, rief McHary, „und beeilt euch, wir haben keine Zeit mehr. Miller soll den Wagen vorfahren.“

Die Sache war in Minutenschnelle erledigt. Als Männer aus den umliegenden Häusern angelaufen kamen, waren schon alle im Wagen. McHary feuerte noch eine Garbe in die Luft, dann wendete der Wagen mit quietschenden Rädern und verschwand in einer Staubwolke. Smitty, der von den Männern alarmiert worden war, brauchte nicht lange herumzuraten, was passiert war.

Dann aber zuckte er förmlich zusammen, als er daran dachte. Milton! Was hatten sie mit Milton gemacht? Milton lag seltsam verkrümmt vor dem Eingang des Hauses am Boden. Smitty drehte ihn vorsichtig herum. Als er seine Augen sah, wußte Smitty sofort Bescheid.

Richard Milton war tot. McHary hatte ihn ermordet. „Bringt ihn weg“, sagte Smitty, „bringt ihn schnell weg.“ Und dann fanden sie Parker. „Wirklich, ein verdammt ruhiger und gemütlicher Abend“, knurrte

Smitty, als er zu seinem Haus zurückging. Er dachte daran, daß er nun die Verantwortung für die Männer trug, und ihm war nicht sehr wohl dabei. Denn Smitty befürchtete, daß McHary zurückkommen könnte. Für den Rest der Nacht ließ er deshalb Wachen aufstellen.

Es war schon recht spät, als einer der Posten den alten Smitty wachrüttelte. Er hatte vor seinem Kaminfeuer gesessen und war

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eingeschlafen. „Jaja, ist ja schon gut“, sagte Smitty unwillig. Aus irgendeinem

Grunde war es ihm peinlich, daß der Mann ihn schlafend gefunden hatte. „Was ist denn los?“

„Beim Eingang sind zwei Männer, ein junger und ein etwas älterer. Sie sind mit dem Wagen gekommen und fragen, ob sie hier übernachten können.“

„Was machen sie für einen Eindruck?“ „Der Ältere sieht energisch aus, ich meine, der macht nicht den

Eindruck, als ob er sich die Butter vom Brot nehmen ließe.“ Smitty dachte nach. Es paßte ihm gar nicht, daß ausgerechnet in

dieser Nacht auch noch zwei Fremde kamen, aber was sollte er machen?

„In Gottes Namen, bringt sie zu mir“, sagte er schließlich. Der Posten verschwand. Nach einer Weile hielt ein Wagen vor Smittys Haus. Aus dem

Wagen stiegen drei Männer; einer war der Posten, die anderen beiden Männer kannte Smitty nicht, das mußten die Fremden sein.

Der Fremde kam ihm langsam entgegen. „Ich heiße Zimmermann“, sagte er, „und das hier ist mein Freund

Jagger. Wir möchten hier gern übernachten, wenn Sie gestatten; wir haben seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen.“

Smitty bat sie ins Haus. Nachdem er ihnen einen Begrüßungsschluck angeboten hatte, fragte

er: „Haben Sie irgend etwas Besonderes bemerkt auf Ihrer Fahrt

hierher?“ Zimmermann zündete sich eine Zigarette an und antwortete: „Kann man wohl sagen.“ Und er berichtete von dem Lastwagen,

dem er begegnet war. „Jaja, unser lieber McHary“, seufzte Smitty. „Bitte, was?“ fragte Zimmermann. „Ich weiß, wem Sie da begegnet sind“, sagte Smitty, und er erzählte

die ganze Geschichte. Als er am Ende war, zupfte er nachdenklich an seinem Bart. Er sah

sich den Fremden, der sagte, daß er Zimmermann hieße, näher an. Gar kein schlechter Bursche, fand er. Er war ruhig, ließ den anderen ausreden, und wenn er den Mund aufmachte, kam kein Blödsinn

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heraus. „Wenn das alles stimmt, was Sie eben erzählt haben“, sagte

Zimmermann langsam, „dann muß ich sagen, verstehe ich Sie nicht ganz.“

„Wieso?“ „Na, was glauben Sie, wo dieser McHary wohl hinwollte, als er

endlich die Waffen hatte, auf die er die ganze Zeit so scharf war?“ Smitty machte ein verständnisloses Gesicht. Plötzlich dämmerte ihm

etwas, und er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Mann“, rief er, „Sie haben ja recht!“ „Ganz sicher“, sagte Zimmermann, „McHary kann nur nach

Jackville gefahren sein. Denn Sie haben nicht erwähnt, daß er Vorräte mitgenommen hat. Also muß er sich welche besorgen.“

„Ach, du lieber Gott“, sagte Smitty, „was mache ich denn nun?“ Zimmermann lächelte ein wenig amüsiert. „Sie geben mir zehn bewaffnete Männer; ich werde McHary

zurückholen!“ Smitty starrte ihn an. Dann wurde sein Blick nachdenklich, und er

sagte langsam: „Das könnte er sein; ja, das könnte er sein.“ „Wer könnte was sein?“ fragte Zimmermann. „Sie könnten ... ach, lassen wir das jetzt. Sie sollen die Männer

haben. Ich will aber mitkommen.“ „Okay“, sagte Zimmermann. Und zwanzig Minuten später waren sie schon unterwegs. Sieben

Mann saßen im Wagen. Der Wagen wurde gefolgt von den restlichen Männern, die auf alten Motorrädern hinter ihnen herknatterten; sie hatten die Maschinen schon vor einiger Zeit aus einer Werkstatt geholt und notdürftig fahrtüchtig gemacht.

Sie hatten noch nicht die Hügelkuppe erreicht, von der aus man Jackville sehen konnte, da hörten sie schon Schüsse und Geschrei.

„Der muß wahnsinnig geworden sein“, rief Smitty, „das ist ja in Jackville selbst! Da gibt es doch Frauen und Kinder!“

Zimmermann sagte nichts. Er brauste mit Höchstgeschwindigkeit auf den Ort zu.

Als sie ihn erreichten, war die Schießerei noch immer im Gange. „Was wollen Sie tun?“ fragte Mick. „Ich weiß es noch nicht“, sagte Zimmermann.

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Sie stellten den Wagen ab und schlichen sich vorsichtig durch die Dunkelheit. Unaufhörlich knallten Schüsse, sirrten Kugeln als Querschläger durch die Gegend.

Außer dem gelegentlichen Aufblitzen von Mündungsfeuer war absolut nichts zu erkennen.

Plötzlich sagte Smitty: „Da drüben in dem Haus ist er!“ „Woher wissen Sie das?“ fragte Zimmermann, denn er konnte in

dem Durcheinander in der Dunkelheit nichts ausmachen. „Na, ich weiß doch, was für Geräusche meine MPis machen“, sagte

der Alte. Zimmermann ging geduckt voran. Er stieß auf einen Mann, der

gerade sein Gewehr nachlud. „Wie komme ich in das Haus da?“ fragte er. Der Mann sah ihn verdutzt an. „Reden Sie schon! Ich will Ihnen doch nur helfen!“ „Da kommt man von hier aus überhaupt nicht rein“, sagte der Mann. „Wie? Mann, reden Sie! Und sagen Sie Ihren Freunden, daß sie ihre

Kugeln sparen sollen!“ „Sie können nur über die Dächer gehen“, sagte der Mann. „Steigen

Sie vom nächsten Haus aus auf das Dach, springen Sie über, und gehen Sie durch diese Dachluke da hinein.“ Er machte eine Pause. „Wenn Sie sich unbedingt das Genick brechen wollen.“

„Wer ist sonst noch in dem Haus?“ „Mrs. Kirchherr mit ihrem Kind“, sagte der Mann. Zimmermann holte tief Luft. „Wo ist Ihr Chef?“ „Hier“, knurrte eine Stimme aus dem Dunkel. „Bleiben Sie stehen,

wo Sie sind, rühren Sie sich nicht vom Fleck!“ Zimmermann erstarrte. Plötzlich hielt jemand eine alte Stallaterne hoch und leuchtete ihm

ins Gesicht. „Ich bin Buchanan, Bürgermeister“, sagte der Mann. „Warum

wollen ausgerechnet Sie den Hals riskieren und den da rausholen?“ „Ich kenne diese Herren“, sagte Zimmermann, „sie haben heute

abend versucht, mit mir ein ähnliches Spiel zu spielen. Können Sie Ihr Verhör nicht später fortsetzen? Da muß doch endlich was geschehen!“

„Wie stellen Sie sich das vor?“

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„Sie schießen weiter. Ich steige vom Dach aus in das Haus ein. Wenn ich die Burschen herausbringe, können Sie aufhören zu schießen.“

„Wir haben hier wohl Superman zu Besuch, was?“ sagte der Mann, mit dem Zimmermann zuerst geredet hatte.

„Was ist nun? Zeigen Sie mir den Eingang des Nebenhauses!“ Buchanan geleitete ihn hin. „Diese Treppe führt direkt zum Dachboden“, erklärte er. „Das

Überspringen wird für einen Mann Ihres Alters nicht allzu schwierig sein, aber wie Sie sich den Rest vorstellen, ist mir etwas schleierhaft.“

„Das lassen Sie nur meine Sorge sein!“ Er war schon verschwunden. Die Schießerei ging unvermindert weiter. Zimmermann duckte sich gerade zum Sprung, als er unten erregte

Stimmen hörte. Er verstand nicht, was da geredet wurde. Aber vielleicht war das auch besser so.

McHary hatte nämlich herausgeschrien, daß er die Frau und das Kind töten würde, wenn man ihm kein freies Geleit gäbe.

Aber das wußte Zimmermann nicht. Er sprang. Buchanan, der ihn von unten beobachtete, versuchte, ihm etwas zuzurufen, aber Zimmermann konnte ihn nicht verstehen. Er hörte auch nicht besonders aufmerksam hin. Er hatte genug damit zu tun, nicht abzustürzen.

Er landete auf dem anderen Dach. Er hielt sich mit beiden Händen an dem Rahmen der Dachluke fest. Dabei brachen ihm ein paar Fingernägel ab. Er fühlte, wie ihm das Blut über die Finger lief, aber er spürte keinen Schmerz. Er zog sich hoch und schwang ein Bein in die Luke. Er machte eine Atempause und zog das andere Bein nach. Schließlich saß er auf dem Rahmen. Langsam ließ er sich hinabgleiten. Für die Außenstehenden, die seine Kletterei beobachtet hatten, war er nun verschwunden. Es gab einen dumpfen Laut, als er auf dem Dachboden aufprallte. Minutenlang hielt er den Atem an. Aber niemand schien bei dem Krach, den die Schießerei verursachte, etwas gehört zu haben. Zimmermann nahm die MPi von der Schulter und entsicherte sie. Er riß ein Streichholz an, um sich zu orientieren. Als er die Tür gefunden hatte, die nach unten führte, blies er die kleine Flamme aus. Er war auf der Treppe. Er schloß die Augen und versuchte herauszuhören, von wo aus geschossen wurde. Vorsichtig

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ging er die Treppe hinunter. Er erreichte einen langen Flur. Unschlüssig stand er im Dunkeln, als plötzlich eine Tür aufgerissen wurde.

„Ben“, rief eine Stimme, „alles okay, Ben?“ „Alles klar, Will, ich passe schon auf!“ Zimmermann hatte sich hinter einem Treppenabsatz versteckt. Er

wußte jetzt, wo die Männer waren, und daß sie einen Wachtposten an der Eingangstür hatten. Aber hatten sie keinen beim Hintereingang? Vielleicht besaß das Haus gar keinen Hintereingang. Ich muß es darauf ankommen lassen, dachte er, es bleibt mir nichts anderes übrig.

Er drückte sich an der Wand entlang und näherte sich dem Posten. Als er nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, flüsterte er:

„Ben, komm doch mal her, wir haben hier einen erwischt, den kannst du verarzten!“

Der Mann kam näher. Zimmermann schlug ohne ein weiteres Wort zu. Der Mann taumelte. Zimmermann setzte sofort nach und schlug ihm den Lauf der MPi an den Kopf. Der Mann polterte zu Boden. Zimmermann lehnte sich schwer atmend an die Wand und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Als er die Hand zurücknahm, merkte er, daß er sich das Gesicht mit Blut verschmiert hatte.

Plötzlich brach die Schießerei ab. Zimmermann hörte aufgeregtes Geschrei. Zwischen den Männern im Zimmer und denen draußen entspann sich eine heftige Diskussion. Zimmermann bemühte sich verzweifelt, etwas zu verstehen, aber alles, was er vernahm, war ein aufgeregtes Hin- und Hergerufe.

Er wartete noch ein paar Minuten, und dann entschloß er sich zum Handeln. Er wußte, daß es ein Vabanquespiel war, aber er hatte keine andere Möglichkeit.

Er ging leise zur Tür, lauschte einen Augenblick und riß sie dann mit einem Ruck auf.

Am Fenster standen sechs Männer. Einer schrie dauernd etwas heraus. Zimmermann jagte eine Geschoßgarbe an die Zimmerdecke und schrie:

„Stehenbleiben! Waffen fallen lassen!“ Die Männer fuhren herum. Einer schoß sofort. Er traf Zimmermann in den linken Arm in der

Nähe der Schulter. Zimmermann spürte einen glühenden Schmerz, aber er hatte noch die Kraft, den Abzug durchzuziehen.

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Er erwischte sie alle. Die Stille, die nun eintrat, war unerträglich. Zimmermann ging ans

Fenster und sagte: „Es ist vorbei, ihr könnt hereinkommen.“ Und seine Stimme kam ihm fremd vor. Es war ihm, als rede ein ganz

anderer, als habe er selbst mit der ganzen Sache nichts zu tun. Als er sich umdrehte, um hinauszugehen, sah er die Frau. Sie kauerte

in einer Zimmerecke und hielt ein Kind in den Armen. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

Als Zimmermann auf sie zuging, wich sie unwillkürlich zurück. „Kommen Sie“, sagte Zimmermann, „es ist vorbei. Sie brauchen

keine Angst mehr zu haben.“ Die Frau stand auf und ging mit ihm hinaus. Als sie aus dem Haus

traten, lief Mick auf ihn zu und umarmte ihn. „Vielleicht ist es dumm“, sagte er stockend, „aber ich habe Angst

gehabt, richtige Angst.“ „Ich auch“, sagte Zimmermann. Er ging zu Smitty hinüber. „Wir können jetzt wohl wieder gehen“, sagte er. „Hier, nehmen Sie

die Waffe, ich habe was abgekriegt.“ Er faßte mit der linken Hand zur Schulter. Seine Lederjacke war an

dieser Stelle naß vom Blut. Buchanan trat auf sie zu. „Wir kennen uns doch“, sagte er zu Smitty, „sind Sie nicht aus der

Nachbarschaft?“ Smitty nickte. „Wer ist denn hier nun eigentlich der Chef?“ Einen Augenblick war Schweigen, während alle gespannt zuhörten

und zu ihnen herübersahen. Dann zeigte Smitty mit der Hand auf Zimmermann und sagte

langsam und mit fester Stimme: „Der hier, der ist der Chef!“ „Soso“, sagte Buchanan, „dann ist der wohl neu, nicht? Ich erinnere

mich doch noch an einen anderen.“ „Der hier ist der Chef“, sagte der alte Smitty, „der hier und kein

anderer!“ „Sie haben uns einen sehr großen Dienst erwiesen“, sagte Buchanan

zu Zimmermann, „kommen Sie, wir gehen in unseren Club, da werden

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Sie erst mal verarztet, und dann trinken wir einen zusammen!“ Zimmermann nahm einen tiefen Zug aus dem Glas Whisky, das

Buchanan vor ihn hingestellt hatte. Er hustete, als er ihn hinuntergeschluckt hatte. „Oh, der ist aber nicht ohne“, sagte er verlegen lächelnd, „ich trinke

sonst nämlich keine scharfen Sachen, wissen Sie.“ Und als er das gesagt hatte, war es, als fiele eine stundenlange

Spannung von den Männern ab. Sie lachten und johlten und schlugen sich auf die Schenkel.

„Mein Gott!“ sagte Mick plötzlich. „Du blutest ja überall!“ Die Tür öffnete sich, und herein trat die Frau, die Zimmermann aus

dem Haus geholt hatte. „Mr. Buchanan, wo kann ich hier heißes Wasser machen?“ Er zeigte es ihr. Wenig später kam sie mit einer dampfenden Schüssel zu

Zimmermann und stellte sie auf den Tisch. „Ich bin Ihnen sehr dankbar“, sagte sie. „Ich hatte große Angst um

das Kind.“ Er wollte mit der linken Hand eine abwehrende Bewegung machen,

hielt aber mitten in der Bewegung mit schmerzverzerrtem Gesicht an. „Zeigen Sie mal Ihre Hände“, sagte die Frau. „Mr. Buchanan,

würden Sie bitte Dr. Robert holen? Ich glaube, die Kugel steckt noch.“ Und zu Zimmermann gewandt, fuhr sie fort: „Ich bin Mrs. Kirchherr. Mein Gott, wie sehen denn Ihre Hände aus? Wie ist denn das passiert!“

„Bei Ihrer Dachluke, Mrs. Kirchherr“, sagte Zimmermann. „Ach du liebe Zeit! Geben Sie mal her!“ Sie nahm seine Hände und wusch sie mit heißem Wasser ab.

Zimmermann verzog vor Schmerz das Gesicht. Mit der linken Hand versuchte er das Whiskyglas zu greifen, aber ein stechender Schmerz in der Schulter hielt ihn davon ab. Mick sah ihn fragend an.

„Du sollst mir das Glas geben“, sagte Zimmermann, „sonst ist schon alles in Ordnung.“

Mick reichte das Glas herüber. Mrs. Kirchherr nahm es ihm ab und setzte es Zimmermann an die Lippen. Zimmermann zögerte; er fürchtete, die Männer würden wieder anfangen zu lachen, aber niemand lachte. Er nahm einen Schluck und schüttelte sich wieder.

Schließlich kam der Arzt.

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Dr. Robert zog ihm die Jacke aus und sah sich die Wunde an. Dann sagte er, was alle Ärzte in solchen Situationen sagen:

„Der Mann muß sofort ins Bett. Ich muß die Kugel herausholen.“ Zimmermann schnaufte abwehrend. Smitty machte ein nachdenkliches Gesicht. „Dr. Robert hat recht“, sagte Buchanan schließlich, „das beste wird

sein, Sie bleiben hier; fragt sich nur, wo wir Sie einquartieren.“ „Bei mir“, sagte Mrs. Kichherr. Sie sah Zimmermann an. „Oder

haben Sie etwas dagegen?“ Aber Zimmermann gab keine Antwort. Er war ohnmächtig

geworden. „Jetzt aber schnell“, rief Dr. Robert. Er winkte ein paar Männer

herbei, die Zimmermann forttrugen. Mick Jagger folgte ihnen auf Schritt und Tritt. Als Zimmermann

endlich im Bett lag, war er immer noch bewußtlos. Dr. Robert holte die Kugel noch in derselben Nacht aus seinem Arm. Mick war nicht zu bewegen, Zimmermann zu verlassen.

Später in der Nacht saß Smitty noch mit Buchanan in dessen Haus zusammen.

„Sie bleiben auch für den Rest der Nacht hier“, meinte Buchanan, „es wäre ja Unsinn, wenn Sie jetzt noch zurückführen. Sagen Sie, kennen Sie diesen Mann schon lange?“

„Ich habe ihn heute abend zum erstenmal gesehen“, sagte Smitty. Buchanan nickte nachdenklich mit dem Kopf. „Wir werden bald viel zu besprechen haben“, sagte er, „aber jetzt

wollen wir erst mal schlafen gehen, wir sind alle rechtschaffen müde.“ Als Zimmermann erwachte, stach ihm die Sonne in die Augen. Er

sah sich um und entdeckte Mick. Der Junge saß zusammengekrümmt in einem Sessel vor seinem Bett und war eingeschlafen. Zimmermann lächelte.

„Guten Morgen“, sagte er. Der Junge schreckte hoch. „Oh, wie geht es … dir?“ fragte er. „Der Arm tut ein bißchen weh“, sagte Zimmermann, „aber es ist

auszuhalten. Sie haben die Kugel schon rausgeholt?“ Mick nickte. Er wußte nicht, ob er mehr dazu sagen sollte; es mußte

sehr geschmerzt haben, denn Zimmermann hatte sich stundenlang stöhnend hin und her gewälzt, bis ihm Dr. Robert ein

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Beruhigungsmittel gegeben hatte. Es klopfte an der Tür. Mrs. Kirchherr kam herein. „Mr. Jagger, bitte, lassen Sie uns jetzt einen Augenblick allein“, sagte sie. Mick ging hinaus. Sie setzte sich zu ihm ans Bett. „Es war ein Steckschuß“, sagte sie, „die Kugel ist draußen. Dr.

Robert meint, Sie würden nichts zurückbehalten, wenn Sie sich eine Weile ruhig verhalten.“

„Das paßt mir aber gar nicht“, sagte er, „ich habe so viel zu tun, daß ich mir hier im Bett recht überflüssig vorkomme.“

„Nicht zu ändern! Kann ich mal Ihren Verband sehen?“ Als sie sich über ihn beugte, fielen ihr die langen, blonden Haare ins Gesicht. Zimmermann betrachtete die Frau zum erstenmal genauer. Es ist nicht gut, daß ich ausgerechnet hier liege, dachte er, so etwas fehlte mir gerade noch. Denn er war ehrlich genug, zuzugeben, daß die Frau ihm sehr gut gefiel.

„Heute mittag werde ich ihn erneuern“, sagte sie, „und wickelte den Verband wieder fest. „Vielleicht wollen Sie schlafen bis dahin?“

„Ich bin nicht mehr müde“, sagte er. „Es wäre aber das beste!“ „Wollen wir uns jetzt so weiter unterhalten?“ fragte er lächelnd. Er

beobachtete, wie ihr die Röte ins Gesicht schoß. „Was möchten Sie essen?“ fragte sie, „wir haben hier noch fast alles,

hier geht das Leben weiter, als ob nichts geschehen wäre.“ „Machen Sie irgend etwas, ich bin nicht sehr wählerisch. Und wenn

Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann bitten Sie Mick, meinen Hund zu holen, der arme Kerl denkt vielleicht schon, ich sei ihm davongelaufen.“

„Mache ich.“ Sie blieb einen Moment stehen und sah ihn nachdenklich an. Als er

ihrem Blick nicht auswich, drehte sie sich schnell um und ging hinaus. Ein paar Minuten später brachte sie ihm ein Frühstück herein, von dem er nicht zu träumen gewagt hatte.

„Sie sind ein Engel“, sagte er, „ich wußte gar nicht, daß es so etwas noch gibt.“

Sie sah schweigend zu, wie er aß.

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6.

Am nächsten Vormittag saßen sie im Club zusammen, Buchanan mit seinen Leuten und Smitty mit seinen Begleitern. Zimmermann durfte das Bett noch nicht verlassen. Der Blutverlust hatte ihn ziemlich geschwächt; es würde noch einige Tage dauern, bis er wieder richtig auf den Beinen war.

Buchanan spielte mit seinem Bierglas. „Ich habe gleich gewußt, daß Sie mit diesem McHary Ärger

bekommen würden“, sagte er zu Smitty gewandt. „Ich kenne diese Typen schon; solche Leute werden uns die Aufbauarbeit immer wieder schwermachen, weil sie glauben, es gelten jetzt überhaupt keine Gesetze mehr. Das beste ist, man jagt sie davon sowie sie sich blicken lassen.“ Er sah Smitty aufmerksam an. „Wie steht es mit den Leuten, die Sie zurückgelassen haben? Können Sie sich auf die verlassen?“

Smitty nickte spontan. „McHary und seine Clique war uns allen ein Dorn im Auge. Immer

schon. Von Anfang an. Aber Milton konnte sich einfach nicht durchsetzen. Sie haben ihn ja erlebt. Ein herzensguter Kerl, aber alles andere, nur keine Autorität. Früher oder später mußte es bei uns zu einer Explosion kommen; ich habe eigentlich schon viel früher damit gerechnet.“

Buchanan sah ihn voll an. „Mr. Smith, ich habe lange über unsere beiden Gruppen

nachgedacht. Ich finde, wir sollten uns zusammentun. Wir können noch Männer gebrauchen, die arbeiten können, und Platz haben wir mehr als genug. Wollen Sie mit Ihren Leuten nach Jackville kommen?“

Gibson Kemp, der neben Buchanan saß, lachte, als er Smittys verdutztes Gesicht sah. Er zwinkerte Mick zu.

„Sie meinen, wir sollten umziehen, hierher?“ „Ganz recht! Bringen Sie mit, was Sie mitbringen wollen,

Lebensmittelvorräte, Waffen und so weiter. Wir werden uns schon vertragen.“

Smitty drehte sich um und sah seine Leute an. Alle nickten zustimmend. Smitty hob sein Glas.

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„Lieber Buchanan“, sagte er, „ich gehöre wahrhaftig nicht zu den überoptimistischen Leuten, die allerorts von neuen Anfängen reden, das können Sie mir glauben. Aber wenn ein neuer Anfang so aussieht, wie der, den wir machen, so wird es ein guter sein. Lassen Sie mich darauf mit Ihnen anstoßen!“

Buchanan lachte und hob sein Glas. „Eigentlich müßte ich ja erst Zimmermann fragen“, sagte Smitty,

„aber ich bin sicher, daß er diesen Plan gutheißt.“ „Sie haben viel, sehr viel Vertrauen zu einem Mann, den Sie erst ein

paar Stunden kennen“, sagte Buchanan. „Aber ich kann Sie gut verstehen. Ich will ehrlich sein: Es war Zimmermanns Auftreten, das mich bewog, Ihnen das Angebot zu machen. Dieser Mann hat mich vom ersten Augenblick beeindruckt.“

Mick Jagger, der die ganze Zeit über aufmerksam zugehört hatte, sagte schließlich:

„Ich glaube nicht, daß wir hierbleiben werden. Er will weiter nach Westen. Er hat irgend etwas vor. Ich weiß nicht, was. Er hat es mir nicht gesagt. Aber ich weiß, daß es ihn sehr beschäftigt. Eines aber ist ganz sicher: Wenn er bleibt, ist er mit dieser Lösung einverstanden.“

„Wir werden uns natürlich noch einigen müssen, wer hier zu bestimmen hat“, sagte Buchanan, „aber ich glaube nicht, daß das Schwierigkeiten machen wird.“

Mrs. Kirchherr und Dr. Robert kamen hinzu. Buchanan sah ihnen neugierig entgegen.

„Wie geht es ihm?“ fragte Smitty schnell. Er war mehr in Sorge, als er zugeben wollte.

„Es ist alles in Ordnung“, meinte Dr. Robert. „Er hat zwar keine Bärenkonstitution, aber er ist kräftiger, als ich im ersten Augenblick dachte. Nein, es besteht kein Anlaß zur Sorge. Ein paar Tage noch, dann läuft er wieder herum, unser Gerechtigkeitsapostel.“

„Gerechtigkeitsapostel?“ fragte Buchanan. Sie setzten sich. „Wir haben uns vorhin ein wenig unterhalten“, sagte Dr. Robert.

„Mr. Zimmermann ist ein außergewöhnlicher Mensch, wenn mich meine Allerweltspsychologie nicht im Stich läßt.“

„Weiß eigentlich jemand Näheres über ihn?“ fragte Buchanan. „Ich weiß nicht viel“, sagte Mick zögernd, „er ist Schriftsteller.“

Und er erzählte, wie er ihn getroffen hatte und was sie zusammen

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erlebt hatten. Plötzlich sprang er auf: „Ich hätte ja fast was vergessen! Ich sollte doch Walker holen!“ „Walker?“ Buchanan runzelte die Stirn. „Walker ist sein Hund“, sagte Mick eifrig, „ich habe ihm

versprochen, ihn zu holen. Kommst du mit, Gibson?“ Kemp sah Buchanan fragend an. Der nickte. „Geh nur“, sagte er, „geh nur und hole ihm seinen Hund.“ Die beiden jungen Männer gingen hinaus. „Er muß vor einiger Zeit eine böse Kopfverletzung gehabt haben“,

sagte Janet Kirchherr. „Er hat eine fast weiße Haarsträhne.“ Dr. Robert blickte nachdenklich auf seine Hände, die er auf dem

Tisch verschränkt hatte. „Ich glaube, daß er uns viel zu sagen hat, wenn er erst wieder ganz gesund ist. Außergewöhnlich, dieser Mann“, murmelte er noch einmal. Aber es war, als habe er den letzten Satz zu sich selber gesagt.

„Er soll jedenfalls vorerst im Bett bleiben“, meinte Smitty. „Passen Sie auf, Doktor, daß er das auch tut. Wir fahren erst mal nach Hause und holen die nötigsten Sachen. Ich muß auch noch mit den Männern reden, die zurückgeblieben sind. Die anderen Entscheidungen haben Zeit, bis Zimmermann wieder auf den Beinen ist.“ Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Buchanan“, rief er, „die Sache fängt langsam an, mir wieder Spaß zu machen!“

Und obwohl er nur „Sache“ gesagt hatte, wußte jeder, was er damit meinte.

Als Mrs. Kirchherr in ihr Haus zurückkehrte und nach dem Patienten sehen wollte, fand sie sein Bett leer. Der Schreck fuhr ihr in alle Glieder. Dann fragte sie sich, warum sie darüber erschrocken war, und befahl sich, nicht hysterisch zu werden. Wo sollte er schon sein? Sicher war er irgendwo im Haus. Als sie weiter darüber nachdachte, merkte sie, daß das gar nicht der Grund für ihr Erschrecken war. Janet Kirchherr gestand sich ein, was sie im ersten Moment gefürchtet hatte: Sie hatte daran gedacht, daß er fortgegangen sein könnte, ohne wiederzukommen. Warum sie das aber so erschreckt hatte, das gestand sie sich lieber nicht ein. Schließlich war sie eine Frau. Sie schüttelte den Kopf und verließ das Zimmer. Sie fand ihn dort, wo die Bücher standen. Er war vollständig angezogen und saß in einem Sessel vor der Bücherwand. Er stand auf, als sie eintrat.

„Hallo“, sagte er etwas unsicher, „ich habe es im Bett nicht mehr

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ausgehalten. Ich hoffe, Sie verraten mich nicht.“ Mrs. Kirchherr war einen Augenblick sprachlos. Sie hatte wieder

einen Schreck bekommen, als sie ihn dort sitzen sah, und wußte im ersten Moment nicht, was sie sagen sollte.

„Das werde ich aber doch tun“, sagte sie mit gespielter Strenge, „Sie müssen unbedingt noch liegenbleiben, Dr. Robert hat Ihnen das doch ausdrücklich gesagt!“

„Ärzte sagen immer so etwas“, meinte er leichthin, „es geht mir schon wieder ganz gut. Ich will Ihnen auch nicht länger zur Last fallen.“

Janet Kirchherr holte tief Luft und wollte etwas sagen. Schließlich sagte sie aber doch nichts.

„Wirklich“, meinte er, „ich mache Ihnen doch nichts als Ungelegenheiten. Erst schieße ich die Decke von Ihrem Zimmer herunter und liege dann noch in Ihren Betten herum!“

Er lächelte, als er ihre Verlegenheit bemerkte. „Dr. Robert übertreibt wirklich etwas“, sagte er. „Ich werde uns einen Kaffee machen“, sagte sie schließlich, um

überhaupt etwas zu sagen. Schließlich durfte Zimmermann auch mit ärztlicher Genehmigung

aufstehen. Smitty war mit seinen Leuten inzwischen nach Jackville umgezogen. Sie hatten nicht viel mitgebracht. Haushaltsgegenstände gab es in den leerstehenden Häusern, wo die Männer einquartiert wurden, genug, so hatten sie außer ihrer Kleidung nur noch die Waffen mitgebracht. Waffen, die Smitty gehörten. Smitty jedoch hatte sie sofort als Gemeingut erklärt und Buchanans Verfügungsgewalt unterstellt. Er war recht froh darüber, daß er diese Verantwortung endlich los war; er war ein alter Mann, der in Ruhe seinen Lebensabend verbringen wollte; Verantwortung, das war etwas, was er den Jüngeren überlassen wollte.

Zimmermann sah gerade zu, wie John, Mrs. Kirchherrs Sohn, mit Walker spielte, als Gibson Kemp zu ihm kam.

„Mr. Zimmermann“, sagte Kemp, „die Männer sind soweit. Können Sie jetzt kommen?“

Mick, der nicht von Zimmermanns Seite wich, stand sofort auf und bot sich als Stütze an.

„Du tust ja gerade so, als sei ich ein alter Mann“, knurrte Zimmermann, aber er legte doch seinen Arm um Micks Schultern,

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denn er war noch ein wenig wacklig auf den Beinen. Die Einwohner von Jackville und die Männer, die zu Smitty

gehörten, waren im Gemeindesaal versammelt. Als Zimmermann auf Mick gestützt den Raum betrat, klatschten sie einmütig.

Zimmermann fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Er sah zu Boden, als er nach vorn zu Buchanan ging, der auf einem kleinen Podium stand und ihn erwartete. Als er sich gesetzt hatte, setzten sich auch die Leute im Saal wieder.

„Ich brauche Ihnen den Mann, der hier neben mir sitzt, nicht eigens vorzustellen“, sagte Buchanan mit einem Seitenblick auf Zimmermann. „Obwohl er sich selbst nie vorgestellt hat, wissen wir alle, wer er ist. Er ist zu uns gekommen und hat, ohne lange zu reden, gehandelt, obwohl ihn die Sache eigentlich gar nichts anging. Wir alle haben Grund, ihm von Herzen dankbar zu sein. Ich habe Sie hier zusammengerufen, weil ich Ihnen etwas zu sagen habe. Und vielleicht wird auch nach mir Mr. Zimmermann zu Ihnen reden. Sie wissen, was in den letzten Tagen geschehen ist. Wir hatten Besuch aus dem Nachbarort. Dabei gab es einen Zwischenfall mit dem Banditen, der uns dann später noch einmal mit seinem Besuch beehrte. Den Rest wissen Sie. Ich habe Mr. Smith eingeladen, zu uns zu ziehen. Das ist inzwischen geschehen. Ich glaube, ich habe damit in Ihrem Sinne gehandelt. Ich habe Sie heute versammelt, um Sie zu fragen, ob Sie bereit sind, Robert Zimmermann als zweiten Bürgermeister zu akzeptieren. Ich weiß keinen besseren Mann. Ich bin nicht mehr der Jüngste, und ich werde über kurz oder lang einen Mann brauchen, der mich vertreten kann und der mein Nachfolger wird. Ich habe Vertrauen zu diesem Mann. Und ich bitte Sie, ihm dasselbe Vertrauen entgegenzubringen.“

Als er eine Pause machte, standen die Leute einmütig auf und spendeten ihm Beifall. Als es etwas ruhiger geworden war, sah Buchanan Zimmermann auffordernd an.

„Mr. Zimmermann, ich bitte Sie nun, uns etwas zu sagen!“ „Ich bin sehr überrascht“, sagte Zimmermann, „ehrlich gesagt, ich

muß mich mit dieser Situation erst etwas vertraut machen. Aber Sie haben natürlich ein Recht, etwas über mich zu erfahren.“ Er machte eine kleine Pause. „Verzeihen Sie, ich rede ein bißchen durcheinander. Ich nehme Ihren Vorschlag gern an. Ich werde versuchen, Ihr Vertrauen in mich zu rechtfertigen. Ich werde Ihnen jetzt nicht

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allzuviel über mich sagen, denn es gibt nicht viel über mich zu erzählen. Ich habe seit der Katastrophe Tagebuch geführt, und vielleicht können wir das mit mehreren Durchschlägen abschreiben und herumgehen lassen. So erfahren Sie am besten meine Ansichten und Erlebnisse. Vielleicht ist das auch der Anfang einer Zeitung; denn ich finde, eine so große Gemeinschaft wie unsere braucht eine Zeitung, um Nachrichten schneller zu verbreiten. Damit werden Gerüchte unwirksam gemacht. Ich will mich gern darum kümmern und bitte diejenigen, die mir dabei helfen wollen, zu mir zu kommen, damit wir die Einzelheiten besprechen können. Mein Beruf ist Schriftsteller. Ich habe ein paar meiner Bücher bei mir. Wer sie lesen möchte, möge sich bei mir melden.“ Er machte eine etwas hilflose Handbewegung. „Eigentlich ist das alles. Nein, noch etwas: Ich finde, wir sollten die Sache mit den Waffen regeln. Ich bin dafür, daß alle in ein Depot kommen und daß sie bei Bedarf ausgegeben werden. Wir sollten jeden Tag und jede Nacht Wachen aufstellen, damit wir gegen Angriffe geschützt sind. Es treibt sich allerhand Gesindel im Lande herum, und das wird sich in nächster Zeit wohl auch noch nicht ändern. Ich werde mit Mr. Buchanan ein paar allgemeingültige Regeln für unser Zusammenleben ausarbeiten. Ich sage Ihnen gleich, daß diese Regeln streng sein werden. Das wäre erst mal das Wichtigste. Wir haben viel zu tun. Noch nie in der Geschichte unseres Landes hat eine Gemeinschaft so viel Aufgaben und so viel Verantwortung gehabt, außer in der Zeit der Besiedlung. Unsere Situation gleicht dieser Siedlerzeit. Wir wollen die alten Fehler nicht wiederholen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Und ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen.“

Die Menschen quittierten seine Rede mit Beifall. Der alte Smitty, der in der ersten Reihe saß, nickte zufrieden. Ich habe es doch gleich gewußt, dachte er. So einen Mann brauchen wir.

Abends saß Buchanan mit Zimmermann und ein paar Männern noch im „Club“ zusammen.

„Sie haben mich ja wirklich etwas überrascht“, sagte Zimmermann, „nur weil ich diese Gangster erledigt habe, sind Sie alle so voller Vertrauen zu mir. Wir werden ja sehen.“

„Es ist nicht nur das. Sie haben bewiesen, daß Sie auch mit handfesten Schwierigkeiten fertig werden. Und ich bin sicher, daß wir noch mehr bekommen werden. Ich meine, bis wir einen echten und

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endgültigen Frieden haben.“ Zimmermann sah ihn aufmerksam an. „Wie meinen Sie das?“ Buchanan zögerte etwas. Offensichtlich hatte er noch etwas auf dem

Herzen, von dem er bisher noch nicht geredet hatte. Plötzlich war es still im Zimmer. Kemp, der damit beschäftigt war, bei Micks Gitarre eine neue Saite einzuziehen, legte sie plötzlich beiseite und hörte aufmerksam zu.

„Es ist vielleicht noch ein bißchen zu früh, um darüber zu reden“, sagte Buchanan schließlich. „Ich weiß auch nicht, wie Sie darüber denken. Über den Krieg und über die Leute, die ihn vom Zaun gebrochen haben. Aber warum soll ich es Ihnen nicht sagen: Ich bin dafür, daß wir die Verantwortlichen vor ein Gericht stellen. Wir brauchen entschlossene, kaltblütige Männer dazu, Zimmermann. Wenn wir eine neue Gesellschaft aufbauen wollen, von der Sie vorhin geredet haben, müssen wir erst mal vor unserer eigenen Tür kehren, sonst haben wir in kürzester Zeit denselben Schlamassel.“ Er trank einen Schluck aus seinem Glas. „Ich habe als junger Mann noch miterlebt, wie mein Vater um die Gleichberechtigung der Neger kämpfen mußte. Heute ist diese Gleichberechtigung fast eine Selbstverständlichkeit. Fast. Und wahrscheinlich nur bei uns. Wir müssen allen Anfängen der Unterdrückung wehren. Und dazu gehört, daß die gewissenlosen Leute, die sich auf diesen Wahnsinn eingelassen haben, bestraft werden müssen.“

Zimmermann blickte Buchanan fest in die Augen. „Das ist genau meine Meinung“, sagte er hart. „Sie wissen, wo wir

sie finden können, nicht wahr?“ Buchanan war überrascht. „Ja“, sagte er schließlich. „Sie sind im Norden, tief unter der

Erdoberfläche. Ich kannte jemanden, der das genau wußte. Er hat es mir gesagt, bevor er starb. Er war einer von ihnen.“ Er sah hinab auf seine faltigen Hände. „Ich habe auch dazugehört, aber das ist schon lange her. Ich habe gemerkt, wohin der Hase lief und habe mich rechtzeitig abgesetzt. Ich war nicht der einzige, aber trotzdem waren es nicht genug.“

Zimmermann tastete seine linke Schulter ab. „Im Norden also“, murmelte er fast wie im Selbstgespräch. „Sie

wissen genau, wo?“

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Buchanan nickte. „Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, daß eines Tages ein Mann

kommen würde, der es für mich tun wird“, sagte er. „Diese Leute sind nicht mehr wert als McHary und seine Banditen“,

sagte Zimmermann, „das einzige, was sie unterscheidet, ist ihr Intelligenzquotient.“

„Es gibt noch etwas, was ich Ihnen sagen möchte. Es ist nichts Konkretes, aber immerhin ist einiges durchgesickert. Es gibt einen geheimen Raketenstartplatz. Die Raketen sollen Menschen aus den verseuchten Gebieten in den Weltraum evakuieren. Die Raketen haben einen neuartigen Antrieb, der es ihnen möglich macht, unser Sonnensystem zu verlassen. Sie können sich vorstellen, was das heißt. Diese Raketen sind nicht sehr zahlreich. Sie können nur eine beschränkte Anzahl von Menschen transportieren. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, wie diese ,Elite’ aussehen wird, die dafür vorgesehen ist.“

„Sie haben absichtlich so lange mit diesem Plan gewartet?“ „Ja. Ich selbst könnte die Strapazen einer solchen Reise nicht mehr

mitmachen. Ich habe auf den richtigen Mann gewartet. Ich werde hierbleiben. Sobald Sie gesund sind, können Sie mit etwa zwanzig Mann aufbrechen und diese Aufgabe erfüllen. Das geht vor. Solange das nicht erledigt ist, ist unsere Aufbauarbeit gefährdet.“

Zimmermann zündete sich eine Zigarette an. „Ja“, sagte er langsam und blies den Rauch aus, „so werden wir es

machen. Wir werden unser Land säubern. Und ich kann mir gut vorstellen, daß die Menschen in den anderen Ländern ähnlich reagieren. Die Überlebenden.“

Buchanan nickte zustimmend. „Ich wollte eigentlich gar nicht so schnell damit herausrücken“,

sagte er, „aber da Sie schon mal danach fragten, war es ja wohl kein Fehler.“

„Nein“, sagte Zimmermann mit fester Stimme, „es war bestimmt kein Fehler.“

Zimmermann blieb noch lange im „Club“. Gibson Kemp, der Mick die Gitarre repariert hatte, redete noch lange mit ihm, und die Unterhaltung mit diesem jungen Mann machte ihm Spaß. Kemp war Engländer; zur Zeit der Katastrophe war er gerade in Amerika auf Tournee mit seiner Gruppe gewesen, einer sehr erfolgreichen

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Kombination von jungen Musikern, die eine Musik machten, die entfernt an den Beat der sechziger Jahre erinnerte. Die Katastrophe hatte ihn in einer größeren Stadt in der Nähe von Jackville überrascht; seine Freunde hatten beschlossen, sich zu einer Küstenstadt durchzuschlagen, er selbst hatte sich einer Gruppe angeschlossen, die nach Jackville gezogen war.

Kemp war ein äußerst vielseitiger und intelligenter junger Mann. Er gehörte bald zu Buchanans Vertrauten. Zimmermann redete mit ihm über Bücher und literarische Probleme, als ob nie etwas geschehen wäre. Hinzu kam, daß sie im Lauf des Gesprächs feststellten, daß sie eine ganze Reihe von gemeinsamen Bekannten in London hatten.

Zimmermann freute sich, daß sich Mick und Kemp so schnell angefreundet hatten, obwohl ihre Ansichten über Musik recht differierten. Mick bevorzugte die Rhythm and Blues-Music mit einer Textbotschaft; Kemp tat das etwas verächtlich als „antiquierten Quatsch“ ab und vertrat einen mehr ästhetischen Standpunkt. Trotz dieser Unterschiede waren sich die beiden auf Anhieb sympathisch gewesen.

„Was haben sie denn erreicht mit ihren Weltverbesserungsvorschlägen in den Texten?“ fragte Kemp, „nichts, gar nichts. Anfangs, gebe ich zu, war’s vielleicht sogar ehrlich gemeint; dann aber, als sie merkten, daß es ein gutes Geschäft wurde, haben sie es so kommerzialisiert, daß diese Lieder von der übrigen Pop-Musik nicht mehr zu unterscheiden waren.“

„Alles richtig“, sagte Mick, „ich finde nur: Wenn Lieder mit einigermaßen intelligenten Texten in das große Geschäft kommen, so ist es mir immer noch lieber als die übliche Herz-Schmerz-Verlogenheit.“

Als Zimmermann die beiden reden hörte, spürte er noch einmal den gewaltigen Riß, den diese Welt über Nacht bekommen hatte. Ein Gespräch, das sich heute, unter diesen Lebensbedingungen, nicht um die primitiven materiellen Dinge, um Nahrung, Wohnung und Überleben drehte, mutete geradezu absurd und absonderlich an.

Zimmermann ging hinüber ins Haus von Mrs. Kirchherr. Als er die Straße überquerte, sah er, daß überall noch Menschen in Gruppen zusammenstanden und diskutierten. Als er vorüberging, grüßten sie ihn.

Er sah, daß in Mrs. Kirchherrs Zimmer noch Licht war. Er ging in

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sein Zimmer und zog sich die Jacke aus. Sein Arm schmerzte kaum noch. Zimmermann zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf sein Bett. Er versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, aber es gelang ihm nicht. Er versuchte, an sein und Buchanans Vorhaben zu denken; er versuchte, Pläne für die Zeitung zu schmieden, die er gründen wollte, aber es schob sich immer etwas davor, was er nicht vertreiben konnte. Es war das Bild, wie sich eine Frau über ihn beugte, um nach seinem Verband am Arm zu sehen: das Gesicht einer Frau, das eingerahmt war von langen, blonden Haaren. Und jedesmal, wenn er den Gedanken gewaltsam vertreiben wollte, dachte er daran, daß diese Frau mit ihm in demselben Haus war, wenige Schritte entfernt. Ihr Mann war vom ersten Kriegstag an verschollen, hatte er gehört. Sie war aus einer der großen Städte gekommen und hatte sich hier mit ihrem kleinen Sohn niedergelassen. Janet Kirchherr war vielleicht nicht das, was man eine schöne Frau nannte; sie war weder klein noch zierlich, noch war ihr Gesicht besonders regelmäßig geschnitten. Um ehrlich zu sein, dachte Zimmermann, sie war sogar recht groß und kräftig gebaut; sie hatte ein festes, energisches Kinn, das mit den vollen, weichen Lippen in Widerspruch zu stehen schien. Zimmermann sah ihr gern zu, wenn sie sich bewegte; es war ihm dann, als sähe er einem großen, geschmeidigen Raubtier zu. Jede Bewegung entstand aus der anderen und ging in die nächste über. Ihre großen Augen waren grünblau; ihr Blick verriet Selbstsicherheit. Und nur, wenn sie Zimmermann ansah, schien ihr Blick zu verschwimmen. Zimmermann war alles andere als ein Frauenkenner. Das einzige, was er über sie sagen konnte, war, daß er unruhig wurde, wenn sie nicht in seiner Nähe war. Er drückte seine Zigarette aus. Dann stand er auf und ging zu ihr. Sie saß in einem der Sessel vor der Bücherwand.

„Janet“, sagte er, „ich werde bald mit einigen Männern fortgehen müssen.“ Es war das erste Mal, daß er sie mit ihrem Vornamen anredete.

„Ich habe es mir fast gedacht“, sagte sie. „Ich weiß von Buchanans Plänen.“

„Wenn ich gehe“, sagte er leise, „wird Mick hierbleiben, bei dir und John.“

Sie stand auf und legte ihren Kopf an seine Brust. „Ich habe es gleich gewußt“, sagte sie. Und er wußte, was sie damit

meinte.

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Er machte eine hilflose Bewegung mit seinem linken Arm. „Ich kann dich nicht mal über die Schwelle tragen“, sagte er

lächelnd. „Wir können ja auch so gehen“, meinte sie und lächelte ebenfalls. Sein Arm heilte schnell. Dr. Robert sah noch jeden Tag nach der

Wunde; sie hatte sich bereits geschlossen und vernarbte. Buchanan saß stundenlang in seinem Haus und arbeitete mit einer Landkarte, auf der er Eintragungen vornahm. Wenn Zimmermann nicht Passagen aus seinem Tagebuch abschrieb, die er den Leuten zu lesen geben wollte, war er bei ihm.

Der Tag des Aufbruchs rückte heran. Smitty ging jeden Tag mit zwanzig ausgesuchten Männern in den

nahen Steinbruch und brachte ihnen bei, wie man mit den Waffen umging. Nach zwei Wochen meldete Smitty, daß die Männer bei ihm nichts mehr lernen konnten.

Am Tag vor dem Aufbruch versammelten sie sich noch einmal. Zimmermann saß zwischen Buchanan und Janet Kirchherr. Ihnen gegenüber räkelte sich der alte Smitty in einem Schaukelstuhl. Die Männer machten ernste Gesichter.

Buchanan strich sich durch die kurzen, krausen Haare, die in der letzten Zeit fast weiß geworden waren.

„Wir haben alles besprochen“, sagte er. „Ich glaube, ihr könnt euer Ziel in ein paar Wochen erreichen, wenn die Straßen noch in Ordnung sind. Ihr habt zwei Lastwagen, einige Motorräder und Waffen und Lebensmittel. Unterwegs müßte auch noch Benzin zu finden sein. Vermeidet Kontakt mit anderen Gruppen, das könnte nur zu Komplikationen und Verzögerungen führen.“

Janet legte ihre Hand auf Zimmermanns Arm. „Seid vorsichtig, er hat recht!“ Zimmermann sah die Angst in ihren Augen. „Klar“, sagte er, „wir werden die Sache so schnell wie möglich

erledigen. Ich glaube nicht, daß wir lange fort sein werden.“ Buchanan sah die Männer der Reihe nach an. „Denkt daran“, sagte er, „ich will kein unnötiges Blutvergießen.

Damit ist niemand gedient. Ihr sollt sie nicht umbringen. Stellt sie vor ein Gericht. Meinetwegen brennt ihnen ein Zeichen auf die Stirn, wie sie es mit meinen Vorfahren gemacht haben. Der Süden wimmelte damals von Negern mit Brandzeichen. Niemals wieder sollen sie

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unsere Anführer werden. Das ist das erste, was wir erreichen wollen. Nicht das Töten! Zimmermann, Sie wissen das: Rache allein macht das Unrecht nicht wieder gut! Auch das haben meine Eltern und Großeltern zu spät begriffen!“

Zimmermann nickte langsam. „Ich weiß“, sagte er. „Sie können sich auf uns verlassen. Uns kann

nichts passieren, wir sind gut bewaffnet. Ich bin nur etwas in Sorge um euch. Ihr müßt ständig auf der Hut sein. Laßt die Wachen ständig aufgestellt.“

„Unsere Frauen können mit Gewehren umgehen“, sagte Buchanan. Er zog die Karte aus der Tasche und gab sie Zimmermann. „Die Zufahrtswege sind genau eingezeichnet. Verliert die Karte nicht.“

Zimmermann steckte die Karte ein. Er stand auf und klopfte Buchanan auf die Schulter. „Wir brechen morgen kurz vor Sonnenaufgang auf. Wir werden schon am ersten Tag ein ordentliches Stück schaffen.“

„Machen Sie es gut, Bürgermeister“, sagte Buchanan und hielt ihm die Hand hin.

Zimmermann überprüfte zum letztenmal die Sachen, die er mitnehmen wollte.

„Es wird schon hell“, sagte Janet. Zimmermann zog den Rucksack zu. „Ich werde John schlafen lassen“, sagte er. „Wir machen alles so,

wie verabredet. Walker und Mick bleiben bei dir. Du kannst dich auf Mick verlassen. Er ist zwar noch jung, aber er kann sich wie ein Mann verhalten. Walker gehorcht ihm aufs Wort. Mick wird nach Möglichkeit das Haus nicht verlassen. Schick ihn nicht weg, wenn es nicht unbedingt nötig ist.“

„Du redest, als hättest du eine Befürchtung“, sagte sie. Zimmermann wollte sie nicht mit seinen Gedanken belasten. „Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme“, sagte er schließlich, „es hat

nichts Besonderes zu bedeuten. Ich will nur sichergehen. Buchanan wird öfter kommen und dir Gesellschaft leisten.“

„Er ist ein guter Kerl. Ich mag ihn gern.“ Zimmermann nickte. Er sah aus dem Fenster. „Die Männer sind fast vollzählig. Ich muß jetzt gehen, Janet.“ „Geh“, sagte sie leise. „Sie warten auf dich.“ Er sah noch einen Moment auf sie hinab. Dann küßte er sie und ging

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schnell hinaus. Er begrüßte die Männer und fragte Kemp, ob alles in Ordnung sei. „Alles klar“, sagte Kemp. „Es kann losgehen!“

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7.

Die Straße war menschenleer, als die Kavalkade Jackville verließ.

Der Morgen war empfindlich kühl. Zimmermann saß mit Kemp und dem Fahrer in der Fahrerkabine des ersten Lastwagens.

Als sie aus Jackville hinausfuhren, hob der Wachtposten vom Transformatorenhaus grüßend die Hand. Er blieb schnell zurück, als Grant die Geschwindigkeit des Wagens erhöhte. Der zweite Wagen mußte Gas geben, um den Anschluß nicht zu verpassen.

„Die Straße ist noch ganz gut“, sagte Grant. „Hoffentlich bleibt sie auch so.“

Frank Gilbert, der hinten auf dem Lastwagen saß, hatte die Verbindungsluke zur Führerkabine geöffnet und das Gespräch mit angehört.

„Es ist noch ein ziemliches Stück“, knurrte er. Er sah unausgeschlafen aus. „Wie sie dann wird, weiß der Teufel.“

Sie fuhren durch drei Dörfer, die allem Anschein nach unbewohnt waren. Ein fauliger Geruch von Tod und Verwesung hing in der Luft.

Nachdem sie das dritte Dorf passiert hatten, wurde die Straße schlechter. Sie führte jetzt durch unebenes Gelände, an einzelnen Farmen vorbei. Zimmermann sah einige ausgetrocknete Flußläufe. Hier hatte es lange nicht mehr geregnet.

Gegen Abend des ersten Tages sahen sie von fern eine kleine Stadt, die offensichtlich noch bewohnt war. Sie konnten einen schwachen Lichtschein aus einigen Häusern feststellen. Zimmermann dachte an Buchanans Warnung. Es war vielleicht wirklich besser, wenn sie unterwegs zunächst keinen Kontakt zu anderen Siedlungen aufnahmen.

Er ließ Grant anhalten, stieg aus und ging zum zweiten Wagen, dessen Fahrer sich aus dem heruntergelassenen Fenster beugte.

„Na“, sagte Epstein, „was machen wir jetzt?“ „Der Karte nach müßte das Cornertown sein“, meinte Zimmermann. „Stimmt!“ „Wir fahren besser nicht durch“, sagte Zimmermann. „Wir schlagen

unser Lager hier auf. Da drüben stehen ein paar Bäume, und ich glaube, da gibt es auch Wasser. Der Platz liegt geschützt und ist im Notfall auch gut zu verteidigen.“

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„Okay. Fahrt vor. Ich sage den anderen Bescheid.“ Epstein war einer von Smittys Leuten; er war absolut zuverlässig.

Zwar hatte er sich geweigert, wieder ein Gewehr in die Hand zu nehmen, aber Zimmermann nahm nicht an, daß er sich im Ernstfall einfach totschlagen lassen würde. Epstein kannte sich gut im Lande aus. Notfalls würde er auch ohne die Karte auskommen.

Die Baumgruppe lag etwas erhöht seitlich an der Straße. Zimmermann konnte von dort aus direkt auf Cornertown hinabsehen; er konnte von diesem Punkt aus sofort feststellen, ob jemand aus der Stadt zu ihnen unterwegs war.

Sie machten kein Feuer, um nicht unnötig Aufsehen zu erregen. Nach dem Essen teilte Zimmermann Wachen ein. Er selbst übernahm auch eine Wache. Kemp protestierte zwar dagegen, aber Zimmermann schnitt ihm kurzerhand das Wort ab.

Er war müde und schlief schnell ein. Grant weckte ihn mitten in der Nacht.

Zimmermann reckte sich und griff nach seiner MPi. „Irgend etwas Besonderes?“ fragte er. Grant schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Allerdings sieht man immer noch einen

schwachen Lichtschimmer aus der Stadt.“ „Vielleicht beobachten die uns genauso, wie wir sie.“ „Schon möglich.“ Zimmermann nahm seinen Posten ein. Nach einer Weile war hinter

ihm eine Bewegung. Er drehte sich um und erkannte Gibson Kemp. „Was wollen Sie denn hier, warum schlafen Sie nicht?“ „Ich kann nicht mehr schlafen. Außerdem wird es sowieso bald

hell.“ Er machte ein verschmitztes Gesicht. „Grant hat Sie doch übers Ohr gehauen“, sagte er.

Zimmermann mußte mitlachen. „Grant soll sich nachher hinten auf den Wagen legen“, sagte er. „Ich

fahre für ihn weiter.“ Sie brachen früh auf. Epstein hatte vorher mit Zimmermann

zusammen die Karte studiert und herausgefunden, daß sie um Cornertown herumfahren konnten. Es gab einen Feldweg, der später wieder auf die Landstraße führte.

Sie passierten in einer Entfernung von drei Kilometern die Stadt. Niemand hielt sie auf. Zimmermann sah Rauch aus vielen

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Schornsteinen. Einmal bemerkten sie in einiger Entfernung ein paar Menschen, die an einer Ausfallstraße standen. Aber sie rührten sich nicht.

„Die sind froh, daß wir sie in Ruhe lassen“, brummte Kemp. Als sie wieder auf der Landstraße waren, fuhren sie wieder

schneller. Die Männer, die hinten auf den Wagen saßen, waren guter Laune.

Sie lachten, sangen manchmal sogar und erzählten sich Witze. Zimmermann lächelte; er konnte sie verstehen.

Am Abend des zweiten Tages erreichten sie ein verlassenes Gehöft, wo sie die Nacht über bleiben konnten. Sie fuhren die Wagen in die Scheune und zündeten auf dem Hof ein Feuer an. In das Haus selbst gingen sie nicht, der Geruch hielt sie davon ab.

Nach einer Woche näherten sie sich endlich ihrem Ziel. Sie hatten Glück. In den letzten Tagen waren ihre Benzinvorräte

bedenklich zur Neige gegangen, und Buchanans Angaben, wo sie Tankstellen finden konnten, hatten sich als falsch erwiesen. Jetzt hatten sie endlich eine gefunden, die noch genügend Vorräte für sie hatte.

Mit dem Treibstoff, den sie hier gefunden hatten, kamen sie bis zu den Bunkern und zurück. Das wichtigste Problem war gelöst.

Die Landschaft hatte sich merklich geändert. Die Straße führte stundenlang durch dichte Wälder, die nur von Lichtungen und kleineren Ansiedlungen unterbrochen wurden. Menschen sahen sie kaum noch. Die Berge wurden höher, und Zimmermann mußte immer öfter die Karte zu Rate ziehen. Nicht mehr lange, und sie mußten die Abzweigung erreichen, von der Buchanan gesprochen hatte. Von dort aus ging es dann hinauf in die Berge.

Von dieser Abzweigung aus hatten sie noch etwa vierzig Kilometer bis zu ihrem Ziel, dem geheimen Atombunker. Immer öfter fragte sich Zimmermann, ob er dort überhaupt jemand finden würde. Und er fragte sich, was er wirklich mit ihnen machen sollte, wenn er sie fand.

Hatte Buchanan das mit dem Brandzeichen ernst gemeint? Zimmermann konnte es nicht glauben.

Bei Anbruch der Dämmerung erreichten sie die Abzweigung. Es war ein schmaler, behelfsmäßiger Weg, der nicht einmal asphaltiert war. Er führte direkt in den Wald hinein. Er sah aus wie einer jener Forstwege, die es in allen Ländern der Welt gibt. Er stand nicht auf

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der Karte, dazu war er zu klein. „Hierher haben sich die Brüder verzogen“, sagte Frank Gilbert. In

seiner Stimme war plötzlich Haß. Zimmermann sah ihn aufmerksam an. Er roch das Unheil förmlich.

Aber er hatte noch keinen Grund, Gilbert zurechtzuweisen. „Ich bin gespannt, ob sie überhaupt noch am Leben sind“, sagte

Gilbert, „hierher haben sie sich also verzogen. Das sieht diesem Pack ähnlich.“

Zimmermann meinte durchaus dasselbe. Und er hätte auch keinen Grund zur Beunruhigung gehabt, hätte in Gilberts Stimme nicht dieser merkwürdige Unterton gelegen.

„Früher sagte man: Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen“, meinte Zimmermann. „Wir sind hier, um das zu ändern. Nur sollten wir dabei unseren klaren Kopf behalten.“

Gilbert hantierte an seinem Gewehr herum. „Gilbert, haben Sie mir zugehört?“ fragte Zimmermann scharf. „Jaja, ist ja gut“, sagte Gilbert. Aber Zimmermann war alles andere als beruhigt. Er suchte nach einem Lagerplatz, bevor es völlig dunkel geworden

war. Die Autoscheinwerfer wollte er die Nacht über nicht brennen lassen, sie wären kilometerweit zu sehen gewesen. Weiter vorn wurde der Wald lichter.

„Wir müssen hier irgendwo bleiben“, sagte Zimmermann, nachdem sich die Männer um ihn versammelt hatten. „Morgen werden wir weitersehen. Vielleicht schicken wir ein paar Leute vor und lassen die Wagen zurück. Aber eines bitte ich mir aus: keine Extratouren! Hört ihr: keine Extratouren! Dann kann unser ganzes Unternehmen umsonst sein.“

Sie fanden einen Bach, der von Fischen wimmelte. Die Bäume standen so günstig, daß die Zweige die Lastwagen fast verdeckten. Zimmermann erlaubte den Männern nur ein kleines Feuer, damit sie die Fische braten konnten, die sie fangen wollten. Als er die Wachen verteilt hatte, rief er die Männer noch einmal zusammen.

„Es wird jetzt ernst“, sagte er. „Wir müssen von nun an vorsichtiger sein. Keinen unnötigen Krach. Daß niemand auf die Idee kommt, jetzt sein Gewehr auszuprobieren! Vielleicht sind sie noch in den Bunkern, vielleicht auch nicht. Sicher ist, daß sie Angst haben; solche Leute haben immer mehr Angst als die anderen. Denn wenn die Angst nicht

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gewesen wäre, hätte es auch keinen Krieg gegeben. Wir wollen auf keinen Fall, daß sie uns zuerst entdecken. Wir wollen sie in ihren Löchern überraschen.“

„Richtig“, sagte Hank Richards, ein wuchtiger Farmer aus dem Mittelwesten, „wir packen sie in ihren Löchern und machen kurzen Prozeß.“

„Das kommt nicht in Frage“, sagte Zimmermann fest. „Wir führen das Unternehmen so durch, wie wir es geplant haben. Wir wollen erst mal hören, was sie uns zu sagen haben. Dann werden wir weitersehen. Wenn wir sie einfach erschießen, sind wir nicht besser als sie. Ich will so etwas nicht noch einmal hören. Richten Sie sich danach!“

„Ich bin dafür, daß wir einen Stoßtrupp auf den Motorrädern vorschicken“, sagte Frank Gilbert, „die anderen bleiben hier und warten. Wenn die ersten geschnappt werden, wissen wir wenigstens Bescheid.“

„Und wie merken wir, daß sie geschnappt worden sind?“ fragte Zimmermann.

„Ganz einfach. Wir machen eine Zeit aus. Wenn sie bis dahin nicht zurück sind, weiß man hier, was zu tun ist.“

Zimmermann nickte. Er bestimmte fünf Männer aus der Schar der Freiwilligen und

machte Hank Richards zum Stoßtruppführer. Zimmermann nahm an, daß Richards jetzt nicht mehr unüberlegt handeln würde. Gilbert behielt er lieber hier, obwohl von ihm der Vorschlag stammte.

Die Männer sollten am nächsten Morgen mit drei Krädern aufbrechen und abends zurück sein. Waren sie das nicht, sollten die beiden Lastwagen ihnen folgen.

Das dritte Krad hatte einen Beiwagen; Zimmermann ließ ein leichtes Maschinengewehr darauf montieren. Alle Männer trugen Maschinenpistolen. Fritz Doppier erhielt das einzige Gewehr mit Zielfernrohr, das sie mitgenommen hatten. Fred Morgan sollte, wenn nötig, das Maschinengewehr bedienen.

Die fünf Männer brauchten in dieser Nacht keine Wache zu halten. Der Feldweg veränderte sich nicht. Er wurde offensichtlich wenig

benutzt. Das einzige Auffällige war nur, daß er keine Seitenwege hatte. Es gab weder Hinweis- noch Verbotsschilder.

Hank Richards fuhr allein voran. Die anderen folgten mit geringem Abstand. Nach und nach wurde der Weg steiler. Plötzlich war ein

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Stück der Steigung asphaltiert. Die Sonne stieg höher und schickte ihre Strahlen zu den nahen Gipfeln der Berge, die in Fahrtrichtung die Sicht versperrten.

Der Wald wurde niedriger und jünger. Nachdem sie zwanzig Kilometer in den Wald hineingefahren waren, hielt Richards an und winkte den anderen, ebenfalls stehenzubleiben.

Er nahm seine MPi von der Schulter und hielt sie lässig in der Hand. In seiner riesigen Faust sah die Waffe wie ein Spielzeug aus. Richards winkte den anderen noch einmal zu. Als sich alle versammelt hatten, sagte er:

„Na, fällt euch gar nichts auf?“ „Was soll schon sein?“ meinte Fred Morgan. „Da merkt man gleich, daß ihr aus der Stadt kommt“, meinte

Richards, „hier sind frische Spuren!“ Die Männer suchten auf dem Boden herum, konnten aber nichts

entdecken. Richards zeigte ihnen die Spuren. Sie waren in der Tat frisch und stammten von schweren Schuhen

oder Stiefeln. Sie stammten von zwei Personen, die bergan gegangen waren. Ältere Eindrücke führten abwärts.

„Sollen wir hinterher fahren oder zu Fuß gehen?“ erkundigte sich Fritz Doppier mißtrauisch. Der Gedanke, auf das Motorrad zu verzichten, war ihm offensichtlich nicht sehr angenehm.

„Sie können noch nicht weit sein“, sagte Richards. „Wir gehen am besten zu Fuß. Morgan bleibt als Wache bei den Krädern. Die anderen drei kommen mit mir. Wenn du Schüsse hörst, Morgan, fährst du mit dem Krad los und bringst das Maschinengewehr in Stellung, okay?“

„Sollt mal sehen, wie schnell ich denen dann Beine machen werde“, sagte Morgan und grinste breit. Es war ihm ganz recht, daß er zurückbleiben sollte. Spaziergänge mit möglicherweise tödlichem Ausgang waren noch nie sein Hobby gewesen.

Hank Richards, Fritz Doppier und die restlichen Männer machten sich an den Aufstieg. Der Weg beschrieb jetzt viele Kurven, aber er war nicht mehr so steil. Der Baumwuchs wurde spärlicher, und dafür gab es hier mehr Farnkraut und Gestrüpp. Das Gras war kurz. Es war um die Mittagszeit. Die Sonne stand hoch am Horizont und brannte heiß hinab.

Richards blieb mit einem Ruck stehen. Doppier, der kurz hinter ihm

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gegangen war, prallte gegen ihn. Er überlegte sich schon die Flüche, die er Richards an den Kopf werfen wollte, als er sah, warum Richards so plötzlich stehengeblieben war.

Der Weg führte an einer Lichtung vorbei. Und auf dieser Lichtung stand ein Düsenbomber, keine hundert Meter von den Männern entfernt. Er stand dort etwas schief, so, als sei er nicht ganz freiwillig gelandet. Die Männer, die ihn hierher manövriert hatten, mußten eine ordentliche Portion Glück gehabt haben, daß er nicht ganz zu Bruch gegangen war. Am Heck des Düsenbombers leuchtete ein roter Stern.

„Ich werd’ verrückt“, flüsterte Doppier. Und dann, als niemand etwas auf diese subjektive Feststellung antwortete: „Wie kommt der denn hierher?“

Hank Richards wurde plötzlich lebendig. „Die haben Maschinenschaden gehabt, was sonst?“ Seine Augen

funkelten. „Vielleicht gehören sie zu den Brüdern, die dieses verdammte Zeug verstreut haben.“

„Mensch, das sind doch Russen“, flüsterte Doppier. „Die erledigen wir!“

Er fingerte an seinem Gewehr. „Halt die Klappe!“ sagte Richards. „Die treffe ich von hier, Hank! Das ist eine Kleinigkeit für mich!“ „Du sollst endlich die Schnauze halten, Fritz!“ Sie beobachteten, wie ein Mann aus dem Rumpf der Maschine

kletterte. Ein anderer Mann saß gegen einen Baumstamm gelehnt und starrte in den Himmel.

„Verdammt noch mal, Hank, warum zögerst du noch? Es sind Russen, habe ich gesagt, hast du mich denn nicht verstanden?“

Richards stieß ihn wortlos zurück. Er winkte den Männern, wieder in Deckung zu gehen.

„Ich habe nur zwei sehen können“, sagte er leise, „aber ich kann mir nicht denken, daß in dem Riesending nur zwei Mann waren. Ich glaube, es sind tatsächlich Russen.“

„Hank, ich verstehe dich nicht“, sagte Doppier. Er zitterte vor unterdrückter Wut. „Was glaubst du, machen die hier? Glaubst du etwa, die fliegen hier herum, weil sie sich die schöne Landschaft ansehen wollen? Sie haben am Krieg genauso Schuld wie die, die wir suchen. Kommunisten!“

Tom Rush schüttelte den Kopf.

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„Ich glaube, ihr habt wohl vergessen, was Zimmermann uns gesagt hat. Wir haben keinen Auftrag, irgend jemand zu erschießen. Ihr Kommunistenhaß in Ehren, Doppier, ich glaube, der stammt aus einem Zeitalter, das wir so schnell wie möglich hinter uns lassen wollen.“

Richards schwieg und sah nachdenklich von einem zum anderen. „Außerdem“, sagte Rush, „tragen diese Männer nicht mehr Schuld

als unsere eigenen Piloten. Wissen wir vielleicht, was unsere Piloten über deren Land abgeworfen haben? Kann mir das vielleicht mal jemand sagen?

Nein, ich bin absolut dagegen, daß diese Männer einfach erschossen werden!“

„Über Schuld und Nichtschuld haben sich schon ganz andere Leute den Kopf zerbrochen“, sagte Richards langsam. „Es ist sinnlos, darüber zu reden. Ich weiß nur, daß die Schweinehunde, die ihn angezettelt und ausgeführt haben, frei herumlaufen. Wie die da. Warum haben sie denn mitgemacht? Epstein hat sich ja schließlich auch geweigert!“

„Richards, das ist Quatsch“, sagte Rush. „Können Sie mir verraten, wie Sie in einem kommunistischen Land den Kriegsdienst verweigern wollen? Wenn ihr diese Leute hier einfach erschießt, macht ihr einen großen Fehler! Ihr macht genau das, was ihr nicht tun solltet. Mein Gott, wann lernt ihr denn endlich was dazu?“

„Das habe ich gerade gern“, knurrte Richards. „Was ist bei eurem ganzen Gerede für den Frieden denn eigentlich herausgekommen? Gar nichts! Die Zeit zum Reden ist vorbei. Das hat Zimmermann selber gesagt. Jetzt muß gehandelt werden. Dieses feinsinnige Abwägen von Schuld oder Nichtschuld paßt nicht hierher.“

Er hatte kaum seinen letzten Satz beendet, da sprang ein dritter Soldat aus der Maschine. Er schwenkte eine Konserve in der Hand.

Richards sah mit zusammengekniffenen Augen zu. Die Männer hielten den Atem an. Was würde Richards tun? Tom Rush wollte gerade aufatmen, als Hank Richards einfach aufstand und auf die Soldaten zuging.

Und während er ging, feuerte er. Er feuerte noch, als die Soldaten längst tot waren.

Plötzlich tauchte noch ein Mann aus der Maschine auf. Er war unbewaffnet und lief wild gestikulierend auf Richards zu. Richards

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hantierte mit zitternden Händen an seiner MPi. Rush schrie: „Richards, hör auf! Um Gottes willen, hör auf zu schießen! Er ist

doch unbewaffnet!“ Aber sein Rufen ging im Rattern von Richards’ MPi unter. Richards

feuerte so lange, bis ihm Doppier die Waffe aus der Hand riß. Rush war auf seinem Platz sitzengeblieben. Er hatte sich die Ohren

zugehalten. Als der Lärm vorüber war, blieb Tom Rush noch immer sitzen. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und schluchzte wie ein Kind.

„Mein Gott“, sagte Rush, „mein Gott.“ Und schließlich: „Dieser verdammte Idiot. Dieser verdammte Dummkopf. Sie wollten ihm doch gar nichts tun.“

Doppier versuchte, mit einem Ast den Dreck aus seinem Gewehrlauf zu stochern, den Rush in den Boden gestoßen hatte. Er fluchte unablässig. Niemand wußte, ob er fluchte, weil ihm Richards’ Handlungsweise mißfiel oder weil er die Soldaten lieber selber erschossen hätte.

Im Düsenbomber war niemand mehr. Die Bombenschächte waren leer. Hinter dem Flugzeug befanden sich zwei Gräber. Sie trugen keine Kreuze mit Namen, es lagen auch keine Blumen darauf. Es waren einfach zwei provisorische Gräber. Hastig ausgehoben und hastig wieder zugeschüttet.

Richards warf sich die MPi über die Schulter. „Das war’s“, sagte er. Aber sein Blick, der Tom Rush streifte, war

unsicher. Auf dem Weg zurück zu dem wartenden Morgan redete niemand ein

Wort. Rush erzählte ihm die ganze Geschichte. Morgan sah Richards nachdenklich an. Aber er sagte nichts.

Als sie wieder bei Zimmermann waren, ahnte Richards wohl schon, daß das, was er getan hatte, von den anderen für alles andere als eine Heldentat gehalten wurde.

Er druckste verlegen herum, als Tom Rush die Geschichte erzählte. Als Rush fertig war, sagte zunächst niemand etwas. Die Männer standen schweigend um Richards herum und sahen ihn an. Aber in ihren Blicken konnte er alles andere als Sympathie lesen.

Schließlich ergriff Zimmermann das Wort: „Stimmt es, daß alle Männer unbewaffnet waren?“

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Rush nickte stumm. Weder Doppier noch Richards widersprachen. „Warum, Richards, warum?“ fragte Zimmermann. „Es waren Soldaten. Sie haben unser Land angegriffen!“ „So, sie haben unser Land angegriffen!“ „Und Kommunisten waren sie auch!“ rief Doppier. „So, Kommunisten waren sie auch!“ Das nachfolgende Schweigen belehrte Richards darüber, daß sein

Argument wohl nicht sehr stichhaltig gewesen sein konnte. „Wir wissen nicht, wer zuerst angegriffen hat“, sagte Zimmermann

schließlich, „also ist das, was Sie sagten, eine glatte Unterstellung, die Sie nicht beweisen können. Niemand von uns kann jetzt schon sagen, wie es wirklich war. Außerdem waren die Männer unbewaffnet oder haben zumindest keine Anstalten gemacht, euch anzugreifen. Sie haben wehrlose Menschen erschossen, Richards. Sehr mutig, muß ich schon sagen. Man kann es auch anders nennen. Sie haben wehrlose Menschen ermordet. Und ich nenne es so! Sie kennen ja wohl die Gesetze des Landes. Sie wissen, was auf Mord für eine Strafe steht. Erinnern Sie sich, was Buchanan sagte, als wir losgefahren sind? Er sagte: Stellt die Verbrecher vor ein Gericht. Ich zähle Sie jetzt zu den Verbrechern!“

Richards sah keinen andern Weg mehr. Jetzt brach hemmungslos heraus, was ihn schon lange beschäftigte.

„Gut, Zimmermann, stellen Sie mich an die Wand. Ich frage Sie nur eines: Wie lange wollen Sie sich von diesem Nigger Buchanan eigentlich noch Befehle geben lassen?“

Als Kemp Zimmermann in diesem Moment ansah, erschrak er. Zimmermanns Augen blickten eiskalt.

Er trat ganz nahe an Richards heran. „Ich werde es Ihnen sagen“, zischte er, „solange, wie es noch

Kreaturen wie Sie gibt!“ Plötzlich schlug er Richards zweimal mit der flachen Hand ins Gesicht, daß es klatschte. „Und weil Buchanan ein Mensch ist, nach dem ich lange suchen mußte, während von Ihrer Sorte viel zuviel herumlaufen! Buchanan ist ein Mensch! Verstehen Sie, ein Mensch!“

Er wandte sich um. „Wer plädiert auf schuldig wegen Mordes?“ „Ihr könnt mich nicht einfach erschießen, das wäre Mord! Ihr könnt

mich doch nicht einfach erschießen!“ schrie Richards.

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„Wer plädiert auf schuldig wegen Mord?“ fragte Zimmermann noch einmal.

Fünfzehn Arme hoben sich. Richards wurde blaß. „Und was Sie betrifft“, sagte Zimmermann zu Doppier. „So sollten

Sie mal darüber nachdenken, ob Ihr Haß noch in unser Weltbild paßt.“ Doppier öffnete den Mund zu einer heftigen Antwort, aber Zimmermann ließ sich nicht unterbrechen. „Ich weiß, was Sie mir sagen wollen, Mr. Doppier. Sie wollen mir sagen, daß Sie allen Grund hätten, die Kommunisten zu hassen.“

„Daran habe ich nicht gedacht“, sagte Doppier. „Ich bin von der Voraussetzung ausgegangen, daß die Russen uns angegriffen haben.“

„Davon können Sie aber nicht ausgehen“, sagte Zimmermann fest. „Und ich hoffe, daß das jetzt allen nachdrücklich klargeworden ist. Ich will so etwas wie heute nicht noch mal erleben. Führen Sie sich in Zukunft nicht wie hysterische Weiber auf, sondern wie Männer, die eine Verantwortung haben und die einen klaren Kopf bewahren können.“

Richards, der etwas abseits stand, sah ihn hoffnungsvoll an. „Nein, Mr. Richards“, sagte Zimmermann, „wenn ich Sie

laufenlasse, muß ich damit rechnen, daß morgen dasselbe passiert. Es tut mir leid, wir können Leute wie Sie nicht mehr gebrauchen.“

Am anderen Morgen fuhren sie bis zu der Lichtung, auf der das Flugzeug stand.

Zimmermann hatte in der Nacht so gut wie gar nicht geschlafen. Er fragte sich, ob er auch in Zukunft imstande sein würde, wieder so hart durchzugreifen.

Als sie im Wagen saßen, hatte er zu Kemp gesagt: „Gibson, ich weiß nicht, ob ich noch einmal ein Todesurteil

vollstrecken kann. Bitte achten Sie mit Grant und Rush darauf, daß so etwas nicht wieder passiert. Sagen Sie es mir, wenn Sie glauben, ich verlöre die Männer aus der Kontrolle. Wir müssen verhindern, daß es unnötiges Blutvergießen gibt.“

Sie begruben die russischen Flieger. Dann entschloß sich Zimmermann, vorauszufahren. Er kletterte in den Beiwagen und setzte sich hinter das schußbereite Maschinengewehr. Der Fahrer war Tom Rush, zu dem Zimmermann auf Grund des letzten Ereignisses Vertrauen gefaßt hatte. Er ließ Kemp und Grant zurück; er traute den

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beiden zu, auch in Überraschungssituationen die richtigen Entscheidungen zu treffen. Zimmermann wurde sich immer mehr klar darüber, daß es nicht damit getan war, wenn er nur immer die Befehle austeilte. Er allein genügte nicht. Er brauchte Männer, auf die er sich hundertprozentig verlassen konnte.

Kemp schien ein solcher Mann zu sein, obwohl er gute zehn Jahre jünger war als Zimmermann. Aber darauf kam es nicht an. Ein oberflächlicher Beobachter konnte Kemp schlecht einschätzen. Auf den ersten Blick schien er nichts weiter als ein junger Mann mit einer gehörigen Portion skurrilen Humors zu sein; daß dieser lustige, junge Mann bitterernst werden konnte, vermuteten die wenigsten. Die Ereignisse der letzten Monate hatten Kemp endgültig zum Mann gemacht.

Als Zimmermann im Beiwagen saß, sagte er noch: „Wir bleiben auf keinen Fall länger als fünf Stunden fort. Wenn wir

dann noch nicht zurück sind, schickt uns das zweite Krad hinterher.“ Rush startete den Motor und fuhr los. Der Weg führte weiter in das Gebirge hinein. Sie begegneten keinem

Menschen. Rechts und links neben dem Weg wurden die Hänge steiler. Der Wuchs wurde dürftiger. Die kleinen, verkrüppelten Bäume ließen darauf schließen, daß sie schon über tausend Meter Koch waren.

„Eigentlich ganz logisch, daß sie sich hierher verzogen haben“, sagte Rush mit erhobener Stimme, um das Motorengeräusch zu übertönen.

Zimmermann brummte nur. Es gelang ihm nur mühsam, die angestaute Erregung zu unterdrücken. Je näher sie dem Ziel kamen, desto öfter fragte er sich, was er nun wirklich mit den Leuten machen sollte. Wenn er sie fand. Denn plötzlich war er gar nicht mehr so überzeugt davon, daß er sie tatsächlich hier antreffen würde.

Manchmal war es ihm, als verschwimme ihm der Weg vor den Augen. Ich hätte meine Brille mitnehmen sollen, dachte er. Als er sein Haus verlassen hatte, war ihm so viel im Kopf herumgegangen, daß er die Brille völlig vergessen hatte. Es war nur gut, daß er nicht sehr stark kurzsichtig war und auch ohne die Brille zurechtkam.

Das Motorrad schaukelte heftig, und Zimmermann wurde ordentlich durchgeschüttelt. Ihm kam das Motorengeräusch unnatürlich laut in der Stille der Berglandschaft vor, und er hoffte inständig, daß es sie nicht verraten würde. Er sah immer wieder auf die Karte, obwohl er

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den Weg längst auswendig kannte. Als der Bunker laut Karte noch etwa zwei Kilometer entfernt war,

bedeutete er Rush, anzuhalten. „Wir gehen das letzte Stück besser zu Fuß“, meinte er. „Das Ding

macht zuviel Lärm.“ Rush nickte und schob das Krad in die Büsche. Zimmermann nahm

die Munition aus dem Beiwagen und steckte sie in seinen Rucksack. Als Rush ihn fragend ansah, meinte er: „Man kann nie wissen, Tom.“

Mit schußbereit umgehängter MPi gingen sie weiter. Der Weg endete auf einem kleinen Plateau unmittelbar vor senkrecht

aufragenden Felswänden. Hier ging es nicht mehr weiter. Und nach der Karte waren sie auch am Ziel. Zimmermann sah sich vorsichtig um. Sie gingen näher heran, und dann sahen sie es. In die Felswand eingelassen war eine vier mal vier Meter große Metallplatte. Ihr unterer Rand schloß mit dem Plateau ab.

Die Metallplatte war der Eingang zum Bunker. Zimmermann wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Sie lagen

auf dem Bauch am Rande des Plateaus. Es war vollkommen still. Ab und zu raschelte es in den Büschen, wenn ein kleines Tier vorbeistrich.

„Wie lange wollen wir denn hier liegenbleiben?“ flüsterte Rush. Zimmermann zuckte die Schultern. „Wir wollen mal abwarten“, sagte er leise, „irgendwann muß sich da

etwas rühren.“ Sie lagen noch eine ganze Weile da und warteten. Plötzlich legte Rush die Hand auf Zimmermanns Arm. „Da!“ flüsterte er heiser. Zimmermann wandte den Kopf herum. Aus dem Buschwald kam ein Mann. Und dieser Mann trug eine

Uniform. Eine Generalsuniform. Zimmermann hielt den Atem an. „Was machen wir jetzt?“ flüsterte Rush. Zimmermann brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Der Mann ging bis an die Metallwand. Er stellte sein Gewehr ab und

strich mit beiden Händen an der Kante der Wand entlang. Plötzlich öffnete sich eine Tür. Der Mann nahm das Gewehr auf und verschwand im Felsen.

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Die Tür schloß sich geräuschlos hinter ihm. Zimmermann stieß erleichtert die Luft aus. Er rutschte ein Stück

zurück, bis er aufrecht sitzen konnte. Rush folgte ihm. „Jetzt wissen wir, wie wir da reinkommen“, sagte er, und seine

Stimme zitterte etwas bei dieser Feststellung. Sie kehrten schweigend zu ihrem Krad zurück. Bevor er startete,

fragte Rush: „Wie geht es nun weiter?“ „Jetzt holen wir sie heraus aus ihrem Loch!“ Und nun klang seine Stimme alles andere als unsicher.

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8. Zimmermann ließ die Männer warten. Auf Fragen antwortete er fast

abweisend. Kemp sah ihn mehrere Male forschend von der Seite an, aber er sagte nichts.

Als sie gegessen hatten, bildeten die Männer einen Halbkreis. Zimmermann setzte sich in die Mitte. Er blickte sie der Reihe nach aufmerksam an.

„Wir haben sie gefunden“, sagte er langsam und beobachtete die Reaktionen, die diese Mitteilung auslöste.

„Wann?“ fragte Grant. „Sobald wir wieder alles eingepackt haben, fahren wir los“, sagte

Zimmermann, „es hat keinen Sinn mehr, noch weiter zu warten, obwohl wir nicht wissen, ob alle vollzählig im Bunker sind.“

„Ob der Präsident dabei ist?“ fragte Doppier. „Ich weiß es nicht“, meinte Zimmermann, „aber ich kann es mir

nicht vorstellen. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was der Präsident für eine Rolle bei der ganzen Geschichte gespielt hat. Ich glaube …“

„Was glauben Sie?“ fragte Grant. „Ich weiß nicht recht, es ist nur eine Vermutung. Wir werden ja

sehen. Wir wollen uns jetzt fertigmachen. Wenn wir angekommen sind, steige ich mit ein paar Männern ein. Die anderen warten draußen und bilden einen dichten Postenring um das Plateau; vielleicht sind nicht alle drin, dann können wir die, die zurückkommen, schon draußen abfangen.“ Er machte eine Pause. „Ich will es noch einmal wiederholen, damit sich hinterher niemand herausreden kann: Wir machen nur von der Waffe Gebrauch, wenn wir tätlich angegriffen werden oder wenn ich den Befehl dazu gebe! Mr. Doppier, Mr. Gilbert, ich hoffe, Sie haben mich deutlich genug verstanden!“

Die beiden nickten. „Ist schon klar“, sagte Doppier. „Es kommt nicht mehr vor, Sie

können sich auf mich verlassen.“ Die anderen nickten zustimmend. Richards Schicksal saß ihnen allen

noch in den Knochen. „Dann los!“ Zimmermann sprang auf. „Ich fahre mit Tom Rush

vor.“

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Das Felsplateau lag friedlich in der Sonne, als sie es erreichten. Zimmermann sprang aus dem Beiwagen und befahl den Männern,

sich um den Eingang herum zu verteilen. „Rush, Grant und Gilbert kommen mit mir“, sagte er. „Kemp achtet

hier darauf, daß die Postenkette steht. Meine Herren, Waffen entsichern und äußerste Vorsicht!“

Er trat an die Metallwand. Seine Hände glitten suchend über den Rand. Es rührte sich nichts. Zimmermann schwitzte vor Aufregung. Er versuchte, seine Erregung zu unterdrücken und zwang sich zur Ruhe.

Aber soviel er auch drückte und preßte, die Wand bewegte sich nicht.

„Lassen Sie mich mal heran“, sagte Rush schließlich. Zimmermann warf ihm einen zweifelnden Blick zu und trat beiseite. Rush machte sich ruhig und besonnen an die Arbeit. Schließlich

drehte er sich um und sagte: „So kommen wir nicht weiter. Die Sache hier hat irgendeinen

Haken. Vielleicht müssen wir ein Kennwort sagen, es kann gut sein, daß die Tür ein elektronisches Schloß hat.“

„Verdammt“, sagte Zimmermann, „damit habe ich nicht gerechnet. Haben Sie denn vorhin etwas gehört?“

„Nein“, sagte Rush. „Es kann aber auch genausogut sein, daß das Schloß auf die Handlinien der Leute eingestellt ist, die drin sitzen.“

„Dann müssen wir also warten, bis jemand herauskommt?“ „Wahrscheinlich!“ Zimmermann preßte die Lippen zusammen. Wenn sie nun doch

gehört worden waren, würden die Leute sich hüten, herauszukommen. Er trat noch einmal an die Wand und sah sie genau an. Aber er konnte nichts finden, was einen Öffnungsmechanismus verriet. Es wäre ja auch zu einfach gewesen.

Sie gingen zurück zu den anderen. „Wir müssen warten“, sagte Zimmermann. „Stellen Sie die

Fahrzeuge so, daß sie nicht gleich gesehen werden, wenn jemand herauskommt. Zwei Mann bleiben als ständige Wache in der Nähe des Eingangs. Wenn jemand herauskommt, müssen wir ihn schnappen, bevor sich der Eingang wieder schließt. Das kann ziemlich lange dauern, ich weiß, aber ich kann es nicht ändern.“

Sie warteten und warteten. Es dämmerte schon. Ihre Nerven waren zum Zerreißen angespannt. Ein paar Männer äußerten den Gedanken,

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man solle einfach so lange auf die Wand schießen, bis sich irgend etwas rührte. Aber Zimmermann hatte das abgelehnt; die Militärs würden sich hüten, dann die Tür zu öffnen. Sie würden dann überhaupt nicht herauskommen.

Zimmermann starrte gedankenverloren in die Gegend. Er war ruhiger als die anderen; er wußte, daß früher oder später jemand herauskommen mußte. Die Zeit spielte für ihn keine Rolle mehr. Plötzlich schreckte er hoch. Er hatte eine Bewegung gesehen.

Er hatte sich nicht getäuscht. Stundenlang hatte er sich eingebildet, die Wand bewege sich, aber jetzt konnte kein Zweifel mehr bestehen.

Die Wand hatte sich bewegt! Mit schnellen Schritten lief er auf das Plateau zu. Die Wand öffnete

sich. Zimmermann legte knackend den Sicherungsflügel herum. „Treten Sie doch näher“, sagte er zu dem Mann, der hinaustrat. „Und

bitte, lassen Sie doch die schöne Tür offen.“ Er winkte mit dem Lauf der MPi. „Hier entlang!“

Der Mann trug ebenfalls eine Generalsuniform. Er war zu überrascht, als daß er hätte reagieren können. Hinter ihm gähnte das Loch in der Wand.

„Kemp“, sagte Zimmermann, „nimm dem Herrn die Pistole ab!“ „Was soll denn das hier eigentlich heißen?“ sagte der Mann mit

unterdrückter Wut und machte eine abwehrende Bewegung, als Kemp näher trat.

„Halten Sie den Mund“, sagte Zimmermann. „Sie reden jetzt nur noch, wenn Sie gefragt werden. Gewöhnen Sie sich gleich daran, dann fällt Ihnen die Umstellung leichter!“

Ein paar Männer lachten und stießen sich an. Kemp nahm dem General die Pistole ab. Dann trat Zimmermann auf ihn zu und riß ihm die Rangabzeichen

von der Schulter. „Es redet sich so leichter“, sagte er lächelnd. „Und Sie können sich

auch leichter einen zivilen Ton angewöhnen!“ „Ich finde das unerhört!“ sagte der Mann scharf. „Dafür werden Sie

sich zu verantworten haben, Mann!“ „Umgekehrt!“ sagte Zimmermann, „Sie werden sich jetzt

verantworten. Sehen Sie sich um! Sie haben hier Männer vor sich, die etwas von Ihnen wissen wollen. Diese Männer wollen wissen, was mit

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ihrem Land geschehen ist, in dem sie bisher friedlich gelebt haben; diese Männer wollen von Ihnen wissen, was aus ihren Familien geworden ist; sie wollen endlich wissen, was eigentlich gespielt wird. Und wenn Sie das gesagt haben, dann werden diese Männer entscheiden, was mit Ihnen geschehen wird. Sie haben nämlich ein Recht dazu. Sie sind Bürger dieses Landes! Grant, wir machen alles, wie besprochen. Und Sie, Herr General, sagen mir jetzt, wie ich in Ihren Bunker komme!“

„Ich denke nicht daran, Sie Aufwiegler! Sie sind ja ein ganz gefährliches Subjekt! Sie gehören vor ein Kriegsgericht!“

Zimmermann starrte den General an. „Kemp“, sagte er schließlich, ohne den Blick von dem Mann zu

wenden, „Kemp, hol den Strick!“ Er machte eine einladende Handbewegung. „Suchen Sie sich einen Baum aus, Herr General! Es gibt hier zwar nicht viel Auswahl, aber einer wird Ihren Ansprüchen schon genügen!“

Die Männer sahen sich überrascht an. Machte Zimmermann Ernst? Kemp brachte ihm einen Strick. Zimmermann nahm ihn und knüpfte eine Schlinge.

„Sie werden es vielleicht nicht glauben, Herr General“, sagte Zimmermann, „aber wenn Sie meine Frage nicht beantworten, lasse ich Sie in den nächsten fünf Minuten aufhängen.“

„Sie sind wahnsinnig!“ sagte der General. „Sie müssen wahnsinnig sein! Das wird Sie den Kopf kosten, dafür garantiere ich!“

Zimmermann deutete eine Verbeugung an. „Zimmermann“, sagte er, „Robert Zimmermann heiße ich, damit Sie

auch wissen, an wen Sie sich erinnern können. Ich bezweifle allerdings, daß wir uns im Himmel wiedertreffen werden.“

Grant, der begriffen hatte, fuhr einen Lastwagen unter den größten Baum, der in der Nähe des Plateaus stand.

„Alles klar“, sagte Grant. „Nun, Herr General?“ fragte Zimmermann. Der General bemühte sich, kaltblütig zu bleiben, aber die Situation

zerrte doch sichtlich an seinen Nerven. Seine Hand machte sich selbständig und fuhr den Uniformkragen entlang.

„Wenn Sie auf den Fahrstuhl treten, fährt er in die Tiefe“, murmelte er. „Bei Gott, dafür bringe ich Sie vor ein Kriegsgericht!“

„Warten Sie noch“, sagte Zimmermann, „ich werde Ihnen noch sehr

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viel mehr Ärger machen!“ Er winkte Rush, Grant und Gilbert zu sich. „Wir gehen jetzt los. Wenn wir in zwei Stunden nicht zurück sind,

kommt ihr nach und schießt, sobald man euch mit der Waffe entgegentritt. Paßt gut auf den Herrn General auf.“ Er beugte sich vor: „Wie war doch gleich Ihr Name?“

Der General wandte sich ab. „Macht nichts“, sagte Zimmermann leichthin. „Ihr könnt ihn einfach

,Sir’ nennen.“ Als Zimmermann mit den Männern in den Schacht trat, leuchtete an

einer Metallwand ein grünes Lämpchen auf. Als sich die Platte, auf der sie standen, in Bewegung setzte, schloß sich gleichzeitig die Öffnung nach draußen hinter ihnen. Rush machte eine heftige Bewegung, aber Zimmermann hielt ihn am Arm fest und preßte den Zeigefinger auf den Mund. Er fürchtete, daß in dem Schacht ein Mikrophon eingebaut war, das sie verraten konnte.

Die Platte sank nach unten. Sie warteten. Schließlich blieb sie stehen, und eine Wand glitt zur Seite.

Sie traten hinaus. Vor ihnen lag ein Gang, der sich schnurgerade fortsetzte. Die Männer sahen Zimmermann fragend an. Er deutete auf seine Waffe und entsicherte sie.

Sie gingen den Gang entlang. Nach einer Weile stellten sie fest, daß an beiden Seiten des Ganges Türen waren. Zimmermann blieb bei jeder stehen und lauschte. Es war nichts zu hören. Schließlich kamen sie zu einer Metalltür, hinter der sie Geräusche hörten. Hinter dieser Tür saßen mehrere Männer zusammen und unterhielten sich.

Zimmermann nickte Rush, Grant und Gilbert zu. Dann riß er mit einem Ruck die Tür auf und brachte die MPi in Anschlag.

Er blickte in einen großen, gemütlich eingerichteten Raum. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer, ovaler Tisch, um den acht Männer in Uniformen saßen. Die Männer blickten überrascht hoch.

„Guten Tag“, sagte Zimmermann laut, „bitte seien Sie so freundlich und legen Sie die Hände auf den Tisch. Rush, nimm den Herren die Pistolen ab!“

Es war genauso wie mit dem General, den sie draußen abgefangen hatten. Die Männer protestierten lautstark, fügten sich aber schließlich in ihr Schicksal. Als diese Zeremonie beendet war, setzte sich Zimmermann an das Kopfende des Tisches.

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„Sie werden wissen wollen, wer wir sind“, sagte er. „Wir sind Bürger dieses Landes, die sich von Ihnen Aufklärung darüber erhoffen, was mit diesem, unserem Land geschehen ist. Sie sehen hier Männer mit den unterschiedlichsten Berufen und Herkünften vor sich, die alle denselben Wunsch haben: Aufschluß darüber zu bekommen, was passiert ist. Daß diese Fragestunde den Rahmen einer Gerichtsverhandlung hat, ist nicht zufällig; es ist nämlich tatsächlich eine. Ich habe Ihnen zu sagen, daß niemand Mitleid mit Ihnen haben wird, wenn Ihre Antworten nicht befriedigend ausfallen.“ Er machte eine Pause und sah sich aufmerksam um. „Vorher aber etwas Praktisches. Sie haben doch sicher Funkgeräte hier. Mit wem haben Sie noch Kontakt?“

„Wir haben seit Wochen auf unsere Funksprüche keine Antwort mehr bekommen“, sagte einer der Militärs.

Zimmermann zog scharf die Luft ein. Er wußte, was das hieß. „Grant“, sagte er, „unsere Männer sollen mit allen ihren Waffen

herunterkommen. Ich möchte, daß jeder hört, was hier von nun an geredet wird!“

Grant verschwand. Als er den Raum verlassen hatte, sagte einer der Männer zu

Zimmermann: „Wie ich Ihr Eindringen hier beurteile, brauche ich Ihnen ja wohl

nicht zu sagen. Andererseits verstehe ich natürlich die Unruhe unter den Leuten. Allerdings gibt Ihnen das nicht das Recht, sich hier als Richter aufzuspielen! Damit wir uns aber wenigstens anreden können: Ich bin General Bradley.“

„Sie haben mich wohl nicht richtig verstanden, weil ich höflich war“, sagte Zimmermann. „Ich heiße Zimmermann, und ich, General, werde dafür sorgen, daß das geschehen wird, was ich Ihnen eben gesagt habe. Das heißt: Ich werde auch dafür sorgen, daß das Urteil vollstreckt wird, wenn diese Männer eines über Sie fällen. Ich hoffe, das ist Ihnen jetzt nachdrücklich klargeworden. Wie Sie unser Eindringen hier beurteilen, ist uns völlig egal. Denn ich wüßte nicht, welche Macht der Welt uns noch von unserem Vorhaben abbringen könnte. Ihre militärische Moral, Ihr antiquiertes Obrigkeitsdenken können Sie getrost zum alten Eisen werfen. Sie werden in diesem Lande kaum noch jemanden finden, der vor Ihnen und Ihresgleichen katzbuckelt; im Gegenteil: Sie sollten froh sein, daß Sie nicht sofort

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gelyncht werden. Und es fällt mir, ehrlich gesagt, schwer genug, die Leute davon abzuhalten!“

Die Militärs waren sichtlich beeindruckt. Grant kam mit den restlichen Männern herein.

Zimmermann dachte einen Augenblick nach, dann stellte er General Bradley die erste Frage:

„Wer, General, hat diesen Krieg begonnen?“ Der General lächelte. „Lieber Mann“, sagte er, „das kann ich Ihnen doch nicht sagen.

Fragen Sie den Verteidigungsminister!“ „Wo ist der Verteidigungsminister?“ „Das möchten wir auch gern wissen!“ Zimmermann, der eine heftige Antwort auf der Zunge hatte, dachte

an Buchanan. Was würde er in dieser Situation tun? Er würde sich sicher nicht zu unüberlegten Antworten hinreißen lassen.

„So kommen wir nicht weiter“, sagte Zimmermann, „können wir nicht vernünftig miteinander reden?“

„Nicht, solange Sie sich hier wie Robin Hood aufführen“, sagte General Bradley.

„Ich frage Sie, General, wie hat dieser Krieg angefangen? Wer hat ihn ausgelöst?“

„Wenn Sie eine präzise Antwort verlangen, Zimmermann, muß ich Ihnen sagen: Ich weiß es nicht. Ich kann Ihnen nur sagen, wie ich es erlebt habe.“

„Dann sagen Sie es uns.“ „Wir waren im Raumfahrtzentrum. Fast alle Generäle, die Sie jetzt

hier sehen. Wir hatten eine Routineunterredung mit der Besatzung der Raumstation. Es war alles wie sonst. Mit einemmal meldeten die Leute aus der Station, daß ein unbekanntes Objekt auf sie zufliege und mit ihnen zu kollidieren drohe. Im selben Augenblick riß der Funkverkehr ab. Wir benachrichtigten den Präsidenten über das rote Telefon. Wir warteten. Dann kam die Anweisung des Verteidigungsministers, daß wir uns unverzüglich in die Bunker begeben sollten.“ Bradley fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Keine Befehle, irgendwelche Operationen vorzunehmen, nichts. Wir versuchten noch viele Male, zum Präsidenten oder zum Verteidigungsminister durchzukommen; vergeblich. Dann drehten ein paar Leute durch. Ein Raketengeschwader der Luftwaffe ging ab …“

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„Wohin?“ fragte Zimmermann. Bradley sah ihn erstaunt an. „Wohin wohl?“ „Soweit ich feststellen konnte, sind wir aber nicht bombardiert

worden“, sagte Zimmermann. „Doch“, sagte Bradley fest. „Wir sind bombardiert worden. Nur

ganz anders, als wir es erwarteten. Soviel ich feststellen konnte, wurden keine Atombomben geworfen –weder von uns noch von der Gegenseite. Wissen Sie, Zimmermann, Atombomben, das ist gar nicht mal das Schlimmste, so merkwürdig und absurd das klingt. In den letzten Jahren ist ein Kampfmittel entwickelt worden, das alles in den Schatten stellt; ein Mittel, das man auf verschiedene Art anwenden kann. Man kann es aus der Luft abwerfen, man kann es in die Trinkwasserversorgung, in Nahrungsmittel mischen. Es ist absolut geruch- und geschmacklos. Es ist das Schlimmste, was sich jemals jemand ausgedacht hat.“

„Ich habe es erlebt“, sagte Zimmermann leise. „Dann verstehe ich nicht, daß Sie noch am Leben sind“, meinte der

General, und es war keine Ironie in seiner Stimme. „Ich habe das Wasser nicht getrunken“, sagte Zimmermann, „aber

ich habe zugesehen, wie eine ganze Stadt daran zugrunde gegangen ist.“

„Und dann haben Sie sich auf den Weg gemacht“, sagte der General, und wieder war kein Spott in seiner Stimme, „um die Schuldigen zu suchen und zu bestrafen, nicht wahr?“

Zimmermann nickte. „Beide Seiten haben das Mittel gehabt“, sagte der General weiter.

„Es ist uns nicht gelungen, das Mittel geheimzuhalten; die anderen schliefen eben auch nicht. Wir, die Militärs, haben längst nicht mehr den Einfluß auf die Regierungspolitik gehabt, den wir früher hatten. Aber vielleicht ist es sinnlos, wenn ich Ihnen das sage. Unsere konventionellen Waffen haben nur noch Schrottwert. Strategie ist schon lange nicht mehr gefragt. Natürlich, ich will gar nicht vergleichen, was nun menschlicher ist, ob man jemanden mit einem Gewehr erschießt, ob man ihn atomar verseucht oder ob man ihn vergiftet. Das alles ist müßig, das weiß ich so gut wie Sie. Fest steht jedenfalls, daß wir seit etwa zwei Jahren dieses Mittel in allen wichtigen Zentren des Gegners installiert hatten; es war sozusagen

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eine Bombe mit Fernzünder. Was wir nicht wußten - ist, daß der Gegner es auch bei uns gelagert hatte. Wie man das wechselseitig zustande gebracht hat, fragen Sie mich nicht.“

Zimmermann griff nach einer Zigarettendose, die auf dem Tisch stand, nahm sich eine Zigarette heraus und zündete sie an.

„Wollen Sie alles auf den Geheimdienst abschieben?“ fragte er hart. „Keineswegs. Solange Sie nach objektiver Schuld suchen, werden

Sie nie eine Antwort bekommen.“ „Aber es muß doch eine Antwort geben!“ „Der will sich doch nur rausreden“, knurrte Gilbert. „Ich verstehe

nicht, daß Sie sich das so ruhig anhören.“ „Halten Sie den Mund!“ sagte Zimmermann. „In den sechziger Jahren, Zimmermann, hätte mancher von uns

nichts lieber getan, als das, was Sie uns jetzt zur Last legen wollen, ich gestehe das gern ein. Schon während der Kuba-Krise, die Kennedy im letzten Moment zu einer Art moralischen Sieg abgewandelt hat, hat es wahrhaftig nicht an Stimmen gefehlt, die zum sofortigen Zuschlagen rieten. Wenn Sie sich erinnern, hat es auch Stimmen gegeben, die den Vietnam-Krieg zu einem Atomkrieg machen wollten. Wissen Sie, warum das nicht geschehen ist? Man hat es nicht getan, weil man mit der Entwicklung dieses neuen Mittels beschäftigt war. Weil man glaubte, dieses neue Mittel sei ’humaner’. Das alles klingt wie ein Witz!“

„Eine neue Waffe testet man, indem man sie ausprobiert“, sagte Zimmermann.

„Richtig! Nur hatte dieses neue Mittel den Nachteil, daß man es nicht testen konnte wie eine Atombombe, die man irgendwo zünden konnte. Dieses Mittel war nur an Menschen auszuprobieren. Letztlich hat man sich bei den chemischen Versuchen so sicher gefühlt, daß man glaubte, das sei das Nonplusultra einer Waffe. Und das war sie denn ja auch.“

„Haben Sie von Plänen gehört? Wußten Sie, daß dieses Mittel beim Gegner angewandt werden sollte?“

„Zimmermann, dieses Mittel wurde in der Strategie genauso eingeplant wie die Atombombe. Damit wurde genauso operiert wie mit allen anderen militärischen Mitteln. Wie mit Soldaten oder Bomben. Wir hatten Truppen in Europa. Als wir sie nicht mehr dort hatten, war es eben dieses Mittel, was sie ersetzte. Verstehen Sie doch

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endlich!“ Der General lief rot an vor Erregung. „Dieses verdammte Zeug ist nur ein einziges Mosaiksteinchen in einer ungeheuren Maschinerie! Wie hätten Sie denn reagiert, wären Sie Präsident gewesen? Hätten Sie dieses Mittel verschwinden lassen, wenn Sie fürchten mußten, daß der Gegner es auch besaß?“ Zimmermanns Männer sahen sich nachdenklich an.

„Ich verstehe das alles nicht“, sagte Gilbert, „warum hat man denn dieses ganze Zeug nicht einfach vernichtet? Warum hat man denn immer mehr Vernichtungswaffen entwickelt? Warum, zum Teufel, habt Ihr Euch denn nicht einfach mit den Kommunisten geeinigt, diesen ganzen Dreck wegzuwerfen?“

„Das frage ich mich auch“, sagte der General. „Wir wollten das Übel an der Wurzel ausrotten“, meinte

Zimmermann. Er sah General Bradley nachdenklich an. „Und Sie haben gedacht, wir seien diese Wurzel!“ Der General

nickte. „Erinnern Sie sich einmal an den Nürnberger Prozeß. Unser Ankläger glaubte vielleicht auch, daß er die Wurzel des Übels ausrotten könnte. Eine Illusion! Alles, was sie damals erreichten, war, daß sie ein paar Größen des Nazireichs vor Gericht stellten und verurteilten. Aber die ganze Gedankengrundlage, den geistigen Hintergrund, den konnten sie nicht ausrotten, indem sie ein paar Naziführer verurteilten! Wenn Sie uns nun die Schuld an diesem Krieg geben und uns dafür an den nächsten Baum hängen wollen, so erreichen Sie damit genausowenig. Sie beseitigen damit ein paar Rädchen, die Ursache nicht.“

„Die Naziherren haben sich auch mit Befehlsnotstand herausgeredet“, sagte Grant.

Der General sah ihn an. „Stimmt“, sagte er, „ich rede mich nicht damit heraus. Ich wollte

Ihnen nur klarmachen, daß die Wurzel für diesen verdammten Krieg nicht wir sind. Die Ursache müssen Sie in der Zeitgeschichte suchen. Denken Sie an die Französische Revolution, an Robespierre. Die Geschichte hat viele Beispiele dafür. Wenn das alles so einfach wäre, dann war’s wirklich zu verhindern gewesen. Und dann, glauben Sie mir, würde ich Ihnen freudigen Herzens zustimmen. Ich bin ein alter Mann, ich hänge nicht sehr am Leben.“

Zimmermann wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Was ist mit Europa?“ fragte er.

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„Dasselbe wie hier“, meinte der General. „Es wird überall auf der Welt vereinzelte Überlebende geben.“

„Wird sich die Verseuchung fortsetzen?“ „Das ist nicht sicher, aber es ist möglich. Ich weiß es nicht. Ich sagte

ja schon: Das Mittel ist praktisch nie erprobt worden. Wenn Sie allerdings in dieser Gegend und in der Gegend, aus der Sie kommen, noch keine Verseuchung bemerkt haben, wird sie wohl auch nicht mehr kommen. Fast glaube ich dann, daß sie auf die großen Städte beschränkt ist. Die allerdings werden dann für Jahre nicht bewohnbar sein.“

„Gibt es hier noch einen größeren Raum, wo ich in Ruhe mit meinen Männern reden kann?“ fragte Zimmermann.

„Ja. Hinter der ersten Tür nach dem Lift.“ „Sie werden verstehen, General Bradley, daß ich nicht allein

entscheiden will. Ich werde Sie mit Ihren Kollegen für die Dauer der Unterredung einschließen.“

Der General zuckte die Schultern. Zimmermann winkte seinen Männern und verließ den Raum. Er

schloß ihn von außen ab und nahm den Schlüssel an sich. Als sie im anderen Raum versammelt waren, sah Zimmermann

aufmerksam von einem Mann zum anderen. „Ihr habt alle gehört, was der General gesagt hat. Wir sind

hierhergekommen, um zu richten. Ich möchte jetzt Meinungen hören.“ Viele der Männer sahen betreten zu Boden. Sie hatten sich das alles

ganz anders vorgestellt. Schließlich ergriff Grant das Wort. „Ich glaube, ich spreche für alle“, sagte er, „wenn ich feststelle, daß

wir alle etwas überrascht worden sind. Sicherlich haben wir uns diese Begegnung anders vorgestellt. Wir haben die Initiatoren des Krieges finden wollen, und wir haben Menschen gefunden, die sich wie alle anderen in einer Zwickmühle befinden. Wir haben die Bankrotterklärung einer Politik erläutert bekommen, aber ich kann nicht mehr glauben, daß wir eben mit Verbrechern geredet haben. Ich habe mir das anders vorgestellt. Einfacher. Aber das ist wohl nicht so einfach. Es fällt mir schwer, die Eindrücke zusammenzufassen. Meine Meinung aber ist, daß wir diese Generäle nicht für den Krieg verantwortlich machen können. Wir können sie nicht an die Wand stellen.“

„Gut und schön“, sagte Gilbert bedächtig, „er hat sehr einleuchtend

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geredet, der General. Aber mir hat er zu einleuchtend geredet. Wenn diese Kerle sich von Anfang an gegen diesen ganzen Mist gestellt hätten, sie hätten den Krieg vermeiden können. Sie haben alle nicht den Mut gehabt, dagegen aufzustehen und zu sagen: ohne mich! Buchanan hat es ja schließlich getan. Ich bin dafür, daß alles, was Uniform trägt, ausgerottet wird.“

Zimmermann sah ihn nachdenklich an. Er sagte nichts. Rush meldete sich.

„Nein“, sagte er, „das können wir nicht machen. Ihr wißt ja alle, daß ich vom Militär nicht viel halte. Aber genausowenig bin ich dafür, die Leute zu erschießen. Ich kann mir nicht helfen, das wäre Mord. Nein, ich bin dagegen. Ich hätte mir gewünscht, sie wären ... wie soll ich sagen ... unmenschlicher gewesen. Aber sie unterscheiden sich gar nicht so sehr von uns, fürchte ich. Nein, ich bleibe dabei. Wir machen uns schuldig, wenn wir sie töten!“

Zimmermann sah Kemp an. Der zuckte die Schultern. „Ich könnte jetzt sagen, daß ich Engländer bin.“ Er lächelte. „Aber das gibt es nun wohl nicht mehr: Engländer, Amerikaner, Russen, Deutsche; genausowenig wie Kommunisten und Kapitalisten. Es sind wohl nicht so viele Menschen übriggeblieben, daß man sie noch nach Nationalitäten einteilen könnte. Sie sollten sich jetzt alle nur noch als Menschen bezeichnen. Auch die, die wir eben gehört haben. Wir können sie nicht töten. Rush hat recht.“

„Aber Buchanan hat auch recht!“ rief Morgan. „Wenn es diese Leute nicht gegeben hätte, hätte es auch keinen Krieg gegeben!“

„Verdammt noch mal, wer hat denn nun eigentlich recht?“ Gilbert schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Der General hat recht. Buchanan hat recht! Ich kenne mich da nicht mehr aus. Ich verstehe überhaupt nichts mehr!“

Alle sahen Zimmermann an, als erwarteten sie von ihm, daß er etwas Endgültiges sagen könnte.

„Buchanan hat recht, und Bradley hat recht“, sagte Zimmermann. „Das stimmt. Aber daraus läßt sich folgern, daß es keine objektive Wahrheit gibt. Ich will gar nicht sagen, daß mich Bradley in allen Punkten überzeugt hat; Gilbert hat schon etwas Richtiges gesagt: Wenn sie alle sich dagegen aufgelehnt hätten, wäre das alles nicht passiert. Aber immerhin gibt es ja auch noch die anderen, die sogenannte Gegenseite. Die müßten sich dann genauso verhalten

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haben. Nein, das, was wir erlebt haben, ist das fürchterliche Ende einer verbohrten, schlechten Politik. Nicht einer Politik der Stärke, finde ich, eher einer Politik der Angst; der Angst vor dem anderen, dem Andersdenkenden. Und nicht nur das. Wir haben das Ende einer Kette erlebt, in der es als Glieder alles gegeben hat: Angst, Haß, Verrat, Politik der Stärke, des mißverstandenen Prestiges. Diese Entwicklung fängt irgendwo in der Geschichte an, und ich wage es nicht, den Ausgangspunkt zu suchen. Ich fürchte, dann müßten wir sehr weit zurückgehen.“

„Gut“, sagte Grant, „was folgert daraus?“ Zimmermann machte eine müde Handbewegung. „Daraus folgert, Grant, daß ich der Ansicht bin, daß wir diese

Männer auf gar keinen Fall umbringen dürfen!“ Kemp stieß langsam und hörbar die Luft aus. Er öffnete den Mund,

als ob er etwas sagen wollte, aber dann schwieg er doch. Zimmermann sah ihn auffordernd an. „Ich habe gerade daran gedacht“, sagte Kemp langsam, „wie

Richards das aufgenommen hätte.“ Gilbert brummte. Zimmermann sah ihn fest an. „Gilbert“, sagte er, „das müssen Sie einsehen: Wenn Sie auf Ihrem

Standpunkt beharren, unterscheiden Sie sich nicht von Richards.“ „Ach, Blödsinn“, sagte Gilbert. „Ich seh’s ja ein, das ist es ja! Ich

habe mir das alles ganz anders vorgestellt. Ja, zum Teufel, ihr habt recht, ich kann es nicht ändern. Ihr habt wirklich recht. Wir können es nicht machen.“

„Aber was machen wir dann mit ihnen?“ fragte Rush. „Was glaubt ihr, was wir mit ihnen tun sollen?“ fragte Zimmermann. „Ich weiß, woran Sie denken“, sagte Rush. „Woran denn, Tom?“ „Sie wollen sie fragen, ob sie mit uns nach Jackville kommen

wollen!“ „Ja, daran habe ich gedacht“, sagte Zimmermann. Die Männer sahen sich an. „Was wird Buchanan dazu sagen?“ fragte Grant. „Buchanan wird unsere Entscheidung verstehen!“ meinte

Zimmermann. „Unterschätzen Sie seinen Haß nicht“, sagte Kemp mit Nachdruck. „Buchanan wird seinen Haß überwinden! Buchanan wird mich

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anhören und mir zustimmen!“ Kemp senkte den Kopf. „Ich weiß nicht recht“, murmelte er schließlich. „Schätzen Sie ihn doch nicht so gering ein, Gibson!“ Kemp sah hoch. „Vielleicht haben Sie recht. Ich hoffe es von ganzem Herzen. Ich bin

für Ihren Vorschlag, und ich werde ihn verteidigen.“ „Ja“, sagte Grant, „aber sie dürfen nicht mehr Rechte haben als wir.“ „Das versteht sich von selbst!“ Zimmermann stand auf. „Sind wir uns also einig?“ fragte er. Die Männer nickten zustimmend. Zimmermann war sehr erleichtert,

als er sah, daß auch Gilbert mit Nachdruck nickte. „General, wir möchten Sie fragen, ob Sie bereit sind, mit uns in

unsere Ansiedlung zu kommen. Dieser Vorschlag gilt für alle hier anwesenden Herren. Wir haben nur zwei Bedingungen: Sie kommen ohne Uniform und Sie fügen sich ohne besondere Rechte in unsere Gemeinschaft ein.“

Bradley sah ihn voll an. „Ich habe, während Sie beraten haben, mit meinen Herren darüber

gesprochen. Wir kommen gern mit. Wir danken Ihnen für diesen Vorschlag.“

„Sie haben damit gerechnet?“ fragte Zimmermann überrascht. Der General nickte lächelnd. „Ich habe damit gerechnet, Mr. Zimmermann.“ „Gut, Mr. Bradley!“ Zimmermann streckte ihm die Hand hin. „Ich

bin der zweite Bürgermeister von Jackville. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir morgen früh aufbrechen.“

„Das“, sagte Bradley und zog sich die Uniformjacke aus, „haben Sie zu bestimmen.“

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9.

„Hast du die Nachrichten gefunden?“ fragte Zimmermann, als Grant den „Club“ betrat.

„Alles klar!“ Grant setzte sich mit an den Tisch. „Na, was heckt ihr denn hier aus?“ Er drehte sich eine Zigarette.

Buchanan sah ihn wohlwollend an. „Wir besprechen gerade den Getreidetausch mit Cornertown, Jim.

Ich bin dafür, daß wir morgen dorthin fahren.“ Zimmermann nickte. „Finde ich auch. Morgan sagte, daß die Fleischkonserven langsam

zur Neige gehen; wir sollten uns rechtzeitig darum kümmern, Vieh zu bekommen. Finde ich ja sehr anständig von den Leuten aus Cornertown, daß sie mit uns tauschen wollen.“

„Ganz klare Sache, wir haben Getreide, sie haben Vieh“, meinte Buchanan. „Wir machen das wie die alten Siedler; auf diese Weise brauchen wir uns nicht um eine Währung zu kümmern.“

„Auf die Dauer werden wir aber nicht darum herumkommen“, sagte Zimmermann.

Buchanan lachte. „Ich erlebe das hoffentlich nicht mehr!“ „Wieso, was hast du gegen Geld, James?“ Buchanan winkte ab. „Laß man, ich finde es besser, wie es jetzt ist!“ In dem Moment begann im Nebenzimmer ein ohrenbetäubender

Krach. Grant grinste, als Buchanan sich die Ohren zuhielt. „Gibson ist wieder mal ganz schön in Fahrt“, sagte er. Das Schlagzeug verstummte. Die Tür zum Nebenzimmer öffnete

sich, und Kemp steckte den Kopf herein. „Habt ihr Mick gesehen?“ fragte er. „Wir wollten doch heute

zusammen spielen!“ Buchanan stieß einen unterdrückten Laut aus. Zimmermann lachte. „Laß sie doch, James. Das gehört auch dazu!" „Noch ein paar Wochen, dann können wir unsere erste Vorstellung

geben! Wir brauchten nur noch einen zweiten Gitarristen", sagte

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Kemp stolz. „Du würdest wohl am liebsten schon wieder Hitparaden installieren,

was?" Grant holte sich ein Bier von der Theke. „Weißt du, Gibson, ich glaube, ich habe sogar eine Platte von dir. ,Peanut Butter' oder so ähnlich."

Kemp starrte ihn entgeistert an. „Und das sagst du jetzt erst, Mann?" Grant lachte. „Wir können ja heute abend zu Hause eine richtige Beat-Session

machen!" „Abgemacht!" rief Kemp. „Kommst du mit, Robert?" „Mit dem größten Vergnügen!" sagte Zimmermann würdevoll. Er

holte sich ein zweites Bier. Sie sprachen gerade darüber, wo sie die Viehställe bauen wollten, als

Morgan hereingestürzt kam. Er setzte sich ohne Begrüßung an den Tisch.

„Ich glaube, es geht wieder los!" sagte er. Die Männer sahen ihn verständnislos an. „Ein Lastwagen ist verschwunden", sagte Morgan. Buchanan schlug mit der Hand auf den Tisch. „Wie konnte denn das passieren? Wir hatten doch Posten

aufgestellt!" Er schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht ..." „Der Posten hat seine Wache verlassen", sagte Morgan langsam. Zimmermann runzelte die Stirn. „Wer?" fragte er. „Hamilton!" sagte Morgan bedeutungsvoll. Zimmermann drückte mit einer heftigen Bewegung seine Zigarette

aus. Buchanan sah ihn an. „Ich weiß, James, ich weiß", sagte Zimmermann. „Ich kann mir

vorstellen, was du mir sagen willst. Hamilton ist einer von den Generälen. Er hat sich nie richtig bei uns eingefügt."

„Ich wollte dir keinen Vorwurf machen, Robert. Die anderen Generäle haben sich bisher ja alle sehr anständig verhalten. Aber du weißt selbst, daß du mit Hamilton nur Schwierigkeiten hattest."

Zimmermann, der aufgestanden war und seine Lederjacke anzog, nickte. Er wußte, daß Buchanan recht hatte. Hamilton hatte ihm bisher nur Schwierigkeiten gemacht. Wie er es auch drehen und wenden

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wollte, es war eine Tatsache. Vielleicht habe ich ein wenig Schuld daran, daß er sich nicht so gut angepaßt hat, dachte Zimmermann. Er dachte daran, daß er es gewesen war, der General Hamilton die Schulterstücke von der Uniform gerissen hatte. Hamiltons Abneigung konnte er ganz gut verstehen; was er bei allem guten Willen nicht verstand, war, daß der General diese Abneigung auf fast alle Bewohner von Jackville ausdehnte.

„Wo ist Hamilton?" fragte Zimmermann. Er stand fertig angezogen mitten im Raum. Die Männer sahen ihn an.

„Er ist bei seinen Kollegen", sagte Morgan. „Ich komme bald wieder", sagte Zimmermann und wandte sich zur

Tür. „Robert, meinst du nicht, daß es besser wäre, wenn du eine Waffe

mitnehmen würdest?" fragte Buchanan. Zimmermann drehte sich um. „Nein, James, die brauche ich nicht. Mit dem werde ich so fertig,

darauf kannst du dich verlassen!" „Robert, was willst du mit ihm machen?" fragte Buchanan. „Ich werde ihn rauswerfen!" sagte Zimmermann fest. „Er soll seine

Sachen packen und verschwinden. Morgen mittag will ich ihn hier nicht mehr sehen."

Buchanan zögerte. „James, wir müssen hart durchgreifen", sagte Zimmermann. „Wir

können uns solche Leute einfach nicht leisten, und du weißt das! Ich habe die Generäle mitgebracht. Sie kannten ihre Bedingungen. Wenn sie sich nicht daran halten, ist das ihre Sache. Dann müssen sie die Konsequenzen ziehen.“

„Du hast recht“, sagte Buchanan, „geh und sage es ihm. Aber sei vorsichtig!“

Er schlug die Tür hinter sich zu. „Was ist denn los?“ fragte Grant, als Zimmermann den Raum

verlassen hatte. „Du tust ja gerade so, als könnte sich Robert nicht mehr so durchsetzen.“

Buchanan wiegte den Kopf. „Ich weiß nicht recht“, sagte er, „ich habe ein komisches Gefühl bei

der Sache!“ Zimmermann trat hinaus in die kühle Abendluft. Er ging ohne

Zögern zu dem Haus, in dem die Generäle wohnten; sie waren auf

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eigenen Wunsch in einem Haus untergebracht. Er fand die Generäle zusammen in ihrem Gemeinschaftsraum. Zimmermann blieb mitten im Raum stehen, als er sagte: „Warum haben Sie Ihren Posten verlassen, Mr. Hamilton?“ Hamilton sah von seinem Kartenspiel hoch. „Guten Abend, Mr. Zimmermann“, sagte er. „Ich habe Sie gefragt, warum Sie Ihren Posten verlassen haben,

sparen Sie sich Ihre Höflichkeitsfloskeln!“ „Ich habe den Posten verlassen, weil ich nicht einsehe, daß ich dort

in der Kälte herumstehen soll. Ihre Vorsicht grenzt langsam an Ängstlichkeit, Mr. Zimmermann!“

„Es ist ein Lastwagen gestohlen worden, während Sie nicht auf Ihrem Posten waren, Mr. Hamilton.“ Zimmermann starrte ihn unentwegt an. „Sicher, weil ich so ängstlich war, was?“

Bradley blickte überrascht auf. „Ein Lastwagen ist gestohlen worden?“ Zimmermann nickte grimmig. „Er ist gestohlen worden, weil Mr. Hamilton seiner Pflicht nicht

nachgekommen ist oder weil es unter seiner Würde war, drei Stunden Posten zu stehen wie ein einfacher Soldat.“

„Wie reden Sie mit mir? Ich muß doch sehr bitten!“ Hamilton brauste auf. „Sie wissen wohl immer noch nicht, wen Sie vor sich haben!“

„Das weiß ich nun ganz genau“, sagte Zimmermann. „Sie werden bis morgen mittag unsere Stadt verlassen haben.“

Hamilton lehnte sich zurück und sah Zimmermann von oben bis unten an.

„Es macht Ihnen wohl mächtig Spaß, so mit einem General umzugehen, was? Aber ich will Ihnen etwas sagen: Ich habe Ihre überhebliche Zivilistentuerei schon lange satt. Ich werde gehen, jawohl! Glauben Sie nur nicht, daß ich auf Sie und dieses Nest hier angewiesen bin. Und, Zimmermann, seien Sie versichert: Ich bin nicht der einzige, der so denkt wie ich. Sie werden hier noch Ihr blaues Wunder erleben! Sie werden noch an mich denken!“

„Ich bin schon zufrieden, wenn Sie verschwinden“, sagte Zimmermann und wandte sich zum Gehen. „Denken Sie daran, bis morgen mittag haben Sie Zeit! Gute Nacht, meine Herren!“

Zimmermann kehrte in den „Club“ zurück. Er berichtete kurz von

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seiner Unterredung mit Hamilton. „Was hat Bradley dazu gesagt?“ fragte Buchanan. „Ich habe ihn praktisch nicht zu Wort kommen lassen“, sagte

Zimmermann. „Außerdem war es für die Herren vielleicht mal ganz heilsam, zu erfahren, was hier passiert, wenn jemand querschießt. Da gibt es auch keine Diskussionen, sonst können wir bald einpacken.“

„Was hat Hamilton gesagt?“ Zimmermann berichtete von Hamiltons Andeutungen. Als er

geendet hatte, sah Buchanan lange vor sich auf den Tisch. Was ist los, James? Woran denkst du?“ Buchanan machte eine Handbewegung, als wolle er etwas vom

Tisch wischen. „Es ist nichts Bestimmtes“, brummte er. „Ich habe das Gefühl, als ob

die Sache damit nicht erledigt ist. Ich fürchte, es passiert tatsächlich noch etwas, womit keiner von uns rechnet.“

„Aber was sollte denn passieren?“ fragte Zimmermann. „Wenn ich das wüßte, wäre mir auch wohler“, sagte James

Buchanan. „Du hast mich gar nicht gefragt, warum ich niemanden ausschicke,

um die Diebe zu suchen“, meinte Zimmermann nach einer Weile. „Da haben wir wohl denselben Gedanken gehabt“, Buchanan

lächelte. „Es ist recht sinnlos, jetzt einfach in der Gegend herumzusuchen. Ich würde für diese Nacht aber auf jeden Fall Doppelposten aufstellen. Man kann nie wissen!“

Zimmermann nickte. „Machst du das?“ fragte er Grant. „Okay“, sagte Grant, „ich sehe mal nach, wer Posten stehen kann.“ „Hat Bradley eigentlich schon irgendeinen Funkkontakt

bekommen?“ fragte Zimmermann Mick Jagger, der mit Walker hereingekommen war. Als die Generäle die Bunker verlassen hatten, waren sie mit einigen Jeeps, Funkgeräten und anderen technischen Ausrüstungsgegenständen in Jackville angekommen. Vom ersten Tage an hatte General Bradley versucht, Kontakt zu bekommen; Mick Jagger war als technisch Interessierter ständig an seiner Seite und arbeitete mit ihm. Obwohl er bislang noch keinen Erfolg gehabt hatte, gab Bradley nicht auf.

„Immer noch nichts“, sagte Mick resigniert. „Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt noch einen Sinn hat.“

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„Ich finde, Bradley hat recht, wenn er nicht aufgibt; wer weiß, vielleicht klappt es doch eines Tages. Nein, macht nur weiter“, meinte Buchanan.

Zimmermann wurde nachdenklich. Manchmal schien es ihm, als sei alles vergeblich, was sie taten; trotz aller greifbaren Erfolge gab es Augenblicke, in denen er resignierte. Das geschah vor allem, wenn er Schwierigkeiten hatte. Nicht bei Entscheidungen, wie der vorangegangenen; viel eher dann, wenn er erst lange reden und die Leute überzeugen mußte, warum man diese oder jene Sache so machen mußte und eben nicht in der herkömmlichen Weise. Gewiß, die Menschen gaben sich Mühe; aber manchmal schien es ihm, als seien sie letztlich doch nicht imstande, vollständig umzudenken und ihre alten, überholten Ansichten über Bord zu werfen. Er beobachtete sie genau. Und er gestand sich ein, daß er früher sicher mehr Geduld auch mit einem Mann wie Hamilton gehabt hätte; ein paar Erfahrungen aber, die er in der letzten Zeit gemacht hatte, hatten ihn vollständig verändert. Er war ungeduldiger und härter in seinen Entscheidungen geworden. Er versuchte natürlich, diese Stimmungen zu überwinden, und er hütete sich, sie den anderen mitzuteilen, aber er wußte sehr genau, daß es eben nicht nur gelegentliche Erscheinungen waren; es waren keine Ermüdungserscheinungen, die sich nach einer gewissen Zeit wieder gaben. Zimmermann ahnte, daß Buchanan davon wußte; aber er hatte noch nicht den Mut gehabt, mit ihm darüber ganz offen zu sprechen. Immer, wenn er es sich vorgenommen hatte, schob er es wieder beiseite, in der Hoffnung, daß sich noch etwas ändern würde.

„Ich frage mich, ob wir ohne Waffen nach Cornertown gehen sollten“, sagte Zimmermann, „das würde sicher Eindruck machen.“

„Ich wäre dafür gewesen, wenn nicht heute dieser Diebstahl gewesen wäre“, meinte Buchanan. „Es ist zu gefährlich für euch, nehmt lieber Waffen mit. Oder besser noch, laßt den Zug von ein paar Maschinengewehrschützen begleiten, so daß jeder sehen kann, die sind nur zur Bewachung des Transports da.“

Zimmermann nickte. Sie brachten den Transport ohne Hindernisse nach Cornertown.

Nachdem der Tausch perfekt war, saß Zimmermann noch mit Glanville, dem Bürgermeister, in dessen Büro zusammen.

Glanville hob sein Glas.

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„Auf weitere gute Zusammenarbeit“, sagte er. „Wie klappt es denn bei Ihnen so? Ich meine, haben Sie viele Quertreiber dabei?“

„Wenn ich dahinterkomme, werfe ich sie raus“, sagte Zimmermann. Er lächelte, als er Glanvilles Blick sah.

„Ich mache es genauso. Ich gebe zu, daß das manchmal etwas hart ist, aber ich kann die Leute nicht anders unter Kontrolle halten.“

„Anscheinend hat sich die Methode doch bewährt“, meinte Zimmermann. „Sie haben Erfolg, Ihr Ort sieht fast so aus, als habe es nie einen Krieg gegeben.“

„Das ist vielleicht etwas übertrieben, aber ich gebe zu, es läuft ganz gut. In solchen Zeiten kommt man wohl nicht ohne eine straffe Lenkung aus. Kommt eben immer darauf an, wer die Sache in die Hand nimmt. Es ist auch durchaus nicht so, daß ich nur einsame Beschlüsse fasse; ich bespreche alles vorher mit einer ganzen Reihe von Leuten.“

„Sind Sie überfallen worden in der letzten Zeit?“ „Nein. Aber ehrlich gesagt, ich fürchte, daß das Zufall ist. Ich rechne

eigentlich immer damit. Wir haben noch jede Nacht Posten. Unglücklicherweise sind wir nicht so gut bewaffnet wie Sie.“

„Wir können uns doch gegenseitig helfen“, sagte Zimmermann. „Wenn Sie überfallen werden, benachrichtigen Sie uns, dann kommen wir und helfen Ihnen.“

„Wäre mir sehr lieb; nur, wie soll ich Sie benachrichtigen? Bis ich einen Boten geschickt habe, ist es viel zu spät!“

„Ich habe gesehen, daß hier noch Telefonmasten stehen, deren Drähte in Ordnung zu sein scheinen“, sagte Zimmermann, „wie wäre es, wenn wir von Büro zu Büro eine Direktverbindung installieren? Dann brauchen Sie nur anzurufen und wir machen uns sofort auf den Weg!“

„Ausgezeichnet! Finde ich sehr gut, die Idee. Übrigens, wenn Sie mehr Vieh brauchen, Zimmermann, wir haben im Augenblick mehr, als wir gebrauchen können; Sie könnten es als Kredit betrachten und später mit Getreide zahlen. Wir wollen es uns nicht unnötig schwermachen!“

„Es wäre mir tatsächlich sehr lieb“, sagte Zimmermann. „Ich möchte nicht das ganze Vieh schlachten lassen; im Moment brauchen wir aber Frischfleisch so dringend, daß mir nichts anderes übrig bliebe. Ich gehe gern auf Ihren Vorschlag ein. Wollen Sie gleich einen Vertrag

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aufsetzen?“ „Unsinn, brauchen wir nicht!“ Zimmermann trat ans Fenster und sah zu, wie seine Männer das

Vieh auf die Lastwagen schafften. „Sagen Sie, Zimmermann, stimmt es, daß Sie Generäle mit nach

Jackville genommen haben?“ „Es stimmt“, sagte Zimmermann. „Geht alles glatt mit ihnen, ordnen Sie sich ohne Schwierigkeiten

unter?“ Zimmermann berichtete von Hamilton. Glanville rieb sich nachdenklich das Kinn. „Wenn das nur gutgeht“, sagte er nach einer Weile. „Ehrlich gesagt,

ich traue diesen Brüdern nicht!“ „Die anderen sind schon in Ordnung“, meinte Zimmermann. „Ich

finde, wir sollten uns öfter treffen und Erfahrungen austauschen! Wie wäre es, wenn Sie uns in den nächsten Tagen mit ein paar Männern besuchten? Vielleicht, wenn wir die Telefonverbindung zustande gebracht haben?“

„Mach’ ich gern! Sagen Sie mal, Zimmermann, ich hoffe, Sie nehmen mir die Frage nicht übel, was hatten Sie eigentlich früher für einen Beruf?“

„Das erraten Sie nie“, sagte Zimmermann lachend. „Ich habe Bücher geschrieben.“

„Da wäre ich allerdings nie drauf gekommen! Wissen Sie, was ich glaube? Ich finde, daß wir uns früher nicht so gut verstanden hätten, wenn wir uns begegnet wären. Ich war schon früher Farmer. Bücher haben mich nie interessiert. Jetzt möchte ich gern etwas von Ihnen lesen.“

„Wir sind dabei, eine kleine Zeitung aufzubauen“, sagte Zimmermann. „Ich werde sie Ihnen bringen lassen, wenn es soweit ist, da können Sie dann etwas von mir lesen.“ Er machte eine Pause. „Ich sehe, daß meine Leute mit dem Verladen fertig sind. Wir müssen jetzt gehen. Ich möchte gern vor Anbruch der Dunkelheit zurück sein.“

Sie verabschiedeten sich. Vorher besprachen sie noch rasch, wie sie die Telefonverbindung herstellen wollten. Zimmermann verließ Glanvilles Büro.

Zimmermanns Leute nahmen die Nachricht von der Telefonverbindung begeistert auf. Alle wollten sich freiwillig melden

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beim Ausbau. Zimmermann fuhr ausgesprochen guter Laune nach Jackville zurück.

Er ahnte nicht, was ihn dort erwartete. Sie erreichten Jackville, als es schon anfing zu dämmern.

Zimmermann überließ den Männern das Abladen des Viehs und ging sofort zu Buchanan in den „Club“. Buchanan hatte es sich angewöhnt, jetzt jeden Abend dort bei einem Glas Bier zu sitzen; der „Club“ war praktisch die Zentrale des Ortes; jeder schaute einmal herein.

Als Zimmermann eintrat, sprang ihm Walker begeistert entgegen. Zimmermann klopfte ihm den Rücken und lachte. „Ist ja gut, alter Junge“, sagte er, „ich bin ja wieder da. Ruhig,

Walker! Mick! Du hast ihm doch nicht etwa wieder Bier gegeben?“ Walker soff nämlich leidenschaftlich gern Bier. Er konnte es nur

nicht so recht vertragen; immer, wenn er Bier bekommen hatte, sauste er wie verrückt durch die Gegend und stieß alles um.

„Was macht ihr denn für Gesichter?“ fragte Zimmermann. Dann fiel im etwas ein. Sein Gesicht wurde hart. „Ist Hamilton nicht verschwunden?“

„Doch“, sagte Buchanan, „Hamilton ist fort.“ „Na, was wollt ihr denn noch? Raus mit der Sprache!“ „Hamilton ist nicht allein gegangen, Robert. Zwölf Männer haben

ihn begleitet. Das heißt, sie waren schon gestern abend weg, wir haben es nur nicht bemerkt.“

Zimmermann setzte sich. „Dann haben uns unsere eigenen Leute bestohlen?“ „Sieht so aus“, sagte Buchanan langsam. „Aber das ist noch nicht

alles. Sie haben ihre Waffen mitgenommen.“ Zimmermann stieß die Luft aus. „Verstehe“, sagte er. „Jetzt verstehe ich, was Hamilton meinte, als er

sagte, ich würde noch mein blaues Wunder erleben.“ „Ich fürchte, das werden wir alle“, sagte Buchanan. „Du glaubst, daß sie zurückkommen und uns überfallen wollen?“ „Ich traue ihnen jetzt alles zu.“ „Wer war es?“ Buchanan zählte die Namen auf. Es war niemand darunter, der

Zimmermanns besonderes Vertrauen besaß, aber trotzdem traf ihn die Nachricht hart.

„Dann müssen wir uns wohl auf einiges gefaßt machen!“

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„Sieht ganz so aus.“ Zimmermann preßte die Lippen zusammen. „Sollen sie kommen“, sagte er. „Sollen sie ruhig kommen! Sie sollen

auch ihr blaues Wunder erleben! Wenn sie nicht dazulernen wollen, dann werde ich eben in ihrer Sprache zu ihnen reden, wenn sie keine andere verstehen!“

„Gut“, sagte Buchanan, „reden wir nicht mehr darüber, aber bleiben wir wachsam. Wir sind ja schließlich nicht schutzlos!“

Zimmermann berichtete ausführlich von seiner Unterredung mit Glanville. Anschließend besuchte er Bradley.

Der General saß noch immer vor seinen Funkgeräten. Die beiden Männer redeten eine Weile über alles mögliche, bis

Bradley schließlich mit der Sprache herausrückte. Es ist mir wirklich unangenehm, daß Hamilton Ihnen solche

Schwierigkeiten macht“, sagte er bedächtig. „Glauben Sie mir, er hat mir gegenüber nie ein Wort verlauten lassen von dem, was er vorhatte. Das ist mir wirklich sehr peinlich, daß es ausgerechnet einer von meinen Leuten ist, der uns wieder Unruhe bringt!“

„Ich weiß, daß Sie nichts dafür können!“ Zimmermann bot dem General eine Zigarette an. „Wie ist denn die Stimmung bei Ihren Kollegen?“

„Sie stehen ausnahmslos auf unserer Seite und verurteilen Hamiltons Verhalten.“

Zimmermann war beruhigt; er hatte gefürchtet, daß Hamilton die anderen Männer beeinflußt haben könnte, wie er auch seine eigenen Leute beeinflußt hatte, den Lastwagen zu stehlen und mit ihm davonzugehen.

„Hamilton ist ein alter Kommißkopf, Zimmermann. Er hat Ihnen nie vergessen können, daß Sie ihm die Schulterstücke abgerissen haben. Er konnte sich einfach nicht damit abfinden, daß er widerspruchslos zu gehorchen hatte; er, der es doch gewohnt war, Befehle zu erteilen. Gott sei Dank, er ist ein Einzelfall. Die anderen sind vernünftiger. Ich fürchte nur, das ist nur bei uns so. Ich glaube, es wird noch sehr lange dauern, bis die Menschen merken, daß zu einer neuen Situation auch ein anderes Verhalten gehört, daß man nicht einfach alles wie früher weiterlaufen lassen kann. Die Menschen sind Gewohnheitstiere, sagt man. Zimmermann, es dauert verdammt lange, bis sie ihre alten Gewohnheiten ablegen. Sie werden noch viel Arbeit haben. Sie

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werden noch viel Schwierigkeiten haben. Glauben Sie nur nicht, daß nun alles vorbei ist; es fängt erst an.“

Zimmermann nickte. Genau das war es, worüber er oft nachdachte. „Es hilft nichts“, sagte er, „wir dürfen uns eben nicht entmutigen

lassen. Wenn wir unser Ziel aus den Augen verlieren, ist alles verloren. Wir müssen versuchen, das Beste zu machen – in der kurzen Zeit, die wir haben.“

Zimmermann verließ Bradley mit dem Gefühl, daß er sich auf diesen Mann verlassen konnte. Während er zu Janet Kirchherrs Haus ging, dachte er daran, daß er diesen Mann nie kennengelernt hätte, wenn er bei einer sturen Lösung geblieben wäre; wenn er sich nicht mit Bradley auseinandergesetzt hätte, als er ihn und seine Leute in dem Bunker aufgestöbert hatte. Bradley und seine Leute waren innerhalb kurzer Zeit zu wichtigen Mitarbeitern in Jackville geworden. Bis auf Hamilton. Zimmermann ermahnte sich, den Fall Hamilton nicht allzu negativ zu werten. So etwas würde immer wieder vorkommen, er wußte das. Nicht jeder war imstande, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Richards hatte es auch nicht gekonnt. Bemerkenswert schien ihm nur, daß es dabei durchaus nicht nur auf die Intelligenz des einzelnen ankam; er hätte Dutzende von Fällen nennen können, wo die Leute Bradley oder Hamilton intellektuell unterlegen waren. Nein, auf Intelligenz kam es nicht an. Zunächst mußte der gute Wille da sein. Und wenn der nicht reichte, wenn die Leute merkten, daß sie Schwierigkeiten hatten, daß sie unzufrieden wurden, dann mußten sie so ehrlich sein und sich fragen, warum sie das waren. Meistens lag es dann an der Bequemlichkeit oder ähnlichem. Es waren schon oft Leute zu Zimmermann gekommen, die ihm von ihren Sorgen erzählt hatten; es war ihm in allen Fällen gelungen, ihnen zu helfen, indem er versucht hatte, die Hintergründe für ihre Unzufriedenheit aufzudecken. Das würde so lange gutgehen, wie die Leute davon überzeugt waren, daß er der richtige Mann am richtigen Platz war. Er wagte nicht, daran zu denken, was geschähe, wenn sie das Vertrauen zu ihm verlören.

Im Hause saßen Janet und Dr. Robert zusammen. Zimmermann freute sich über Dr. Roberts Besuch; er verstand sich gut mit ihm.

„Das war wieder so ein Tag“, sagte Zimmermann, als er eintrat, „aber wir haben auch etwas erreicht.“

Und er erzählte noch einmal von Cornertown.

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Dr. Robert und Janet hörten aufmerksam zu. Als er seinen Bericht beendet hatte, sagte Dr. Robert:

„Wissen Sie, daß Sie sehr müde aussehen, mein Lieber?“ Zimmermann lächelte. „Sie sollten mal ein paar Tage Pause machen und sich nur

ausruhen!“ sagte Dr. Robert. „Wenn Sie es nicht freiwillig tun, stecke ich Sie einfach ins Bett!“

„Dann müßten Sie aber mit geladenem Revolver Wache halten“, sagte Janet. „Er hört ja doch nicht auf uns.“

„Weil ihr immer alles übertreibt“, sagte Zimmermann. „So schlimm ist es gar nicht.“

„Kommen Sie, trinken wir einen Schluck zusammen“, sagte Dr. Robert lachend. „Ihnen ist ja doch nicht zu helfen!“

„Wie macht sich Mary Buchanan als Arzthelferin?“ fragte Zimmermann.

„Gut, sehr gut! Bin mächtig froh, daß ich sie habe, sie ist sehr eifrig. Bei einfachen Fällen brauche ich schon gar nicht mehr dabei zu sein. Sie kann mir schon viel abnehmen!“

Zimmermann nickte befriedigt. „Gibson hat in der letzten Zeit immer öfter Bauchschmerzen“, sagte

Janet und lachte leise. Zimmermann mußte unwillkürlich grinsen. „Soso“, sagte er, „ich bin ja froh, daß er Engländer ist.“ „Wieso?“ fragte Dr. Robert entgeistert. Er hatte keine Ahnung, was

Zimmermann damit meinen konnte. „Na, die Engländer sollen doch so zurückhaltend sein!“ „Aber keine Beatschlagzeuger!“ Janet lachte hell auf.

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10.

In den nächsten Tagen legten sie die Telefonleitung. Sie machten aus, daß sie sich an bestimmten Tagen anrufen wollten; Zimmermann hielt es für richtiger, von vornherein einen Tag festzulegen, so konnten sie sich nicht verfehlen.

Inzwischen hatten sie in Jackville bereits mehrere Ausgaben ihrer Zeitung herausgebracht, die einfach „News“ hieß und zunächst auch nichts anderes als Meldungen enthielt; schon nach der ersten Nummer aber meldeten sich Leute, die Cartoons zeichnen wollten, und andere, die mit verschiedenen Verbesserungsvorschlägen kamen. Die Zeitung hatte natürlich noch recht wenig Ähnlichkeit mit einer richtigen Zeitung von früher, sie zogen sie von Metallmatrizen ab, aber sie erfreute sich sogleich großer Beliebtheit. Zimmermann ließ immer einige Exemplare nach Cornertown bringen.

Er nahm auch die Gelegenheit wahr und erklärte in einem kurzen Artikel die Gründe, warum er Hamilton aus der Stadt gewiesen hatte, und ging auch auf die Begleitumstände ein.

Tagelang hatte Zimmermann eigentlich jeden Augenblick damit gerechnet, daß Hamilton mit einigen Leuten zurückkommen würde, aber es war nichts geschehen. Trotzdem ließ Zimmermann nachts Doppelposten um den Ort herumgehen; er wollte kein Risiko eingehen.

Bradley war unentwegt mit seinen Funkgeräten beschäftigt. Zimmermann ging jeden Tag zu ihm, um sich berichten zu lassen. Aber nicht Bradley war es, der plötzlich Kontakt bekam; es war Mick Jagger. Jagger hatte schon geraume Zeit auf Kurzwelle herumgehorcht. Aber außer den üblichen Störgeräuschen hatte er nichts gehört.

Bradley bastelte verbissen an einem Gerät herum, als Mick plötzlich aufschrie.

„Mr. Bradley! Ich höre etwas!“ Bradley fegte ihn förmlich vom Stuhl. Er stülpte sich die Kopfhörer

über und lauschte angestrengt. Dann drehte er an einigen Knöpfen. „Tatsächlich“, murmelte er, „da ist etwas! Holen Sie Zimmermann,

Mick, schnell! Ich will versuchen, mit ihnen zu reden.“ Mick raste los. Minuten später war Zimmermann da. Er nahm sich

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einen Stuhl und setzte sich dicht neben Bradley. „Hallo!“ rief Bradley. „Hallo! Hören Sie mich! Hallo, Hallo!“ Zimmermann drehte sich mit zitternden Fingern eine Zigarette. „Verdammt! Ich habe sie verloren!“ stöhnte Bradley enttäuscht. „Weiter! Weiter!“, sagte Zimmermann. Er bekam einen trockenen

Mund vor Aufregung. „Hier“, sagte Mick, „es war weiter links auf der Skala!“ Bradley hantierte fieberhaft an den Einstellungen. Zimmermann wollte gerade etwas sagen, als Bradley heftig

abwinkte. „Hier ist Jackville, USA!“ schrie Bradley plötzlich. Zimmermann beugte sich vor. Bradley schwieg einen Augenblick

und zeigte auf ein zweites Paar Kopfhörer. Zimmermann nahm sie. Zunächst hörte er nichts. Es war ein Rauschen und Pfeifen, als hätten sich sämtliche Gewitter der Welt vereinigt. Aber dann hörte er ganz deutlich unter all den Geräuschen eine Stimme. Die Stimme war schwach, wurde verzerrt und ging immer wieder in den Störgeräuschen unter.

„Haben Sie mich, können Sie mich hören?“ schrie Bradley. „Ich höre Sie! Ich höre Sie! Wo sind Sie?“ „Jackville, USA!“ sagte Bradley noch einmal. Und nun war die Verbindung endgültig zustande gekommen. Bradley redete und redete. Er redete soviel wie noch nie im Leben,

sagte er später. Und Zimmermann saß dabei und wußte nicht, was er zu alldem, was er da hörte, sagen sollte.

Die andere Stimme kam aus der UdSSR. Aus einem kleinen Ort in Sibirien. Nach und nach verstand Zimmermann die Zusammenhänge. Dort war praktisch dasselbe passiert wie hier. Die Leute hatten sich das Gerät aus Baikonur, dem russischen Weltraumhafen, geholt. Und sie waren, wie Zimmermann hörte, bei der Eroberung des Funkgeräts nicht ganz so rücksichtsvoll verfahren wie Zimmermann. Es war ein Glück, daß der Mann in Sibirien Englisch konnte. Es war nicht fehlerfrei, aber er konnte sich gut verständlich machen.

Nach einer Weile sprach Zimmermann mit dem Mann. Er stellte viele Fragen, und er mußte viele Fragen beantworten. Am Schluß machten sie aus, daß sie wieder miteinander reden wollten. Bradley notierte Zeit und Wellenlänge.

Nach diesem Gespräch ging Zimmermann sofort in sein Büro und

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setzte sich an den Schreibtisch. Auszug aus einem Artikel des Robert Zimmermann, erschienen in

den „News“: „Heute hat Mr. Bradley mit seinem Kurzwellengerät Kontakt mit

einer Menschengruppe in einem anderen Land aufnehmen können. Es ist ein kleiner Ort in der Nähe von Baikonur. Alexej Popojew, so heißt der Mann, mit dem wir geredet haben, berichtete, was in seinem Land geschehen ist. Es deckt sich mit dem, was wir erlebt haben. Die UdSSR ist mit demselben Kampfmittel angegriffen worden, mit dem wir zu tun haben. Rußland ist verseucht. Überlebende gibt es nur in dünner besiedelten Gebieten. Kampfraketen oder Atombomber sind, soweit Mr. Popojew es weiß, nicht gestartet; Mr. Popojew hält es allerdings für möglich, daß einige Militärs auf eigene Faust gehandelt haben. Amerikanische Flugzeuge hat er nicht gesehen. Er hält es für möglich, daß es einige Atomexplosionen gegeben hat, kann das aber nicht mit Sicherheit sagen, weil er die Auswirkungen des neuen Kampfstoffes genausowenig kennt wie wir. Möglich, daß zusätzlich Atomraketen abgegangen sind; in seiner Gegend jedenfalls nicht. Mr. Popojew nimmt an, daß die Mitglieder der Regierung der UdSSR überlebt haben und in atomsicheren Bunkern leben; Mr. Popojew bereitet eine Expedition vor, um die Regierungsmitglieder zu finden. Mr. Popojew weiß nicht, wer den Krieg begonnen hat; er sagt wörtlich: ,Wenn mich vor dem Krieg jemand gefragt hätte, wer ihn begonnen hat, ich hätte nicht gezögert, zu antworten: die amerikanischen Imperialisten; heute, nachdem ich gehört habe, was mit Ihrem Land geschehen ist, sage ich Ihnen: Ich weiß es nicht!’ Mr. Popojew bezeichnet sich als guten Kommunisten; er versicherte mir, daß ein guter Kommunist niemals einen Krieg begonnen hätte, da er das eigene Land gefährdet hätte. Mr. Popojew ist Maschinenbauingenieur; er lebt mit einer größeren Gruppe von Menschen zusammen und hat eine provisorische Regierung gebildet; er hat mich offiziell aufgefordert, Ihnen allen mitzuteilen, daß er ein Treffen mit Bürgern dieses Landes wünscht, sobald er Klarheit über die Lage in seinem Lande hat. Mr. Popojew möchte, daß wir Erfahrungen austauschen über die Bekämpfung der Auswirkungen des Kampfstoffes und daß wir ein ständiges beratendes Gremium bilden, das verhindern soll, daß jemals wieder feindliche Handlungen zwischen unseren beiden Ländern ausbrechen. Mr. Popojew schließt

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eine spätere Vereinigung von führenden Männern beider Länder nicht aus und hofft, damit den Grundstein zu einer Weltregierung zu legen. Ich habe ihm in allen Punkten unseren Willen zur Zusammenarbeit zugesagt. Mr. Popojew fordert uns auf, mit allem Nachdruck gegen reaktionäre Elemente vorzugehen, die eine Fortsetzung des Krieges wünschen. Er ist mit mir der Meinung, daß das Geschehen der letzten Monate die letzte Chance für alle Menschen bedeutet, in Frieden miteinander zu leben. Mr. Popojew äußerte die Vermutung, daß es im kommunistischen China mehr Überlebende gäbe als in seinem Land; er bemüht sich um Kontakte, sobald er klarer im eigenen Land sieht.

Er äußerte sich zuversichtlich zu seinen Plänen, denn er meint, daß diese Warnung nun endlich von allen Menschen begriffen werden müsse und daß ideologische Unterschiede von nun an nur noch als geistige Auseinandersetzungen verstanden werden dürften.

Wir haben ausgemacht, von nun an in ständigem Kontakt zu bleiben. Mr. Popojew schloß mit den Worten: ,Es lebe die Freiheit und

Gleichheit aller Menschen!’ Ich habe ihm geantwortet, wenn er diesen Ausspruch als frei verstünde von allen ideologischen Hintergründen, erwiderten wir ihn aus vollem Herzen.

Von nun an wissen wir, daß wir nicht allein sind; wir wissen, daß sich in dem Land, das uns bisher als feindlich gesonnen hingestellt wurde, Menschen leben, die keinen anderen Wunsch haben als wir: den Wunsch nach einem endgültigen, stabilen Frieden. Wir müssen alles in unserer Kraft Stehende tun, damit wir dieses Ziel erreichen. Dazu gehört, daß wir uns umfassender als bisher darüber orientieren, was für Zustände in den anderen Landesteilen bei uns herrschen. Sobald unsere Gemeinschaft so weit gefestigt ist, daß wir ohne Schwierigkeiten eine größere Expedition ausschicken können, sollten wir es tun. Ich werde noch heute mit Glanville, dem Bürgermeister von Cornertown, sprechen und ihn fragen, ob wir diese Aufgabe nicht gemeinsam durchführen können. Ich bin sicher, daß Mr. Glanville sich unserer Auffassung anschließt.

Sie werden in den News ständig über weitere Gespräche mit Mr. Glanville und Mr. Popojew informiert werden.“

Die Zeit für den routinemäßigen Anruf nach Cornertown war noch nicht gekommen. Zimmermann beschäftigte sich in seinem Büro mit Bauplänen für Holzhäuser, die dringend notwendig geworden waren. Auch wollte Zimmermann von vornherein dagegen gewappnet sein,

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noch mehr Menschen in Jackville aufnehmen zu können; er rechnete damit, daß über kurz oder lang der Ort wachsen würde. Er hoffte, daß sich ihnen mehr Menschen anschlössen.

Zimmermann war auf dem Wege zum „Club“, als ihn Grant einholte.

„Glanville ist am Apparat“, keuchte er, „schnell, schnell!“ Zimmermann drehte sich auf dem Absatz um und rannte los. „Zimmermann. Was ist los, Mr. Glanville?“ „Ah, endlich! Zimmermann, wir könnten jetzt ein paar gute

Schützen gebrauchen. Bei uns knallt es ganz schön! Ich habe so das Gefühl, das sind die Herren, die Sie zum Teufel gejagt haben!“

„Wir kommen!“ sagte Zimmermann und legte ohne ein weiteres Wort auf.

Er trommelte fünfzehn Männer zusammen und gab Waffen aus. Jeder Mann bekam eine MPi. Die Männer wurden auf Lastwagen untergebracht. Zimmermann ließ das leichte Maschinengewehr auf dem Beiwagen des Krads montieren und setzte sich dahinter. Grant fuhr das Krad. Sie führten die Kolonne an. Er war froh, daß sie genug Waffen hatten; so brauchte er nicht zu befürchten, daß sich der Angriff auf Jackville ausdehnen könnte. Dort würde man ebenfalls gewappnet sein.

Sie trafen Glanville und seine Männer an der Ausfallstraße nach Westen. Glanville hatte die Straße mit Sandsäcken und Holzbarrieren verstellt, so daß die Angreifer in den Ort nicht eindringen konnten.

„Wo sind sie?“ fragte Zimmermann. „In den Garagen und auf den Plätzen, wo die Lastwagen stehen! Ich

glaube, darauf haben sie es abgesehen!“ „Hatten Sie Verluste?“ Glanville spuckte wütend auf den Boden. „Sie haben fünf Posten erschossen. Ohne Warnung! Sie haben sie

einfach abgeknallt!“ „Wie kann ich ihnen in den Rücken fallen?“ „Fahren Sie mit dem Krad um den Ort herum. Ich beschäftige sie

von hier aus. Lassen Sie ein paar Maschinenpistolen hier. Wir haben nur Jagdgewehre und Revolver.“

„Okay. Aber ziehen Sie Ihre Männer aus der vordersten Linie zurück! Das ist nichts für Jagdgewehre. Außerdem ist das unsere Angelegenheit!“

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„Unsinn“, sagte Glanville, „das geht uns genauso an. Daß das die Burschen sind, die Sie rausgeworfen haben, hat nichts damit zu tun!“

„Tun Sie, was ich Ihnen sage! Ich will nicht, daß noch mehr Unheil geschieht. Sie können mit Ihren Waffen hier nicht viel ausrichten.“

Zimmermann postierte seine Männer vor dem provisorischen Wall. „Wenn ihr dieses Klavier hier hört“, er deutete auf das

Maschinengewehr, „geht ihr über die Barrikaden und stürmt die Garage. Aber Vorsicht!“

Er setzte sich in den Beiwagen. „Los, Jim!“ sagte er. „Wir wollen das schnell beenden!“ Grant fuhr wie der Teufel. In kurzer Zeit waren sie am anderen Ende

der Stadt. „Da!“ sagte Grant. „Da sind sie!“ „Das können nicht alle sein“, sagte Zimmermann. Er hatte sie auch

gesehen. Sie hatten sich hinter einem Lastwagen verbarrikadiert und schossen über die Straßensperre hinweg.

Sie hatten Grant und Zimmermann noch nicht bemerkt. „Absteigen“, sagte Zimmermann. „Wir schieben das Krad näher

heran. Ich will sie vollständig überraschen!“ Sie schoben das Krad weiter vor. Zimmermann wollte gerade

anhalten lassen, als einer der Männer hinter dem Lastwagen sich umdrehte und sie entdeckte.

Zimmermann packte Grant und riß ihn zu Boden. Der Mann vor ihnen feuerte eine Garbe in ihre Richtung.

Zimmermann drückte Grant einen Revolver in die Hand. „Schieß“, sagte er, „schieß soviel und so schnell du kannst!“ Er verrenkte sich, als er das Maschinengewehr schußbereit machte. Mit zitternden Händen schob er den Ladestreifen ein. Er fürchtete

jeden Augenblick, daß er getroffen werden konnte. Aber offensichtlich waren auch die anderen so aufgeregt, daß sie auf

die Entfernung nicht trafen. Schließlich war Zimmermann soweit. Das Maschinengewehr ratterte los. Zimmermann wußte, daß er

nichts getroffen hatte, aber er erzielte die Wirkung, daß die Gegner in Deckung gingen. Aber wo sollten sie noch in Deckung gehen? Hinter ihnen waren die Männer bei den Barrikaden, vor ihnen Zimmermann und Grant.

Sie legten sich unter den Lastwagen.

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Es nützte ihnen alles nichts mehr. Zimmermann saß schon im Beiwagen, duckte sich und jagte Garbe auf Garbe hinüber. Gleichzeitig stürmten die Männer die Barrikaden und gingen Schritt für Schritt, unablässig feuernd, gegen die Garage vor.

Zimmermann schrie immer wieder, daß die Angreifer mit erhobenen Händen das Versteck verlassen sollten, aber sie hörten nicht auf ihn.

Als sich unter dem Lastwagen nichts mehr rührte, sagte Zimmermann:

„Jim, aufsitzen, schnell!“ Sie fuhren auf die Garage zu. „Zur Seite!“ schrie Zimmermann seinen Leuten zu. Er fuhr seitlich an den Eingang heran und schickte seine Leute rund

um das Gebäude. Er winkte ihnen, das Schießen einzustellen. „Kommt heraus!“ schrie er. „Das ist die letzte Aufforderung!

Kommt heraus oder wir holen euch!“ Ein Geschoßhagel war die Antwort. Danach dauerte es nur noch zehn Minuten. Ein Maschinengewehr

kann sehr schnell feuern. Es kann ganze Teppiche aus Kugeln legen. Und das war das, was Zimmermann tat. Er nahm keine Rücksicht mehr.

Und schließlich hatte die ganze Angelegenheit ein Ende. Glanville bedankte sich überschwenglich. Er sorgte dafür, daß sich

Zimmermanns Männer waschen konnten und bot ihnen hinterher Erfrischungen an.

Schließlich saßen sie alle in einem Raum in der Bürgermeisterei versammelt.

„Wir wollen hoffen, daß so etwas nicht wieder passiert“ sagte Glanville. „Wir können das nicht gebrauchen, wir haben andere Dinge zu tun.“

Zimmermann nickte. Und dann berichtete er Glanville von dem Gespräch mit Alexej Popojew.

„Das ist ja ein tolles Ding“, sagte Glanville. Er war sichtlich beeindruckt. „Sie glauben, daß man mit denen zusammenarbeiten kann?“

„Ich bin davon überzeugt“, sagte Zimmermann. „Voraussetzung ist natürlich, daß wir erst mal vor der eigenen Tür kehren; es könnte ja immerhin sein, daß es noch ein paar kalte Krieger irgendwo gibt, die

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uns einen dicken Strich durch die Rechnung machen könnten!“ „Und wie wollen Sie das verhindern, wie wollen Sie denen auf die

Schliche kommen?“ „Man müßte eine größere Expedition losschicken, die kreuz und

quer durchs Land fährt, um festzustellen, wo es noch Ansiedlungen gibt. Dann müßte man versuchen, mit all den Leuten Kontakt zu bekommen, damit man später so etwas Ähnliches wie eine Regierung bilden kann.“

Glanville kratzte sich am Hinterkopf. „Verstehe“, sagte er. „Sie würden es am liebsten sehen, wenn ich mit

einigen Leuten bei dieser Expedition dabei bin, oder?“ „Sie selbst müssen nicht unbedingt dabei sein, aber es sollten Leute

von Ihnen mitkommen.“ „Ich habe nichts dagegen. Ich finde das alles sehr vernünftig; ich

weiß nur nicht, ob das alles so glattgehen wird!“ „Das kann niemand von uns vorher sagen. Auf jeden Fall sollten wir

noch enger als vorher zusammenarbeiten. Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag: Wir bauen beide in Richtung zueinander, so daß später aus den beiden Orten eine große Stadt werden kann. So groß ist die Entfernung ja nicht.“

Glanville nickte zustimmend. „Gute Idee. Sie rechnen damit, daß wir bald Zuwachs bekommen?“ „Erstens leben hier einige Ehepaare mit Kindern. Diese Kinder

werden ja schließlich auch mal erwachsen; zweitens bin ich sicher, daß hier oder bei uns noch oft kleinere Gruppen vorbeikommen werden, die sich uns gern anschließen würden; drittens, wenn wir die Expedition machen, treffen wir bestimmt viele, die allein leben und die mit uns kommen wollen!“

Glanville sah sich um. Seine Leute nickten beifällig. „Ich finde den Gedanken auch gut“, sagte er schließlich. „Langsam

habe ich das Gefühl, daß es wieder aufwärts geht!“ „Wir wollen nicht zu optimistisch sein“, sagte Zimmermann. „Wir

wissen praktisch immer noch nichts über die Strahlung; ich hoffe, daß uns Popojew darüber eines Tages Aufschluß geben kann. Solange wir aber noch im dunkeln tappen, bleiben wir lieber in diesen Gegenden; denn die Städte waren das Hauptangriffsziel und sind sicher noch einige Zeit verseucht.“

Glanville malte ein paar unsichtbare Figuren auf den Tisch.

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„Ich habe noch eine große Bitte an Sie, Zimmermann.“ Er sah ihn an und fuhr dann zögernd fort: „Können wir nicht noch ein Tauschgeschäft machen, bei dem wir ein paar Waffen von Ihnen einhandeln? Sie haben selbst gesehen, daß wir nicht gut genug ausgerüstet sind. Nicht immer werden Sie sofort greifbar sein, und außerdem sollten wir uns auch selbst unserer Haut wehren können.“

„Natürlich können wir das machen“, sagte Zimmermann. Glanville streckte ihm die Hand hin, man sah ihm an, wie erleichtert

er war. In diesem Augenblick stürzte einer von Glanvilles Männern in den

Raum. „Das Telefon“, schrie er, „das Telefon, Chef!“ Glanville stand sofort auf und ging zu seinem Büro. Zimmermann

folgte ihm. Der Anruf konnte ja nur aus Jackville kommen. Glanville hielt ihm sofort den Hörer hin. Zimmermann sagte erst gar nicht seinen Namen. „Was ist los? Wer spricht?“ „Buchanan, Robert. Es tut mir leid, es ist etwas passiert!“ „Sag schon!“ „Es ist jemand umgebracht worden, Robert!“ Zimmermann zuckte zusammen. „Wie heißt der Mann?“ „Es ist Bradley, Robert!“ „Wer war es?“ Zimmermann stieß einen Fluch aus. „Das weiß kein Mensch hier! Es wäre besser, Robert, wenn du dich

sofort auf den Weg machen würdest!“ „Ich bin schon unterwegs!“ Im Hinausgehen sagte Zimmermann: „Wir reden in den nächsten Tagen über den Tausch, Glanville. Ich

muß jetzt schnell zurück, Sie haben es ja gehört!“ Glanville sah ihm nachdenklich nach. „Wenn das man gutgeht“, murmelte er. Während der Fahrt grübelte Zimmermann. Wer konnte es gewesen

sein? Und vor allen Dingen: warum? Bradley war bei allen Leuten beliebt gewesen; gewiß, er war nicht der joviale Typ, der mit jedem sofort auf du und du war, aber er hatte sich niemals abweisend gezeigt. Er war immer aufgeschlossen und hilfsbereit gewesen.

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Zimmermann fragte sich, ob er auch in Zukunft mit solchen Überraschungen rechnen mußte. Und seine Antwort befriedigte ihn nicht. Wahrscheinlich, dachte er, muß ich immer damit rechnen. Weil man menschliche Emotionen nicht vorher einkalkulieren kann.

Auch für Buchanan war es ein Schock gewesen, er hatte es deutlich an seinem Tonfall hören können. Zimmermann fühlte sich mit einemmal müde und alt. Er fühlte sich überfordert. Denn dieses Ereignis zog zwangsläufig ein anderes nach sich. Er mußte den Täter finden und bestrafen. Aber was hieß das, bestrafen? Er mußte ihn töten, das war die Wahrheit. Und Zimmermann hatte genug vom Töten. Er wollte genauso reinen Tisch machen wie Popojew; aber er wußte, daß er nicht die Nerven dazu hatte. Immer deutlicher kam ihm zum Bewußtsein, wie müde er geworden war, immer vor den gleichen, gewalttätigen Entscheidungen zu stehen. Warum? dachte er. Warum hat jemand Bradley getötet?

„Ich habe die Posten stehen lassen, obwohl sie abgelöst werden müßten. Die Posten scheiden als Verdächtige aus, ebenso die Leute, die mit dir in Cornertown waren“, sagte Buchanan. „Wie wollen wir jetzt weiter vorgehen?“

„Alle sollen sich im Gemeindesaal versammeln. Wir wollen versuchen, es so herauszubekommen. Hast du eine Ahnung, warum das jemand getan haben könnte?“

Buchanan schüttelte resigniert den Kopf. „Ich habe hin und her überlegt. Keine Ahnung!“ Er seufzte.

„Manchmal denke ich, das hört überhaupt nicht auf.“ Zimmermann fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich sollte das vielleicht noch nicht sagen, James. Aber ich will ganz

ehrlich sein: Ich halte es nicht mehr aus. Ich werde einfach nicht mehr damit fertig, daß wir dauernd vor mehr oder weniger brutalen Entscheidungen stehen. Ich kann nicht mehr töten! Was ich heute wieder in Cornertown erlebt habe…“ Er sah Buchanan nicht an. „Ich weiß, wie das klingt“, sagte er. „Ich habe ein paar Männer erschossen und fange hinterher an, darüber zu jammern. Ich mußte es doch tun, was blieb mir denn übrig? Sollte ich vielleicht die anderen vorschicken und nur Befehle erteilen? Das ist doch im Grunde dasselbe. Und so wird das immer weitergehen. James. Ich sage dir, sie lernen es nicht, umzudenken. Ich bin dabei, aufzugeben.“

„Niemand wirft dir etwas vor, Robert. Das weißt du. Und du hast ein

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Recht darauf, müde zu sein. Du hast in der letzten Zeit mehr gearbeitet als irgendein anderer hier.“

Zimmermann machte eine heftige Handbewegung, um ihn zu unterbrechen, aber Buchanan fuhr ungerührt fort:

„Du brauchst mir nicht zu sagen, daß es keine momentane Müdigkeit ist. Wenn ich ehrlich bin, warte ich schon lange auf den Punkt, den du jetzt erreicht hast. Laß uns später darüber reden!“

„Gut“, sagte Zimmermann, „reden wir später darüber.“ „Sie wissen, was vorgefallen ist“, sagte Zimmermann. „Jemand hat

Mr. Bradley erschossen, als er am Funkgerät saß. Jemand von Ihnen ist der Mörder. Ich war mit fünfzehn Männern in Cornertown, und die Posten haben ihren Standort nicht verlassen. Ich frage Sie: Wer war es? Hat jemand etwas beobachtet? Und ich rechne genausowenig damit wie Sie, daß sich der Täter meldet. Hat irgend jemand eine Beobachtung gemacht?“

Die Leute im Saal schwiegen. „Nun, gut“, sagte Zimmermann. „Ich will Ihnen sagen, wie es

weitergeht: Wenn wir hier und heute den Mörder nicht herausfinden, dann werden wir alle, die wir hier sind, in der nächsten Zeit mit dem Gefühl leben müssen, daß ein Mörder unter uns ist. Ein Mörder, der einen unbewaffneten Menschen erschossen hat. Kein sehr angenehmes Gefühl, nicht wahr?“

Er machte eine Pause. Einige Leute begannen zu flüstern. „Sie haben alle die ,News’ gelesen; wir verdanken es Mr. Bradley,

daß wir Kontakt mit anderen Menschen bekommen haben. Mit Menschen in einem anderen Land. Vielleicht ist Ihnen nicht klar, was das bedeutet. Es heißt nichts anderes, als daß wir jetzt die Gelegenheit haben, einen dauerhaften Frieden zu schließen, wenn sich Mr. Popojew in Rußland durchsetzt. Wir brauchen dann keine Angst mehr zu haben; es wird friedliche Beziehungen zwischen unseren Ländern geben. An einen Krieg werden die Menschen, die übriggeblieben sind, nicht mehr denken!“

Werden sie es wirklich nicht? fragte er sich. Oder wird es so sein wie heute? Wird immer wieder etwas geschehen, das alle Friedensbemühungen zunichte macht?

Jim Grant kam in den Saal und flüsterte ihm etwas zu. Zimmermann sah ihn erstaunt an.

„Keith Bono“, sagte Zimmermann langsam, „stehen Sie auf und

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sagen Sie uns, warum Sie Mr. Bradley erschossen haben!“ Jetzt entstand Unruhe im Saal. „Stehen Sie auf“, sagte Zimmermann. Zögernd erhob sich der Mann. „Ich weiß nicht, wie Sie den Revolver gefunden haben“, sagte er

stockend, „aber es hat ja wohl keinen Sinn mehr, zu leugnen. Ja, ich habe es getan!“ Seine Stimme wurde lauter. Er drehte sich zu den Leuten im Saal. „Ich habe es getan, weil dieser militaristische Bandit uns an die Roten verkaufen wollte! Erst haben sie einen Krieg vom Zaun gebrochen, und jetzt, als ob das noch nicht genug wäre, wollen sie uns auch noch an die Roten verkaufen! Ich finde es falsch, mit den Kommunisten Verbindung aufzunehmen. Ich habe Bradley gefragt, ob er das in Zukunft unterlassen würde, und als er weiter starrköpfig blieb, habe ich abgedrückt! Sie, Mr. Zimmermann, können mich nicht dafür verurteilen, daß ich uns davor retten wollte, an die Roten verkauft zu werden!“

Zimmermann fuhr sich mit der Hand über die Augen. Er war nicht so schockiert, wie er es hätte sein müssen, wenn ihn diese Antwort aus Dummheit, Haß und Ignoranz unvorbereitet getroffen hätte. Er hatte gefürchtet, so etwas zu hören.

Sie lernen es nie, dachte er bitter. Sekundenlang überwältigte ihn die Resignation so sehr, daß er nichts sagen konnte. Dann riß er sich gewaltsam zusammen.

„Ich habe nicht die Absicht, Sie abzuurteilen, Mr. Bono“, sagte Zimmermann fest. „Was mit Ihnen geschehen wird, werden die Bürger von Jackville unter Vorsitz von Mr. Buchanan entscheiden. Denn ich werde sie verlassen.“

Tumulte entstanden im Saal. Zwischenrufe wurden laut. Zimmermann winkte ab. „Sie können mich nicht umstimmen“, sagte er. „Ich habe mit Ihnen

allen gemeinsam versucht, einen Weg zu finden, uns eine neue Existenz aufzubauen. Meine Aufgabe ist beendet. Arbeiten Sie nun allein weiter. Ich werde durch das Land fahren, um festzustellen, wo es noch andere Menschen gibt, und wie sie leben. Ein paar Freunde werden mich begleiten.“ Er winkte wieder ab, als die Zwischenrufe laut wurden. „Sie haben in James Buchanan den besten Mann. Vertrauen Sie ihm. Ich werde nach einiger Zeit wiederkommen, und dann werden wir sehen, wie es weitergeht. Ich habe Ihnen allen für

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das Vertrauen zu danken, das Sie mir entgegengebracht haben!“ Er stand auf und verließ das Podium. Als er durch die Reihen der

Menschen ging, standen sie auf und sahen ihn stumm an. Auch der letzte hatte begriffen, daß sein Entschluß unumstößlich war.

Der Abschied von Janet Kirchherr fiel ihm am schwersten. Obwohl sie Verständnis zeigte, wußte er, daß sie enttäuscht war. Er tröstete sie damit, als er sagte, er würde sicher wiederkommen, aber er wußte gleichzeitig, daß das ein schwacher Trost war. Denn wann er wiederkommen würde, konnte er nicht sagen.

Zum Schluß hatte er ein langes Gespräch mit James Buchanan. Sie machten aus, daß Jim Grant das Funkgerät bedienen sollte, um den Kontakt mit Popojew aufrechtzuerhalten. Mick Jagger hatte ihm alles Nötige erklärt.

Schließlich war es soweit. Am frühen Morgen, die Sonne schien durch einen dicken Nebelschleier, verließ Zimmermann im Wagen von Mick Jagger die Stadt. Gibson Kemp, Mick Jagger und der Hund Walker waren bei ihm. Sie hatten sich ohne viel Worte entschlossen, mit ihm zu kommen.

Als er aus der Stadt herausfuhr, standen trotz der frühen Stunde viele Menschen an der Straße und winkten ihm zu. Janet Kirchherr war nicht dabei. Aber Zimmermann wußte, daß sie da sein würde, wenn er zurückkam.

„Wohin?“ fragte Gibson Kemp, der am Steuer des Wagens saß. Zimmermann deutete geradeaus. „Nach Westen“, sagte er. „Fahr nach Westen.“

ENDE

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Die Clark Darlton-Werkausgabe erscheint im Verlag Arthur Moewig GmbH

CLARK DARLTON

Die HOLOCAUST-Trilogie

Zweiter Teil

Leben aus der Asche

Redaktion: Horst Hoffmann Titelbild: Alfred Kelsner

Copyright © 1986 by Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt

VERLAG ARTHUR MOEWIG GMBH, 7550 RASTATT CLARK DARLTON-Taschenbuch erscheint alle zwei Monate im Verlag

Arthur Moewig GmbH, Rastatt Copyright © 1966 by Walter Ernsting Copyright © 1985 by Verlag Arthur

Moewig GmbH – Neuauflage –

Titelbild: Les Edwards Redaktion: Günter M. Schelwokat

Vertrieb: Erich Pabel Verlag GmbH Druck und Bindung: Eisnerdruck GmbH, Berlin

Verkaufspreis inklusive gesetzlicher Mehrwertsteuer Printed in Germany

Juli 1985 ISBN 3-8118-3307-3

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1.

Abends war es am schönsten. Dann strahlte die Stadt in einem diffusen, violetten Licht, das die Umrisse der Häuser verschwimmen ließ, und der Himmel leuchtete in allen Farben des Regenbogens. Es gab nur noch die Farben und die Stille. Nicht nur abends. Denn auch tagsüber war in dieser Stadt nichts zu hören. Schon lange nicht mehr.

Die fünf Männer, die durch eine Seitenstraße des ehemaligen Vergnügungsviertels gingen, hatten es nicht eilig. Ihre Schritte hallten unnatürlich laut auf dem Pflaster. Ab und zu blieb einer der Männer stehen, um sich die Bilder in den Schaukästen anzusehen, die vor den Eingängen der Lokale an beiden Seiten der Straße hingen. Sie drehten sich um, als sie merkten, daß einer von ihnen zurückgeblieben war und sich vom Anblick der Bilder nicht losreißen konnte.

„Nimm’s doch mit“, rief ihm einer zu. Der Mann sah ihn an, als ob er ihn nicht verstünde. Dann überzog

ein Grinsen sein stoppelbärtiges, zerfurchtes Gesicht. Mit einer schnellen, heftigen Bewegung seines Ellenbogens schlug er die Scheibe ein und riß ein Bild heraus. Während er versuchte, die anderen wieder einzuholen, starrte er pausenlos auf das Bild.

„Zeig mal her!“ Der Mann stieß einen langanhaltenden Pfiff aus. „Ein Trauerspiel, daß es so was nicht mehr gibt“, meinte er. „Woher weißt du denn das?“ Der Mann sah irritiert hoch. „Was meinst du damit?“ „Woher willst du denn das wissen, Idiot?“ „Was?“ „Daß es solche Miezen nicht mehr gibt!“ „Hast du vielleicht welche gesehen?“ Der andere schwieg verbittert. Sie gingen weiter. „Und nenn mich nicht wieder Idiot“, sagte der andere. „Ach, halt doch die Schnauze!“ „Ich habe gesagt, du sollt mich nicht wieder Idiot nennen, hast du

das gehört?“ „Ich hab’s gehört!“ „Dann richte dich gefälligst danach!“

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Der Mann sah ihn höhnisch an und zerriß langsam das Bild. „Du verdammter…“ Der Mann, der die kleine Kolonne anführte, sah sich um und fixierte

die Männer scharf. „Ich will keinen Ärger“, knurrte er. Und seine Stimme klang nicht

sehr freundlich. „Ist ja schon gut, es war ja bloß wegen…“ „Das ist mir egal, warum ihr Holzköpfe euch streitet! Habe ich mich

klar genug ausgedrückt?“ Die Männer schwiegen und sahen verbissen vor sich hin.

Es war ein kleiner Raum im Keller eines Hochhauses. Zwei Männer saßen an einem Funkgerät, zwei weitere beschäftigten sich mit Landkarten.

„Eben habe ich ihn deutlich drin gehabt, Pete!“ Der Angesprochene sah von der Karte auf. „Versuch’s weiter! Wenn du ihn schon gehabt hast, findest du ihn

auch wieder!“ „Hast du noch mehr solche klugen Sprüche auf Lager?“ „Dutzende!“ Der Mann wandte sich resigniert wieder seinem Funkgerät zu. Sein Nebenmann ließ die Kopfhörer fallen und reckte sich. „Das ist ja alles gut und schön“, sagte er. „Aber was nützt es uns,

wenn wir sie wirklich reinbekommen?“ „Dann fahren wir rüber“, sagte Pete. „Mann, Sleepy, das haben wir

doch oft genug durchgekaut, hast du es denn vergessen, oder was?“ „Das nicht, aber ich frage mich, wie du das anstellen willst.

Schließlich kannst du ja nicht mehr einfach zum Flughafen gehen und ein Ticket bestellen, oder?“

„Wir werden so eine Kiste schon in die Luft kriegen, das wäre ja gelacht!“

Sleepy wandte sich an den Mann am Funkgerät. „Hast du gehört, John? Er wird so eine Kiste schon in die Luft

kriegen, sagt er.“ „Ich hab’s gehört“, sagte John. „Und ich verstehe dich auch nicht

ganz, Sleepy. Hast du plötzlich keine Lust mehr, oder was ist mit dir?“ „Ich glaube einfach nicht dran!“ rief Sleepy aufgebracht. „Stell dir

mal vor, da drüben in den Staaten sind wirklich noch Überlebende.

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Wie, zum Teufel, sollen wir die denn finden?“ „Jedenfalls finden wir sie nicht, wenn du hier weiter herumstehst

und Volksreden hältst. Geh wieder an das Funkgerät!“ fuhr Pete ihn scharf an.

Sleepy seufzte und setzte sich wieder auf seinen Schemel. Mit einer heftigen Bewegung stülpte er sich die Kopfhörer über und drehte an den Skalenknöpfen.

„So viel Naivität hatte nicht mal meine Mutter“, murmelte er vor sich hin, „und die hat noch an den Klapperstorch geglaubt, ehe sie mich zur Welt brachte.“

Der Regen traf die Männer unerwartet und heftig. Dicke, schwere Tropfen prasselten auf sie nieder, während sie die Straße entlanggingen.

„Das fehlt uns gerade noch“, maulte einer. „Stört mich nicht, kann uns sogar nützlich sein“, sagte der Anführer. An einer Hausecke machte er halt. Er sah vorsichtig die Straße

hinunter und wandte sich den Männern zu. „Also alles läuft wie verabredet“, erklärte er gedämpft. „Es kommt

darauf an, daß wir nicht zu viel Lärm machen, verstanden?“ Als die anderen nickten, fuhr er fort: „Ich knöpfe mir die Wache vor. Wenn ich euch ein Zeichen gebe, kommt ihr sofort nach. Dick, du hältst dich immer dicht hinter mir, klar?“

„Klar, Jack!“ Der Anführer musterte die Männer kritisch. Als er sich umwandte,

verzogen sich seine Mundwinkel. Pack, dachte Jack Ewert, früher hätte ich sie nicht mal angesehen,

und heute bin ich auf sie angewiesen. „Los!“ Und damit setzte er sich in Bewegung. Als das Unfaßbare eingetreten war, hatten die meisten Menschen

keine Gelegenheit mehr, es zu beklagen oder zu kommentieren, denn sie waren schon tot. Jahrelang hatte es langwierige Verhandlungen um Abrüstung, Friedensverträge und den Atomstop gegeben, aber im Untergrund hatten die Großmächte längst eine viel wirkungsvollere Waffe entwickelt. Diese Waffe hatte nicht die Vernichtungsgewalt einer 500 Megatonnenbombe; ihre Wirkung war durchschlagender und tückischer als alles andere, was es bisher gegeben hatte.

Die neue Waffe war lautlos. Die neue Waffe kam ohne Brand, Feuer

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und Atomblitz aus, denn sie war viel fürchterlicher. Sie war die Superwaffe. Sie war der Endpunkt einer Entwicklung. Und sie funktionierte besser, als ihre Erfinder geahnt hatten. Die Großmächte, die sich seit Jahrzehnten gegenseitig mit ihrer Spionage belauerten, brachten die Waffe in ihren Besitz, nachdem sie in den Laboratorien einer der Großmächte entwickelt worden war.

Anlaß des Krieges war einer jener lächerlichen Zufälle, die schon immer von den Warnern befürchtet und vorhergesehen worden waren. Aber das war nun unwichtig. Die Waffe war zum Einsatz gekommen, und sie hatte ihre Wirkung getan. Man hatte das Mittel in die Kanalisation gebracht und in die Wasserleitungen; man hatte es aus der Luft abgeworfen, und man hatte es mit Raketen abgeschossen. Einmal mit dem Sauerstoff in Berührung gekommen, löste es sich auf und tat seine verheerende Wirkung. Die Menschen wurden vergiftet, denn der Mensch muß atmen. Die Menschen wurden vergiftet, denn der Mensch muß trinken. Die Menschen wurden vergiftet, denn der Mensch muß essen. Das Mittel war geruch- und geschmacklos. Die meisten Menschen merkten gar nicht mehr, daß sie vergiftet worden waren, so schnell starben sie. Sie starben einen Tod, der ganz anders war, als man sich den Tod jemals in einem Krieg vorgestellt hatte. Er kam schnell oder langsam, es kam ganz auf die Konstitution des Menschen an; er kam euphorisch und mit Halluzinationen, aber er kam auf jeden Fall. Eine Heilung gab es nicht.

Aber nicht alle Menschen starben. Nicht alle Landstriche waren mit dem Mittel verseucht worden, und nach einigen Tagen verlor das Gift in der Luft seine Wirkung. Immerhin, es reichte aus, etwa neunzig Prozent der Menschheit zu vernichten.

Und übriggeblieben waren nur die Farben in der Luft, die den Himmel veränderten und ihn in einem rotvioletten Licht erstrahlen ließen.

Ein schönes Bild, gewiß. Aber auch ein tödliches. Jack Ewert hatte den kritischen Punkt erreicht. Er konnte den

wachhabenden Mann schon sehen. Er nickte seinem Begleiter zu. Dick warf den Stein. Der Mann, der vor dem Eingang des Hochhauses Wache hielt,

zuckte zusammen. Ewert nahm seine ganze Kraft zusammen und stürmte vorwärts. Mit

wenigen Sätzen hatte er den Mann erreicht.

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Der Mann drehte sich um. Ewert schlug zu. Der andere sackte lautlos zusammen.

Die Männer aus Ewerts Gefolge kamen rasch näher. Dick Evans starrte den Mann an, der zusammengesunken am Boden

lag. „Was machen wir jetzt mit ihm?“ fragte er. „Umlegen“, knurrte einer der Männer hinter ihm. Ewert sah ihn scharf an. „Das kommt nicht in Frage! Ich gehe jetzt mit Dick vor, und ihr

bleibt hier. Paßt auf, ob vielleicht noch jemand kommt, man kann nie wissen.“

„Und wenn der hier wach wird?“ „Dann schläfert ihn wieder ein.“ Er nahm Dick am Arm und betrat das Hochhaus.

Zuerst konnte es Sleepy selbst nicht glauben. Er überprüfte den Sitz seiner Kopfhörer und drehte an den Knöpfen seines Geräts. Aber es war kein Zweifel mehr möglich. Er hatte die Verbindung endlich bekommen.

„Hallo, hallo“, sagte Sleepy, „hier London, hier London! Können Sie mich verstehen? Bitte kommen!“

Die anderen hoben überrascht die Köpfe. John setzte sich neben ihn und stülpte sich die anderen Kopfhörer über.

„Hallo London, hallo London! Hier Jackville, USA. Ich verstehe Sie gut! Bitte kommen!“

„Hallo Jackville! Wie habt ihr es geschafft? Wieviel Überlebende gibt es bei euch? Bitte kommen!“

Im gleichen Augenblick sagte eine tiefe Stimme von der Tür her: „Ich glaube nicht, daß das jetzt noch wichtig für Sie ist, meine

Herren!“ Es war Jack Ewert. Und in den Händen hielt er das Gewehr des

Wachpostens, den er niedergeschlagen hatte.

Nach der großen Katastrophe wurde es ruhig auf der Welt. Die versuchten Gebiete, und das waren besonders die großen Städte, versanken von einem Tag zum anderen in tödliches Schweigen.

Die Menschen, die überlebt hatten, waren genug damit beschäftigt, jetzt am Leben zu bleiben, und zunächst war jeder froh, wenn er allein

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sein konnte und wenn er genug zu essen und zu trinken hatte. Aber das blieb nicht lange so. Kein Mensch kann auf die Dauer

allein sein, und so schlossen sich die Menschen zu losen Gemeinschaften zusammen. Denn bald war es zu gefährlich, allein zu sein. Die plötzliche Veränderung der Welt hatte auch die Menschen verändert. Jeder dachte zuerst an sich, um den andern kümmerte man sich nicht viel. Und man nahm es auch nicht so genau, wenn man etwas haben wollte, was der andere besaß. Ein Gewehr zum Beispiel, mit dem man sich verteidigen konnte, oder etwas zu essen.

Überall im Land hatten sich plündernde und raubende Banden zusammengeschlossen, die sich nahmen, was sie gerade brauchten. Und niemand konnte sie daran hindern. Denn wer eine Waffe hatte, der hatte auch die Macht. Der erste Zusammenschluß der Überlebenden geschah in einer kleinen Stadt im amerikanischen Mittelwesten. Zwei Männer waren es, die dort eine kleine Gemeinschaft von Menschen führten: James Buchanan und Robert Zimmermann. Sie hatten bei einem ihrer Streifzüge ein Funkgerät erbeutet und versuchten, mit anderen Überlebenden in der Welt Kontakt aufzunehmen.

Zimmermann und Buchanan sahen darin eine große Chance, die friedliebenden Kräfte der Menschheit, soweit sie am Leben geblieben waren, zu vereinen. Sie träumten von der Weltregierung, die die Gefahr eines neuen Krieges ein für alle Mal ausschalten sollte.

Aber sie hatten zu wenig mit den Menschen selbst und ihren angeborenen Schwächen gerechnet. Einer der Männer, der in Jackville, diesem kleinen Ort, am Funkgerät saß, war früher General gewesen. Zimmermann hatte ihn und seinen Stab aufgestöbert und mit nach Jackville genommen. Es schien so, als wollten sich die ehemaligen Militärs in die neue Gemeinschaft einfügen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten – ein General hatte mit einigen Gefolgsleuten den Ort verlassen – schien auch wirklich alles gutzugehen.

Bis Zimmermann und Buchanan durch einen Mann aus ihren eigenen Reihen auf den Boden der Wirklichkeit zurückgerufen wurden. Einer der Militärs war ermordet worden. Man ermittelte den Täter und bestrafte ihn. Alles hätte nun weiter seinen gewohnten Gang gehen können, wenn nicht gerade dieser Vorgang der Endpunkt einer Krise gewesen wäre, in der sich Zimmermann seit geraumer Zeit

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befand. Die dauernden Auseinandersetzungen mit altersüberlieferten Vorstellungen und der Kampf gegen die Ignoranz einiger, die die Zeichen der Zeit nicht begriffen hatten und die auf ihren Klischeevorstellungen beharrten, hatten ihn zermürbt. Als der Mord geschah, verließ Zimmermann mit zwei Gefolgsleuten, Mick Jagger und Gibson Kemp, die Stadt. Er wollte im Land herumfahren und feststellen, wo es noch weitere Überlebende gab.

Eines Tages, so hatte er gesagt, wollte er zurückkommen. In Jackville wurden unterdessen alle Vorbereitungen getroffen,

soviel Kontakt wie möglich mit Überlebenden anderer Länder aufzunehmen. Der Kontakt mit der UdSSR war bereits geglückt; nun hatte man endlich Verbindung mit England bekommen.

Aber dort, wie überall auf der Welt, waren die Schwierigkeiten die gleichen.

Denn als die Engländer die Verbindung mit den. Amerikanern hergestellt hatten, waren sie schon in der Gewalt von Jack Ewert und seinen Leuten.

Jack Ewert war vom Krieg, der eigentlich gar keiner war, sondern der eher an eine bürokratische Art der Ausrottung allen menschlichen Lebens erinnerte, genauso überrascht worden wie alle anderen. Und trotzdem unterschied er sich von ihnen. Er hatte überlebt. Und als er die ersten Horden der Plünderer beobachtet hatte, war sein Plan entstanden.

Ewert war ein mittelgroßer Mann, der früher einmal ein recht erfolgreicher Schauspieler gewesen war. Dabei war ihm sein außergewöhnliches Aussehen zu Hilfe gekommen. Er war zwar nur mittelgroß, aber er hatte eine kräftige, untersetzte Figur. Das Auffallendste an ihm aber war sein Gesicht. Er hatte buschige, schwarze Haare, die immer aussahen, als miede er seit Monaten erfolgreich den Friseur. Die schwarzen Haare, die ihm meistens bis tief in die Stirn hingen, sein schwarzer Bartwuchs und sein hartes, kantiges Gesicht mit der gebrochenen Nase verliehen ihm ein brutales Aussehen. Im Gegensatz dazu war seine Stimme weich, tief und angenehm. Im Grunde aber war er alles andere als brutal. Er war eben ein Mann, der sich neuen Gegebenheiten anpassen konnte. Es hatte nicht sehr lange gedauert, bis Ewert sich klargemacht hatte, was zu tun war, wenn er überleben wollte. Und leben wollte er.

Er hatte eine Bande von Plünderern in einem Warenhaus gestellt.

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Die Männer waren von seinem bestimmten Auftreten so überrascht, daß sie zunächst gar nicht an Gegenwehr dachten. Bis der Anführer ein Klappmesser zog und damit auf Ewert losging.

Das hätte er besser nicht tun sollen. Denn dann wäre er vermutlich am Leben geblieben.

Die Männer hatten ihn danach als Anführer akzeptiert, und Ewert war das gelegen gekommen, denn es gehörte zu seinem Plan.

Er wollte in eine der größeren Städte, möglichst London, vordringen und von dort aus das Land verlassen. Er wußte genau, daß seine Chance, London zu erreichen, gleich Null war, wenn er allein auf die Reise ging.

Sein Plan war aufgegangen. Er hatte die Stadt erreicht. Und jetzt ging er daran, den letzten Teil seines Plans in die Wirklichkeit umzusetzen: Menschen zu finden, denen er vertraute, und die lange, gefährliche Reise über den Ozean mit diesen Leuten beginnen.

Die Männer, die seinen Weg bis London geteilt hatten, wußten vom letzten Teil seines Plans natürlich noch nichts.

Und wenn sie es gewußt hätten, wahrscheinlich wären sie ihm nicht so willig gefolgt.

Denn Ewert wollte sie nicht mitnehmen. „Nimm ihnen die Waffen ab, Dick“, sagte Ewert. Dick machte sich schweigend an die Arbeit. „Willst du da einfach so ruhig zusehen, wie er uns abservieren will,

Pete?“ fragte Sleepy Helling aggressiv. Pete Townshend biß sich auf die Unterlippe. Er war genauso

verärgert über diese Überrumpelung, aber es war ihm noch kein Rezept eingefallen, etwas dagegen zu unternehmen.

„Ich würde Ihnen nicht empfehlen, irgendwelche Dummheiten zu versuchen“, sagte Ewert langsam. „Draußen sind noch ein paar Männer, die nicht viel Federlesens machen!“

Townshend sah ihn überrascht an. „Ewert“, sagte er, „Sie sind Jack Ewert, der besoffene Barpianist aus

Treibgut der Großstadt, der Superagent der 6. Macht?“ Ewert lächelte. Es war nicht zu übersehen, daß er sich geschmeichelt

fühlte, denn wie fast jeder Schauspieler besaß er eine gehörige Portion Eitelkeit, ohne die man in diesem Beruf anscheinend nicht auskommt.

„Stimmt“, sagte Ewert, „bin ich. Aber das hilft Ihnen auch nichts. Dick, wirf die Waffen dort in die Ecke!“

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Es klirrte, als die Waffen auf den Steinfußboden fielen. Dick Evans sah Ewert fragend an. „Geh raus und sage den anderen, daß sie hier im Haus Quartier

beziehen sollen! Ich bleibe solange hier. Sie brauchen sich nicht zu beeilen, ich habe mit den Herren hier sowieso noch zu reden!“

Evans knurrte etwas Unverständliches und verschwand. Ewert lockerte seinen Hemdkragen und setzte sich an einen Tisch.

Das Gewehr lag griffbereit vor ihm. Er sah die Männer aufmerksam an. Pete Townshend erwiderte

seinen Blick. „Wer von Ihnen kann ein Flugzeug fliegen?“ fragte Ewert.

In der amerikanischen Kleinstadt Jackville saß Ed Horace, ein ehemaliger General, vor seinem Funkgerät und bemühte sich verzweifelt, den Kontakt mit London wiederherzustellen. Aber es war vergeblich. Der Kontakt war und blieb unterbrochen.

Er drehte sich langsam um, als Buchanan, der Bürgermeister von Jackville, eintrat.

„Na?“ fragte Buchanan. Horace zuckte die Schultern. Er sah übermüdet aus. „Eben hatte ich sie ganz deutlich drin. Mit einem Mal ist die

Verbindung abgerissen. Nichts zu machen, ich kriege sie einfach nicht mehr rein.“

Er winkte Grant zu, der eben hereinkam. „Löse mich mal für eine Stunde ab, ich kann nicht mehr.“ Als er mit Buchanan hinaustrat, sagte er unvermittelt: „Wie lange ist er eigentlich schon fort, James?“ Und obwohl er keinen Namen genannt hatte, wußte Buchanan sofort,

wer damit gemeint war. Robert Zimmermann. „Sechs Monate.“ Sie gingen langsam zum Treffpunkt des Ortes, einem geräumigen

Lokal, das sie den „Club“ nannten. „Glaubst du… glaubst du noch daran, daß er wiederkommt?“ „Ja“, sagte James Buchanan. „Ja, das glaube ich.“ „Du kennst ihn vielleicht besser als ich. Verzeih, wenn ich...“ Buchanan machte eine abwehrende Geste. „Unsinn. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Natürlich ist er

schon lange fort. Aber ich glaube trotzdem fest daran, daß er

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zurückkommt.“ „Er hat es versprochen.“ „Das hat er.“ „Aber er hat nicht gesagt, wann er wiederkommen will.“ „Nein.“ Sie betraten den Club und setzten sich. Nach einer Weile kam Dr.

Robert, der Arzt von Jackville, dazu. „Na, gibt’s was Neues?“ fragte er. „Wir hatten vorhin Kontakt mit London“, sagte Horace resigniert,

„aber nicht lange. Ich habe keine Verbindung wieder herstellen können.“

Dr. Robert drehte sich eine Zigarette. „Glaubst du, das hat einen bestimmten Grund? Ich meine, ist denen

was passiert?“ Horace schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht!“ rief er. „Das könnte die

Erklärung sein!“ „Aber es ist doch eigentlich ziemlich unwahrscheinlich, daß gerade

in diesem Augenblick…“ Buchanan wollte weiterreden, dann fügte er hinzu: „Aber möglich ist es natürlich.“

„Jedenfalls wissen wir jetzt, daß in England auch noch Überlebende sind“, sagte Robert.

Horace sah ihn müde an. „Woher willst du wissen, daß sie jetzt, in diesem Augenblick, noch

am Leben sind?“ fragte er.

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2.

Pete Townshend bemühte sich, seine Überraschung zu verbergen. „Was wollen Sie mit einem Flugzeug?“ fragte er Ewert. „Fußball spielen sicher nicht.“ „Witzbold“, murmelte Helling. Ewert zündete sich eine Zigarette an und warf die Schachtel

Townshend zu. Er beobachtete, wie die Männer reagierten. „Sie wollen also das Land verlassen?“ fragte Pete Townshend,

nachdem er eine Weile schweigend geraucht hatte. Ewert nickte stumm. „Und wo wollen Sie hin?“ „Wo würden Sie hinwollen?“ Townshend sah seine Freunde forschend an. Als Sleepy unmerklich

nickte, sagte er: „Wir wollen nach Amerika.“ „Ich auch“, sagte Ewert lächelnd. Townshend beugte sich gespannt vor. „Wollen Sie Ihre Meute etwa mitnehmen?“ Ewert sah ihn einen Augenblick nachdenklich an. „Sie haben ein bißchen viel Fragen auf einmal, finden Sie nicht

auch?“ Townshend machte eine unwillige Geste. „Erzählen Sie mir keine Geschichten! Sie haben mit diesen Typen

doch genausowenig gemeinsam wie wir.“ „Und woher soll ich wissen, wer Sie sind? Sie können mir doch

ebenso ein kleines Theaterstück vorspielen und mir bei der nächsten Gelegenheit eins über den Kopf geben, wenn ich nicht mehr in Ihren Plan passe!“

John, der zweite Mann am Funkgerät, lachte. Ewert sah ihn fragend an.

„Oh, ich dachte nur daran, wie sehr das Vertrauen der Menschen zueinander gestiegen ist“, sagte er schließlich.

„Das ist nicht meine Schuld“, sagte Ewert. „Unsere aber auch nicht!“ Townshend machte eine unbestimmte

Handbewegung. „Wenn Sie mit Ihren Gangstern fahren wollen“, Sleepy Helling

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machte eine wirkungsvolle Pause, „glauben Sie nicht, daß Sie dann viel eher mit solchen Schwierigkeiten rechnen müssen?“

„Die habe ich im Griff.“ Er deutete auf das Funkgerät. „Mit wem haben Sie vorhin gesprochen?“

„Mit Amerikanern“, sagte John Anders. „Wir hatten Sie gerade schön drin, als Sie kamen.“

Jack Ewert schwieg. Nach einer Weile sagte er: „Versuchen Sie, sie wieder zu erreichen!“ John Anders sah Townshend fragend an. „Worauf wartest du noch?“ fragte Townshend. „Ruf die

Amerikaner!“ Anders drehte sich schweigend um, winkte Sleepy Helling und

machte sich an die Arbeit. Die Tür öffnete sich, und Dick Evans kam herein. Er hatte seinen

Revolver schußbereit in der Hand. „Alles klar?“ fragte er Ewert. „Alles klar.“ Evans setzte sich. „Die Jungs fühlen sich da oben ganz wohl“, sagte er. „Scheint früher

ein Prominentenwohnhaus gewesen zu sein. Die hausen ganz schön, die Jungs. Schade, daß die alten Besitzer das nicht mehr sehen können.“

Ewert lächelte belustigt. „Laß sie. Dann reagieren sie sich ein bißchen ab.“ Evans ließ die Trommel zwischen Daumen und Zeigefinder kreisen

und prüfte, wieviel Patronen er noch hatte. „Was hast du mit diesen Kerlen hier vor?“ Townshend wurde hellhörig, aber er tat so, als interessiere ihn

Ewerts Antwort nicht. Ewert zuckte die Schultern. „Weiß noch nicht“, sagte er. „Viel kannst du mit denen doch nicht aufstellen, Jack! Die sind doch

weich wie Butter!“ Ewert schwieg und zündete sich eine Zigarette an. Er beobachtete

John Anders am Funkgerät. „Was ist?“ warum kriegen Sie sie nicht?“ fragte er. Der mißtrauische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. „So schnell geht’s nun auch wieder nicht“, sagte John Anders. Er

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bemühte sich, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen. „Wir haben schließlich wochenlang versucht, sie zu bekommen.“

„Aber jetzt haben Sie doch die richtige Wellenlänge, oder?“ Helling drehte sich um und sah Ewert aufsässig an. „Wenn Sie alles besser wissen, warum versuchen Sie es nicht selbst,

Sie Wundertier?“ „Halt den Mund, Sleepy“, sagte Townshend ruhig. „Sie müssen nicht glauben, daß wir auf Sie angewiesen sind, Sie

komischer Gartenzwerg“, sagte Evans heiser, denn immer, wenn sie Ewert gegenüber jemand nicht so betrug, wie es sich gehörte, wurde Evans wütend. Er war ein glühender Verehrer von Ewert – natürlich meinte er mehr die Figuren, die Ewert in seinen Filmen verkörpert hatte, aber diesen feinen Unterschied machte Evans nicht. Für ihn war Ewert der Held unzähliger Gangsterschlachten, und damit basta. Ewerts spektakuläres Auftreten in dem Warenhaus, wo er sich zum Chef der Bande machte, hatte Evans’ Ansicht nur noch gefestigt. „Wenn Sie die Amis nicht gleich am Kasten haben, ziehe ich Ihnen die Ohren lang, dann brauchen Sie kein Funkgerät mehr, dann können Sie bis nach China hören!“

„Ist gut, Dick, er meint es nicht so“, sagte Ewert. Evans sah ihn empört an. „Wie kommt dieser Wurzelzwerg dazu, so mit dir zu reden? Das

lasse ich nicht zu! Der weiß wohl nicht, wen er vor sich hat!“ „Es ist gut, Dick, ich habe dir gesagt, er hat es nicht so gemeint!“ Evans knurrte vor sich hin. Er musterte Helling mit kleinen Augen.

Helling fühlte sie unbehaglich, als Evans ihn so direkt ansah. Hastig drehte er sich wieder um.

„Wer kann denn nun mit einem Flugzeug umgehen“, fragte Ewert zum zweitenmal. „Oder wollen Sie mit einem Segelboot nach Amerika?“

„Das nicht“, sagte Townshend langsam, „obwohl wir daran gedacht haben, daß es vielleicht besser wäre. Wir kämen schon in die Luft mit einem Flugzeug, die Schwierigkeit ist nur das Landen.“

„Dann sind Sie also der Pilot?“ „Ich habe mal ein Sportflugzeug gehabt“, sagte Pete Townshend.

„Das ist natürlich viel einfacher zu fliegen, aber im Prinzip müßte es ja wohl dasselbe sein.“

Ewert nickte.

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“Die Landung finde ich nicht so gefährlich“, sagte er schließlich. Townshend sah ihn fragend an. „Wozu gibt es Fallschirme?“ Der vierte Mann von Townshends Leuten, Jörg Knoop, ein

Holländer, schlug sich auf die Schenkel. „Warum sind wir darauf noch nicht gekommen, Pete?“ „Weiß der Teufel; ja, warum eigentlich nicht?“ Evans sah ratlos von einem zum anderen. „Was soll denn das nun schon wieder bedeuten?“ fragte er. „Willst

du nach Amerika? Da haben sie doch Atombomben geworfen!“ „Ach was“, sagte Ewert, „genausowenig wie hier!“ „Ich verstehe das alles nicht!“ Evans kratzte sich resigniert am

Hinterkopf. „Wird schon richtig sein, wenn du es sagst.“ „Über die Landung brauchen Sie sich nicht viel Gedanken zu

machen.“ Ewert zündete sich eine neue Zigarette an. „Viel schwieriger stelle ich mir den Flug selbst vor. Wie wollen Sie denn überhaupt Richtung halten?“

„Das kann ich. Kompaß lesen, steuern, den üblichen Kram. Das kann ich im Schlaf“, sagte Townshend.

„Und wenn wir in ein Unwetter kommen?“ Townshend zuckte die Schultern. „Das ist unser Risiko.“ „Wie weit sind Sie mit Ihren Vorbereitungen?“. „Wir sind fertig. Wir haben unsere Sachen hier im Haus

untergebracht, im Raum neben diesem hier. Die oberen Räume haben wir sicherheitshalber nicht benutzt. Wir wollten nur zunächst Funkverbindung mit den Amerikanern aufnehmen; es hat ja keinen Sinn, einfach ins Blaue hinein nach Amerika zu fliegen.“

Hallo Jackville! Hallo Jackville!“ sagte John Anders plötzlich, „Jackville, können Sie mich hören? Jackville, bitte kommen!“

Jim Grant saß in Jackville im Funkraum und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Ab und zu sah er zur Seite, um festzustellen, wieviel Zigaretten er noch hatte, denn er mußte sie mühsam selbst drehen. Er seufzte. Er hatte seine ganze Einteilung schon wieder über den Haufen geworfen.

Ist ja auch egal, dachte er. Dafür rauche ich morgen eben weniger. Aber er wußte genau, daß er sich das nur einredete, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen.

Resigniert griff er nach einer neuen Zigarette. Mit der linken Hand

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drehte er achtlos am Skalenknopf. Plötzlich hörte er ein pfeifendes Geräusch. Und mitten im Pfeifton

hörte er eine Stimme. Die Stimme: „Hallo Jackville! Hallo Jackville!“ Grant ließ seine Zigarette fallen und versuchte, deutlicher

einzustellen. Und schließlich hatte er es geschafft. Die Verbindung mit London

war wieder hergestellt. Grant drückte auf einen Knopf neben dem Funkgerät. Er holte tief

Luft und antwortete dem Engländer.

„Du hast gesagt, daß er wiederkommt, Mom. Nun ist er schon so lange weg!“

Der kleine Junge sah seine Mutter an und erwartete offensichtlich eine Antwort.

Janet Kirchherr schob ihm seine Tasse hin. „Austrinken“, sagte sie. „Er wird schon wiederkommen, schließlich

hat er es ja gesagt!“ „Ob er mir was mitbringt?“ fragte der kleine John. „Aufessen!“ sagte sie. „Wenn du nicht immer ordentlich ißt, bringt

er dir bestimmt nichts mit!“ „Essen ist langweilig! Ich möchte auch mal nach Cornertown

fahren!“ „Da mußt du schon Mr. Buchanan fragen. Du weißt doch, daß er das

zu bestimmen hat!“ Es klopfte an der Tür. „Ach, guten Abend, Janet!“ Buchanan trat näher. „Na, mein Junge,

wie findest du denn die Schule?“ Die Schule, in der seine Tochter unterrichtete, war Buchanans

ganzer Stolz. „Mary will mich immer nachsitzen lassen, dabei ist sie dumm!“ „Warum ist sie denn dumm, John?“ „Ich hab’ sie gefragt, wann der Bürgermeister wiederkommt, und sie

hat gesagt, er wüßte schon, wann es soweit ist.“ „Das ist doch auch eine Antwort“, sagte seine Mutter und lächelte.

Sie wußte, warum Mary Buchanan so geantwortet hatte. Denn Zimmermann war nicht allein gegangen. Er hatte Mick Jagger und Gibson Kemp mitgenommen. Und an Gibson war Mary allem

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Anschein nach mehr interessiert, als es gemeinhin üblich ist. Buchanan fuhr ihm mit der Hand über den Kopf. „Er kommt schon wieder, Johnny. Ganz bestimmt!“ „Jetzt ist aber Schluß!“ sagte Janet Kirchherr. „Ab ins Bett mit dir!“ Nachdem der Junge schlief, saßen Buchanan und Mrs. Kirchherr

noch eine Weile zusammen. Buchanan stopfte sich umständlich seine Pfeife. „Die Leute fragen mich öfter nach ihm“, sagte er, nachdem er einige

Rauchwolken ausgestoßen hatte. „Ich habe vorhin noch mit Horace darüber gesprochen.“

Janet Kirchherr antwortete nicht. „Besonders die Jungen fragen“, fuhr Buchanan fort. Als er ging, haben sie so etwas wie ein Vorbild verloren. Es wäre

nicht gut, wenn er nicht zurückkäme.“ „Wenn du mich fragen willst“, sagte Janet Kirchherr, ich weiß nicht

mehr als du. Mir hat er auch nicht mehr gesagt.“ Buchanan zerteilte mit einer Handbewegung eine mächtige

Rauchwolke. „So habe ich das nicht gemeint“, sagte er schwerfällig, „ich dachte

nur…“ „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, sagte sie und legte ihm

eine Hand auf den Arm. „Wir werden alle ein bißchen nervös, weil er schon so lange fort ist.“

„Vorhin hatten wir…“, begann Buchanan, als es an der Tür klopfte. „Was ist, Herman?“ fragte Buchanan.

Der Mann war noch ganz außer Atem. „Jim hat wieder Verbindung mit den Engländern“, stieß er hervor.

„Horace ist schon bei ihm!“ Buchanan sprang auf. „Ich komme sofort!“ Er sah Janet Kirchherr entschuldigend an. „Wir

sehen uns später noch, Janet“, sagte er.

Im „Club“ in Jackville herrschte an diesem Abend Hochbetrieb. Jeder wollte wissen, wie das Gespräch mit den Engländern verlaufen war und wie es dort drüben in Europa aussah.

„Kinder, könnt ihr denn nicht abwarten?“ rief Buchanan. „Wozu haben wir denn eine Zeitung? Ihr könnt das doch alles nachlesen!“

Aber schließlich gab er doch einen ausführlichen Bericht.

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„Sie wollen zu uns kommen“, schloß er. „Sie wollen sich ein Flugzeug suchen und damit kommen. Ich habe Ihnen gesagt, daß sie jederzeit willkommen sind. Sie werden einige technische Geräte mitbringen, die wir dringend gebrauchen können.“

Buchanan blieb mit Dr. Robert und Horace zurück, als die anderen fort waren. Sie diskutierten schon darüber, wo sie die Engländer unterbringen wollten.

Mitten in der Unterhaltung klingelte das Telefon, das die Verbindung zum nächstgelegenen Ort, Cornertown, herstellte. Sie hatten es bereits vor Monaten installiert, um sich stets über Neuigkeiten zu unterrichten und um sich im Notfall gegenseitig beistehen zu können.

Buchanan nahm den Hörer ab. „Buchanan?“ fragte eine bekannte Stimme. Es war Glanville, der

Bürgermeister von Cornertown. „Am Apparat!“ „Wir sind überfallen worden, Buchanan. Zwanzig Mann, schätze

ich. Sie sind bestens ausgerüstet. Maschinengewehre. Sie haben uns eine halbe Stunde Bedenkzeit gegeben. Wir sollen alle Vorräte ausliefern. Wir werden nicht allein mit ihnen fertig, könnt ihr uns helfen?“

Buchanan sagte sofort zu. Seine Männer waren besser bewaffnet als die Einwohner von Cornertown.

Er erkundigte sich genau, wo die Angreifer sich postiert hatten. Dann legte er den Hörer auf und informierte die anderen.

In kurzer Zeit hatte er die Männer versammelt. „Ihr wißt Bescheid“, sagte Buchanan. „Grant führt euch an, richtet

euch nach ihm. Ich will kein unnützes Blutvergießen. Viel Glück!“ Wenig später verließ ein Lastwagen Jackville. Die Plane war

heruntergelassen, so daß man die schwer bewaffneten Männer im Innern des Wagens nicht sehen konnte.

„Sie kommen!“ sagte Glanville erleichtert und legte den Telefonhörer auf. „Gott sei Dank, sie kommen!“

„Es ist immer noch die Frage, ob wir die Banditen so lange aufhalten können, bis sie hier sind“, warf einer der Männer ein, die sich in Glanvilles Büro versammelt hatten.

„Wir müssen es einfach versuchen“, antwortete Glanville. „Mehr können wir nicht tun. Los, jeder auf seinen Platz!“

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Als sie das Haus verließen, wurden sie vom Rattern der Maschinengewehre empfangen.

Die männlichen Einwohner von Cornertown lagen hinter ihren Sandsäcken am Eingang der Stadt und schossen verbissen zurück.

„Sie haben sich nicht an die verabredete Bedenkzeit gehalten“, sagte einer der Männer empört zu Glanville. Sein Gesicht war vom Pulverdampf schwarz verschmiert.

„Vielleicht gehen ihre Uhren vor“, sagte Glanville grimmig. „Kommt wenigstens jemand aus Jackville?“ fragte ein anderer. Glanville nickte. „Sie sind schon unterwegs“, sagte er. Er wollte noch etwas

hinzufügen, aber seine Worte gingen im Rattern der Maschinengewehre unter.

„Sie müssen sich aber verdammt beeilen!“ schrie jemand. „Lange können wir sie nämlich nicht mehr aufhalten, das ist dir ja wohl auch klar!“

Glanville schwieg und ging weiter, um die anderen zu unterrichten. Jim Grant kam, als es fast schon zu spät war. Er mußte seinen

ursprünglichen Plan, die Angreifer einzukesseln, aufgeben. Er und seine Leute scherten seitlich aus und brachten nach heftigem Kampf die beiden Maschinengewehre zum Schweigen.

Danach war es leichter, als er es sich vorgestellt hatte. Als die Leute aus Cornertown das Maschinengewehrfeuer nicht mehr hörten, sammelten sie sich und stürmten auf die Angreifer los. Dadurch kamen die Banditen in eine gefährliche Zwickmühle, denn sie wurden gleichzeitig von vorn, von hinten und von der Seite angegriffen.

Bald gewannen die Verteidiger die Oberhand. Nach kurzem, heftigen Kampf mußte sich der Rest der Banditen ergeben.

Glanville und seine Leute bedankten sich bei Grant und drangen darauf, daß er noch bleiben sollte, aber Grant war unruhig. Dieser neue Zwischenfall hatte ihm drastisch klargemacht, wie unsicher sie im Grunde noch lebten, und er wollte auf keinen Fall länger fortbleiben, als unbedingt notwendig war.

Nach einer kurzen Rast fuhren sie wieder zurück. Sie hatten keinen Mann verloren, während die Verluste unter Glanvilles Leuten recht hoch waren.

Auf der Rückfahrt steuerte Grant nicht selbst. Er saß neben dem Fahrer im Führerhaus des Lastwagens und grübelte vor sich hin. Der

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Kampf hatte ihn erschöpft, und der Anblick der Toten hatte ihn mehr schockiert, als er sich eingestehen wollte. Er erinnerte sich daran, daß er unter Zimmermanns Führung Cornertown schon einmal zu Hilfe geeilt war. Es war beinahe dieselbe Situation gewesen.

Aber Grant wußte, daß er sich nie daran gewöhnen würde. Grant haßte das Töten, und er haßte den Kampf. Verzweifelt machte er sich klar, daß noch kein Ende abzusehen war. Und mit einemmal verstand er Zimmermanns Gründe, zu gehen.

Jim Grant wünschte plötzlich, er wäre mit ihm gegangen.

John Anders stellte das Funkgerät ab. Er sah die anderen erwartungsvoll an.

„Ihr habt es selbst gehört“, sagte er, „sie haben nichts dagegen, wenn wir kommen. Sie erwarten uns!“

„Vielleicht ist das bloß so ein Gerede“, meinte Dick Evans. „Woher wollt ihr denn wissen, daß sie es ehrlich meinen?“

„Es denkt ja nicht jeder so krumm wie Sie!“ sagte Sleepy Helling sarkastisch.

Evans machte einen Schritt vorwärts, aber Ewert hielt ihn am Arm zurück.

„Solange ich diesem Kerl nicht das Maul gestopft habe, redet der doch weiter seinen Unsinn“, sagte Evans aufgebracht. „Ich verstehe nicht, daß du dir das gefallen läßt, Jack!“

„Vielleicht sollten Sie sich wirklich nicht mit meinem Freund hier anlegen“, sagte Ewert, „der versteht nämlich keinen Spaß, was Dick?“

Evans nickte triumphierend. „Laß mich doch mal, Jack! Wenn ich ihm eine reingehauen habe, ist

er bestimmt vernünftiger!“ Seine Stimme hatte beinahe etwas Flehendes.

„Nein!“ sagte Ewert scharf. „Ich glaube nicht, daß uns die Amerikaner hinters Licht führen

wollen“, sagte Townshend. „Aber nachprüfen können wir das natürlich nicht.“

„Wenn du dich nicht bald mal oben sehen läßt, werden die Jungs unruhig“, meinte Evans.

„Das hat Zeit!“ Ewert rieb sich nachdenklich das Kinn. „Wissen Sie, wo Flugzeuge sind?“ fragte er Townshend.

Townshend nickte.

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In diesem Augenblick wurde die Tür auf gestoßen. Evans und Ewert fuhren herum.

In der geöffneten Tür stand ein Mann. Er hatte eine schußbereite MPi in der Hand.

„Glauben Sie wirklich, daß Sie noch ein Flugzeug brauchen?“ fragte der Mann.

Evans’ Hand näherte sich dem Revolver, den er vor sich auf den Tisch gelegt hatte.

„Sagen Sie Ihrem Elefantenbaby, es soll seine Finger lassen, wo sie sind, sonst kommt er gleich in den Himmel“, sagte der Fremde. Und seiner Stimme war anzumerken, daß er es nicht zum Spaß sagte.

„Dick, laß das“, sagte Ewert. Jetzt wünschte er sich, daß einer seiner Männer herunterkommen würde.

Aber als ob der Fremde seine Gedanken erraten hätte, Sagte er: „Ihre übrigen Gorillas habe ich oben eingeschlossen, auf sie

brauchen Sie nicht zu warten.“ Er sah prüfend zur Decke. „Solide gebaut, das Haus, die haben bestimmt eine Weile zu tun, bis sie da rauskommen.“

Ewert biß sich auf die Unterlippe. „Nun komm doch endlich mal rein, Keith“, sagte Townshend

freundlich, „und mach die Tür zu, es zieht nämlich fürchterlich!“

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3.

Der Regen war grün. Natürlich war er nicht wirklich grün, aber er sah so aus. Dicke Regentropfen prasselten auf die Häuser und auf die Straßen. Der Regen dauerte schon mehrere Stunden, und eine graue, schmutzige Flut bewegte sich durch die Straßen. Die Gullys konnten die Wassermassen nicht mehr aufnehmen.

Die Straßen waren leer wie alle Straßen in allen Städten der Welt. In einer Straße der Stadt aber, unmittelbar vor einem großen Warenhaus, stand ein Auto.

Die Scheibenwischer bewegten sich quietschend hin und her. Sie vermischten den Schmutz auf der Scheibe mit dem Wasser zu einem schmierigen Film. In Innern des Wagens saßen zwei Männer. Sie waren beide etwa fünfundzwanzig Jahre alt. Einer von den beiden saß auf dem Rücksitz des Wagens und starrte durch das Rückfenster auf die Straße, als erwarte er etwas. Der andere saß neben dem Fahrersitz und rauchte.

„Nicht gut für die Ernte“, sagte der auf dem Vordersitz. „Was?“ „Der Regen.“ „Die haben sie doch schon eingefahren.“ „Glaubst du?“ „Sicher.“ Der Mann auf dem Vordersitz stellte den Scheibenwischer ab. „Nützt ja doch nichts“, sagte er. „Hast recht.“ „Eigentlich ist er schon zu lange weg, findest du nicht?“ „Ich habe darauf gewartet, daß du es sagst.“ „Was wollen wir machen?“ „Lange können wir nicht mehr warten!“ Der Mann auf dem Vordersitz zog eine Münze aus der Tasche. „Kopf oder Zahl?“ „Zahl.“ Er warf die Münze hoch und fing sie geschickt wieder auf. „Kopf. Ich gehe.“ „Okay.“ „Warte ungefähr dieselbe Zeit auf mich. Dann komm nach!“

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„Gemacht!“ Er schlug dem Mann auf dem Vordersitz kräftig auf die Schulter.

Der Raum des Warenhauses war in mehrere kleine Wohnungen unterteilt worden. Ungefähr fünfzig Männer und Frauen hielten sich darin auf. Der Raum war erfüllt von allen möglichen Geräuschen, Redefetzen, Geschirrklappern – und von Schüssen.

In einer Ecke des Raumes hatten ein paar Männer eine Zielscheibe aufgestellt, auf die sie abwechselnd schossen.

In einer anderen Ecke stand ein langer, rechteckiger Tisch. Um den Tisch herum saßen Männer und Frauen und diskutierten erregt. Ab und zu. richteten sie eine Frage an den Mann, der am Kopfende des Tisches saß.

Dieser Mann verfolgte aufmerksam das Frage- und Antwortspiel der Anwesenden. Ab und zu schweifte sein Blick ab und glitt durch den Raum zu den anderen. Der Mann hatte beide Hände auf den Tisch gelegt, so, als wolle er dadurch beweisen, daß er nur friedliche Absichten hatte.

„Wie lange sind Sie schon unterwegs?“ „Ungefähr sechs Monate“, sagte der Mann am Kopfende des

Tisches. Seine Stimme klang tief und ruhig. „Und Sie haben das überall im Lande beobachtet, sagen Sie?“ Der Mann nickte stumm. „Und das Land ist noch anbaufähig? Hat es nicht unter der Strahlung

gelitten?“ Der Mann überlegte einen Augenblick, dann antwortete er: „Die Auswirkungen sind unterschiedlich. Manche Pflanzen sind

mutiert und eignen sich kaum noch zum Anbau; andere dagegen scheinen durch die Strahlung eher angeregt zu sein. Man kann es nicht pauschal ausdrücken.“

„Ist es nicht gefährlicher, auf dem Land zu leben?“ fragte ihn eine Frau.

„Warum sollte es das?“ „Nun, hier sind wir doch verhältnismäßig sicher. Wir können uns

verbarrikadieren, wir haben genug zu essen…“ „Sie haben nur so lange genug zu essen, wie der Vorrat an

Konserven und Mineralwasser reicht, vergessen Sie das nicht.“ „Er hat recht“, sagte ein älterer Mann, „ich habe euch das schon

öfter gesagt. Wir können nicht ewig hierbleiben.“

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„Aber es ist weit bis dahin, woher er kommt.“ Er nickte in Richtung des Mannes, der ausgefragt wurde.

„Ach was!“ Der ältere Mann machte eine heftige Handbewegung. „Die Siedler Ende des vorigen Jahrhunderts haben auch nicht nach den Strapazen gefragt. Sie haben den Westen mit Planwagen durchquert. Habt ihr denn alle keinen Mut mehr?“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß einige erschrocken auffuhren. „Wenn es nach mir ginge, ich würde morgen schon losfahren.“

Der Mann am Kopfende des Tisches lächelte unmerklich, als eine ältere Frau sagte: „Du wirst dich eben nie ändern, Bill. Immer mit dem Kopf durch die Wand!“ Offensichtlich war sie seine Frau.

„Sie haben Kontakt mit den Russen gehabt?“ Wieder nickte der Mann. „Sie stecken in einer ähnlichen Lage wie wir. Die Landbevölkerung

ist vom Krieg“, er zögerte bei der Nennung des Wortes Krieg, „nicht so stark betroffen worden wie die Bewohner der Städte.“

„Und die Russen haben den Krieg wirklich nicht angefangen?“ „Ich glaube nicht, daß das noch wichtig ist, wer ihn angefangen hat“,

sagte der Mann. „Aber wenn Sie unbedingt meine Meinung dazu hören wollen: Ich glaube in der Tat nicht, daß sie ihn angefangen haben. Aber wie gesagt, ich halte es für wichtiger, dafür zu sorgen, daß ein neuer Krieg verhindert wird.“

„Oder die Fortsetzung dieses Krieges“, sagte einer der Anwesenden. „Oder das.“ Die Schüsse hinter ihrem Rücken verstummten. „Endlich“, sagte die ältere Frau, „dieses Geballere kann einen ja

ganz verrückt machen.“ „Warum meldet sich der Präsident nicht?“ fragte ein anderer. „Er hätte sich sicher schon bemerkbar gemacht, wenn er noch lebte.“ Der Frager schwieg betroffen. Plötzlich schrie ein kleines Mädchen. Die Leute am Tisch fuhren

herum. Und hinter ihr, aus dem Dunkel des Ganges, tauchte ein fremder

Mann auf. Er hatte eine schußbereite MPi in den Händen und kam langsam näher.

„Stehen Sie auf und heben Sie die Hände!“ sagte der Mann. Seine Stimme hatte einen britischen Akzent. Der Mann schlug die Wagentür hinter sich zu. Der Regen prasselte

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auf ihn nieder und hatte ihn in Sekundenschnelle durchweicht. Er lief mit schnellen Sätzen zum Eingang des Warenhauses, während das Wasser um seine Beine spritzte. Er fluchte leise vor sich hin.

Er betrat das Warenhaus. Er zuckte zusammen, als er den Posten sah. Langsam zog er sich

zurück. Er überlegte. Dann ging er leise wieder hinaus. Der Regen dauerte mit unverminderter Heftigkeit an. Vorsichtig ging der Mann zum Seiteneingang. Kein Posten. Er schüttelte den Kopf über so viel Leichtsinn.

Der Mann drückte sein Ohr gegen die Wand und lauschte. Es war nichts zu hören. Langsam ging er die Treppe hoch. Er schlug den Umhang zurück, überprüfte die MPi und ging weiter.

Als er die dritte Etage erreicht hatte, hörte er etwas. Er trat näher und lauschte. „Wenn du nicht brav bist, bekommst du auch kein Bonbon“, sagte

eine Kinderstimme. Der Mann öffnete lautlos die Tür. Auf dem Flur, mit dem Rücken zu

ihm, saß ein kleines Mädchen auf dem Boden und spielte mit einer Puppe. Der Mann war so überrascht, daß er nicht mehr auf die Tür achtete. Die Tür hatte einen Schwingmechanismus und fiel mit deutlichem Klappen zu.

Das Mädchen drehte sich um. Der Mann machte einen Schritt vorwärts. Das Mädchen stieß einen Schrei aus und lief fort.

Der Mann ging schnell hinterher. Bald hatte er den großen Raum erreicht.

„Stehen Sie auf und heben Sie die Hände!“ sagte er. Der Mann am Kopfende des langen Tisches lächelte, als alle anderen

aufstanden und die Hände über den Kopf hoben. „Ich habe Ihnen vorhin schon gesagt, daß Sie sich nicht genügend

abgesichert haben“, meinte er. Dann wandte er sich zu dem Mann mit der MPi. „Ist gut Gibson, komm her, setz dich hin, alles in Ordnung!“

Gibson Kemp trat näher. „Du warst zu lange weg, Robert, da dachten wir…“ „Es war richtig! Aber hier haben wir nichts zu befürchten. Ich habe

vor lauter Reden die Zeit vergessen.“ Er wandte sich wieder den Anwesenden zu. „Ich glaube, es ist Zeit, daß Sie unsere Namen erfahren. Dies ist mein Freund Gibson Kemp, mit dem ich aus Jackville gekommen bin; eigentlich ist er Engländer, die Ereignisse

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haben ihn hierher verschlagen. Draußen im Wagen ist unser dritter Mann, Mick Jagger. Mein Name ist Robert Zimmermann.“

Er setzte sich wieder. „Soll ich Mick holen?“ fragte Kemp. „Ja, hol ihn, sonst macht er sich noch unnötige Sorgen.“ „Ich komme mit!“ rief ein junger Mann, „dann brauchen Sie nicht

wieder durch den Seiteneingang zu gehen! Ich heiße Carl Wayne“, sagte er und hielt Kemp seine Hand hin.

Kemp war etwas verdutzt; die Leute wußten, daß es einen Seiteneingang gab und hielten ihn nicht unter Kontrolle?

Zimmermann erriet seinen Gedanken. „Ich habe ihnen gesagt, daß ich ebenfalls durch diesen Eingang

gekommen bin, deshalb nehmen sie an, daß du ihn auch benutzt hast!“ Spät in der Nacht, als Frauen und Kinder und die meisten älteren

Männer bereits schliefen, zog sich eine kleine Gruppe mit Zimmermann, Kemp und Jagger in einen kleineren Raum zurück, um ungestört weiter zu beraten.

Sie saßen im Zimmer des früheren Direktors des Warenhauses zusammen.

„Die meisten werden dafür sein, aufs Land zu ziehen, Burt“, sagte Carl Wayne zu einem Mann mittleren Alters, der offensichtlich der Anführer der Gruppe war, „aber was ist mit denen, die dagegen sind?“

„Wir können niemanden zwingen“, meinte Wayne. „Und wir können sie auch nicht einfach vor vollendete Tatsachen stellen.“

„Laß uns doch gleich morgen früh eine Abstimmung vornehmen.“ Burt Martin nickte. „Das ist die beste Lösung. Wer nicht mitkommen will, kann ja

hierbleiben.“ „Haben Sie genug Lastwagen für den Transport?“ fragte

Zimmermann. Martin nickte. „Der gesamte Fuhrpark des Warenhauses steht im

Hinterhof. Ich habe schon daran gedacht, ob man nicht lieber Busse nehmen sollte, es wäre sicher besser für die Frauen und Kinder, aber dann können wir nicht soviel Sachen mitnehmen.“

„Es ist besser, Sie entscheiden sich für Lastwagen“, sagte Zimmermann. „Zusätzlich zwei Lastwagen können mit Gegenständen beladen werden, die Sie in Jackville gebrauchen können und von denen man dort selbst nicht genug hat. Ich schlage vor, daß Wayne

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und Jagger die Wagen steuern, während ich mit Kemp vor der Kolonne herfahre. Wir müssen auch daran denken, daß wir soviel Benzin wie möglich mitnehmen. Wir können uns nicht darauf verlassen, daß wir unterwegs Tankstellen treffen, die noch genügend Vorräte haben.“

Martin nickte. „Morgen früh machen wir die Abstimmung, den Tag über verladen

wir, was wir mitnehmen wollen, und übermorgen früh geht’s los!“ Zimmermann nickte zufrieden. Er war seinem Ziel, die Menschen,

die überall im Land überlebt hatten, zusammenzuführen, wieder einen Schritt nähergekommen.

Und er würde seine Freunde in Jackville bald wiedersehen. Der Troß bewegte sich durch die Straßen der Stadt. Zimmermann

hatte seinen Wagen zurückgelassen und gegen einen offenen Jeep ausgetauscht. Kemp saß am Steuer.

„Wie es da wohl inzwischen aussieht“, sagte Kemp. Er mußte laut sprechen, um das Motorengeräusch des Wagens zu übertönen.

Zimmermann zuckte die Schultern. „Was meinst du, rechnen die überhaupt noch damit, daß wir

zurückkommen?“ Zimmermann sah ihn erstaunt an. „Wir haben doch gesagt, daß wir wiederkommen werden!“ „Aber wir waren länger fort, als wir vorhatten!“ „Ich glaube immer noch, daß es richtig war! Jetzt erst können wir

uns ein Bild davon machen, wie es wirklich im Lande aussieht.“ „Willst du immer noch die große Siedlung aus Jackville machen?

Wäre es nicht besser, die Menschen lebten weiter wie bisher über das ganze Land zerstreut?“

Zimmermann schüttelte den Kopf. „Nein. Wir müssen sie sammeln. Es sind zuviel Menschen, als daß

sie ohne eine demokratische Führung leben könnten. Sie müssen eine Möglichkeit haben, sich gegen den Terror einzelner Banden zu verteidigen. Das können sie solange nicht, wie sie zu weit auseinander verstreut leben!“

Kemp warf einen Blick in den Rückspiegel, dann sagte er: „Du denkst an Hamilton und seine Banditen?“ Zimmermann nickte stumm. Hamilton war einer der Generale, die er

aus dem Bunker aufgestöbert und mit nach Jackville gebracht hatte. Er

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hatte sich nicht in die neue Gemeinschaft einfügen können. Dauernd hatte er opponiert und war darauf bedacht gewesen, den alten Befehlston herauszukehren; er konnte oder wollte nicht begreifen, daß er nun nichts mehr zu sagen hatte. Er hatte Jackville mit einigen Spießgesellen heimlich verlassen und noch in derselben Nacht Cornertown überfallen. Zimmermann war den Menschen dort zu Hilfe geeilt. Sie hatten die Angreifer zurückgeschlagen und fast völlig vernichten können. Hamilton war mit wenigen seiner Leute entkommen. Sie hatten seine Spur überall auf dem Kontinent während ihrer langen Reise gefunden, aber erwischt hatten sie ihn nicht. Zimmermann fürchtete, daß Hamilton eines Tages mit einer großen Streitmacht zurückkommen könnte, und daß er die Führung an sich zu reißen versuchen würde.

Und nicht zuletzt deswegen trieb es ihn jetzt nach Jackville zurück. Er mußte warnen vor dem, was kommen konnte. Zimmermann hegte außerdem noch den vagen Verdacht, daß Hamilton versuchen könnte, die restlichen Militärs um sich zu sammeln, um den Krieg mit anderen Mitteln fortzusetzen. Sein ganzes Denken und Trachten war stets darauf gerichtet gewesen, den Gegner zu vernichten. Der Krieg aber hatte beide Seiten geschlagen; Siege und Besiegte gab es nicht. Für Hamilton aber war der Krieg mit der neuen Waffe nur eine Vorstufe gewesen.

Natürlich wurde er dabei auch von der tiefverwurzelten Angst irregeführt, die Gegenseite könnte zum letzten Vernichtungsschlag ausholen. Die Kontakte mit den Russen, deren Sprecher Alexej Popojew war, hatte er immer wieder als Geschwätz und „psychologische Kriegsführung“ zurückgewiesen.

Zimmermann war sich genau im klaren darüber, daß Ruhe und Frieden nicht eintreten konnten, solange Leute wie Hamilton noch die Macht hatten.

Und Macht hatte er noch. Es sprach sogar alles dafür, daß sein Anhang größer geworden war.

„Während der Fahrt werden wir jedenfalls keine Schwierigkeiten haben“, sagte Kemp, „schließlich sind wir gut genug bewaffnet!“

Zimmermann wiegte nachdenklich den Kopf. Plötzlich wurden in rascher Folge mehrere Schüsse abgefeuert. Die Schwierigkeiten waren da. Der Mann lag auf dem Dachgarten eines Hotels. Er hielt ein

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Fernglas in der Hand und starrte auf die Straße hinab. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ebenfalls ein Mann auf einem Hausdach und gab Zeichen mit einem Spiegel.

„Siehst du sie?“ fragte ein Mann hinter dem mit dem Fernglas. Er nickte. „Wie viele sind es?“ „Kann ich noch nicht sagen.“ „Kannst du nicht mehr zählen, oder was ist los?“ Der andere schwieg. „Laß mich mal ran!“ Der Mann mit dem Fernglas machte eine unwillige Handbewegung. Der hinter ihm hatte ein schmales, verkniffenes Gesicht. „Halt endlich den Mund, Fox“, sagte der mit dem Fernglas. „Hör mal Fred, so kannst du nicht mit mir reden. Wenn ich nicht

gewesen wäre, hättet ihr schließlich nicht…“ Fred drehte sich halb herum. Er musterte den Kleinen verächtlich. Es

sah aus, als wolle er noch etwas sagen, aber dann drehte er sich stumm wieder in seine alte Position zurück.

„Sind sie bewaffnet?“ fragte Fox. „Kann ich nicht genau erkennen.“ „Willy gibt Zeichen, daß sie bewaffnet sind“, sagte Fox

triumphierend. „Da fährt ein Jeep vorneweg“, sagte Fred. „Soll ich ihn abschießen?“ fragte Fox eifrig. „Nein!“ „Warum denn nicht? Ich treffe ihn bestimmt!“ „Du tust, was ich dir sage!“ Der Verkniffene knurrte unwillig. „Willst du sie noch näher herankommen lassen?“ „Ja.“ „Aber dann sehen sie doch die Straßensperre!“ „Sollen sie ja!“ „Versteh“ ich nicht. Am besten…“ „Ich weiß besser, was richtig ist, merk dir das!“ „Ich weiß nicht, ob Willy damit einverstanden ist“, sagte Fox

gehässig. „Wenn du nicht sofort die Klappe hältst, stopfe ich sie dir!“ Der Kleine schwieg beleidigt.

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Er trat näher, legte sich auf den Boden und schob seinen Kopf über den Rand des Daches.

Fred drückte ihn mit dem rechten Arm zurück. „Kopf weg“, knurrte er, „du willst ihnen wohl unbedingt schon

vorher sagen, daß wir hier sind, was?“ Von der gegenüberliegenden Seite blitzte wieder der Spiegel auf. „Willy meint, wir sollten sie auf hundert Meter an die Absperrung

herankommen lassen“, sagte Fox. „Okay“, machte Fred unwillig. „Wenn sie in der Straßenkurve sind,

schießt du ein paar Mal genau vor den Wagen.“ Der Kleine griff nach seinem Gewehr. Er prüfte, ob es geladen war

und legte es dann fast liebevoll an die Wange. Der Lauf schob sich über den Rand des Daches. Fox zielte, dann

schüttelte er den Kopf. „Was ist los?“ fragte Fred. „Ich könnte die beiden im Jeep so schön wegputzen“, sagte Fox

bedauernd. Fred sah ihn scharf an. „Das kommt nicht in Frage! Wenn denen auch nur ein Haar

gekrümmt wird, werfe ich dich eigenhändig hier herunter!“ „Ist ja schon gut“, murmelte Fox, „ich meinte ja nur.“ „Tu, was ich dir gesagt habe!“ Fox legte wieder das Gewehr an. Kurz darauf peitschten drei

Schüsse auf. Fred packte ihn und schob ihn mit einem Ruck zurück. Dann nahm er das Fernglas und beobachtete die Reaktion unten auf

der Straße. Der Konvoi war zum Stehen gekommen. Zimmermann richtete sich in seinem Sitz auf, drehte sich um und

hob einen Arm. Das war das Zeichen zum Anhalten, „Was willst du machen?“ fragte Gibson Kemp. „Du bleibst hinter dem Steuer sitzen.“ Zimmermann schob ihm die

MPi hin. „Ich rede erst mal mit den anderen.“ Zimmermann sprang aus dem Jeep und ging Martin entgegen, der

ebenfalls aus dem Lastwagen gestiegen war. „Was hat das zu bedeuten?“ fragte Burt Martin unsicher. „Weiß nicht, was die wollen. Ich kann’s mir nur denken…“ „Sie meinen, das sind mehrere?“

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„Bestimmt!“ „Was machen wir?“ Zimmermann legte ihm einen Arm um die Schulter und führte ihn

zum Lastwagen zurück. „Hören Sie zu. Beruhigen Sie zuerst die Leute. Keiner darf seinen

Platz verlassen! Die Männer sollen die Waffen bereithalten. Ich gehe vor und versuche mit ihnen zu verhandeln. Wenn ich einen Arm hebe, bleiben Sie stehen, hebe ich beide Arme, brechen Sie durch, okay?“

„Und was wird aus Ihnen?“ „Machen Sie sich um mich keine Sorgen, ich habe so etwas schon

öfter erlebt!“ Martin zögerte. „Gehen Sie!“ sagte Zimmermann drängend. „Es kommt nur darauf

an, daß wir schnell und entschlossen handeln, wir haben nicht viel Zeit zum Reden. Beruhigen Sie die Leute, das ist jetzt das wichtigste!“

Zimmermann ging mit schnellen Schritten zum Jeep zurück. „Wie gehabt“, sagte er zu Kemp. „Ich gehe vor. Ein Arm: anhalten,

beide Arme: Vollgas!“ „Hast du den Revolver?“ fragte Kemp. Seine Besorgnis stand ihm

deutlich ins Gesicht geschrieben. „Aber sicher“, sagte Zimmermann. „Du brauchst nicht nervös zu

werden.“ Kemp sah ihm nach, wie er auf die Straßenbiegung zuging. „Das ist verdammt weit weg“, murmelte er. Und nach kurzer

Überlegung schob er die MPi beiseite und nahm ein Gewehr mit Zielfernrohr.

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4.

„Na, was will unser Superagent jetzt machen?“ fragte Sleepy Helling genußvoll, „kommt jetzt gleich sein Faktotum Uhu und befreit ihn aus seiner mißlichen Lage oder hat sich der Regisseur was anderes einfallen lassen?“

„Sie mögen wohl keine Agentenfilme?“ fragte Ewert. „Ich kann diese überheblichen Supertypen nicht leiden“, sagte

Helling, „und wie die Wirklichkeit beweist, sind ihrem Können ja auch Grenzen gesetzt.“

Pete Townshend konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Sie dürfen das unserem guten Sleepy nicht übelnehmen“, sagte er.

„Er wäre so gern Schauspieler geworden, aber sie ‘wollten ihn nicht haben, weil er nicht hart genug aussieht.“

„Verstehe“, sagte Jack Ewert. Plötzlich fand er diesen Townshend gar nicht mehr so unsympathisch. Er sah Helling belustigt an. „Ich könnte ja darltonieren“, sagte er, „wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Ich fürchte, nein!“ erwiderte Helling. „Darltonieren heißt, daß sich jemand quer durch die Zeit bewegt.

Dann ist er weg, in Luft aufgelöst, sozusagen.“ „Und? Wo bleibt er?“ „Das kommt ganz auf das gegenwärtige Raum-Zeit-Kontinuum an.

Theoretisch besteht die Möglichkeit, daß der Helling dieser Dimension ein sehr, erfolgreicher Spezialagent von Alpha Centauri in der zehnten Dimension ist.“

„Was soll denn das schon wieder bedeuten?“ „Das ist ein Planet“, sagte Jack Ewert. „Lesen Sie keine Science-

fiction-Geschichten?“ „Nie!“ sagte Helling im Brustton der Überzeugung. „Das klärt manches.“ „Und ich sage euch, er hat einen Dachschaden!“ sagte Helling mit

Betonung. Dick Evans kochte. Ewert tätschelte beruhigend seinen Arm. „Laß nur, Dick, schließlich kann man ja nicht verlangen, daß sich

jeder unseren Gedankenflügen anschließen kann!“

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Townshend und Anders lachten laut auf. „Das war ja eine ganz hübsche Einlage“, sagte der Mann mit der

MPi, „aber was machen wir denn jetzt mit diesen Weihnachtsmännern, Pete?“

Townshend wiegte nachdenklich den Kopf. „Ich denke, wir nehmen sie mit“, erklärte er schließlich. Helling sah überrascht hoch. „Ist das dein Ernst?“ „Warum nicht?“ ,., , „Du bist der Boß“, sagte Helling resigniert. Townshend wandte sich an Moon. „Was hast du herausbekommen, Keith?“ Keith Moon setzte sich, aber behielt die MPi in Griffnähe. „Der Flugplatz steht voll“, sagte er. „Soweit ich feststellen konnte,

sind alle aufgetankt.“ Townshend stand auf. „Dann weiß ich nicht, worauf wir noch warten sollten“, sagte er. Er

wandte sich zu Ewert. „Es ist Ihnen doch hoffentlich klar, daß Ihre Meute nicht mitkommt?“

Ewert nickte. „Das schon“, sagte er zögernd, „andererseits komme ich mir nicht

gerade sehr fair vor, wenn ich sie hier einfach so sitzenlasse.“ „Das Seelchen“, sagte Anders spöttisch. „Ohne diese Leute hätte ich die Stadt nie erreicht“, rief Ewert scharf.

„Wie Sie darüber denken, ist mir egal. Ich gehe nach oben und sage ihnen Bescheid!“

„Ich würde Ihnen das nicht raten“, meinte Knoop ernsthaft. „Die legen Sie ohne Federlesens um. Übrigens ist das ein Ausdruck von Ihnen!“

Ewert wußte, daß es gefährlich war, den Männern allein gegenüberzutreten. Aber er spürte die Verpflichtung, sie wenigstens von den letzten Ereignissen zu unterrichten. Sicher, er hatte nie vorgehabt, sie mitzunehmen, aber es widerstrebte ihm, sie einfach zurückzulassen.

„Geh nicht rauf“, sagte Evans plötzlich. „Ich muß es ihnen wenigstens sagen, Dick!“ „Das mache ich!“ Evans stand auf. Moons Hand zuckte zur MPi.

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„Laß das, Keith“, sagte Townshend scharf. Moon murmelte etwas Unverständliches. „Wieso traust du diesen Burschen?“ fragte er. „Das ist meine Sache. Kümmere du dich um deine!“ „Okay, okay.“ „Sie haben Roger!“ sagte Anders plötzlich. „Was?“ „Ja, er war nicht mehr auf seinem Posten, sie müssen ihn mit nach

oben genommen haben!“ meinte Moon. Townshend schlug sich mit der Faust in die flache Hand. „Wir müssen ihn rausholen, Pete!“ Helling war aufgestanden. „Ich

gehe mit Ihnen!“ Er nickte Evans zu. Ewert machte ein zweifelndes Gesicht. „Wenn Sie mitgehen, wissen sie sofort Bescheid!“ „Er hat recht, es ist zu gefährlich!“ Townshend lief aufgeregt im

Zimmer umher. „Daß uns das noch passieren mußte!“ „Ich hole ihn raus“, sagte Evans ruhig. Alle sahen ihn an. „Das ist aber nicht so einfach, Dick“, entgegnete Ewert. „Ich kenne sie besser als du, Jack. Wenn ich allein gehe, kommen sie

nicht auf falsche Gedanken.“ Ewert traute Evans durchaus zu, daß er den Mut zu dieser Aktion

besaß, er wußte aber auch, daß Diplomatie nicht gerade Evans’ starke Seite war.

„Wir müssen es riskieren“, meinte er schließlich. „Geh du vor, ich bleibe unten im Flur. Wenn was schiefgeht, mach dich irgendwie bemerkbar!“

Evans stand auf. „Ich brauche aber den Revolver“, sagte er. „Nehmen Sie ihn“, sagte Townshend. Evans verließ das Zimmer. Ewert ging langsam hinterher. Ewert lehnte an einer Wand und lauschte. Aber sosehr er sich auch

bemühte, er konnte nichts hören. Mit einemmal vernahm er Schritte. Evans kam mit einem Mann die

Treppe herunter. Es war der Posten. Evans hatte einen Arm um seine Schultern gelegt und stützte ihn.

Ewert sah Evans fragend an. „Halb so wild“, sagte Evans. „Micky hat sich gemuckst, da hab’ ich

ihm eins hinter die Ohren gegeben.“ Er stieg weiter die Treppen

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hinunter. „Das war alles?“ fragte Ewert zweifelnd. „Naja, sie wollten mit Knüppeln auf mich los, aber ich hatte ja

dieses kleine Ding hier.“ Er hob den Revolver. „Sie konnten praktisch nichts machen.“

„Und was ist mit dem da?“ Evans rüttelte den Mann an der Schulter. „Der ist ein bißchen groggy. Sie haben ihm immer wieder eins auf

den Schädel gegeben, wenn er die Augen aufmachte. Du kennst sie ja!“

„Es ist ihm doch sonst nichts passiert?“ „Ach was!“ Ewert war erleichtert. Er faßte den Mann an der anderen Seite unter,

und sie gingen zu Townshend und seinen Leuten zurück. Auf dem Flugplatz wehte ein scharf er Wind. Townshend stand mit

Ewert auf der Piste und sah mißtrauisch zum Himmel. „Das ist ja nun nicht gerade Ausflugswetter“, sagte er. Ewert folgte seinem Blick. „Wollen Sie lieber noch warten mit dem Start?“ Pete Townshend breitete hilflos die Arme aus. „Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob es richtig wäre, den Start zu

verzögern.“ „Wenn wir über dem Ozean in ein Unwetter kommen, können wir

unser Testament machen!“ Townshend lachte trocken. „Wer soll denn das noch lesen?“ fragte er ironisch. Sie gingen langsam zum Heck des Flugzeugs. Die Männer verluden

gerade die letzten Sachen, die sie mitnehmen wollten. „Ganz schönes Lüftchen, was?“ Sleepy Hellings Gesicht war trotz

der kühlen Witterung schweißüberströmt. „Habt ihr die Funkgeräte und die Akkus?“ „Alles schon drin!“ Helling winkte, als sie weitergingen. „Ich bin dafür, daß wir es riskieren.“ Ewert machte einen

entschlossenen Eindruck. „Ein Vabanquespiel ist es doch so und so!“ Townshend nickte. „Sie haben recht. Riskieren wir es!“

Ein nicht geringer Teil der Auswanderer saß festgeschnallt in den

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Sitzen und kämpfte mit Übelkeit. Pete Townshend hatte das Flugzeug zwar hochgebracht, und das sogar ohne nennenswerte Schwierigkeiten, aber er konnte nicht alle Luftlöcher und Luftströmungen aussteuern, so daß das Flugzeug manchmal wankte wie ein altes Segelschiff bei Windstärke 12.

Helling ging durch die Sitzreihen und versorgte die Leute mit Tüten, bis ihm selbst schlecht wurde.

Ewert saß neben Townshend in der Führerkanzel. „Scheint ja tatsächlich gutzugehen“, sagte Ewert. „Beschwören Sie’s nicht!“ Ewert brummte. „Sagten Sie was?“ „Ich habe laut gedacht“, sagte Ewert. „Und dabei bin ich

draufgekommen, daß unser schöner Plan leider einen Fehler hat.“ Townshend sah ihn erstaunt an. „So? Welchen denn?“ „Wenn wir mit dem Fallschirm abspringen und die Maschine eine

Bruchlandung machen lassen, geht das ganze technische Gerät zum Teufel, das die Amerikaner haben wollten!“

„Ich habe auch schon daran gedacht“, meinte Townshend und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Das beste wird sein, wenn ich in der Maschine bleibe und versuche, eine einigermaßen glatte Bruchlandung zu machen.“

Ewert zündete sich eine Zigarette an und sagte zwischen zwei Zügen:

„Ist das nicht ein bißchen zu riskant? Schließlich wissen wir nicht sehr viel über die Gegend, wo wir landen sollen!

„Der Karte nach ist es eine ebene Prärielandschaft, da müßte das doch möglich sein.“

„Ich bin dafür, daß wir das entscheiden, wenn wir an Ort und Stelle sind. Vielleicht können wir ganz auf die Absprünge verzichten, wenn wir Glück haben.“

In diesem Augenblick sackten sie in ein Luftloch ab. Townshend packte den Steuerknüppel so fest, daß sich seine Handknochen weiß unter der Haut abzeichneten. Ewert hatte schon auf der Zunge zu sagen, daß es möglicherweise falsch sein könnte, mit Brachialgewalt am Steuerknüppel herumzureißen, aber er unterließ es, um Townshend nicht zu stören.

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Der schaffte es, das Flugzeug wieder auf Kurs zu bekommen. Plötzlich hörten sie hinter sich Geschrei und Gezeter. Evans stieß die Tür zur Pilotenkabine auf. Er hatte einen etwa

16jährigen Jungen am Genick gepackt und schüttelte ihn wütend hin und her.

„Wer ist denn das?“ fragte Ewert entgeistert. Townshend schüttelte den Kopf. ‘ „Der gehört nicht zu uns“, sagte er. „Er hatte sich in der Toilette versteckt, ausgerechnet in der

Damentoilette!“ „Und warum bist du da reingegangen?“ fragte Ewert lächelnd. „Ich hab’ was gehört!“ behauptete Evans. „Pack mal aus, mein Junge!“ sagte Ewert und fixierte den Jungen

scharf. Der Junge sah Evans herausfordernd an. „Erst wenn er mich losläßt!“ „Laß ihn los, Dick!“ Evans schnaufte entrüstet, aber er gab den Jungen frei. „Ich habe zugesehen, wie Sie Sachen in das Flugzeug gebracht

haben“, sagte der Junge zögernd, „da hab’ ich mir gedacht, daß Sie vielleicht weg wollen.“ Er zuckte die Schultern. „Ich wollte mitkommen. Wenn ich Sie gefragt hätte, hätten Sie mich ja doch bloß weggeschickt. Da habe ich mich eben versteckt.“

„Wir hätten dich sicher nicht weggeschickt“, sagte Townshend über die Schultern. „Weißt du überhaupt, wo wir hinwollen?“

Der Junge schüttelte den Kopf. „Wir fliegen nach Amerika“, sagte Ewert. „Wenn wir nicht vorher in den Teich fallen“, fügte Townshend

hinzu. In diesem Augenblick sackte die Maschine in ein gewaltiges

Luftloch. Evans und der Junge verloren das Gleichgewicht und stürzten.

Aber noch während er fiel, rief der Junge begeistert: „Prima! Da wollte ich schon immer mal hin!“ Ewert schüttelte den Kopf. „Das ist die Begeisterungsfähigkeit der Jugend“, sagte er. Townshend grinste verbissen und versuchte, das Flugzeug unter

Kontrolle zu bekommen.

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Ewert studierte die Landkarte. „Wie lange noch?“ fragte er. „Eine Stunde ungefähr“, sagte Townshend. Ewert reichte die Karte herüber und deutete mit dem Finger auf

einen Punkt. „Hier ungefähr muß Jackville liegen. Das Nest ist so klein, daß es

nicht mal verzeichnet ist.“ Er beschrieb einen Bögen auf dem Papier. „Wenn wir hier einfliegen, würde ich den Absprung etwa hier vorschlagen. Evans wird den Leuten den erforderlichen Tritt geben und als letzter abspringen.“

„Okay“, sagte Townshend. Man merkte ihm an, daß er unter starker Anspannung stand.

Ewert sah ihn einen Augenblick nachdenklich von der Seite an. „Wäre es nicht doch besser, wenn Sie mit absprängen?“ „Dann geht die Ladung zum Teufel. Die Leute von Jackville

brauchen die Sachen dringend.“ „Es ist verdammt gefährlich, was Sie vorhaben, Pete!“ „Weiß ich. Aber es geht nicht anders.“ „Ich sage den Leuten Bescheid!“ Als Ewert die Führerkabine verlassen hatte, zündete sich Townshend

eine Zigarette an. Seine Hände zitterten nicht. „Alle mal herhören“, sagte Ewert. „In etwa einer Stunde sind wir am

Ziel. Jeder hat seinen Fallschirm und weiß damit umzugehen. Richtet euch genau nach den Anweisungen, die ich vorhin ausgegeben habe, sonst kommt ihr alle in den Himmel! Evans bleibt bis zuletzt. Er paßt auf, daß ihr den richtigen Moment zum Absprung erwischt!“

„Dir werde ich den Tritt mit besonderer Freude geben“, sagte Evans und grinste Helling unverhohlen schadenfroh zu. Helling stieß verächtlich die Luft aus.

Der Junge, den Evans aufgestöbert hatte, sah Ewert fragend an. „Mitgefangen, mitgehangen“, sagte Ewert. „Es hilft nichts, du mußt

mitspringen! Evans erklärt dir alles.“ Damit drehte er sich um und ging zu Townshend zurück.

Evans stand in der geöffneten Luke. Der schneidende Wind zerrte an seinen Haaren und trieb ihm das Wasser in die Augen. Das Pfeifen des Windes und das Motorengeräusch des Flugzeugs waren so laut, daß sich die Männer schreiend verständigen mußten.

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„Los!“ schrie Dick Evans. „Wo bleibt der erste Mann?“ Knoop trat vor. Die anderen schlugen ihm auf die Schulter. Knoop

duckte sich zusammen. Evans gab ihm einen kräftigen Tritt, und Knoop segelte hinaus.

Die übrigen Leute folgten in kurzen Abständen, und bald schwebten sie wie weiße Pilze zur Erde. Der Junge schluckte ein bißchen, als er hinaussah, aber dann biß er die Zähne zusammen und sprang hinter den anderen her.

Evans winkte Ewert. Ewert sprang. Jetzt hätte Evans folgen müssen, aber er tat es nicht.

Evans ging in die Führerkabine. „Was wollen Sie hier, springen Sie endlich ab, Mann!“ sagte

Townshend. Evans schüttelte den Kopf. „Zwei Mann bringen den Kasten sicher besser runter als einer“,

sagte er. „Sagen Sie mir, was ich tun soll.“ Townshend schüttelte den Kopf. Aber er merkte, daß sich Evans

nicht mehr von seinem Entschluß abbringen ließ. „Setzen Sie sich hin, schnallen Sie sich fest“, sagte Townshend. Und dann erklärte er ihm, was zu tun war.

Ewert fiel wie ein Stein durch die Luft. Er riß an der Reißleine, und der Fallschirm öffnete sich. Sekundenlang hatte Ewert daran gezweifelt, aber das war immer so. Es war nicht sein erster Fallschirmabsprung, und es war auch nicht das erste Mal, daß ihn dabei Zweifel und Angst befielen. Das war ganz natürlich. Es gab den üblichen, schmerzhaften Ruck, als sich der Fallschirm öffnete.

Ewert schwebte zu Boden. Er drehte sich hin und her und beobachtete die anderen. Einer hatte den Boden schon erreicht und winkte und tanzte vor Freude herum. Jack Ewert landete routiniert und sicher.

Er lief sofort zu der Stelle, wo der Junge gelandet sein mußte. Er war zwar ein bißchen blaß um die Nase, aber auch er hatte den Sprung gut überstanden.

„Ob er es wohl schafft?“ fragte Helling skeptisch. Die Männer standen dicht zusammen und beobachteten, wie

Townshend zur Landung ansetzte. „Evans ist noch drin“, sagte Helling plötzlich.

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Ewert zuckte zusammen. Er blickte suchend umher. „Dieser verdammte Dickkopf“, murmelte er. Die Maschine strich jetzt so flach über den Boden, daß der Lärm

unerträglich wurde. Wenn sie bloß heil runterkommen, dachte Ewert. Seine Hände hatten

sich vor Spannung zu Fäusten geballt.

Pete Townshend biß die Zähne zusammen. Der Prärieboden schien auf sie zuzurasen. Der Pilot warf einen schnellen Blick auf Evans, der scheinbar ungerührt neben ihm saß.

Townshend hob die Maschine ein letztes Mal etwas an und senkte sie dann wieder.

„Jetzt!“ schrie Pete Townshend. Dick Evans nickte nur. Die Maschine zog eine kilometerlange Staubfahne hinter sich her,

als sie den Boden berührte. Sie schoß mit ungeheurer Geschwindigkeit über den Prärieboden, stieß an ein paar Bodenwellen, schaukelte, schwankte, drohte abzukippen und kam schließlich zum Stehen.

Townshend konnte es zuerst gar nicht fassen. Der Krach, der noch vor wenigen Stunden getobt hatte, war so stark gewesen, daß seine Ohren wie betäubt waren. Sekundenlang saß er regungslos in seinem Sitz. Dann blickte er zu Evans hinüber.

Evans erwiderte seinen Blick. Und für einen Augenblick lüftete sich seine starre, ausdruckslose Maske. Dick Evans grinste breit.

Als sich die beiden Männer aus den Sicherheitsgurten befreiten, hörten sie von draußen lautes Jubelgeschrei.

„Mann, haben wir ein Glück gehabt“, sagte Townshend und stieß erleichtert die Luft aus.

Sie verließen das Flugzeug und kletterten ins Freie. Lachend fielen sie sich in die Arme. „Alter Dickkopf“, sagte Ewert und schlug Evans immer wieder auf

die Schulter. „Ich habe ihm nicht getraut“, sagte Evans augenzwinkernd, „wer

weiß, vielleicht hätte er das Ding bis nach Alaska gebracht, wenn ich nicht aufgepaßt hätte!“

Sie versammelten sich zu einem Halbkreis und setzten sich auf den Boden.

„Nach meiner Schätzung sind wir etwa vierzig Kilometer von

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Jackville entfernt“, sagte Ewert, als Townshend ihn auffordernd anblickte.

„Dann müssen sie uns also gehört haben“, warf Knoop ein. Ewert nickte. „Ganz sicher. Aber vielleicht wissen sie nicht, daß wir es sind.“ Er

machte eine kurze Pause und sah zum Flugzeug hinüber. „Ich bin dafür, daß zwei Mann in dem Jeep vorfahren und uns ankündigen.“

„Richtig“, sagte Townshend. „Ich fahre mit Sleepy vor. Wir reden erst mal mit ihnen, und dann holen wir euch nach. Sie werden ja sicher einen Lastwagen haben, okay?“

Die Männer nickten. „Dann los“, sagte Townshend und stand auf. „Holen wir erst mal

unseren Jeep heraus.“ Die Türen am Flugzeug waren zwar etwas verklemmt, aber

schließlich ließen sie sich doch öffnen. „Ich möchte nicht unken“, sagte Townshend kurz vor der Abfahrt,

„aber vielleicht ist es doch besser, wenn ihr die Waffen griffbereit habt. Man kann nie wissen!“

Ist klar, Pete. Wir lassen uns unseren schönen Riesenvogel doch nicht wieder wegnehmen!“

Townshend winkte ihnen lachend zu und bestieg den Jeep. Sleepy Helling saß schon hinter dem Steuer und ließ den Motor an.

Der Jeep fuhr an und zog eine lange Staubfahne hinter sich her. „Mensch“, sagte der Junge plötzlich, „das ist ja phantastisch!“ Ewert drehte sich irritiert herum. „Was meinst du damit?“ Der Junge zeigte nach oben. „Der Himmel“, sagte er. Ewert folgte seinem Blick. Der Himmel war blau.

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5.

Fred kniff die Augen zusammen, als er sah, daß sich Zimmermann von dem Jeep löste und auf die Straßenbiegung zuging.

„Was machen sie jetzt?“ fragte Fox hinter ihm. Fred winkte ab. Fox drängte sich an den Rand des Daches und blickte ebenfalls auf

die Straße. „Mann, so ein Leichtsinn“, murmelte er und leckte sich die Lippen. „Ha?“ „Na, Mann, den habe ich doch wie auf dem Präsentierteller!“ Fox

blickte prüfend zum Jeep und zu dem Mann, der langsam weiterging. „Weg damit!“ Fred schob Fox’ Gewehr beiseite. „Hast du gesehen, wie genau ich eben gezielt habe?“ fragte Fox. „Ja doch, du bist der Größte“, knurrte Fred. „Ich hätte ihn wegputzen können!“ „Kannst du nicht endlich mal die Klappe halten?“ zischte Fred

unterdrückt. Fox war beleidigt. „Mach es doch selber, wenn du alles besser kannst“, sagte er pikiert. „Halt endlich die Klappe!“ Fox schwieg. Von der gegenüberliegenden Seite blitzte wieder der Spiegel auf. „Jetzt ist er an der Straßensperre“, sagte Fox heiser. „Das weiß ich selbst.“ Fox beugte sich weit über den Rand des Daches und starrte hinab. „Paß lieber auf den Spiegel auf“, sagte Fred. „Den seh’ ich schon!“ Wieder blitzte der Spiegel auf. „Ich soll das Gewehr bereithalten“, sagte Fox triumphierend. Er zog

das Gewehr heran und spannte den Hahn. „Paß auf, daß es nicht losgeht!“ „Ich bin doch nicht blöd!“ Fred griff in die Tasche seiner Jacke und zog eine Zigarette hervor. „Jetzt redet Jesse mit ihm“, sagte er mehr zu sich selbst. Zimmermann ging betont langsam. Er behielt die rechte Hand in der

Tasche. Notfalls konnte er durch die Tasche schießen. Während er

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sich vorwärts bewegte, musterte er die Häuser auf beiden Seiten der Straße aus den Augenwinkeln. Die Schüsse waren von oben gekommen, also mußten die Schützen dort sitzen. Zimmermann hätte etwas dafür gegeben, wenn er gewußt hätte, wie viele es waren.

Er dachte an Gibson Kemp, der im Jeep saß. Einen Augenblick befürchtete er, Kemp könnte die Nerven verlieren, wenn er die Gegner zu Gesicht bekam, aber denn beruhigte er sich wieder. Sie hatten schon oft genug ähnlichen Situationen gegenübergestanden.

Als er an der Straßenbiegung angelangt war, sah er die Absperrung. Zimmermann war sich sofort klar darüber, daß sie sie nicht ohne weiteres durchbrechen konnten. Quer über die Straße waren massive Holzböcke und Balken aufgebaut; die Wagen würden sie nicht beiseite stoßen können.

Zimmermann stieß enttäuscht die Luft aus. Die Burschen hatten tatsächlich an alles gedacht. Und während er langsam weiterging, überlegte er pausenlos, wie er dieser Zwickmühle entkommen konnte.

Hinter der Straßensperre, für Zimmermann unsichtbar, hockten drei Männer.

„Da kommt jemand“, sagte einer von ihnen. „Dann hat Willy doch recht gehabt!“ „Klar. Der soll erst mal die Lage auskundschaften.“ Der Mann, der zuerst geredet hatte, wandte sich um. „Laßt mich mit ihm reden! Paßt genau auf, daß er keine

Dummheiten macht, Willy versteht da keinen Spaß!“ „Okay, okay!“ Der Mann drehte sich wieder um und sah Zimmermann gespannt

entgegen. „Der hat eine Kanone in der Tasche, sonst würde er die Hand

rausnehmen!“ Der andere nickte langsam. „Das nützt ihm auch nichts“, sagte er. Zimmermann sah die Männer erst, als er nur noch wenige Schritte

von der Barriere entfernt war. Er ging schneller. Als er die Barriere erreicht hatte, blieb er stehen und sah die Männer herausfordernd an.

Der Mann, der die Rolle des Sprechers übernommen und den Fred Jesse genannt hatte, erwiderte ruhig seinen Blick.

„Also?“ fragte Zimmermann. Jesse grinste.

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„Hier kommen Sie nicht durch“, sagte er. „Das sehe ich. Und warum nicht?“ „Das ist unsere Straße.“ „Die Straße gehört jedem!“ „Nicht doch! Wir haben sie gerecht aufgeteilt. Dafür haben wir in

anderen Straßen nichts zu sagen.“ Zimmermann runzelte die Stirn. So war das also. Die Banden hatten

sich untereinander geeinigt und ihre Bezirke abgesteckt wie in alten Gangsterzeiten.

„Ihre Bedingungen?“ „Schon besser.“ Jesse war offensichtlich zufrieden über soviel

Entgegenkommen. „Wir haben gesehen, daß Sie eine ganze Menge Kram mitführen, den Sie allein gar nicht gebrauchen können.“

„Wir haben nur mitgenommen, was wir unbedingt selbst brauchen!“ Jesse machte eine abwehrende Geste. „Nicht doch! Eben waren Sie noch so entgegenkommend. Auf

anderer Basis können wir uns nicht verständigen!“ „Ich will mich nicht mit Ihnen verständigen“, sagte Zimmermann

und spürte, wie langsam die Wut in ihm hochstieg, „ich will freie Durchfahrt für meine Leute, weiter nichts.“

Das ist aber eine ganze Menge! Wie ich schon sagte, das ist unsere Straße, und hier stellen wir die Bedingungen und sonst niemand!“

„Sie hören sich wohl gern reden, wie?“ Jesse musterte ihn von oben bis unten. „Ich kann auch andere Töne anschlagen, wenn Sie das vorziehen.

Ich dachte nur, daß Ihnen eine friedliche Regelung lieber ist. Wenn ich recht gesehen habe, sind auch Frauen und Kinder bei Ihren Leuten. Es wäre doch ausgesprochen schade, wenn ihnen was passierte, nur weil Sie so unvernünftig sind, oder?“

Zimmermann überlegte angestrengt. Durchbruch war so gut wie unmöglich, außerdem wußte er nicht, wieviel Gangster noch im Hinterhalt lauerten. Denn allein waren diese drei und die Leute auf dem Dach sicher nicht.

Sicherlich wäre es auch nicht sinnvoll, umzukehren und eine andere Straße zu benutzen, denn die Gangster waren auf jeden Fall viel beweglicher und konnten an jeder beliebigen Stelle eine neue Straßensperre errichten.

„Wie stellen Sie sich den Ablauf vor, wenn wir Ihre Bedingungen

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akzeptiert haben?“ „Dann können Sie weiterfahren, ohne daß Ihnen ein Haar gekrümmt

wird!“ „Und wie wollen Sie uns das garantieren?“ Jesse zuckte die Schultern und lachte leise. „Das kann Ihnen niemand garantieren. Das müssen Sie mir schon so

glauben!“ „Da verlangen Sie aber eine ganze Menge“, sagte Zimmermann. „Sie können es sich nicht aussuchen!“ Zimmermann mochte das Blatt drehen und wenden, die Gangster

hatten alle Trümpfe in der Hand. Es gab einfach keinen Ausweg. „Ich kann da nicht allein entscheiden“, sagte er. „Wir haben Zeit!“ „Ich bin in einer halben Stunde zurück!“ „Zu lange.“ „Eben haben Sie doch noch gesagt…“ ,Hier stellen wir die Bedingungen, klar? Und wir sagen, das ist zu

lange. Machen Sie schneller, es bleibt Ihnen doch nichts anderes übrig.“

Zimmermann drehte sich wortlos um und ging zurück. Fred wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Da ist er wieder“, sagte er. Fox beugte sich vor. „Ich verstehe nicht, daß Willy kein Zeichen gibt!“ „Wieso? Es läuft doch wie abgemacht!“ „Ich weiß nicht, ich habe so ein komisches Gefühl!“ „Du kannst dir deine Gefühle an den Hut stecken!“ „Willy hätte sich längst rühren müssen!“ „Wart’s doch ab, zum Teufel!“ In diesem Augenblick blitzte der Spiegel wieder auf. „Na also“, knurrte Fred befriedigt, „ich habe dir doch gesagt, daß es

läuft. Es geht sogar wie geschmiert!“ Kemp sah Zimmermann aufmerksam entgegen. „Na, was wollen sie?“ fragte er, als Zimmermann den Jeep erreicht

hatte. „Unsere Ausrüstung.“ Burt Martin kletterte aus dem Lastwagen. „Sie wollen eine Art Wegzoll“, sagte Zimmermann und fuhr sich mit

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der Hand über das Gesicht. „Sie haben es auf unsere Ausrüstung abgesehen.“

„Wir haben doch genug“, meinte Martin. Zimmermann sah ihn an. „Haben Sie eine Ahnung! Die plündern uns aus bis aufs Hemd,

wenn wir darauf eingehen.“ „Wieviel sind es?“ fragte Kemp. Zimmermann zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Auf dem Dach sind mindestens drei oder vier.

Hinter der Barriere habe ich drei gesehen. Aber es sind bestimmt mehr.“

„Was machen wir nun?“ fragte Martin. „Ich weiß es noch nicht.“ „Können wir nicht einfach durchbrechen?“ Kemp musterte die

Dächer der gegenüberliegenden Häuser. „Das schaffen wir nicht. Jedenfalls nicht im ersten Anlauf. Und dann

können sie uns von oben abschießen wie die Hasen.“ Kemp kaute nervös auf seiner Unterlippe. „Es muß doch einen Weg geben, verdammt noch mal“, sagte er

heftig. Zimmermann nickte bedächtig. „Ich komme bloß nicht drauf“, sagte er und starrte wie abwesend auf

die Straße. „Meinst du, daß die darauf eingehen?“ fragte einer der Männer

Jesse. „Auf jeden Fall. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig!“ Der Mann wiegte zweifelnd den Kopf. „Ich weiß nicht“, sagte er schließlich, „der sah mir gar nicht danach

aus, als ließe er sich die Butter vom Brot nehmen!“ Jesse schüttelte unwillig den Kopf. „Quatsch! Sie müssen, ob sie wollen oder nicht!“ Fred massierte seinen Ellenbogen. ‘ „Verdammt unbequem hier“, sagte er. „Mir macht das nichts aus!“ . Fred antwortete gar nicht darauf. „Hoffentlich haben die wenigstens ein paar Flaschen Schnaps, ich

weiß schon gar nicht mehr, wie so was schmeckt!“ „Die haben auch Frauen“, sagte Fox sehnsüchtig, „ich hab’s vorhin

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gesehen!“ Fred stieß ein verächtliches Lachen aus. „Die würden dich ja doch nur auslachen, wenn sie dich sehen!“ „Hast du ‘ne Ahnung, früher hatte ich an jedem Finger zehn!“ Fred schüttelte sich. „Bin ich froh, daß ich die nie gesehen habe“, sagte er. „Sie waren Klasse!“ behauptete Fox. Er lehnte sich zurück und

seufzte. „Besonders Molly. Mann, die hatte eine Figur…“ Fred hörte nicht mehr zu. „Er kommt zurück“, sagte er heiser. „Sie haben lange gebraucht“, sagte Jesse, als Zimmermann näher

kam. „Wir sind einverstanden“, sagte Zimmermann. Jesse sah ihn mißtrauisch an. „Nun lassen Sie schon die Katze aus dem Sack“, forderte er. Zimmermann lächelte. Aber nur, wer ihn nicht kannte, hielt dieses

Lächeln für höflich. „Wir haben natürlich auch unsere Bedingungen!“ „Und?“ „Hören Sie genau zu: Wir fahren mit allen Wagen ganz dicht an die

Barriere heran. Während Sie sich nehmen, was Sie von den Vorräten haben wollen, beseitigen wir die Barriere. Wenn Sie fertig sind, ziehen Sie sich zurück, und wir fahren weiter.“

„Ist das alles?“ „Das ist alles!“ „Da stimmt doch was nicht“, sagte der Mann hinter Jesse, der vorhin

schon Bedenken angemeldet hatte. „Haben Sie Angst vor uns?“ fragte Zimmermann. Jesse lachte verächtlich. „Gehen Sie zurück und fahren Sie hierher, damit wir unser Geschäft

machen können“, sagte er. „Aber diesmal etwas schneller, wenn ich bitten darf!“

„Da ist doch was faul!“ sagte der Mann wieder, als sich Zimmermann entfernte.

„Du bist ein kleiner Schlaukopf“, sagte Jesse.

„Wie haben sie reagiert?“ fragte Kemp. Zimmermann setzte sich in den Beifahrersitz.

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„Sie riechen etwas“, antwortete er, „aber sie wissen nicht genau, was wir vorhaben.“

Er richtete sich im Sitz auf und gab Martin das verabredete Handzeichen.

„Fahr los“, sagte Zimmermann. „Fahr ganz langsam. Und gib mir die MPi.“

Gibson Kemp startete den Motor. Die Kolonne setzte sich langsam in Bewegung.

„Ich hab’s dir doch gesagt!“ Fred freute sich offensichtlich, daß er recht behalten hatte. „Es läuft alles wie am Schnürchen!“

Fox starrte angespannt auf den Konvoi. „Mann, wird das ein Fest“, sagte er. „Achte auf den Spiegel, Fox! Jetzt muß es Schlag auf Schlaf gehen!“ Fox rieb sich die Hände. „Der alte Freddy kann sich doch auf den alten Fox verlassen“, sagte

er zuversichtlich. Der Jeep war nur noch wenige Meter von der Barriere entfernt. Der

Konvoi stoppte. Zimmermann sprang aus dem Jeep. Er sah, daß jetzt sieben Männer

hinter der Barriere versammelt waren. Sie trugen Gewehre. „Martin, die Leute!“ rief Zimmermann. „Ich warne Sie!“ sagte Jesse. „Wenn die bewaffnet sind, schießen

wir!“ „Warum sind Sie denn so nervös?“ fragte Zimmermann. „Sie sehen

doch selbst, daß wir uns an die Abmachung halten. Jetzt halten Sie Ihren Teil ein!“

Nach und nach stiegen zehn Männer von den Lastwagen und gingen auf die Barriere zu.

„Anfangen!“ rief Jesse. Seine Leute gingen schnell zu den Versorgungswagen am Ende des Zuges und begannen sie auszuräumen.

Zimmermanns Leute räumten die Barriere beiseite, während sie von zwei Bewaffneten überwacht wurden.

Es schien alles glattzugehen. „Sie räumen ab!“ sagte Fred aufgeregt. „Es klappt!“ „Los!“ sagte

Fox. „Wir müssen näher ran!“ Mit schnellen Sätzen liefen sie zum nächsten Dach. Fox schwindelte etwas, als er in den Abgrund sah,

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aber dann biß er die Zähne zusammen und sprang. Sie waren noch völlig außer Atem, als sie auf den Rand zukrochen.

„Jetzt!“ sagte Fox. „Jetzt muß Willys Zeichen kommen!“ Er hatte den Satz kaum beendet, da blitzte der Spiegel auf.

Kemp saß ganz ruhig im Jeep und beobachtete die Männer. Zimmermann lehnte am Wagen und sah scheinbar gelangweilt den Aktionen der Leute zu.

Kemp konnte es später selbst nicht mehr sagen, wie er daraufgekommen war, aber plötzlich schweifte sein Blick ab. Kemp sah links zu den Dächern hoch. Er wollte schon wieder wegsehen, als er es bemerkte.

Über den Rand des Daches schob sich der Lauf eines Gewehrs. Kemp blickte blitzschnell zur anderen Seite hinüber. Er sah ein Blitzen. Das war das Zeichen der Verständigung. Kemp sah zurück zum Gewehrlauf. Er zeigte genau auf

Zimmermanns Rücken. Beinahe ohne zu überlegen, riß Kemp sein Gewehr hoch, als er bemerkte, daß hinter dem Gewehrlauf ein Kopf auftauchte. Der Mann legte an. Aber da er sich unbeobachtet fühlte, ließ er sich Zeit.

Das wurde ihm zum Verhängnis. Kemp drückte ab. Mit einem Schrei stürzte der Mann vom Dach in

die Tiefe. Wie auf ein Zeichen erwachten Zimmermanns Männer aus ihren

Arbeiten an der Barriere. Sie nahmen das, was sie gerade in Händen hatten, und warfen es gegen ihre Bewacher. Zimmermann schoß durch seine Jackentasche.

Jesse sackte lautlos zusammen. Auf dem Dach tauchte ein zweiter Mann auf. Kemp schoß. Der Mann verschwand. Hinter dem letzten Wagen, der die Vorräte geladen hatte, stand der

Wagen mit Mick Jagger und Carl Wayne. Als der erste Schuß ertönt war, sprangen die beiden aus dem Wagen und eröffneten das Feuer gegen die abladenden Banditen. Gegen zwei MPis hatten sie keine Chance.

Vom Dach kam vereinzeltes Feuer. „Liegen lassen, was liegt! Abfahren!“ schrie Zimmermann in die

allgemeine Verwirrung. Die Männer stießen die letzten Balken beiseite und rasten zu den

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Lastwagen. Sekunden später war der Konvoi wieder unterwegs. Die vereinzelten

Schüsse, die noch vom Dach kamen, konnten ihnen nichts mehr anhaben.

Gegen Abend erreichten sie endlich die Randbezirke der Stadt. Zimmermann hatte immer wieder die Karten studiert, um eine Abkürzung ausfindig zu machen, aber schließlich kam er zu der Überzeugung, daß sie die ursprünglich eingeschlagene Route beibehalten sollten. Kemp musterte die Gegend.

„Wollen wir hier anhalten?“ „Ja. Wir müssen unbedingt eine Rast einlegen.“ Zimmermann gab das Zeichen zum Anhalten. Burt Martin kam ihm entgegen, als er den Jeep verließ. „Wir haben uns noch gar nicht bei Ihnen bedankt“, sagte er, „allein

hätten wir das bestimmt nicht geschafft!“ „Und ich hätte es allein auch nicht geschafft!“ „Wollen wir hier die Nacht über bleiben?“ Zimmermann nickte. „Das schon, aber nicht die ganze Nacht. Wir sollten mit vier Stunden

Pause auskommen, sonst sind wir zu lange unterwegs.“ Er sah sich prüfend um. „Ich fühle mich auch nicht recht wohl, solange wir noch in der Nähe der Stadt sind; wir müssen hier so schnell wie möglich weg!“

Immer mehr Männer versammelten sich um Zimmermann und Martin.

„Wir machen eine Wagenburg“, sagte Zimmermann. „Und wir müssen unbedingt eine Wache einteilen!“

Die Männer gingen zu den Wagen zurück und fuhren sie zu einem Kreis auf.

Etwas später prasselte ein Feuer auf dem freien Raum zwischen den Wagen, und die Leute hatten sich darum versammelt.

„Glauben Sie, daß wir noch mehr Schwierigkeiten haben werden?“ fragte ihn jemand.

Zimmermann zuckte die Schultern. „Das kann man nicht vorhersagen. Möglicherweise können wir

völlig ungeschoren weiterziehen; vielleicht aber haben wir schon heute nacht die nächsten Schwierigkeiten. Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen!“

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6. „Wir müssen uns ein besseres Warnsystem einfallen lassen", sagte

James Buchanan zu Grant, als dieser von den Ereignissen in Cornertown berichtet hatte, „sonst geht es uns eines Tages genauso."

Grant nickte. Er sah erschöpft aus und hatte den Schock offensichtlich noch nicht überwunden.

„Was sollen wir denn noch alles machen?" fragte er. „In Cornertown stellen sie Tag und Nacht Wachen auf wie wir. Willst du eine Mauer bauen?"

Buchanan sah geistesabwesend auf seine Hände, die er flach auf den Tisch gelegt hatte.

„Ich weiß es nicht, Jim. Ich weiß nur, daß wir mit allen Mitteln verhindern müssen, daß wir in eine ähnliche Situation kommen."

„Ich bin jedenfalls müde", sagte Jim Grant und stand auf. „Mir fällt heute doch nichts mehr ein."

„Ist gut, Jim, schlaf dich erst mal aus", riet Buchanan. „Morgen sehen wir weiter."

Grant wandte sich zum Gehen. Als die Tür hinter ihm zugefallen war, sagte Dr. Robert:

„Es hat ihn ganz schön mitgenommen. Vielleicht ist er doch nicht der Richtige für solche Sachen."

„Natürlich macht ihm so etwas zu schaffen." Buchanan sah sich im Raum um und musterte die Anwesenden. „Aber es ist mir lieber, er führt die Männer in einer solchen Situation als irgendein anderer. Er ist sachlich, und er ist immer bestrebt, ohne viel Blutvergießen auszukommen."

Dr. Robert hob den Kopf. „Hort ihr denn nichts?" fragte er.„Was meinen Sie?" fragte ein

Mann, der bisher stumm bei ihnen gesessen hatte. Aber im nächsten Augenblick erübrigten sich alle Fragen, denn das

Geräusch war deutlich zu hören. Zuletzt war es so laut, daß selbst ein Schwerhöriger es

wahrgenommen hätte. „Ein Flugzeug!" sagte Dr. Robert. „James, das ist ein Flugzeug!" Buchanan nickte, während alle aufgeregt durcheinanderredeten. „Das müssen die Engländer sein", sagte Buchanan langsam. „Dann

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haben sie es also doch geschafft!" „Wir müssen nachsehen, wo sie gelandet sind!" „Langsam, langsam!" Dr. Robert war aufgestanden und sah sich

aufmerksam um. „Wahrscheinlich sind es die Engländer. Aber ich möchte doch darauf hinweisen, daß es auch jemand anders sein könnte! Wir dürfen die Vorsichtsmaßregeln nicht außer acht lassen!"

„Richtig!" sagte Buchanan. „Wir müssen sofort die Posten verstärken." Er war aufgestanden und ging zur Tür. „Ich komme mit. Wenn es die Engländer sind, wollen wir sie gebührend empfangen!"

Die Männer drängten sich aus der Tür und liefen hinter ihm her. Der Jeep schaukelte über den welligen Prärieboden. Sleepy Helling

hielt mit beiden Händen das Steuer fest und versuchte, das Schwanken des Jeeps auszugleichen.

Townshend saß neben ihm und starrte geradeaus. „Hör auf, auf Evans herumzuhacken", sagte er nach einer Weile. Helling wandte überrascht den Kopf. „Ist er so empfindlich?" „Das ist er. Besonders was Ewert betrifft. Da sieht er gleich rot. Für

den geht er durchs Feuer." „Deswegen ist er wohl auch bei dir im Flugzeug geblieben?" Pete Townshend nickte stumm. „Noch nichts zu sehen." Sie fuhren durch eine besonders tiefe Bodenwelle. Als sie

auftauchten, sahen sie in einigen Kilometern Entfernung eine Ortschaft. Sie waren noch zu weit entfernt, um Menschen erkennen zu können.

Helling fuhr schneller. „Und wenn sie es uns nun nicht glauben?“ „Was?“ „Daß wir aus England kommen?“ „Ich habe doch das Stichwort!“ „Hoffentlich reicht ihnen das. Funk kann man schließlich abhören!“ „Komm, hör auf damit“, sagte Townshend, „ich bin schon nervös

genug!“ „Ich meine ja nur!“ Der Wagen stieß gegen einen Stein und schleuderte. „Paß doch auf, verdammt noch mal!“ sagte Townshend. Helling drehte am Steuer und starrte verbissen durch die

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Windschutzscheibe. Townshend klopfte ihm leicht auf die Schulter. „Komm, hab’ dich nicht so“, sagte er, „wir sind eben beide ziemlich

mit den Nerven herunter.“ Helling knurrte etwas Unverständliches vor sich hin. „Da kommen sie!“

„Das ist wirklich allerhand, daß sie es geschafft haben!“ sagte Dr. Robert anerkennend.

„Abwarten!“ Buchanan sah sich um und fuhr fort: „Wir unternehmen nichts, bevor sie nicht das Stichwort gesagt haben, denkt daran!“

Die Posten nahmen die Waffen von der Schulter und entsicherten sie.

Der Jeep kam näher. „Sehr freundlich sehen sie ja nicht gerade aus“, murmelte Helling. Townshend antwortete nicht. Die Spannung in ihm war zu groß. „Fahr bis auf zehn Meter an sie heran“, sagte er. Seine Kehle war

wie ausgetrocknet. Der Jeep hielt. „Komm mit!“ Townshend stieg aus dem Jeep. Sie gingen langsam auf die Männer zu. Kurz vor den Posten blieben

sie stehen. „Zimmermann“, sagte Pete Townshend. „Kommt bald“, antwortete Buchanan. Im nächsten Augenblick löste sich die Spannung, und sie begrüßten

sich herzlich. Buchanan stellte ein paar Lastwagen zur Verfügung, um

Townshends Leute abzuholen. Sie verluden ihre Habseligkeiten und die technischen Geräte, die sie mitgebracht hatten, und bald darauf blieb nur das leere Flugzeug in der Prärie zurück.

Nachdem Townshend und seine Leute ihre Sachen abgeladen und in die neuen Unterkünfte gebracht hatten, versammelten sie sich im Gemeindesaal. Buchanan als Bürgermeister übernahm den Vorsitz.

„Wir haben kaum damit gerechnet, Gäste aus Europa hier begrüßen zu können“, sagte er zur Eröffnung, „aber wir alle sind glücklich darüber, daß es Mr. Townshend und seinen Leuten gelungen ist, die weite und gefährliche Reise zu überstehen. Und wir sind sicher, daß

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Sie sich gut in unsere Gemeinschaft einfügen werden. Es ist erstaunlich, wie sehr unser kleiner Ort schon gewachsen ist, und wir können sicher annehmen, daß er sich noch weiter vergrößern wird. Dafür müssen wir nun unbedingt Vorsorge treffen. Wir müssen neue Häuser bauen. Entsprechende Pläne sind von Mr. Doppier bereits ausgearbeitet worden und wir haben bald darüber zu befinden, wie und wann wir sie in die Tat umsetzen.“ Er sah nachdenklich die Versammelten an. „Ich möchte die Gelegenheit benutzen, um noch auf etwas anderes einzugehen. Ich weiß, daß sich viele von Ihnen fragen, wann und ob Robert Zimmermann wiederkommt, und daß Gerüchte in Umlauf gebracht worden sind, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Ich erkläre hier mit allem Nachdruck, daß niemand, auch ich nicht, irgend etwas über einen Termin seiner Rückkehr weiß. Ich bin, wie die meisten von ihnen, überzeugt, daß er zurückkommen wird, vorausgesetzt, daß ihm nichts zugestoßen ist, was Gott verhüten möge. Bitte machen Sie ein Ende mit Spekulationen und Gerüchten, wenden Sie sich unserer gemeinsamen Arbeit zu.“ Er machte eine kurze Pause. „Wir haben noch ein anderes Problem, mit dem wir uns ernsthaft beschäftigen müssen. Die Ereignisse in Cornertown haben uns gezeigt, daß auch unser Verteidigungs- und Wachsystem noch zuviel Mängel hat. Dagegen müssen wir etwas unternehmen. Ich fordere Sie hiermit auf, sich darüber Gedanken zu machen. Wer Vorschläge hat, soll damit zu Jim Grant oder zu mir kommen. Sicherlich wollen Sie nun auch etwas von Mr. Townshend hören, aber ich möchte Sie bitten, Verständnis dafür zu haben, daß Mr. Townshend und seine Begleiter jetzt noch zu erschöpft sind, um ausführlich berichten zu können. Wie es in England aussieht, und unter welchen Umständen sie hierherkommen konnten, werden Sie bald in unserer Zeitung nachlesen können.“ Buchanan erhob sich, um anzudeuten, daß die Versammlung aufgehoben war. „Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.“

Die Leute erhoben sich und verließen den Raum. „Kommen Sie“, sagte Dr. Robert zu den Engländern, „wir können

uns noch ein bißchen in unserem ,Club’ zusammensetzen, oder sind Sie zu müde dazu?“

Townshend schüttelte lachend den Kopf. „Nicht im geringsten“, erklärte er. „Ich hatte nur keine Lust, eine

lange Rede zu halten.“

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Es wurde Abend. Die Kolonne fuhr schon seit Stunden eine Landstraße entlang. Die Luft war erfüllt vom Dröhnen der Motoren.

Zimmermann steuerte den Jeep. Kemp war neben ihm eingenickt; er hatte den ganzen Tag am Steuer gesessen. Zimmermann wollte diesmal die Nacht durchfahren. Es hatte keinen Zwischenfall mehr gegeben, seit sie die Stadt verlassen hatten. Sie hatten mehrere kleine Ortschaften passiert, die unbewohnt waren. Dabei hätte Zimmermann schwören können, daß er mit Kemp schon einmal durch diese Dörfer gefahren war, aber zu der Zeit waren sie noch bewohnt gewesen; natürlich war nur ein geringer Teil der ursprünglichen Bewohner anwesend gewesen, der Rest waren Zuwanderer, aber hier wie dort schien es, als schlössen sich die Menschen wieder zu kleinen Gemeinschaften zusammen. Zimmermann grübelte vor sich hin, während er fuhr. Warum waren diese Orte jetzt verlassen? Er hatte nur in einem Dorf Spuren von Gewalt gesehen. Die Häuser waren niedergebrannt, aber die anderen Orte waren einfach leer gewesen.

Er lächelte Kemp beruhigend zu, als er spürte, daß er von der Seite gemustert wurde.

„Du denkst an die Dörfer, nicht wahr?“ Zimmermann nickte stumm. „Glaubst du, daß das einen bestimmten Grund hat, daß sie jetzt

verlassen sind?“ „Es muß einen Grund geben!“ Kemp wickelte einen Kaugummi aus und steckte den Streifen in den

Mund. „Von Carl Wayne“, sagte er lächelnd. „Es hat doch was für sich,

wenn man ein Warenhaus ausräumen kann.“ Er wurde schnell wieder ernst. „Du glaubst doch nicht etwa, daß die Dörfer verseucht waren?“

Zimmermann schüttelte den Kopf. „Wir haben das Wasser geprüft, und es war völlig in Ordnung. In

vielen Häusern waren sogar noch Lebensmittel. Nein, das kann nicht der Grund sein.“ Er stieß nachdenklich die Luft aus und suchte mit der linken Hand nach einer Zigarette. Kemp riß ein Streichholz an und hielt es ihm hin.

„Sei sparsam mit den Streichhölzern“, sagte Zimmermann, während er den Rauch einsog.

„Wie haben genug bei den Vorräten.“ „Trotzdem.“

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Sie schwiegen eine Weile. Plötzlich sagte Kemp: „Ich mache mir Sorgen wegen der Leute. Sie sind seit dem

Zwischenfall in der Stadt so nervös, daß es mir manchmal vorkommt, es wäre ihnen lieber, es passierte sofort etwas – sie halten die Spannung einfach nicht aus.“

„Burt Martin macht sie nervös, Gibson. Er ist zu ängstlich.“ „Der Karte nach müßten wir in ein paar Stunden in New Heaven

sein; mal sehen, wie es da aussieht.“ Kemp faltete die Landkarte zusammen und steckte sie zwischen die

Sitze. „Soll ich dich ablösen?“ „Geht schon noch.“ „Wollen wir durchfahren oder willst du anhalten?“ „Das kommt darauf an, wie es dort aussieht.“ Kemp sah ihn fragend an. „Wenn der Ort wieder leer ist“, sagte Zimmermann, „dann werden

wir so lange herumsuchen, bis wir einen Anhaltspunkt gefunden haben!“

Ein paar Stunden später hielten die Wagen an. Wie auf Kommando drängten sich die Leute um Burt Martin und Zimmermann.

„Vor uns liegt New Heaven“, erklärte Zimmermann. „Wir wollen uns nicht länger als nötig aufhalten, aber damit wir vor Überraschungen sicher sind, werde ich mit Kemp vorfahren und feststellen, ob eine freie Durchfahrt gewährleistet ist. Wir sparen eine gewaltige Strecke, wenn wir durch den Ort fahren.“ Er sah Martin an. „Es ist mir aber zu gefährlich, einfach auf gut Glück loszufahren. Wenn ich bis zum Morgengrauen mit Kemp nicht zurück bin, fahren Sie um den Ort herum.“ Er ließ sich von Kemp die Landkarte geben. „Sehen Sie her. Das ist Ihr Weg. Fahren Sie so schnell Sie können, weichen Sie jeder größeren Ortschaft aus. Wenn Sie diesen Punkt erreicht haben“, er deutete auf Cornertown, „haben Sie es geschafft. Gehen Sie zum Bürgermeister, er heißt Glanville, und lassen Sie sich in Jackville anmelden.“ Er legte die Karte zusammen. „Das ist alles!“

„Und wir sollen Sie nicht herausholen, wenn Sie bis zu dem verabredeten Zeitpunkt nicht zurück sind?“

„Auf keinen Fall!“ „Aber das verstehe ich nicht, wir haben doch…“ „Sie haben Frauen und Kinder bei sich, Mr. Martin, und die müssen

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zuerst geschützt werden. Versuchen Sie, Jackville so schnell wie möglich zu erreichen, und geben Sie dann dort Bescheid. Man wird dort wissen, was zu tun ist.“

Martin machte eine resignierte Geste. „Ich nehme Ihnen Ihr Ehrenwort ab, daß Sie sich daran halten, Mr.

Martin!“ sagte Zimmermann scharf. Martin nickte. „Okay, Sie haben mein Ehrenwort!“ Zimmermann wandte sich um. „Gibson, komm! Es geht los.“ Kemp drehte sich auf dem Absatz um und folgte Zimmermann. Sie

bestiegen den Jeep und fuhren ab. Die Menschen blickten ihnen schweigend nach, bis sie nicht mehr zu

sehen waren. Bald hatte sie die Dunkelheit verschluckt. Bis auf das Motorengeräusch des Jeeps war nichts zu hören. In

keinem der Häuser brannte Licht. „Genau wie bei den anderen“, sagte Kemp. „Nichts zu hören, nichts

zu sehen.“ „Warte ab. Ich finde, wir sollten mal in die Häuser gehen.“ „Jetzt gleich?“ „Fahr weiter in den Ort hinein.“ Kemp stellte den Motor ab. „Mach das Licht aus!“ Die Dunkelheit war vollkommen. „Hast du die Taschenlampen?“ Kemp nickte. „Das da muß das Rathaus sein“, sagte er, und seine Stimme klang

gedämpft. „Sehen wir doch mal nach, wie es da drin aussieht!“ Zimmermann sprang aus dem Wagen. Das Hauptportal war offen. Sie gingen leise über den Hof. Ab und

zu ließen sie die Taschenlampe aufblitzen. „Wenn jemand hier wäre, hätte er uns sicher schon gehört“, flüsterte

Kemp. Sie stiegen eine breite Steintreppe hinauf und erreichten einen

breiten Gang, von dem mehrere kleine Gänge abzweigten. Zimmermann packte Kemp am Arm – und zog ihn weiter. Er öffnete eine Seitentür und ließ den Strahl der Taschenlampe

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durch das Zimmer wandern. Es war wie ein Büro eingerichtet. Sie gingen weiter. Zimmermann öffnete die nächste Tür. Sie war nur angelehnt,

während die erste eingeklinkt war. Sie stellten sich neben der Tür auf. Zimmermann stieß mit dem Fuß

gegen die Tür. Sie schwang quietschend auf. Sie traten ein, und Zimmermann leuchtete im Raum umher. Als der

Lichtkegel auf den Schreibtisch fiel, zuckten sie zurück. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann. Er war zurückgelehnt und

ließ die Arme herunterhängen. Der Strahl der Taschenlampe traf sein Gesicht. Und jetzt wußten sie, warum der Mann sich nicht rührte.

Der Mann war tot. Er hatte ein kleines Loch genau über der Nasenwurzel.

„Verdammt noch mal“, sagte Kemp und wischte sich über die Stirn. Zimmermann trat näher und berührte den Toten. „Er war vor kurzem noch lebendig“, sagte er. „Der Mann ist

höchstens vier Stunden tot!“ Kemp zog die Augenbrauen hoch. „Das heißt…“ Er sprach den Satz nicht zu Ende. „Das heißt, daß sie noch hier sein können“, sagte Zimmermann. Kemp sah unwillkürlich zur Tür. „Hier im Haus?“ . Zimmermann nickte. „Auch hier!“ Kemps Augen weiteten sich. Ohne ein weiteres Wort faßte er

Zimmermanns Arm und zog den Freund neben einen Schrank, der in der Nähe der Tür stand.

„Robert“, flüsterte er unterdrückt, „Robert, hast du eben die Tür zugemacht, als wir hereingekommen sind?“

Zimmermann schüttelte den Kopf. Kemp deutete wortlos zur Tür. Sie war geschlossen.

Burt Martin lief zwischen den Wagen umher. „Es ist doch sinnlos, sich jetzt verrückt zu machen“, sagte Mick

Jagger. „Bleiben Sie doch in Ihrem Wagen!“ „Es war falsch, ihn gehen zu lassen“, sagte Martin. „Wir hätten das

nicht tun dürfen!“

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Jagger verstellte ihm den Weg. „Mr. Martin, niemand hätte ihn halten können, auch ich nicht.

Kommen Sie!“ Er führte ihn zum ersten Lastwagen. Als sie im Führerhaus saßen, sagte Jagger: „Sie müssen sich daran gewöhnen, daß er tut, was er für richtig hält.

Er geht nicht so leicht in eine Falle!“ „Aber wir können doch nicht einfach ohne ihn weiterziehen!“ Jagger lächelte grimmig. „Das werden wir auch nicht“, sagte er mit Nachdruck. Martin sah ihn hilflos an. „Was haben Sie vor?“ „Wenn er bis zum Morgengrauen nicht zurück ist, fahren Sie weiter,

wie verabredet. Ich gehe ihn suchen.“ „Unmöglich! Das lasse ich nicht zu!“ „Ich glaube kaum, daß Sie das verhindern können“, antwortete Mick

Jagger kühl. „Kinder, regt euch doch nicht auf, bis jetzt ist es ja noch nicht

soweit!“ warf Carl Wayne ein. Jagger blickte prüfend zum Himmel. In einer Stunde etwa begann die Dämmerung.

Zimmermann sog zischend die Luft ein. Verfluchte seinen Leichtsinn. Kemp schluckte trocken.

„Das ist doch unlogisch“, flüsterte er, „wieso haben sie uns denn nicht sofort angegriffen?“

Zimmermann antwortete nicht. Er bedeutete Kemp, stehenzubleiben und sprang auf die andere Seite neben die Tür. Kemp, der ahnte, was er vorhatte, hob den Revolver. Zimmermann bewegte den Türgriff. Er drückte ihn ganz herunter. Die Tür ging auf.

Kemp preßte die Lippen zusammen. Er richtete die Taschenlampe auf die Türöffnung. Auf dem Flur war nichts zu sehen.

Zimmermann ging ein paar Schritte zurück und nahm einen Löscher vom Schreibtisch. Er warf ihn flach über dem Boden auf den Flur. Es gab ein schnurrendes Geräusch, als der Löscher zum Stillstand kam.

Kemp trat neben ihn und sah ihn ratlos an. Zimmermann brachte seinen Mund nahe an Kemps Ohr und flüsterte:

„Bleib stehen!“

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Dann sprang er mit einem Satz auf den Flur. Er hatte die Taschenlampe zwischen den Zähnen und die MPi im Anschlag. Blitzschnell drehte er sich um die eigene Achse. Es war nichts zu sehen oder zu hören. Er winkte Kemp, ihm zu folgen, und die stiegen schnell die Treppe hinab.

Als sie die letzte Stufe erreicht hatten, wurde es plötzlich blendend hell. Sie konnten sich nicht wehren, das Licht machte sie blind. Vor ihnen, hinter ihnen, sogar über ihnen, am Treppengeländer, standen Männer und Frauen.

Sie waren unbewaffnet. Sie hatten nur das Licht. Kemp stieß einen überraschten Schrei aus. „Wir wollen euch nichts tun!“ rief er. Aber sie kamen immer weiter auf sie zu. Zimmermann packte Kemp und stieß ihn zurück, so daß er ihn mit

seinem Körper schützte. Die Menschen kamen immer näher. Ihre Gesichter waren verzerrt.

Sie hatten die Hände wie Klauen vorgestreckt. Und in ihren Augen stand der Wahnsinn.

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7.

Mick Jagger lief. Sein Gesicht war schweißüberströmt, obwohl es empfindlich kühl war. Mit jedem Meter, den er zurücklegte, schien die MPi schwerer zu werden. Er hatte das Tragband über die Schulter gestreift und hielt die Waffe mit der linken Hand fest, damit sie ihm nicht gegen den Körper schlug, als er mit langen Sätzen die Hauptstraße entlanglief. Er blieb öfter stehen, um sich die langen Haare aus der Stirn zu streichen. Sein Atem ging schwer. Aber er hatte ganz bewußt darauf verzichtet, den Wagen zu nehmen, weil er nicht gehört werden wollte.

Er ging langsamer und holte tief Luft. Vergeblich blickte er in Seitenstraßen: Der Jeep war nicht zu sehen. Er fuhr sich mit der freien Hand über das gerötete, verschwitzte Gesicht. Unentschlossen blickte er bei einer Straßenkreuzung umher. Schließlich ging er weiter die Hauptstraße entlang. Er hob den Kopf und sah zum Himmel. Aber auch die dicken, grauen Wolken, die Regen ankündigten, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß es bald dämmern würde.

Jagger war nicht ängstlich. Er war noch jung, aber er hatte schon mehr gesehen als mancher ausgewachsene Mann. Und er war damit fertig geworden. Trotzdem spürte er leises Unbehagen, als er durch die stummen, leeren Straßen ging, und mehr als einmal glaubte er irgendwelche Bewegungen zu sehen, aber es waren stets Täuschungen. Es gab kein lebendiges Wesen außer ihm selbst auf dieser breiten Hauptstraße, die früher Zentrum des Verkehrs gewesen war.

Er ging weiter, bis er einen weitausladenden Platz erreichte. Als er die Häuser musterte, die den Platz umgaben, stieß er einen unterdrückten Ruf aus. In der mittleren Etage des größten Hauses brannte Licht.

Jagger entsicherte die MPi. Langsam, möglichst bemüht, keinen Lärm zu machen, ging er auf das Haus zu. Er drückte sich in die Toreinfahrt und lauschte. Er nahm einen kleinen Stein auf und ließ ihn über den Boden kollern. Nichts rührte sich. Wenn hier Posten aufgestellt waren, mußten sie das Geräusch gehört haben.

Jagger lief über den freien Platz zwischen der Toreinfahrt und dem Haus. Er schloß die großen Eingangstür hinter sich und lehnte sich

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erschöpft dagegen. Er spürte, daß seine Hände zitterten. Mick Jagger versuchte, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, wo er das

Licht gesehen hatte. Dann machte er sich entschlossen auf den Weg. Er nahm nicht die Haupttreppe, sondern entschied sich für einen der zahlreichen Seitenaufgänge. In kurzer Zeit stellte er fest, daß er sich dem Licht näherte. Der Gang machte einen Knick, und dahinter war das Licht.

Jagger drückte sich eng an die Wand, als er den Knick erreicht hatte. Er streckte vorsichtig den Kopf vor.

Was er sah, verschlug ihm den Atem.

„Was, um Himmels willen, ist denn das?“ stieß Kemp hervor. „Anscheinend hören sie uns gar nicht“, sagte Zimmermann. „Wir müssen hier weg, die sind doch alle wahnsinnig!“ „Da kommst du nicht durch!“ „Dann eben mit Gewalt!“ „Unmöglich!“ Zimmermann schüttelte den Kopf und starrte

fasziniert auf einen Mann, der sich am weitesten vorgewagt hatte. „Gib einen Warnschuß ab!“ Zimmermann drängte Kemp wortlos zurück an die Wand und blieb

vor ihm stehen. Es war wie ein Bild aus einem Alptraum. Die Menschen waren

unglaublich verkommen und verdreckt, die Haare hingen ihnen ins Gesicht, und ihre Kleidung bestand nur noch aus Fetzen. Sie hatten eingefallene, hohle Gesichter, in denen die Augen glühten, die bei vielen verschwärt und entzündet waren. Zimmermann zuckte unwillkürlich zusammen, als ihm ein durchdringender Gestank von Körperausdünstung und Kot entgegenschlug.

Der Mann, der Zimmermann am nächsten war, hatte verfilzte, graue Haare, die ihm bis weit in den Nacken hingen. Seine Fingernägel waren unnatürlich lang, so daß seine Hände aussahen wie Krallen.

„Schieß! Sonst tue ich’s!“ schrie Kemp. „Ruhig“, sagte Zimmermann, „du mußt dich ganz ruhig verhalten!“ Beim Klang seiner Stimme legte der alte Mann vor ihm den Kopf

schief und schien zu lauschen. „Was wollt ihr hier? Geht weg!“ sagte Zimmermann ruhig und

bestimmt zu dem Alten. Und er bemühte sich, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken.

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Als der Alte Zimmermanns Stimme wieder hörte, fiel er auf die Knie, reckte die Arme hoch und stammelte unartikuliert vor sich hin. Ein anderer stieß ihn beiseite. Seine Augen waren absolut ausdruckslos, aber sein Gesicht war verzerrt, als ob er ungeheure Schmerzen litte. Aber Zimmermann merkte bald, daß es nicht Schmerz war, was dem Mann im Gesicht stand. Denn er kam schnell auf ihn zu.

Es war Haß. Blindwütiger Haß. Zimmermann war wie gelähmt. Gebannt starrte er dem Mann

entgegen. Da krachten in schneller Folge Schüsse gegen die hohe Decke des Raumes. Das Echo war laut und dröhnend.

Die Irren fuhren herum. Zimmermann sah Jagger an einem Seiteneingang. Jagger riß wieder die MPi hoch und feuerte gegen die Decke.

Heulend, schreiend und winselnd bewegten sich die Irren auf ihn zu. „Lauf weg!“ schrie Mick Jagger. Er machte die Irren absichtlich auf

sich aufmerksam, damit Zimmermann und Kemp den Rücken frei hatten.

Zimmermann packte Kemp am Arm und stürzte mit ihm die Treppen hinab. Der Weg kam ihm endlos lang vor. Sie stießen die große Tür auf und hetzten über den Hof.

„Und Mick, was ist mit Mick?“ fragte Kemp keuchend. ,Fahr mit dem Jeep so nahe wie möglich an die Tür heran, ich warte

hier“, stieß Zimmermann hervor. Er lief zur Tür zurück und riß sie weit auf. Er schrie Jaggers Namen.

Als Antwort hörte er Schüsse. Dann kam Jagger die Steintreppe heruntergepoltert. Dicht hinter ihm

seine Verfolger. Kemp hielt mit quietschenden Reifen den Jeep an. Jagger nahm die

letzten Stufen mit einem Satz. Er wäre gefallen, wenn Zimmermann ihn nicht aufgefangen hätte. Sie sprangen in den Jeep. Kemp legte den Gang ein, und das Fahrzeug machte einen Satz nach vorn. Ein Mann, der sich in Zimmermanns Jacke verkrallt hatte, stürzte mit einem Aufschrei aufs Pflaster.

Kemp fuhr durch das Tor und brachte den Jeep auf Höchstgeschwindigkeit. Obwohl sie aus der Gefahrenzone waren, drosselte er die Geschwindigkeit nicht, bis sie den Ausgang des Ortes erreicht hatten.

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Als sie auf der Landstraße waren, hielt Kemp an und nahm die Hände vom Steuer. Sie zitterten wie im Fieber.

Jagger atmete tief. „Mann, da fehlen mir die Worte“, sagte er. Er redete bewußt

schnoddrig, um seine Erschütterung zu verbergen. Kemp zündete sich mit fliegenden Händen eine Zigarette an. Ein leichter Nieselregen ging auf das Verdeck des Jeeps nieder. Es

wurde langsam hell. „Soll ich fahren?“ fragte Zimmermann. „Ja, bitte. Ich bin erledigt!“ „Wo kommen die denn bloß her?“ fragte Mick Jagger. „Wenn man das wüßte …“ Zimmermann wechselte den Sitz und

setzte sich hinter das Steuer. „Sind das etwa Einwohner von New Heaven, ich meine …“ Kemp hielt inne. „Du wolltest sagen: ganz normale Einwohner, oder?“ Zimmermann

legte den Gang ein und fuhr langsam an. „Ich glaube nicht. Schließlich können doch nicht alle Menschen auf einmal verrückt werden!“

„Warum nicht? Wer weiß, was die gesehen haben!“ „Nein, das glaube ich nicht! Wahrscheinlich sind sie einfach aus der

Anstalt ausgebrochen und irren jetzt hilflos in dem Ort herum.“ Er schüttelte sich. „Und man kann nichts für sie tun“, fügte er hinzu. „Nichts.“

„In dem Seitengang hätten sie mich beinahe erwischt“, sagte Jagger. „Da mußte ich schießen, sonst hätten sie mich gehabt.“

„Daraus kann dir niemand einen Vorwurf machen, Mick“, erwiderte Zimmermann.

„Entschuldige, wenn ich mich vorhin blöd verhalten habe“, sagte Gibson Kemp zögernd, „aber so was habe ich noch nicht gesehen. Ich kam mir vor wie ein Kaninchen, das von einer Schlange hypnotisiert wird.“

Zimmermann machte eine abwehrende Handbewegung. „Ich komme mir auch nicht besonders überlegen vor“, sagte er. Kemp zog schweigend an seiner Zigarette. „Ist Martin weitergefahren?“ fragte er. Jagger nickte. „Er wollte Theater machen, weil ich euch holen wollte, aber ich habe

ihm ziemlich deutlich die Meinung gesagt.“

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„Erhalte dir bloß deinen Widerspruchsgeist“, sagte Kemp, und zum erstenmal erschien die Spur eines Lächelns in seinem Gesicht. Jagger grinste breit.

Martin kennt eben unser Team noch nicht“, erklärte er und streckte die Beine aus. „Außerdem ist er eine ziemliche Flasche, wenn ihr mich fragt.“

„Einer muß den Ton angeben, und sie haben eben keinen anderen“, sagte Zimmermann. „Ein Wunder, daß sie sich so lange im Warenhaus halten konnten, ohne daß etwas passiert ist.“

„Ich freue mich jetzt jedenfalls auf Jackville“, sagte Jagger mit Nachdruck und lehnte sich bequem zurück.

Kemp sah Zimmermann forschend von der Seite an. Zimmermann schwieg und blickte auf die Straße. Carl Wayne, der mit seinem Wagen den Schluß des Konvois bildete,

sah in den Rückspiegel und entdeckte den Jeep mit Zimmermann, Kemp und Jagger. Er gab das verabredete Hupsignal. Der Konvoi stoppte.

Zimmermann hielt an, damit Jagger aussteigen konnte, dann setzte er sich wieder an die Spitze des Zuges. Burt Martin war in den Jeep übergewechselt und ließ sich berichten.

„Gut, daß wir nicht durchgefahren sind“, sagte er, „für die meisten wäre es ein ungeheurer Schock gewesen.“ Er nahm eine Zigarette, die ihm von Kemp angeboten wurde. „Ich muß sagen, daß ich mit so etwas auf keinen Fall gerechnet hätte!“

„Wir auch nicht, aber das ist es ja! Dauernd kann etwas geschehen und wir wissen nicht wann, geschweige denn, was.“

Die Fahrt ging ohne Verzögerungen weiter, und am Abend desselben Tages konnte Zimmermann feststellen, daß sie sich Cornertown schon so weit genähert hatten, daß gute Aussichten bestanden, am Abend des nächsten Tages dort einzutreffen. Mit diesem beruhigenden Gefühl machten sie ein paar Stunden Rast und fuhren gegen Mitternacht weiter.

Es war stockdunkel, als sie die Fahrt fortsetzten. Der unangenehme Nieselregen, der den ganzen Tag lang angedauert hatte, setzte wieder verstärkt ein. Die Straße war naß und glitschig, so daß sie nur mit mäßiger Geschwindigkeit fahren konnten.

Glanville, der Bürgermeister von Cornertown, saß in seinem Büro und

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diskutierte mit den Männern und Frauen des Rates, als ihm die Nachricht überbracht wurde.

„Sie kommen offensichtlich aus dem Osten“, sagte der Posten. „Vorneweg fährt ein Jeep. Sie halten genau auf uns zu.“

Glanville war aufgesprungen. „Hat denn das Theater nie ein Ende?“ fragte einer der Männer

verbittert. „Unsinn!“ sagte Glanville. „Wenn die uns ans Leder wollten, kämen

sie doch nicht so deutlich sichtbar auf uns zu!“ „Aber was wollen sie denn sonst von uns?“ Glanville zuckte die Schultern. „Weiß ich nicht, aber ich werde es bald wissen!“ Er wandte sich dem

Posten zu. „Komm, Ben, wir wollen uns die Brüder mal näher ansehen!“

Die Posten am Rande von Cornertown hatten eine dichte Kette gebildet.

„Hier kommen die nicht durch!“ sagte ein Mann in vorgeschobener Stellung zu Glanville.

„Moment, Moment!“ Glanville balancierte sich zwischen den Sandsäcken hindurch. „Ihr wißt doch noch gar nicht, was sie wollen. Laßt sie doch erst mal herankommen!“

Der Jeep, der die Kolonne anführte, löste sich und fuhr mit höherer Geschwindigkeit auf Glanvilles Leute zu. Dicht vor den Sandsäcken hielt er an. Ein Mann sprang heraus und ging mit schnellen Schritten auf die Posten zu.

Im ersten Augenblick traute Glanville seinen Augen nicht, so überrascht war er. Dann lief er dem Mann entgegen und streckte ihm die Hand hin.

„Mein Gott, daß Sie wiedergekommen sind“, sagte Glanville, und seine Stimme zitterte etwas.

Zimmermann ergriff die Hand und schüttelte sie kräftig. „Ich möchte um freie Durchfahrt für diese Leute bitten“, sagte er

lächelnd. Glanville drehte sich um. „Macht den Weg frei!“ rief er. „Dies ist Robert Zimmermann!“ Und während die Posten die Barrikaden und Sandsäcke beiseite

räumten, berichtete er von den letzten Ereignissen. Zimmermann ging kurz zum Jeep zurück und befahl Kemp, die

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Kolonne bis zum Ausgang von Cornertown zu führen. Er selbst wollte nachkommen.

Zimmermann verabschiedete sich von Glanville. „Rufen Sie in Jackville an“, sagte er zum Schluß. „In ein paar

Stunden sind wir da.“ Mary Buchanan, die Tochter des Bürgermeisters, war die erste, die

es erfuhr. Sie schrieb gerade die letzten Nachrichten, die ihr von Horace aus dem Funkraum übermittelt worden waren, für die News ab.

„Hallo, Mr. Glanville“, sagte sie, und ihre Stimme klang nicht besonders überrascht, denn die Anrufe von Glanville gehörten zum Alltäglichen. Die beiden Bürgermeister tauschten oft ihre Erfahrungen aus und waren ständig im Kontakt. Die Telefonverbindung hatte sich als sehr nützlich erwiesen. Aber als Glanville dann weitersprach, blieb ihr vor Freude jedes Wort im Halse stecken. „Ja, natürlich“, sagte sie, „ich gebe es sofort weiter!“

Und dann lief sie in den „Club“ zu ihrem Vater. „Was soll denn das heißen?“ fragte Buchanan ungehalten, als er sie

sah. „Weißt du eigentlich nicht, daß es schon recht spät ist? Du wirst morgen die Schule verschlafen.“ Er drohte mit dem Finger, aber sie wußte, daß er es nicht sehr ernst meinte, obwohl er es sehr wichtig nahm, daß sie jeden Tag die Kinder unterrichtete.

„Ich habe noch ein paar Nachrichten für die News geschrieben“, sagte sie atemlos. „Jim hatte mich darum gebeten. Vater, eben war Mr. Glanville am Apparat!“

„Und?“ „Wir bekommen Besuch“, sie spannte ihn absichtlich auf die Folter.

„Heute nacht noch!“ „Kind, wenn du nicht sofort…“ Plötzlich durchzuckte ihn ein

Gedanke. „Ja, Vater“, sagte sie. „Du hast recht! Sie kommen zurück!“ „Was ist denn hier eigentlich los?“ fragte Dr. Robert, der nicht alles

mitbekommen hatte. Buchanan winkte ab. Er brachte kein Wort heraus. Dr. Robert wandte sich an Mary. „Ist was passiert?“ fragte er irritiert. „Ja“, sagte sie. „Es ist etwas passiert. In drei Stunden ist Robert

Zimmermann wieder hier!“

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Jetzt hatten es auch alle anderen gehört. Der alte Smitty verschluckte sich an seinem Kaffee und warf die

Spielkarten auf den Tisch. „Ich hab’s gewußt!“ rief er. „Ich hab’s ja immer gewußt!“ Als die Kolonne in Jackville eintraf, standen viele Menschen an der

Straße, obwohl es schon mitten in der Nacht war. „Sie werden jetzt die letzte Nacht in dem Wagen verbringen“, sagte

Zimmermann zu Burt Martin. „Morgen werden wir Ihnen Unterkünfte zuweisen. Vielleicht reicht es nicht ganz, aber wir werden schon eine Lösung finden.“

Die Kolonne hielt an. „Da steht Buchanan“, sagte Kemp und blickte umher. Zimmermann folgte seinem Blick. „Da ist der alte Smitty“, sagte Mick Jagger. „Weißt du noch, wie wir

ihn hierhergebracht haben?“ Zimmermann nickte. Dann stieg er aus dem Wagen. Als er Buchanan umarmte, konnten beide kein Wort hervorbringen.

Buchanan gab sich keine Mühe, seine Rührung zu verbergen. Er schluckte und schneuzte sich geräuschvoll, bis er sagen konnte:

„Im Club steht schon ein ordentlicher Whisky! Kommt, wir wollen anstoßen!“

„He! Ich bin ja schließlich auch noch da!“ sagte eine Stimme neben ihnen. Es war Dr. Robert.

Zimmermann, Kemp und Jagger wußten gar nicht, wen sie zuerst begrüßen sollten, so viele Menschen hatten sich versammelt und drängten sich um sie herum.

„Janet ist schon im Club“, sagte Buchanan unterwegs. „Sie hat auch geglaubt, daß ihr wiederkommt.“

Als sie eintraten, schlug ihnen ein unbeschreiblicher Jubel entgegen. Sie saßen noch stundenlang zusammen und redeten. Sicher hätte

niemand die Idee gehabt, endlich schlafen zu gehen, wenn nicht Janet Kirchherr energisch verlangt hätte, die Heimkehrer nun in Ruhe zu lassen.

Es war lange nach Mitternacht, als sie sich trennten. Das Haus, in dem Janet Kirchherr wohnte, war in unmittelbarer

Nähe des Clubs. „Hier ist dein Zimmer“, sagte sie und schaltete das Licht an. „Wie geht es dem kleinen John?“ fragte er.

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„Er wird einen ganz schönen Schreck bekommen, wenn er dich morgen wiedersieht!“

Er zog seine Jacke aus und warf sie auf einen Stuhl. „Warum denn?“ „Du hast dich ziemlich verändert!“ Sie setzte sich in einen Sessel

und sah ihn voll an. „Ich glaube, ich muß dich erst mal wieder ein bißchen bemuttern, damit du dich von den Strapazen erholst!“

„Ich hab’ mich darauf gefreut“, sagte er. „Wirst du…“ „Ja“, sagte er. „Ja, jetzt bleibe ich hier!“

Buchanans Vorsorge, neue Häuser zu bauen, hatte sich als richtig erwiesen. Zwar mußten die Leute um Burt Martin sich vorübergehend mit Notlösungen zufriedengeben, aber in einigen Wochen sollten auch sie ihre Häuser beziehen.

Es gab viel zu tun für Zimmermann. Die nächsten Tage waren ausgefüllt mit Konferenzen und Besichtungen. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er den Berichten von Jack Ewert und Pete Townshend.

Und alles deutete darauf hin, daß Europa stärker als die anderen Länder von der Auswirkung des Krieges betroffen worden war. Erfreut zeigte sich Zimmermann von den Fortschritten der Russen unter der Führung von Alexej Popojew, mit dem er schon über Funk Verbindung gehabt hatte, bevor er Jackville verließ. Das paßte gut in seinen Plan, den er im Laufe der Zeit entwickelt hatte und an dessen Verwirklichung er jetzt gehen wollte. Vorerst sagte er Buchanan und den anderen nichts davon, denn er wollte keine voreiligen Schlüsse und Spekulationen zulassen.

Zimmermann wollte die Weltregierung. Er wollte eine demokratische Regierung aller Überlebenden. Er wollte eine Welt ohne Militär.

Er wußte, daß er noch erhebliche Widerstände zu überwinden hatte, aber er wollte mit aller Macht daran festhalten. Er bedachte sorgfältig alle Schwierigkeiten. Auch an General Hamilton dachte er, aber er wußte nicht, was Hamilton vorhatte. Er wußte weder, wo er sich zur Zeit befand, noch hatte er genaue Vorstellungen von Hamiltons Plänen.

Das war der unbekannte Faktor, der ihm am meisten Kopfzerbrechen

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machte. Und, wie die kommenden Ereignisse bewiesen, mit Recht.

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8.

Jim Saville und Don Conway spielten Karten. Sie spielten jedesmal Karten, wenn sie Wache hatten, um die Langeweile zu unterdrücken, die sich mit tödlicher Sicherheit nach den ersten Stunden einstellte. Saville hätte viel lieber gewürfelt, aber sie hatten keine Würfel, wenn er mit Conway spielte, hatte er immer das Gefühl, daß er betrogen wurde. Natürlich hatte er keinen Beweis dafür, denn Conway war viel zu geschickt, aber gerade das machte ihn mißtrauisch. Er blickte Conway verstohlen an, während er die Karten sortierte. Don Conway hatte ein hartes, fast rechteckiges Gesicht; seine Augen waren im Gegensatz zu seinen dichten, schwarzen Haaren hell und durchsichtig wie Wasser. Und was Saville am meisten störte, war, daß Conways Gesicht immer ausdruckslos blieb. Er konnte ihn ansehen, wann er wollte, nie konnte er irgendeine Regung bei ihm feststellen; Conway war ein perfekter Bluffer. Es war unmöglich, in seinem Gesicht abzulesen, was für ein Blatt er in der Hand hielt.

„Mach schon“, knurrte Conway. Saville sah ihn scharf an, dann warf er die Karten mit einer

resignierten Geste auf den Tisch. „Wieder nichts!“ Conway schob die Karten zusammen und begann, neu zu mischen.

Saville starrte fasziniert auf seine großen, behaarten Hände. Sogar seine Fingernägel sind rechteckig geschnitten, dachte er. Er sah auf seine eigenen Hände. Sie waren lang und feingliedrig; die Fingernägel waren zu lang und an einigen Stellen eingerissen und abgebrochen.

„Mist!“ sagte Jim Saville. Conway blickte auf. „Willst du’s noch mal hören?“ Saville sah ihn aggressiv an. Conway schwieg und mischte weiter die Karten. Er tat es mit

Bedacht, so, als wäre es eine wichtige Arbeit, die höchste Konzentration erforderte.

„Ich habe keine Lust mehr“, sagte Saville. „Wozu?“ Saville sprang auf. „Ich habe keine Lust mehr, hier herumzusitzen, ich habe keine Lust

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mehr, mit dir stundenlang Karten zu spielen, ich habe überhaupt keine Lust mehr!“

Conway runzelte die Stirn. Endlich zeigte er eine menschliche Regung, dachte Saville

erleichtert. „Du bist nervös“, begann Conway, „aber …“ „Himmel, ja! Ich bin nervös! Das ist aber auch zum Auswachsen!“ „Du weißt, wie wichtig es ist, daß wir jetzt aushalten! So was geht

eben nicht von heute auf morgen!“ „Morgen!“ sagte Saville geringschätzig. „Morgen! Immer nur

morgen! Die ganze Zeit höre ich nichts anderes.“ „Ja“, sagte Conway scharf. „Wir sind noch nicht soweit, und das

weißt du ganz genau!“ Saville stieß die angestaute Luft aus und setzte sich wieder. Er

drückte auf einen Knopf des Schaltpults und starrte auf den Bildschirm, der langsam heller wurde.

„Da sind sie“, flüsterte er. „Da sind diese kleinen, niedlichen Dingerchen. Sieh sie dir an, Don!“

Conway sah flüchtig auf den Bildschirm. „Stell ab, du weißt, daß er das nicht gern hat!“ „Es ist mir egal, ob er es gern hat oder nicht!“ schrie Saville. „Ich

habe ein Recht darauf, mir die Dinger anzusehen, so oft ich will, wenn ich schon stundenlang hier herumsitze!“

Conway langte über das Schaltpult und drückte einen Knopf. Das Bild erlosch.

„Ich will keinen Ärger“, sagte er. Saville machte eine heftige Bewegung. „Quatsch! Wer soll denn da rankommen? Hier sind doch nur unsere

Leute!“ „Das ist egal! Wir sind Soldaten, und wir müssen Disziplin

bewahren, sonst können wir gleich einpacken!“ „Das wäre auch das beste“, murmelte Jim Saville. Conway schlug auf den Tisch, daß es dröhnte. „Noch eine solche Bemerkung, und ich muß dich melden, merk dir

das gefälligst.“ Saville stützte den Kopf in beide Hände und schwieg. Der kriegt es

glatt fertig und meldet mich wirklich, dachte er erbittert. Ich wette, der bekommt noch viel mehr fertig.

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Im nächsten Augenblick riß ihn ein schrilles Klingeln aus seinen Gedanken. Auf dem Schaltpult leuchtete in regelmäßigen Abständen eine rote Lampe auf.

Conway fuhr hoch und griff nach seinem Gewehr. „Na, was habe ich dir gesagt?“ rief er. Und seine Stimme klang fast fröhlich.

Sie waren nur drei Mann, aber sie waren zu allem entschlossen. Sie saßen in der Kantine des Bunkers, in dem über dreihundert Mann Platz hatten. Sie hatten sich vorsorglich von den anderen abgesondert, damit ihr Gespräch nicht belauscht werden konnte. Die Luft war erfüllt von Geschirrklappern und Gesprächsfetzen.

„Ich habe so ein komisches Gefühl“, sagte einer von ihnen und hob die Kaffeetasse an den Mund.

„Ach was! Gerald, wenn wir noch lange warten, verpassen wir den Zeitpunkt!“

Gerald sah den dritten Mann an. „Nun? Was sagst du dazu, Dave?“ „Ich glaube, Simon hat recht! Wir müssen handeln! Je länger wir

noch warten, desto verdächtiger werden wir.“ Gerald seufzte. „Und es gibt keine Möglichkeit, wie wir feststellen können, ob die

Alarmanlage noch funktioniert?“ Dave Davies schüttelte den Kopf. „Nichts zu machen. Das ist unser Risiko!“ „Nicht gerade sehr beruhigend!“ Simon drückte mit dem Daumen den Tabak in seiner Pfeife fest und

zündete sie an. Er paffte ein paar Züge und sagte langsam: „Oder wir tun uns mit Saville zusammen!“ Die beiden Männer sahen ihn wie auf Kommando an. „Bist du wahnsinnig geworden? Der gehört doch zur Elite!“ „Ich verstehe dich auch nicht“, sagte Dave Davies, „diesen Plan

haben wir doch längst verworfen!“ Simon Dee zeigte mit dem Pfeifenstiel zur Tür. „Weiß ich, weiß ich, Saville gehört zur Elitetruppe. Aber was heißt

das schon? Habt ihr ihn in der letzten Zeit schon näher beobachtet?“ Die beiden sahen ihn gespannt an. „Du meinst, er versteht sich nicht mehr mit Conway?“

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„Genau! Ihr kennt den Grundsatz des Chefs hier: Zur Wache sucht er sich immer Leute aus, die möglichst konträr sind; Leute, die normalerweise kaum ein Wort miteinander reden können!“

„Und?“ „Auf diese Weise erreicht er, daß sie gegenseitig aufeinander

aufpassen. Jetzt stellt euch mal vor, ein Nervenbündel wie Jim Saville schiebt zwei Wochen Wache mit einem sturen Hund wie Conway!“

„Du meinst, er dreht durch?“ Simon sog an der Pfeife und verzog das Gesicht. „Widerlich“, sagte er. Gerald Brooks sah ihn fragend an. ,Ich meinte den Tabak“, knurrte Simon Dee. „Aber du hast recht!

Saville bleibt gar nichts anderes übrig, er muß durchdrehen! Da sollte es uns doch gelingen…“

Dave Davies machte ein skeptisches Gesicht. „Schön und gut“, sagte er, „aber hast du dir schon mal überlegt,

warum uns der Chef nicht zur Wache eingeteilt hat?“ „Das ist doch klar!“ „So klar ist das gar nicht! Der Mann ist Psychologe genug, um zu

erkennen, daß wir Conway und Saville, was unsere Fähigkeiten betrifft, durchaus gewachsen sind. Das Problem liegt ganz woanders. Für eine solche Aufgabe, Freunde, braucht er ganz bestimmte Typen. Und Saville und Conway sind für ihn genau die richtigen, gerade weil sie so gegensätzlich sind!“

„Schön!“ Brooks machte eine ungeduldige Handbewegung. „Und was folgerst du nun daraus?“

„Daraus ziehe ich den Schluß, daß wir Saville niemals auf unsere Seite ziehen können! Zwar würde er Conway am liebsten an die Kehle gehen, aber gleichzeitig hat er auch Angst vor ihm. Er würde es nie wagen, sich gegen Conway zu stellen. Denn im Grunde hält er sich an dem Auftrag fest, er klammert sich daran wie an einen Strohhalm. Die Wache selbst, die Aufgabe, die darin liegt, hält ihn aufrecht. Und wehe, wenn während seiner Wache etwas passiert! Er würde das als Anlaß nehmen, sich Conway gegenüber zu bestätigen. Wenn etwas passiert, wird er sofort entschlossen eingreifen, schon um sein angeschlagenes Selbstbewußtsein wiederherzustellen!“

Dee klopfte die Pfeife aus. „Also?“ fragte er.

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„Nichts also!“ Davies lehnte sich über den Tisch und fixierte seine Freunde scharf. „Wir müssen den Plan mit Saville fallenlassen. Es gibt nur eine Möglichkeit!“

„Durch die Alarmsperre?“ „Genau! Wobei nicht klar ist, ob sie überhaupt noch funktioniert!“ „Du hast Nerven! Und wenn sie noch funktioniert?“ Davies lehnte sich zurück. „Dann haben wir eben Pech gehabt. Auf jeden Fall können wir die

Dinger unschädlich machen.“ Plötzlich öffnete sich die Tür, die in die Kantine führte. Der Mann,

der mit einem Gewehr in der Hand daneben stand, straffte sich und brüllte:

„Achtung! Der General!“ Die Männer standen auf und nahmen Haltung an. Durch die Tür kam ein mittelgroßer Mann in einer Generalsuniform.

Er hatte ein rundes, weiches Gesicht, das von einem dichten, aber gepflegten Bart umrandet wurde; seine Uniformjacke war mit Orden gespickt.

Der General machte eine Handbewegung, als der Posten an der Tür salutierte. Der General ging langsam in die Mitte des Raumes.

„Danke, Männer. Rühren!“ sagte er und setzte sich an einen Tisch. Die Männer setzten sich geräuschvoll. „Der Generalstab plant mal wieder“, murmelte Davies und blickte zu

dem Tisch, an den sich der General gesetzt hatte. „Komisch“, sagte Gerald Brooks leise, „man sieht ihm gar nicht an,

daß er nicht alle Tassen im Schrank hat.“ „Das sieht man in den seltensten Fällen“, sagte Simon Dee. „Das ist

es ja, was die Leute so gefährlich macht. Sie sehen aus wie du und ich, aber hinter dieser glatten Visage verbirgt sich ein reißender Wolf.“

Das ist zwar recht poetisch ausgedrückt, aber es stimmt“, meinte Dave Davies. „Sagt mal, habt ihr auch gehört, daß er Verbindung mit dem Präsidenten haben soll?“

,Blödsinn! Glaub doch nicht diese Latrinenparole! Das ist doch alles bloß Taktik, um uns bei der Stange zu halten. Ich gehe jede Wette ein, daß manch einer bei uns mitmachen würde, wenn er davon wüßte.“

„Leider können wir keinen Werbefeldzug starten!“ „So ist es.“ Davies machte ein entschlossenes Gesicht. „Also,

Freunde?“

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Simon Dee stand langsam auf. Er gab Davies die Hand. „Mach’s gut, Dave!“ Brooks streckte Davies ebenfalls die Hand hin und murmelte etwas. Davies wandte sich schnell ab und ging auf die Tür zu. Er salutierte

vor dem Posten und verschwand. „Ob er’s schafft?“ fragte Brooks. „Ich weiß es nicht, Geduld. Ich weiß nur, daß wir ab jetzt nichts

mehr für ihn tun können.“

Wenn man aus dem Osten kommt und sich dem Berg auf einer der Landstraßen nähert, gleichgültig ob mit dem Wagen oder zu Fuß, es gibt nichts, was auffällig wäre an ihm. Er ist ein Berg wie jeder andere, er gehört zu der Landschaft des amerikanischen Westens wie die Prärien, das Gras und die langen Highways. Möglich sogar, daß Familien Rast gemacht haben auf dem Berg, daß sie die Picknickkörbe auspackten und einen gemütlichen Tag in der freien Natur verbrachten. Früher, als man noch hinausfuhr, um zu picknicken.

Aber unter ihnen, viele Meilen in der Erde, im Herzen des Berges, wo sein kräftiges Herz pocht, waren Leben und Tod ganz nah zusammen. Denn im Berg lebten Menschen. Seit Jahren schon, vor dem Krieg. Und das Herz des Berges war der Tod. Es war der Tod in vielen Formen. In Formen, die man sich nicht vorstellen kann. Denn das Herz des Berges waren Atomraketen, Wasserstoffbomben und andere, schreckliche Vernichtungsmittel mit den dazugehörigen Trägerraketen.

Der Krieg hatte den Berg unbeachtet gelassen, er hatte sich nicht darum gekümmert, denn der Krieg war mit anderen Mitteln geführt worden. Es ist wirklich müßig, darüber zu streiten, welche Vernichtungsmittel grausamer sind, die, die tatsächlich angewendet wurden oder die, die im Berg gelagert waren, seit Jahren, seit Jahrzehnten. Denn beide brachten den Tod. Wenn auch auf verschiedene Weise.

Tag und Nacht, jahraus, jahrein, lebten Menschen in diesem Berg, die diese tödlichen Waffen bewachten. Es war fast wie ein Staat im Staate, denn die Soldaten, die diese Raketen und Bomben bewachten, waren besonders ausgebildete und zuverlässige Männer. Sie trugen die größte Verantwortung außer dem Präsidenten. Denn sie konnten einen

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Krieg entfesseln, wenn einer von ihnen in einem einzigen unbedachten oder falschen Moment den roten Knopf drückte. Es hatte viele Spekulationen darüber gegeben, daß das einmal geschehen könnte, aber schließlich war der Krieg auf ganz andere Weise entstanden. Wie, das wußte man Jahre später noch nicht.

Nach der Katastrophe blieben die Bewacher zunächst, wo sie waren. Sie verließen den Berg nicht, sie warteten auf weitere Befehle. Als die Zeit verging und keine neuen Befehle eintrafen, als jede Verbindung abriß, begannen sie, sich Gedanken zu machen. Und viele Soldaten verließen den Berg und gingen fort. Aber ein nicht unbeträchtlicher Teil blieb, denn hier hatten sie zu essen und zu trinken, es fehlte ihnen an nichts. Und schließlich hatten sie noch immer nicht den Gedanken aufgegeben, daß eines Tages ein neuer Befehl kommen könnte. Sie waren Soldaten, und jedes unerlaubte Entfernen von ihren Stützpunkten war Desertion.

Und es waren neue Befehle gekommen. Eines Tages tauchte ein General auf, den sie nicht nur an seiner Uniform erkannten; manche Soldaten des Stützpunkts waren früher in seiner Einheit gewesen. Der General übernahm das Kommando. Er organisierte alles neu und richtete wieder eine straffe Führung und ein reibungsloses Ablaufen ein. Wenn viele Menschen zusammenleben müssen, war seine Theorie, brauchen sie eine strenge Disziplin, damit keine Pannen passieren. Und Pannen konnte der General nicht gebrauchen, denn er hatte einen festen Plan.

Es ist durchaus fraglich, ob er seinen Plan mit Zivilisten hätte in Angriff nehmen können, wahrscheinlich wären sie ihm mit vielen Wenns und Abers gekommen; aber die Männer im Berg waren Soldaten. Und der General vertrat eine Autorität, die ihnen stets als die höchste eingeimpft worden war. Also gehorchten sie ihm und richteten sich nach ihm. Zwar fragten sie sich manchmal untereinander, was er wohl damit bezwecke, aber sie ließen ihre Fragen und ihre Zweifel nicht laut werden.

Von außen sah der Berg ganz harmlos aus. In seinem Innern aber war er lebendig. Und sein tödliches Herz schlug noch. Dreihundert Männer und ein General hielten es am Leben. Dreihundert Männer und ein General warteten auf den Tag, an dem sie die tödlichen Waffen einsetzen konnten...

Und drei Männer unter ihnen wollten das verhindern.

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Die drei Männer hießen Gerald Brooks, Simon Dee und David Davies, genannt Dave.

Dave Davies machte den ersten Versuch. Er war unterwegs in den Kopf des Berges, dorthin, wo sich das Elektronengehirn befand, das unbedingt funktionieren mußte, wenn man die Waffen einsetzen wollte. Und bewacht wurde es von zwei sehr unterschiedlichen Männern. Sie hießen Jim Saville und Don Conway.

Dave Davies ging in den Mannschaftsraum und warf sich auf sein Bett, als er sah, daß noch andere im Zimmer waren. Mit der Rechten griff er unter die Matratze und nahm den Revolver, den er dort schon seit Monaten versteckt hatte. Er gähnte und streckte sich.

Dann stand er auf und verließ den Raum. Im Funkraum angekommen, begrüßte er einen Mann, der gelangweilt vor den Geräten hockte.

„Was Neues, Eric?“ „Immer dasselbe!“ „Was machen die Friedensfreunde aus Jackville?“ „Reden mit den Commies. Verrückte Bande! Reden einfach mit den

Russen! Als ob wir nicht Krieg hätten!“ Dave grinste. „Da siehst du mal, wie unterschiedlich die Ansichten sein können.

Haben sie schon gemerkt, daß sie abgehört werden?“ „Nicht die Spur“, sagte Eric Clapton geringschätzig. „Kannst abhauen, ich mache weiter.“ Davies setzte sich. „Keine Lust zu einem Spielchen?“ Davies winkte ab. „Heute nicht. Mir ist nicht danach.“ „Na denn!“ Der Mann stand auf, knöpfte seine Uniformjacke zu und

verließ den Raum. In der geöffneten Tür drehte er sich noch einmal um. „Weißt du“, sagte er nachdenklich, „manchmal wünsche ich mir direkt, daß mal etwas passiert!“

Davies nickte. Das wirst du bald haben, dachte er grimmig. Als der Mann den Funkraum verlassen hatte, entwickelte Davies

eine fieberhafte Aktivität. Er schloß seinen Schrank auf und nahm ein kleines Tonbandgerät heraus. Er stellte das Funkgerät auf Empfang und Sendung und automatisierte die Umschaltetaste. Er hatte diesen Vorgang monatelang geübt. Jeder Handgriff saß. Wenn die routinemäßige Anfrage vom andern Funkraum kam, würde sich das

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Gerät von selbst auf Antwort umstellen und das Tonband antwortete, so daß niemand merkte, daß er nicht auf seinem Posten war.

Jetzt hing alles davon ab, daß er rechtzeitig wieder zurückkehrte; niemand konnte ihm dann beweisen, daß er fort gewesen war.

Davies verließ den Funkraum. Er lief den Gang entlang, hob die Lüftungsklappe in einer Seitenecke und war verschwunden. Auch hier hatte er schon vorgearbeitet. Wenn jemand vorbeiging, konnte er nicht feststellen, daß die Klappe und der dahinterliegende Filter gelockert worden waren.

Davies war schon im Schacht, der nach unten führte. Er trug Schuhe mit Saugnäpfen, so daß er die glatte Wand hinuntersteigen konnte, ohne zu stürzen.

Er hatte den Boden erreicht. Jetzt kam die wichtigste Station und auch die gefährlichste. Es hatte Monate gedauert, bis er die Kombination der Tür ausgetüftelt hatte. Davies zog die Gummihandschuhe an und drehte an dem Hebel, der die Tür öffnen sollte. Er schwitzte stark und zwinkerte krampfhaft mit den Augen, als ihm der Schweiß in den Augen brannte. Erschöpft hielt er inne. Noch eine Drehung. Und noch eine. Und jetzt die entscheidende Zahl. Davies schloß die Augen und konzentrierte sich. Ein leichter Ruck nach rechts. Ein Schnappen. Die Tür war offen.

Davies öffnete die Tür und schloß sie vorsichtig hinter sich. Das Schloß durfte nicht in die Ausgangsposition kommen, dann verlor er auf dem Rückweg mit dem öffnen zuviel Zeit.

Er fixierte den ersten Computer. Er schlug nicht blind drauflos; er kannte die empfindlichen Stellen dieses Geräts genau. Hart und treffsicher landete der Revolverknauf auf den empfindlichen Teilen und zerstörte sie. Er riß Kabel heraus und schleuderte sie hinter sich.

Aufatmend betrachtete er sein Zerstörungswerk. Das Ding war kaum noch zu reparieren. Aber er wußte, daß das noch nicht viel bedeutete. Dieser Computer war nur ein Teil einer ungeheuren Maschinerie, die es noch zu zerstören galt. Er betrachtete die nächste Tür. Sie hatte eine Doppelsicherung mit Kode. Davies wußte, daß daran eine Alarmanlage gekoppelt war, aber er war nicht sicher, ob der Alarm noch funktionierte.

Die Fernsehkamera allerdings, die pausenlos filmte, ließ sich schnell mit einem Stück Tuch verdecken; wenn jedoch die Posten auf die Idee kamen, den Schirm einzuschalten, wußten sie, daß etwas nicht in

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Ordnung war. Davies überlegte, ob er es riskieren sollte. Die Chance, entdeckt zu werden, wenn die Alarmanlage nicht mehr funktionierte, war relativ gering. Es war ein offenes Geheimnis, daß sich die Posten nur selten die Mühe machten, die Bildschirme zu kontrollieren. Wenn er auf diese Weise entdeckt wurde, war es reiner Zufall. Davies gab sich einen Ruck. Er war so weit vorangekommen, daß er es riskieren mußte. Außerdem mußte er sich beeilen, seine Zeit wurde knapp.

Er machte sich an der Tür zu schaffen und bekam sofort eine Antwort auf seine Gedanken: Die Alarmanlage funktionierte bestens. Davies war im ersten Augenblick starr vor Schreck, aber er fing sich schnell wieder.

Er verließ den Raum und kletterte wieder in den Schacht. Er verschloß sorgfältig die Öffnung und machte sich an den Aufstieg.

Minuten später war er wieder im Funkraum und versteckte das Tonbandgerät im Schrank. Er setzte sich vor die Funkgeräte und zündete sich eine Zigarette an. Er atmete den Rauch tief ein und entspannte sich.

Der erste Teil des Plans hatte geklappt. Jetzt wurde es schwierig, denn der General würde nach diesem Sabotageakt die Sicherheitsmaßnahmen verstärken. Aber das war noch nicht alles. Er wußte jetzt, daß es – nach seiner Terminologie – Verräter unter der Besatzung gab. Und er würde alles daransetzen, diese Leute ausfindig zu machen. Denn ein einziger Mann, der nicht völlig auf seiner Seite war, konnte seinen ganzen Plan gefährden.

Die rote Lampe zuckte in regelmäßigen Abständen auf. „Los! Worauf wartest du noch?“ fragte Conway. „Gib endlich

Alarm!“ Saville fuhr aus seinen Gedanken auf und drückte den Knopf. Im

nächsten Augenblick gellte die Sirene durch den Bunker. „Der Alarm kam aus Vorraum I“, sagte Conway. „Los, wir sehen

nach!“ Saville griff nach seinem Karabiner und folgte ihm. Der Fahrstuhl brachte sie schnell in die nächste Ebene. „Mann! Die Tür ist ja offen!“ sagte Jim Saville fassungslos. „Was du nicht sagst“, knurrte Conway. Er stieß die Tür mit dem Fuß

ganz auf und sprang in den Raum. Er feuerte blind ein paar Schüsse gegen die Decke. „Das kannst du dir sparen“, sagte Saville. „Hier ist niemand mehr.“

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Conway antwortete nicht. Er starrte den zerstörten Computer an. „Der ist hinüber“, sagte Saville, und in seiner Stimme klang beinahe

Befriedigung. „Das scheint dich nicht sehr zu berühren!“ „Nee“, erklärte Saville. „Warum auch? Haben wir das Ding

vielleicht kaputtgeschlagen?“ „Idiot! Natürlich nicht! Aber wir haben die Wache gehabt! Jetzt laß

dir mal ganz schnell eine schöne Ausrede für den General einfallen, sonst sind wir nämlich beide geliefert!"

„Ganz recht!" sagte eine harte Stimme von der Tür her. Der General trat näher und besah sich den Schaden. Und so, als wäre es eine Nebensache, die ihn nicht weiter interessierte, drehte er sich um und sagte zu den Soldaten, die ihn begleitet hatten:

„Entwaffnen und abführen!" Und dabei nickte er zu Conway und Saville.

„Sir, wir haben ..." Conway schwieg, als ihn der General von oben bis unten ansah.

„Sie haben versagt, das wollten Sie doch sagen, oder?" Saville öffnete den Mund zu einer Entgegnung, aber er kam nicht

mehr dazu. „Abführen, habe ich gesagt!" schrie der General, und sein Gesicht

färbte sich rot dabei.

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9.

Die Männer standen in Reih und Glied. „Er kocht vor Wut", flüsterte Simon Dee. Dave Davies machte ein unbewegliches Gesicht, während der

General mit aufreizender Langsamkeit vor ihnen auf und ab ging. „Ich habe Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen", begann der

General und musterte die Soldaten. „In unserer Mitte ist ein Verräter. Vielleicht sind es auch mehrere." Er erhob seine Stimme. „Ich brauche wohl niemandem von Ihnen zu sagen, was das bedeutet. Es ist ein Sabotageakt von geradezu perfiden Ausmaßen verübt worden. Und was noch schlimmer ist: Die Wache hat versagt. Sie hat es einfach geschehen lassen. Ich werde prüfen, inwieweit sie in das Komplott verwickelt ist. Ich weiß sehr gut, daß Saboteure in Ihren Reihen sind. Sollen sie sich nur sicher fühlen, ich finde sie. Ich forderte sie sogar auf, es noch einmal zu versuchen. Aber ich warne sie! Wir werden jetzt doppelt und dreifach auf dem Posten sein; keine Sekunde wird vergehen, in der nicht die Lebenszentren dieses Stützpunkts scharf bewacht werden. Wenn die Saboteure Mut haben, sollen sie sich noch einmal hervorwagen. Ich werde kurzen Prozeß mit ihnen machen!"

Damit war die Ansprache beendet. Aufatmend setzten sich die drei Verschwörer an einen Tisch. „Ich konnte einfach nicht mehr machen", sagte Davies

niedergeschlagen. „Als der Alarm losging, hätte ich beinahe die Nerven verloren."

„Er weiß offensichtlich nicht, wie er sich jetzt verhalten soll", meinte Brooks.

Dee stopfte umständlich seine Pfeife. „Täusche dich nicht! Er hat einen entscheidenden Trumpf in der

Hand." Die beiden sahen ihn fragend an. „Wir können nicht so weitermachen, wie wir es geplant haben, das

ist euch wohl klar! Jeder neue Versuch, in die Schaltzentrale einzudringen, wäre glatter Selbstmord!"

„Das ist es ja!" sagte Davies resigniert. „Aber es war einfach nicht zu machen, glaubt mir! Ich konnte die Alarmanlage nicht ausschalten, sie hat mich völlig überrascht."

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„Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, Dave! Noch ist das Kind nicht im Brunnen! Nur können wir den alten Plan nicht mehr gebrauchen."

„Und was weiter?" Dee blies eine gewaltige Rauchwolke vor sich hin. „Ganz einfach! Überlegt mal!" „Ein Attentat?" Dee schüttelte den Kopf. „Sinnlos“, sagte er, „Hamilton hat zu viele Gefolgsleute.“ „Aber was dann?“ Simon Dee sah Brooks an, dann wandte er sich an Davies. „Wie“, fragte er bedeutungsvoll, „wie nennt ihr doch gleich die

Leute in Jackville?“ Davies erstarrte. „Bist du wahnsinnig geworden?“ „Wieso?“ Davies stützte sich auf beide Ellenbogen und beugte sich über den

Tisch. „Angenommen, das klappt“, sagt er, „angenommen, es gelingt uns

tatsächlich, sie zu benachrichtigen. Wann, glaubst du denn, könnten sie hier sein? Es wäre viel zu spät! Und ferner: Wie sollen sie denn hier überhaupt reinkommen? Die werden doch abgeschossen wie die Kaninchen!“

„Ich habe nicht gesagt, daß es einfach ist“, antwortete Dee, „es ist nur eine Möglichkeit. Und zwar eine letzte! Oder wißt ihr noch eine?“ Als die anderen schwiegen, fuhr er fort: „Also müssen wir sie wahrnehmen! Du kannst Jackville anfunken, wenn du die Funkwache hast!“

Davies unterbrach ihn. „Moment!“ sagte er. „Du vergißt wohl, daß wir eine zweite Station

haben!“ Dee schüttelte den Kopf. „Durchaus nicht“, sagte er. „In der Zeit, in der du versuchst,

Jackville zu erreichen, muß der Funker in der anderen Station abgelenkt werden! Das braucht nur eine Minute zu sein, wir müssen die Zeit genau absprechen!“

Davies wiegte nachdenklich den Kopf. „Schön und gut“, sagte er zögernd, „möglicherweise klappt das

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sogar. Aber was dann? Wie sollen die hier eindringen?“ ,Nichts leichter als das! Wir machen ihnen die Haustür auf!“ „Du meinst...?“ „Genau das, Dave! Sie müssen zu einem Zeitpunkt hier sein, an dem

ich mit ein paar anderen Wache schiebe. Mit denen werde ich schon fertig, keine Angst!“

Davies rieb sich nachdenklich das Kinn. „Eine Möglichkeit ist das“, gab er zu. Brooks malte unsichtbare Linien auf die Tischplatte. Als er merkte,

daß ihn die beiden ansahen, blickte er auf und meinte: „Ehrlich gesagt, ich finde es ziemlich waghalsig. Aber Simon hat

recht: Wir haben keine andere Möglichkeit, und deswegen müssen wir sie wohl oder übel ausprobieren.“

„Also abgemacht?“ Die anderen nickten. Als Dave Davies den Funker ablöste, machte sich Simon Dee auf

den Weg zur anderen Funkstation des Bunkers. Er kannte den diensthabenden Funker seit einiger Zeit, und er hatte auch das Gefühl, daß man mit ihm reden konnte, aber trotzdem war es zu riskant, die Wahrheit zu sagen.

Dee achtete darauf, daß er nicht gesehen wurde, als er zur Funkkabine ging. Er wollte keinerlei Verdachtsmomente aufkommen lassen.

Funker Josh Tormayer langweilte sich genauso wie die anderen, wenn er vor den Geräten saß. Und was ihn besonders ärgerte, war, daß er keinen zweiten Mann zum Würfeln hatte. Natürlich gehörten diese Spiele von jeher zu den Lieblingsbeschäftigungen der Soldaten, wenn sie freie Zeit hatten, aber Tormayer hatte beinahe eine Wissenschaft aus dem Spiel gemacht. Er veranstaltete regelrechte Turniere in der Kantine. Jeder kannte ihn, und jeder amüsierte sich über ihn, wenn er abends in der Kantine saß, eine geöffnete Bierdose vor sich, das Gesicht gerötet, die Ärmel seiner Uniform hochgestreift, wie er dann die Ergebnisse der Spiele peinlich genau auf einen Zettel schrieb und genaue Listen führte. Nichts konnte ihn dann von einem Spiel ablenken.

Wehe, wenn er einmal Minuspunkte sammelte. Dann sträubten sich seine krausen, kurzen Haare. Dann konnte er gefährlich werden. Aber er konnte auch Maß und Ziel verlieren und spekulierte wild drauf los,

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bis sein Minuskonto zu groß geworden war, als daß er noch hätte weiterspielen können. Kurz: Josh Tormayer war das, was man gemeinhin ein Original nennt. Natürlich ist das eine reichlich grobe Charakterisierung, aber tatsächlich wußte niemand genau, was er vor dem Krieg gemacht hatte, denn er gehörte nicht zum Stamm der Bunkerbesatzung; General Hamilton hatte ihn unterwegs irgendwo aufgelesen und mitgebracht.

Dem Vernehmen nach sollte er früher einmal Gedichte geschrieben haben, aber das war ein unbestätigtes Gerücht, das er selbst in die Welt gesetzt hatte, als er einmal betrunken war. Gerald Brooks war an diesem Abend dabeigewesen und hatte erlebt, wie Tormayer, hochrot im Gesicht, einen Tisch bestiegen hatte und pathetisch ein paar Verse deklamierte, die – um es milde auszudrücken - so ziemlich das Gegenteil aussagten von dem, was General Hamilton erreichen wollte. Tormayer gab sich als militanter Pazifist, aber da er sich meistens nur mit Kartenspielen oder mit Würfeln die Zeit vertrieb, nahm niemand diese „innere Sendung“ ernst.

Simon Dee betrat den Funkraum. Tormayer saß vor dem Gerät, die Kopfhörer übergestreift, und knabberte an den Fingernägeln.

Als er Dee sah, steckte er die Hände in die Hosentaschen. Was willst du denn hier, ich habe doch Dienst, Mann“, sagte

Tormayer. „War mir zu langweilig in der Kantine“, antwortete Dee. Er sprach

absichtlich leise, so daß Tormayer ihn wegen seiner Kopfhörer nicht verstehen konnte.

„Häh?“ machte Tormayer. Dee grinste und deutete auf die Kopfhörer. „Ach so, ich kann ja nichts hören“, sagte Tormayer und schob die

Kopfhörer zurück, so daß sie ihm vor der Schulter baumelten. Dee biß sich auf die Lippen. Wenn Tormayer die Kopfhörer nicht

ganz ablegte, hörte er, wenn Davies funkte. Aufregend ist es hier ja auch nicht grade“, machte Dee und setzte

sich umständlich. „Nee.“ „Wollen wir nicht mal einen zocken?“ Dee gebrauchte Tormayers

Lieblingswort für würfeln. Tormayer machte ein zweifelndes Gesicht. „Ich weiß nicht, ich bin doch im Dienst!“

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Dee zog eine Zigarre aus der Tasche. Er wußte, daß Tormayer ganz wild auf Zigarren war.

„Mann, wo hast du denn die her?“ Dee lächelte. „Meine Sache!“ Tormayer biß die Spitze der Zigarre ab und spuckte die Krümel auf

den Boden. Er drehte das Ende der Zigarre im Mund und zündete sie an.

Er paffte schweigend. „Du weißt gar nicht, was du mir damit antust“, sagte er nach einer

Weile. „Nun tu mir aber auch mal einen Gefallen“, sagte Dee. „Lege mal

einen Moment die Kopfhörer weg und zocke einen aus mit mir!“ Tormayer sah ihn gequält an. „Simon, ich kann doch nicht! Wenn da der Alte dahinterkommt…“ „Wie denn? Stell dich doch nicht so an!“ Tormayer bekam einen pfiffigen Gesichtsausdruck. „Schön“, sagte er hinterlistig, „worum soll es denn gehen, mein

Guter?“ „Um zwei Zigarren!“ Tormayer streifte wortlos die Kopfhörer ab und warf sie achtlos auf

den Tisch. „Okay“, sagte er und krempelte sich die Ärmel hoch. Plötzlich

verzog sich sein Gesicht. „Es geht doch nicht“, sagte er. „Warum nicht?“ „Ich habe ja keine Zigarren!“ Dee unterdrückte einen Fluch und bemühte sich krampfhaft, ruhig zu

bleiben. Er wußte, daß das alles zu Tormayers Taktik gehörte, den Gegner schon vorher zu zermürben. Da half nur eines, er mußte auf seinen Ton eingehen, sonst ließ Tormayer endlose Tiraden los.

„Ich ziehe dir sowieso das Hemd aus“, sagte Dee leichthin, „du kennst mich nur noch nicht.“

Tormayer zog die Augenbrauen hoch. „Du weißt wohl nicht, wen du vor dir hast?“ fragte er. Dann dämpfte

er seine Stimme. „Ich sag’s auch nicht weiter, wie ich dich hier fertiggemacht habe!“

Dee ließ die Würfel über den Tisch rollen. „Chikago einfach oder scharf?“ fragte er.

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„Scharf!“ sagte Tormayer lauernd.

Dave Davies war nervös. Er sah alle paar Minuten auf die Uhr. Der verabredete Zeitpunkt rückte immer näher. Er zögerte noch etwas, und als es soweit war, gab er sich einen Ruck. Er stellte das Gerät auf Sendung um und sprach seine Botschaft, ohne eine Reaktion abzuwarten. Er wiederholte sie dreimal und schaltete das Gerät wieder auf Empfang.

Aber er bekam keine Antwort. Er wollte auch keine haben. Die Leute von Jackville wußten jetzt, was sie wissen mußten. Sie hatten Termine, Daten und die genaue Lage des Bunkers. Jetzt war es an ihnen, schnell und entschlossen zu handeln. Denn viel Zeit hatten sie nicht mehr.

Jetzt ging es um Tage.! Wenn nicht um Stunden. Simon Dee schwitzte. Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen. „Chikago!“ sagte Tormayer triumphierend. Dee machte eine resignierte Geste. „Kann man nichts machen“, sagte er. „Also von mir aus kannst du noch mal Revanche haben“, sagte

Tormayer mit gespielter Großzügigkeit, „ich glaube allerdings nicht…“

„Hm…“ Dee stützte sein Kinn in die Hände und überlegte. Eigentlich müßte die Aktion schon beendet sein. Aber er war nicht sicher. Besser, er machte noch ein Spiel.

„Gut dann“, sagte er schließlich, „ich versuch’s noch mal!“ Tormayer grinste zufrieden und warf die Würfel auf den Tisch. Zwei

Sechsen und eine Eins. Tormayer kratzte sich nachdenklich im Nacken. Dann drehte er die beiden Sechsen um und warf noch einmal. Zwei Einsen. Tormayer stieß erleichtert die Luft aus und sah Dee mitleidig an.

„Manchmal bekomme ich Angst vor mir selbst beim Spielen“, sagte er.

„Kein Wunder!“ Dee war jetzt sicher, daß Davies fertig war. Außerdem hatte er die Nase voll von der Spielerei. „Okay, ich gebe mich also geschlagen!“

In diesem Augenblick griff Tormayer nach den Kopfhörern. „Nanu? Da ist doch was?“ sagte er und streifte die Kopfhörer über.

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Simon Dee hielt den Atem an. Tormayer drückte auf eine Taste. „Dave?“ fragte er, „Dave, ist was?“ Er schloß die Augen und hörte zu. „Ach so, ja, Mensch, hatte ich ganz vergessen. Du hältst den Mund,

ja?“ Tormayer schaltete ab und behielt die Kopfhörer auf. Er sah Dee

schuldbewußt an. „Das wäre beinahe schiefgegangen! War Zeit für die

Routinemeldung, habe ich ganz verschwitzt bei der Zockerei. Besser, du haust jetzt wieder ab!“

Simon Dee ging zur Tür. „He!“ rief Tormayer. „Meine Zigarren!“ Dee grinste. „Muß ich erst besorgen“, sagte er. „Jetzt haben die Zigarrenfabriken

halbe Schicht eingelegt, weißt du? Wenn der Krieg vorbei ist, bringe ich sie dir!“

Damit war er verschwunden. Er ließ Tormayer mit offenem Mund zurück. General Hamilton ging vor der Landkarte auf und ab. Er hatte einen

Zeigestock in der Hand und fuchtelte damit herum. „Das ist der Plan“, sagte er. „Gentlemen, ich erwarte Ihre Einwände

und Vorschläge!“ Die zehn Männer schwiegen. Hamilton sah sie erstaunt an, „Was denn, keine Einwände? Keine Vorschläge?“ Schließlich gab sich einer der Männer einen Ruck. „Sir“, begann er zögernd, „wir stimmen Ihrem Plan natürlich zu.

Allerdings …“ Hamilton ließ den Zeigestock durch die Luft sausen. „Was, allerdings? Drücken Sie sich klarer aus!“ „Nun, ja“, der Mann fühlte sich offenbar nicht wohl in seiner Haut,

als er seinen Einwand formulierte, „ist es eigentlich notwendig, Sir, daß wir Stellen im eigenen Land, ich meine…“

Hamilton zog scharf die Luft durch die Zähne ein. „Meine Herren“, sagte er mit deutlich unterdrückter Wut in der Stimme, „meine Herren, offenbar sind Sie sich über die Situation immer noch nicht im klaren! Ich sehe mich daher gezwungen, sie Ihnen noch einmal mit aller

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Deutlichkeit ins Gedächtnis zu rufen. Also: erstens ist der Feind noch nicht geschlagen, wie aus den Funkkontakten hervorgeht. Zweitens haben wir im eigenen Land eine nicht kleine Truppe von Deserteuren, Pazifisten und Abtrünnigen, die unserer Armee Partisanenkämpfe liefern. An der Spitze steht dieser Zimmermann in Jackville! Während wir bemüht sind, den Krieg endgültig für uns zu entscheiden, sitzt uns diese Laus im eigenen Pelz und macht nichts als Schwierigkeiten. Die ganze Sippschaft in Jackville gehört dazu und leider auch viele ehemalige Offiziere. Deshalb schlage ich vor, zunächst den Gegner im Ausland mit Fernstreckenraketen zu belegen und uns dann den eigenen Querulanten zuzuwenden. Zum Glück haben wir den Funkverkehr unter Kontrolle und sind genauestens darüber orientiert, wo die Sowjets die neuen Stützpunkte haben. Man stelle sich vor: Sie haben friedlichen Funkverkehr mit dem Feind! Da sollen sich einem nicht die Haare sträuben! Habe ich mich jetzt deutlich genug ausgedrückt!“

„Durchaus, Sir! Man sollte vielleicht überlegen, ob man die Deserteure nicht durch ein Kommando gefangennehmen läßt und hier aburteilt. Auf diese Weise würde die Zivilbevölkerung, die unter der Knute dieser Leute steht, nicht unnötig dezimiert.“

Hamilton nahm seinen Rundgang wieder auf. „Schön“, sagte er nach einigem Überlegen, „das ist zwar eine

unorthodoxe Vorgehensweise, aber wir können sie uns leisten, weil wir alle Trümpfe in der Hand halten.

Dieser unorganisierte Haufen von politischen Spinnern kann uns jetzt nicht mehr gefährlich werden.“

Der Mann, der die Einwände vorgebracht hatte, atmete heimlich auf. Die Männer warteten auf ein Zeichen von Hamilton, das die

Unterredung beendete, aber Hamilton war noch nicht fertig. „Da ist noch etwas, was mir ernsthaft Kopfzerbrechen macht“, fuhr

der General fort. „Es betrifft die Sabotageversuche bei uns. Glücklicherweise ist nichts Entscheidendes zu Bruch gegangen, aber wir müssen stets auf einen neuen Anschlag gefaßt sein. Ich ordne daher an, daß ab sofort sämtliche Posten verdoppelt werden. Wir müssen verschärft auf der Hut sein! Beobachten Sie die Leute! Sie wissen, daß nicht alle bestes Material sind; möglicherweise hat sich jemand eingeschlichen, der schon den festen Vorsatz hatte, unser Werk zu sabotieren! Unterbinden Sie jeden neuen Sabotageversuch!“

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Er blieb stehen und sah jeden einzelnen scharf an. „Sie haften mir mit Ihrem Kopf dafür, ist das klar?“ Er drehte sich um und kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück. „Das wäre alles“, sagte er ohne besondere Betonung.

Sekunden später war er allein. Er stand auf und studierte die Landkarte. Dann, als habe er eine Idee,

schlug er sich mit der Faust auf eine Handfläche und verließ den Raum.

Die Soldaten saßen in der Kantine. Sie hatten eben eine langatmige Ansprache des Generals über sich ergehen lassen müssen.

„Der hat einen Redefluß, als ob er dafür bezahlt würde“, sagte Dee. „Na, was ist?“ fragte er Davies, „hat’s geklappt?“

Davies nickte. Wenn sie in Jackville nicht alle schlafen, wissen sie jetzt, was

gespielt wird!“ Dee atmete auf. Das war geschafft! Jetzt jedenfalls konnten sie nur

noch abwarten. „Und wie war’s bei dir?“ fragte Davies lächelnd. Dee verzog das Gesicht. „Er hat dauernd gewonnen!“, sagte er säuerlich. Davies lachte und stieß Brooks an. „Glaubst du, sie können den Termin einhalten?“ Davies zuckte die Schultern. „Das ist die große Unbekannte in unserer Rechnung“, sagte er.

„Wenn sie nur Lastwagen haben, wird’s äußerst knapp.“ „Du hast doch über Funk gehört, daß Engländer mit einem Flugzeug

zu ihnen gestoßen sind“, warf Gerald Brooks ein. „Das ist sicher hinüber“, meinte Davies. „Nach einer Notlandung

kriegen sie das Ding nicht wieder hoch.“ „Weiß man nicht“, sagte Dee. „Fest steht jedenfalls, daß wir getan

haben, was wir konnten. Jetzt sind sie dran!“ Davies nickte. Er wollte noch etwas sagen, schwieg aber, als er sah, daß jemand auf

ihren Tisch zukam. Es war Josh Tormayer. „Abend“, sagte Tormayer und zog sich einen Stuhl vom

Nachbartisch heran. Er setzte sich und betrachtete Simon Dee nachdenklich.

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„Sag mal“, sagte er nach einer Weile, „was meinst du denn damit, als du gesagt hast, ,wenn der Krieg vorbei ist’?“

Dee zog seine Pfeife aus der Tasche. „Irgendwann muß er ja mal vorbei sein, nicht?“ sagte er freundlich. Tormayers Nasenflügel zuckten begehrlich, als Dee dicke

Rauchwolken in die Gegend paffte. „Das kann aber noch lange dauern“, sagte Tormayer. „Was?“ „Bis der Krieg zu Ende ist, meine ich!“ Dee stopfte mit dem Daumen den Tabak fest. „Da bin ich nicht so sicher“, sagte er beiläufig und stand auf.

„Entschuldige, ich muß noch etwas erledigen!“ Und wieder ließ er Tormayer mit offenem Mund zurück.

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10.

Am westlichen Rand von Jackville entstand eine neue Wohnsiedlung. Zimmermann stand mit Buchanan und Ewert vor den nackten Mauern eines neuen Hauses. Sie begutachteten das Tempo, mit dem gebaut wurde.

„Paßt bloß auf, daß die Wände nicht schief werden“, sagte James Buchanan gutmütig.

Dick Evans, der Mörtel mischte, drohte ihm mit einer Schaufel. „Klug reden kann jeder“, sagte er und lachte. Zimmermann wandte sich an Ewert. „Kommen Sie“, sagte er, „wir haben noch etwas zu besprechen.

Geben Sie Townshend noch Bescheid, bitte.“ Sie gingen langsam zurück. Es war ein schöner Spätsommertag. „Diese Ruhe“, sagte Buchanan, „tut gut. So habe ich immer leben

wollen!“ Zimmermann kickte einen Stein aus dem Weg. „Hoffentlich täuscht uns die Ruhe nicht, James“, sagte er. „Wieso?“ „Hamilton!“ „Der kommt nicht mehr!“ Wer ist das?“ fragte Ewert, der sie wieder eingeholt hatte. „Hamilton war General der US Luftwaffe“, sagte Zimmermann.

„Wir haben ihn und andere Militärs vor gut einem Jahr aus einem Bunker im Norden geholt. Die meisten Offiziere sind bei uns geblieben und leben und arbeiten jetzt hier. Hamilton hat den Ort verlassen und Cornertown überfallen. Sie kennen ja den Ort. James meint nicht, daß Hamilton noch an Rache denkt und zurückkommt, ich glaube eher, daß Hamiltons Gedanken in ganz andere Richtungen gehen.“

„Und zwar?“ „Hamilton ist Soldat“, sagte Zimmermann. „Er ist nie etwas anderes

gewesen, er kann sich gar nichts anderes vorstellen. Wie, glauben Sie, reagiert ein solcher Mann, wenn er feststellt, daß sich im Feindgebiet noch Menschen befinden?“

„Glaubst du etwa, er könnte versuchen…?“ Ewert verstummte. Zimmermann nahm einen Tabaksbeutel und ein Stück Papier und

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drehte sich mit flinken Händen eine Zigarette. „Ich glaube gar nichts. Ich fürchte nur, daß der General so fanatisch

ist, daß er den vermeintlichen Gegner vernichtend schlagen will. Er will praktisch den Krieg zu einem erfolgreichen Ende bringen. Er will das geschlagene Land rächen. Er sieht sich als Nachfolger der Regierung an, denn er war im Dienst der Regierung. Spekulationen, gewiß. Aber ich bin nie so ganz dahintergekommen, was in seinem Kopf vorgeht. Hinzu kommt, daß er einen unbändigen Haß auf uns hier hat. Wir sind für ihn nichts als ein dreckiger Haufen von Zivilisten, die sich um die Pflicht fürs Vaterland drücken. Diese Einstellung hat er mir oft genug zu verstehen gegeben, als er noch hier war.“

„Und die Offiziere, die hiergeblieben sind?“ „Sind Deserteure für ihn, was sonst?“ Ewert schüttelte den Kopf. „Junge, Junge!“ sagte er schließlich. „Aber wie soll er denn die Machtmittel in die Hände bekommen, um

solche Pläne auszuführen?“ fragte Buchanan. „Wenn wir mal annehmen wollen, daß er diese Absichten hat.“

Zimmermann sah ihn von der Seite an. „Das ist es ja, was mir Sorgen macht, James. Er hat Kenntnis von

den Raketenbunkern. Und er hat die Autorität, sich dort durchzusetzen, wenn die Besatzung noch da ist.“

„Was können wir tun?“ fragte Ewert. „Nichts“, sagte Zimmermann. „Wir können gar nichts tun. Denn es

ist sinnlos, im Lande herumzufahren und ihn aufs Geratewohl zu suchen.“

„Das sind wenig erfreuliche Aussichten“, meinte Pete Townshend, der sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte.

„Bis jetzt sind wir ja auch nicht sicher, ob es sich wirklich so verhält“, sagte Buchanan. „Wir sollten nicht gleich den Teufel an die Wand malen.“

Zimmermann schwieg. Sie saßen im Büro des Bürgermeisters. Zimmermann schob einen Berg mit Papier beiseite und stützte sich

mit beiden Armen auf die Tischplatte. „Wenn wir einmal überblicken, was wir in den letzten Wochen

geschafft haben“, begann er, „dann können wir mit vollem Recht

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zufrieden sein. Und trotzdem wissen wir, daß die größten Anstrengungen noch vor uns liegen. Ich bin froh, daß unsere Zuwanderer“, er nickte Ewert und Townshend zu, „sich so großartig bei uns eingefügt haben. Es hat sich auch als richtig erwiesen, die Verteidigungsanlagen zu verbessern, und vor allen Dingen, die Männer besser auszubilden. Kompliment, Mr. Ewert; was ich gesehen habe, hat mich überzeugt. Auch die Hausbauten gehen gut voran. Unsere Funkkontakte mit der Sowjetunion bestehen weiterhin, und hier ist etwas Erfreuliches mitzuteilen: Es ist Alexej Popojew gelungen, eine provisorische Regierung zu bilden, die von einem Mann namens Leo Tolstoi geleitet wird.“ Zimmermann lächelte, als er den Namen nannte.

„Das ist ein berühmter Name aus der russischen Literatur, und wir wollen ihn als gutes Omen werten. Die russische Regierung ist dabei, die Überlebenden zu sammeln, damit eine große Siedlung entstehen kann. Später wird sie sich sicher wieder auflösen; die Leute werden das Land wieder neu in Besitz nehmen. Aber zunächst halte ich diese Maßnahme für durchaus richtig, und wir sollten versuchen, dasselbe zu tun. Ferner hat Alexej Popojew mitgeteilt, daß man von seiner Seite aus nun bereit ist, eine Expedition zu uns zu schicken, die er selbst leiten wird. Wie Sie wissen, habe ich diesem Plan von Anfang an sehr positiv gegenübergestanden und bin auch jetzt unbedingt dafür.“

„Das wußte ich ja noch gar nicht“, sagte Buchanan. „Das ist die letzte Meldung von heute morgen, die Jim empfangen

hat.“ „Sie zögern trotzdem, die Begegnung jetzt schon stattfinden zu

lassen?“ fragte Ewert. Zimmermann nickte. „Grundsätzlich sollten wir alles tun, damit sie zustande kommt! Im

Augenblick aber sind unsere gegenseitigen Voraussetzungen noch zu ungleich. Bedenken Sie: Die Russen kommen praktisch als Abgesandte einer neuen Regierung, für die sie sprechen können!“

„Sie meinen, wir sind nicht legitimiert, für alle Überlebenden dieses Landes zu sprechen?“

„So ist es.“ Buchanan war aufgestanden und ans Fenster getreten. „Ich bin nicht deiner Ansicht“, sagte er zu Zimmermann gewandt.

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„Ich sehe keinen Grund, weshalb wir nicht diese Position einnehmen sollten!“

„Und Hamilton?“ Buchanan machte eine wegwerfende Geste. „Ach was! Das ist kein Argument! Was hindert uns daran, ihn

einfach zu ignorieren?“ „Eine ganze Menge – könnte uns daran hindern! Wenn es ihn noch

gibt, und wenn er Machtmittel hat, sieht er sich mit Sicherheit als legitimen Nachfolger der Regierung an.“

„Willst du ihm etwa Zugeständnisse machen, nachdem er sich aufgeführt hat wie ein Bandit?“

Zimmermann schüttelte mit Nachdruck den Kopf. „Ich denke nicht daran! Es ist aber genauso sinnlos, seine Existenz

einfach zu ignorieren!“ Buchanan war sichtlich erregt; er setzte sich mit einem Ruck wieder

hin. „Aber wie willst du denn herauskommen aus diesem Teufelskreis?

Du kannst nicht einfach losgehen und ihn suchen!“ Es klopfte an der Tür, und Mary Buchanan steckte den Kopf herein. „Nachrichten aus der Funkbude!“ sagte sie und ließ Jim Grant

eintreten. „Was ist los?“ fragte Zimmermann alarmiert, als er Grant ansah. Jim Grant war leichenblaß. Zimmermann überflog den Zettel, den Grant ihm gegeben hatte. Mit einer heftigen Geste schleuderte er ihn auf den Tisch. „Das kommt ja wie bestellt“, sagte er. Buchanan nahm den Zettel und las ihn. Er reichte ihn wortlos weiter. Die Botschaft von Dave Davies war in Jackville angekommen. Wir müssen Popojew warnen“, sagte Buchanan nach einer Weile.

Seine Stimme klang hoffnungslos. Zimmermann schüttelte den Kopf. „Geht nicht“, sagte er. „Warum nicht?“ Dann weiß Hamilton sofort Bescheid und bombardiert uns. Der ist

zu allem fähig!“ Möglicherweise ist es doch besser, die Russen zu benachrichtigen,

sonst glauben sie noch, wir treiben doppeltes Spiel; wenn Hamilton tatsächlich Raketen losschickt, gehen die auf unser Konto.“

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„Das ist ganz richtig gedacht, Mr. Ewert. Wir wissen nur nicht, wie wir aus dieser Zwickmühle herauskommen sollen!“

„Wir dürfen es gar nicht dazu kommen lassen, daß Hamilton die Initiative übernimmt“, sagte Townshend.

„Und wie stellen Sie sich das vor?“ Townshend beugte sich vor. „In dem Funkspruch ist doch der Termin angegeben, wann dieser

Dee Wache hat, nicht wahr?“ „Der Termin ist äußerst knapp“, sagte Zimmermann. „Dann müssen wir uns eben beeilen!“ Buchanan zog hörbar die Luft ein. „Mag sein, daß ich zu alt werde“, sagte er, „aber die ganze

Geschichte kommt mir vor wie das letzte Himmelfahrtskommando. Eine gut ausgerüstete Stellung überwältigen? Wie stellt ihr euch denn das vor? Da sind dreihundert Mann!“

„Wir können doch nicht einfach den Kopf in den Sand stecken!“ Ewert sah Zimmermann beinahe beschwörend an.

„Wir haben keinen Trumpf in der Hand“, sagte Zimmermann leise. „Doch!“ sagte Ewert, und alle blickten zu ihm. „Lachen Sie nicht, lassen Sie mich ausreden“, bat Ewert. „Ich weiß,

es klingt verrückt, was ich Ihnen vorschlage. Es ist eine Idee, die so nahe liegt, daß wir nicht daraufgekommen sind. Die Filme, in denen ich die tollkühnen Agenten spielen mußte, hatten immer eines gemeinsam: Der Agent wurde in Ausnahmesituationen gebracht, und er mußte sein Köpfchen anstrengen, um da herauszukommen. Eine Situation ähnelte der, in der wir uns jetzt befinden! Der Agent mußte in einen feindlichen Ring gelangen, weil er ihn von außen nicht aufknacken konnte. Er mußte sich das Vertrauen der Gegner erschleichen, und dann konnte er seine Mitstreiter hineinlassen…“

Zimmermann machte ein skeptisches Gesicht. „Wie wollen Sie denn da hineinkommen?“ Ewert zuckte die Schultern. „Weiß ich noch nicht. Aber andererseits, warum nicht auf die

einfachste Weise?“ „Schön und gut“, meinte Buchanan, „aber Sie können doch schlecht

hingehen und sagen: Laßt mich hinein!“ Ewert lehnte sich zurück. „Warum nicht?“

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„Na, hören Sie, Sie brauchen eine gute Story, damit man Ihnen glaubt, daß Sie gerade dort und gerade jetzt auftauchen!“

„Richtig! Aber das ist das einzige Problem!“ „Ob Sie damit durchkommen…“ „Sie vergessen, daß ich Schauspieler bin!“ Zimmermann rieb sich nachdenklich das Kinn. „Es ist Wahnsinn“, sagte er nach einer Weile. „Aber ich habe keine

bessere Lösung anzubieten!“ Ewert sah sich herausfordernd um. „Was zögern wir noch?“ fragte er. „Lassen Sie uns geeignete Leute

zusammensuchen, und dann fahren wir los. Wir haben nicht viel Zeit zum Reden!“

Zimmermann stand auf. „Sie haben recht! Wir müssen handeln. Mr. Ewert, stellen Sie die

besten Männer zusammen! Nicht mehr als zehn! Es kommt nicht auf die Zahl an, da ist uns Hamilton sowieso überlegen. Wir müssen ihn überlisten. Mit Gewalt kommen wir nicht gegen ihn an.“

„Und wenn Hamilton inzwischen die Raketen losjagt?“ fragte Buchanan.

Zimmermann war schon an der Tür, als er sich noch einmal umdrehte.

„Dann können wir auch nichts mehr ändern“, sagte er. „Aber er wird es bitter bereuen, James, dafür garantiere ich!“

Janet Kirchherr hatte nicht viel gesagt, als er ihr die Unterhaltung nach dem Empfang des Funkspruchs aus dem Bunker geschildert hatte. Sie wollte auch, daß Hamilton ein für alle Mal ausgeschaltet wurde. Sie sah nur nicht ein, daß es immer Zimmermann sein mußte, der die Initiative ergriff.

„Kannst du nicht bleiben, Robert“, sagte sie, als sie in sein Zimmer kam.

Zimmermann sah hoch, zog den Reißverschluß seiner Tasche mit einem Ruck zu und setzte sich. Er winkte ihr, sich ebenfalls zu setzen.

„Janet“, sagte er. „Janet, es tut mir wirklich leid. Sicher, ich könnte sagen, Ewert und Townshend sollen das machen, sie sind beide fähig genug. Aber ich habe keine Ruhe, bis ich nicht selbst gesehen habe, daß Hamilton endgültig ausgeschaltet ist. Ich muß es tun. Dieses eine Mal noch!“

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Sie blickte an ihm vorbei aus dem Fenster. „Janet, versteh mich doch! Ich ... ich passe schon auf.“ Sie sah auf ihre Hände; als sie ihm antwortete, sah sie ihn nicht an. „Was soll ich deinem Kind sagen, wenn du nicht wiederkommst?“ Er machte eine überraschte Gebärde. „Janet! Ich wußte nicht…“ „Es klingt vielleicht ein bißchen merkwürdig, wenn ich es dir erst in

diesem Augenblick sage, aber ich will dich damit nicht erpressen, glaub mir das! Es ist nur … ich habe diesmal so ein merkwürdiges Gefühl.“

„Janet, das brauchst du nicht zu haben!“ „Ich weiß, daß es unlogisch klingt, so richtig weiblich.“ Sie

versuchte zu lächeln. „Aber, weißt du, das gibt es manchmal. Und ich habe das fatale Gefühl, daß ich recht behalten werde!“

Er saß ihr einen Augenblick stumm gegenüber. Dann sagte er: „Janet, komm her. Es hat keinen Sinn, wenn wir über etwas reden,

von dem wir beide nicht wissen, wie es ausgehen wird.“ Und sie stand auf und ging zu ihm.

Zimmermann kam zu Buchanans Haus, wo Kemp wohnte. „Hallo“, sagte Kemp, als Zimmermann eintrat. „Augenblick noch,

ich bin gleich soweit!“ „Pack wieder aus“, sagte Zimmermann. „Was soll denn das heißen?“ „Du bleibst hier!“ Kemp starrte ihn ungläubig an. „Hat Mary etwa…“, Zimmermann schüttelte den Kopf. „Ich habe kein Wort mit Mary geredet“, sagte er. „Aber wir haben bisher doch immer alles zusammen unternommen!

Denkst du, ich hätte keinen Schneid mehr oder was?“ „Dummkopf! Nichts von alledem. Ich brauche hier jemanden, auf

den ich mich verlassen kann. Bleib am Funkgerät! Wenn alles gutgeht, gebe ich dir eine Nachricht aus dem Bunker. Paß auf, daß es hier richtig weiterläuft.“

„Das ist doch nicht der wahre Grund“, sagte Kemp zweifelnd. „Das kannst du mir nicht weismachen.“

Zimmermann sah plötzlich müde aus.

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„Du hast recht“, sagte er. „Das ist nicht der einzige Grund. Du mußt meine Arbeit hier weiterführen, falls mir etwas passieren sollte.“

Zimmermann wandte sich zum Gehen. An der Tür zögerte er. „Ich bitte dich darum“, sagte er. Gibson Kemp schwieg.

Jack Ewert hatte seinen Vortrag beendet und sah die zehn ausgesuchten Männer aufmerksam an.

„Sie wissen jetzt genau, worum es geht“, sagte er abschließend. „Wenn noch irgend etwas unklar ist, fragen Sie mich bitte!“

Jagger, der ihm am nächsten saß, verschränkte die Arme über der Brust und fragte wie beiläufig.

„Was ist, wenn Ihr Plan scheitert? Wenn Sie uns nicht hineinlassen können?“

„Nichts“, sagte Ewert trocken. Zimmermann kam herein und setzte sich zu ihnen. „Es muß klappen“, sagte Ewert. „Wir haben nicht die Wahl

zwischen verschiedenen Möglichkeiten, richten Sie sich darauf ein!“ Jagger nickte. „Ich möchte eines noch einmal mit aller Deutlichkeit klarstellen“,

sagte Zimmermann. „Niemand von Ihnen ist gezwungen, mitzumachen. Es gibt auch keinen moralischen Zwang! Es sind genug Leute da, die sich freiwillig gemeldet haben! Denken Sie noch mal in aller Ruhe darüber nach!“

„Wann geht’s los?“ fragte Jagger. Zimmermann sah ihn an. „Es wäre mir lieber, wenn du hierbliebst“, sagte er. Jagger schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Gib dir keine Mühe.“ Zimmermann stand auf. „Morgen früh, sowie es hell wird, fahren wir los. Verladen Sie jetzt

schon, was Sie mit Mr. Ewert besprochen haben!“ „Endlich passiert mal was“, sagte Dick Evans und stieß Sleepy

Helling an. „Hoffentlich freust du dich in ein paar Tagen auch noch darüber“,

sagte Helling trocken.

Simon Dee lag auf seinem Bett und starrte in die Dunkelheit. Im Bett,

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das sich über seinem befand, hörte er eine Bewegung. Ein Kopf erschien über dem Bettrand. „Noch wach?“ flüsterte Davies. „Ja!“ Davies ließ sich lautlos hinuntergleiten. Er hockte sich neben Dees

Bett nieder. „Glaubst du, sie kommen noch?“ „Weiß nicht.“ „Sie müßten doch längst hier sein!“ „Sie haben kein Flugzeug.“ „Aber es ist bald zu spät!“ ; „Warte ab, es ist noch nicht sicher!“ „Soll ich noch mal einen Funkspruch loslassen?“ Simon Dee überlegte einen Augenblick. „Nein. Dann merkt Tormayer garantiert etwas.“ „Auf jeden Fall solltest du sehen, daß du die Wache bekommst zu

dem Termin, den wir verabredet haben.“ „Klar! Das habe ich schon eingefädelt!“ „Und wenn sie nicht kommen?“ „Dann müssen wir uns was anderes einfallen lassen.“ „Vielleicht haben die auch einen ganz anderen Plan. Die Frage ist

nur, wie erfahren wir davon?“ „Wenn sie einen haben, sind sie auch klug genug, uns irgendwie

davon zu unterrichten.“ „Hoffentlich!“ „Wir müssen erst mal abwarten, mehr können wir nicht tun.“ „Okay. Schlaf gut!“ Dave Davies stand auf und schwang sich in sein Bett hoch. Simon

Dee lag noch lange wach.

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11.

Der Mann taumelte durch eine Bodensenke; seine Kleidung war abgerissen und sein Gesicht vor Anstrengung gerötet und eingefallen. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, und er fuhr sich immer wieder mit der Hand über das Gesicht. Als er mit einem Fuß in den Bau eines Präriehundes trat, stürzte er. Er lag auf der Seite und atmete schwer.

Mit letzter Anstrengung kam er wieder auf die Beine. Die Luft war nicht mehr so heiß wie am Vormittag, aber die Hitze war einer unangenehmen, drückenden Schwüle gewichen, die das Atmen behinderte. Der Mann keuchte und hustete. Schließlich blieb er wieder stehen, um auszuspucken. Seine Bronchien pfiffen. Weiter, dachte er, ich muß weiter.

Und dann ging er weiter.

Josh Tormayer und Chuck Shiyuna mochten sich nicht besonders. Tormayer redete gern und viel, während Shiyuna mehr ein stiller, zurückhaltender Typ war. Eigentlich hieß er gar nicht Chuck, den Namen hatten ihm seine Kameraden gegeben; er hieß Shalima, aber Shiyuna war es ganz recht, daß er Chuck genannt wurde, das klang amerikanischer, und Shiyuna wurde nicht gern an seine japanische Abstammung erinnert. Er fühlte sich als Amerikaner.

„Ist ja mal wieder unheimlich viel los“, sagte Tormayer verdrossen. Shiyuna antwortete nicht. Tormayer seufzte und nahm den Karabiner von der Schulter. Er rieb

sich die schmerzhafte Stelle, wo sich der Lederriemen in die Schulter gedrückt hatte.

Shiyuna sah ihn von der Seite an. „Jaja“, knurrte Tormayer. „Ich will mich bloß einen Augenblick

ausruhen!“ Shiyuna schwieg. „Dir macht diese blödsinnige Wache wohl gar nichts aus, was?“ Shiyuna schüttelte den Kopf. „Deine Nerven möchte ich haben!“ Shiyuna sah ihn an. Auf seinem Gesicht erschien das festgefrorene

Grinsen. Tormayer verzog sein Gesicht zu einer Grimasse.

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„Sag mal“, fragte er, „kannst du denn bloß immer freundlich sein? Das ist ja zum Verrücktwerden!“

„Du mußt dich mal mit dem Go-Spiel befassen“, riet Chuck Shiyuna.

„Spiel?“ fragte Tormayer alarmiert. „Ja, Spiel. Go-Spiel.“ „Los, bring’s mir bei!“ Shiyuna schüttelte langsam den Kopf. „Das hat keinen Zweck, so schnell begreifst du das doch nicht.“ In seinem Gesicht erschien wieder das Grinsen. Tormayer stöhnte unterdrückt. „Erzähl gefälligst nicht erst davon, wenn du doch nicht weiter darauf

eingehen willst!“ „Es ist ein sehr altes japanisches Spiel“, sagte Chuck Shiyuna. „Die

Künstler und die Gelehrten haben es gespielt. Schon vor vielen hundert Jahren.“

„Zu alt“, sagte Tormayer mit Überzeugung, „das ist viel zu alt.“ Er ging ein paar Schritte auf und ab. „Wie lange müssen wir hier

noch herumstehen?“ „Wir werden in zwei Stunden abgelöst“, sagte Shiyuna.

Der Mann schleppte sich nur noch mühsam vorwärts. Seine Füße waren wund und schmerzten. Sein Atem ging stoßweise, und er spürte ein unangenehmes Stechen in der Brust. Immer öfter mußte er stehenbleiben, um zu husten und auszuspucken. Jeder Schritt war eine Qual.

Verdammt noch mal, dachte der Mann, wie weit ist denn dieses Ding noch entfernt? Ich muß doch bald da sein.

Er hob die Wasserflasche an die Lippen und trank mit langen, gierigen Zügen. Er wischte sich über das Gesicht und schraubte die Flasche wieder zu.

Er schüttelte sie hin und her. Auch nicht mehr viel drin, dachte er und spürte, wie die Verzweiflung Besitz von ihm ergriff. Ich darf nicht aufgeben, dachte er. Ich darf einfach nicht aufgeben, es hängt zuviel davon ab. Und dann hatte er einen entsetzlichen Gedanken.

Mein Gott, dachte der Mann. Was ist, wenn ich nun schon daran vorbeigelaufen bin?

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„Was glaubst du, wer neulich den Computer kaputtgehauen hat?“ fragte Tormayer.

Shiyuna sah ihn aus schrägen Augen an. „Vielleicht du. Vielleicht ich.“ „Was willst du damit sagen?“ „Gut, daß er kaputt ist.“ „Bist du wahnsinnig?“ „Wieso?“ „Mann, sprich leise, wenn dich hier einer hört…“ „Hier hört uns niemand.“ „Also, Ansichten hast du, ich muß schon sagen!“ „Du denkst doch dasselbe. Sagst es bloß nicht.“ Tormayer schwieg schockiert. „Wie kommst du denn darauf?“ „Das sehe ich dir an.“ „Bist du Gedankenleser oder so was?“ Shiyuna schüttelte lächelnd den Kopf. „Naja...“ Tormayer suchte offensichtlich nach Worten. „Aber

machen können wir doch nichts!“ „Warum nicht?“ „Wir müssen ja doch parieren.“ „Warum eigentlich?“ Tormayer brauchte eine ganze Weile, um diesen Gedanken zu

verkraften. „Das ist ja Meuterei!“ Shiyuna zeigte ein unbewegliches Gesicht. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Shiyuna drehte ihm den Rücken

zu. „Besser, wir vergessen das Gespräch“, sagte Tormayer. Aber er

vergaß es nicht.

Der wellige Boden ging in eine kleine Anhöhe über. Der Mann war am Ende seiner Kräfte. Ohne den Kopf zu heben, taumelte er weiter. Seine Knie waren weich, und seine Beine gehorchten ihm nur noch automatisch. Er konnte nicht mehr denken. Jeder Schritt war eine ungeheure Energieleistung.

Er sah die beiden Soldaten nicht, die urplötzlich vor ihm aus dem Boden aufwuchsen.

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Er hörte sie nicht, denn sie rührten sich nicht. Sie beobachteten ihn. Er hielt den Kopf gesenkt und taumelte weiter. „Halt! Stehenbleiben! Hände hoch!“ Die Karabiner waren entsichert und im Anschlag. Der Mann blickte auf. Er sah die Soldaten und brach zusammen.

Zimmermann war nervös. Jagger beobachtete ihn beunruhigt, wie er rastlos auf und ab ging.

„Mach dir doch keine unnützen Gedanken“, sagte er. „Das sagst du so leicht!“ „Wir können nichts tun. Wir müssen abwarten!“ Zimmermann setzte sich zu ihm auf den Boden. Er starrte in das

Feuer. „Es war leichtsinnig“, sagte er, „verdammt leichtsinnig.“ „Es ist nicht zu ändern. Die Sache läuft jetzt.“ Zimmermann nickte nachdenklich. „Will noch jemand was zu essen?“ fragte Dick Evans. Robert Zimmermann schüttelte den Kopf. Er hatte keinen Hunger. Der Mann erwachte. Er lag in einem großen Raum mit vielen Betten.

Als er die Augen aufschlug, zuckte der Mann zurück, der sich über ihn gebeugt hatte. Er trug eine Uniform.

Eine Generalsuniform. „Wo kommen Sie her?“ fragte der General. Der Mann auf dem Bett machte eine unbestimmte Handbewegung. Er deutete auf seine Kehle. „Geben Sie ihm Wasser“, sagte der General ungeduldig. Der Mann trank, bis der Blechbehälter leer war. „Nun?“ „Aus der Stadt“, sagte der Mann schwach. „Ich komme aus der

Stadt.“ „Aus welcher Stadt?“ „Tucson“, sagte der Mann. „Aus Tucson? Märchen!“ Der Mann schwieg. „Wie sind Sie hierhergekommen?“ „Wagen. Kaputtgegangen. Bin dann weitergelaufen.“ Der General kreuzte die Hände über der Brust.

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„Wie sieht es da aus?“ „Nichts mehr. Keine Menschen.“ „Wieso sind Sie am Leben geblieben?“ „Zufall. War außerhalb der Stadt. Kam dann zurück, sah es.“ Er

schluckte schwer. „Entsetzlich, es war entsetzlich. Überall lagen Leichen herum. Es stank furchtbar. Konnte es da nicht mehr aushalten. Bin einfach losgefahren.“

„Wo wollten Sie hin?“ „Irgendwohin. Bloß weg.“. Der General verzog verächtlich die Mundwinkel. „Haben Sie unterwegs jemanden getroffen?“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Sie haben niemanden gesehen? Überhaupt keine Überlebenden?“ Der Mann schüttelte mit Nachdruck den Kopf. „Wie heißen Sie überhaupt?“ „Modler. Ben E. Modler.“ „Haben Sie Papiere?“ „Verloren.“ „Sie können nicht mal beweisen, wie Sie heißen?“ Der Mann schüttelte schwach den Kopf. „Sir“ warf einer der Umstehenden ein, „Sir, das scheint mir nicht

verdächtig zu sein. Wahrscheinlich hat der Mann genug damit zu tun gehabt, sein nacktes Leben zu retten!“

Der General sah ihn nachdenklich an. „Vielleicht haben Sie recht“, sagte er nach einer Weile. „Trotzdem

ist es eine unglaubliche Schlamperei. Man muß doch Papiere bei sich haben!“

Der General sah nicht, wie der Mann, der den Einwurf gemacht hatte, gequält das Gesicht verzog.

„Sorgen Sie dafür, daß sich ein Krankenpfleger um ihn kümmert“, sagte der General. Und zu Modler gewandt fuhr er fort: „Sie haben Glück, daß ich im Augenblick Ihre Angaben nicht nachprüfen kann.“

Aber Modler hörte ihn schon nicht mehr. Er hatte die Augen geschlossen.

Der General wäre vermutlich nicht so beruhigt in sein Büro zurückgekehrt, wenn er gewußt hätte, daß ihn der Mann vorhin belogen hatte.

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Denn er hieß nicht Ben E. Modler. Und er kam auch nicht aus Tucson.

Er hieß Jack Ewert und kam aus Jackville. Und er war wirklich ein guter Schauspieler. Der Leutnant erschien in der Kantine und bestellte sich einen Kaffee.

Das Gespräch vorhin hatte ihn sehr angestrengt. Er war natürlich als Soldat zum Gehorsam verpflichtet, und er nahm seine Pflichten auch durchaus ernst. Aber manchmal verspürte er den merkwürdigen Wunsch, den General dahin zu treten, was man im allgemeinen als verlängertes Rückgrat bezeichnete. Und Leutnant Peter B. Schultz verspürte diesen Wunsch immer dann, wenn der General besonders penibel und bürokratisch wurde.

Schultz rauchte eine Zigarette und dachte über den Mann nach, den der General eben in die Zange genommen hatte. Er verspürte Hochachtung vor Modler, denn wer diese gewaltige Strecke zurückgelegt hatte, mußte über eine erhebliche Energie verfügen.

Trotzdem hatte Schultz das unbestimmte Gefühl, daß mit dem Mann irgend etwas nicht stimmte. Er dachte noch einen Augenblick darüber nach. Als er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, setzte er die Tasse fest zurück. Er drückte die Zigarette aus. Er hatte schon zu lange hier herumgesessen.

Und außerdem, sagte sich Leutnant Peter B. Schultz, hatte er sich als Soldat nicht mit Gefühlen abzugeben, sondern mit Tatsachen. Und Befehle waren Tatsachen. Unbestimmbare Gefühle waren etwas für alte Weiber.

Schultz stand auf und zog die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich. „Ich brauche einen Krankenpfleger“, sagte er. Dave Davies stieß Dee an. „Das ist bestimmt wegen des Mannes,

den sie vorhin aufgegriffen haben“, sagte er. Aber Simon Dee hörte ihn schon nicht mehr. Er war aufgestanden. „Ich, Sir!“ sagte Simon Dee. „Ich bin ausgebildeter

Krankenpfleger!“ „Okay, kommen Sie her“, sagte Schultz, „ich zeige Ihnen den

Mann.“ Simon Dee ging hinter ihm her. Er war der zweite innerhalb kurzer Zeit, der faustdick gelogen hatte. Simon Dee hatte keine Ahnung von Krankenpflege. Vor dem Bett blieb Schultz stehen und sah Modler an.

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„Dee wird sich um Sie kümmern“, sagte er. „Wenn Sie etwas brauchen, wenden Sie sich an ihn. Wenn Sie noch eine Aussage zu machen haben, lassen Sie mich rufen.“

Aber Modler schien ihn nicht zu hören. Er hatte die Augen geschlossen und atmete tief und regelmäßig.

Leutnant Schultz zuckte die Schultern und wandte sich an Dee. „Sagen Sie es ihm, wenn er wieder zu sich kommt. Und päppeln Sie

ihn mal ein bißchen auf, er ist ja ganz heruntergekommen, der arme Kerl!“

Dee nickte eifrig. „Sie können sich auf mich verlassen, Sir!“ sagte er stramm. „Ist schon gut, Sie sind hier nicht auf dem Kasernenhof.“ „Entschuldigen Sie, Sir, ich dachte nur…“ Machen Sie das, wenn der Alte kommt; für mich brauchen Sie keine

Männchen zu bauen.“ Es schien, als wolle er noch etwas sagen, aber dann drehte er sich wortlos um und verließ den Raum.

Simon Dee war mit Modler-Ewert allein. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Er war

ehrlich genug, zuzugeben, daß er durchaus nicht wußte, was er nun tun sollte.

„Haben Sie Hunger?“ fragte er. Der Mann bewegte sich unruhig und schlug die Augen auf - “Hallo“,

sagte er leise. „Hallo“, sagte Dee und grinste. „Haben Sie Hunger?“ „Ein bißchen schon.“ Dee wollte aufstehen, aber der Mann hielt ihn zurück. „Bleiben Sie noch, es ist nicht so eilig“, sagte er. Dee zog die Augenbrauen hoch. „Wie heißen Sie?“ fragte Dee. „Schließlich muß ich Sie ja anreden

können, nicht wahr?“ Der Mann nickte lächelnd. „Ben Modler“, sagte er. „Nennen Sie mich einfach Ben.“ „Simon Dee, Sie können Simon zu mir sagen.“ Modler lachte unterdrückt. „Hab’ ich mir schon gedacht“, sagte er. „Was?“ „Daß ich Sie auch beim Vornamen nennen darf.“ „Ach so?“

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„Haben Sie etwas anderes erwartet“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Könnte ja sein.“ Dee überlegte. Er war sich nicht sicher, ob er es wagen sollte, den

Mann direkt zu fragen. Aber schließlich entschloß er sich doch dazu. „Wo kommen Sie eigentlich her?“ „Aus Tucson“, sagte Modler. Und als er Dees enttäuschtes Gesicht

sah, fügte er hinzu: „Habe ich dem General gesagt.“ Simon Dee zeigte wieder Interesse. „Und wo kommen Sie wirklich her?“ Der Mann kniff die Augen zusammen. „Warum zweifeln Sie daran, daß ich aus Tucson komme?“ „Sie haben doch eben selbst...!“ „Schönen Gruß aus Jackville“, sagte Jack Ewert.

Dick Evans trat das Feuer aus. Zimmermann stand mit Knoop und Jagger neben dem Wagen und studierte die Landkarte.

„Hier ist er entlangmarschiert“, sagte er. „Das bedeutet, daß wir noch ungefähr zwanzig Kilometer fahren können.“

„Das ist aber ein ganz schönes Stück zu Fuß“, sagte Knoop. Jagger sah ihn von der Seite an. „Sind ja nicht alle so gehfaul wie du“, sagte er, aber sein Witz kam

nicht an. Knoop, der sonst gern mehr oder weniger faule Witze riß, die

meistens auf das Konto anderer gingen, tat so, als habe er die Anspielung überhört.

„Es mußte ja echt aussehen“, sagte Zimmermann. Knoop nickte. „Er ist jetzt also schon im Bunker?“ Zimmermann faltete die Landkarte zusammen. „Hoffen wir’s“, sagte er.

„Gott sei Dank“, sagte Simon Dee, „Sie haben unsere Nachricht also empfangen!“

Ewert nickte. „Hören Sie jetzt gut zu“, sagte er. „Von nun an muß alles klappen,

wir können uns nicht die kleinste Panne leisten. Nebenbei: Ich heiße natürlich anders, aber ich sage Ihnen den Namen nicht, damit Sie sich

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gar nicht erst versprechen können. Sie nennen mich weiter Ben, klar?“ Dee nickte. „Sie tun weiter so, als pflegten Sie mich.“ Er grinste Simon Dee an.

„Da Sie keine Ahnung haben, brauchen Sie auch weiter nichts zu tun, denn mir fehlt nichts. In drei Tagen erklären Sie mich für gesund. Daraufhin werde ich den General bitten, mich in die Truppe aufzunehmen. Ich werde mich als Scharfschütze ausgeben, so daß er mich auch zur Wache einteilen kann.“

Dee machte ein zweifelndes Gesicht. „Ich weiß nicht, ob er darauf eingeht. Wahrscheinlich mißtraut er

Ihnen.“ „Egal, wir müssen es versuchen. Wenn es nicht gelingt, schleiche ich

mich irgendwie zu Ihnen, wenn Sie Wache haben. Geht das?“ Dee überlegte einen Augenblick. „Schwierig“, sagte er. „Aber wir müssen uns einen Weg ausdenken.

Meine Wache zu dem verabredeten Zeitpunkt besteht jedenfalls noch.“

„Gut!“ Ewert nickte zufrieden. „Sie müssen eine Zeichnung machen, aus der hervorgeht, wo sich der General meistens aufhält! Wenn meine Leute im Bunker sind, wollen wir uns den General schnappen. Vielleicht können wir dadurch Blutvergießen verhindern. Was halten Sie davon?“

„Ich weiß nicht recht. Kein Mensch weiß hier so richtig, was der andere denkt. Jeder kapselt sich ab und tut so, als ginge ihn das Ganze gar nichts an. Ich bin aber sicher, daß vielen der General als Verrückter erscheint. Nur wagen sie eben nicht, sich offen gegen ihn aufzulehnen.“

„Wir werden sehen. Erst mal muß der Plan soweit klappen, dann sehen wir weiter. Wie heißen Ihre Freunde?“

Dee sagte es ihm. „Zuverlässig?“ „Absolut!“ „Informieren Sie sie. Aber Vorsicht! Wir dürfen uns keinen Fehler

erlauben.“ „Ist klar!“ „Holen Sie mir jetzt was zu essen! Wir müssen unsere Rolle

weiterspielen.“ Dee stand auf.

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„Brauchen Sie sonst noch was? Bluttransfusion, Zäpfchen, Pillen?“ Ewert grinste. „Einen Schlafanzug“, sagte er. „Und Zigaretten, wenn Sie welche

haben.“ Dee ging zur Tür. „Bringen Sie mir bloß kein Nachthemd“, rief Ewert. „Nachthemden

kann ich nämlich nicht leiden!“ „Ich glaube, wir haben nur Nachthemden“, erwiderte Simon Dee. Ewert stöhnte und sank auf sein Bett zurück.

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12.

Es war Nacht. Der Motor des Lastwagens dröhnte gleichmäßig durch die Dunkelheit. Jörg Knoop hielt das Steuer mit beiden Händen fest, denn die Straße war uneben und hatte viele Schlaglöcher, so daß er gegensteuern mußte. Zimmermann und Jagger saßen neben ihm.

„Müssen wir nicht bald halten?“ fragte Jagger. „Ein paar Kilometer noch.“ Zimmermann war während der letzten Stunden auffallend

schweigsam gewesen. Wenn er etwas sagte, war es einsilbig und beinahe unwillig. Mick Jagger wunderte sich darüber; er hatte Zimmermann bisher als beherrschten und in jeder Situation besonnenen und überlegenen Mann kennengelernt. Es schien, als stünde Zimmermann unter einer ungeheuren nervlichen Anspannung. Jagger ahnte nur den Grund. Zimmermann machte sich um Ewert Sorgen; er machte sich nicht gerade Vorwürfe, daß er ihn in dieses Himmelfahrtskommando hatte ziehen lassen, aber ganz wohl war ihm nicht dabei, und er würde immer schuldbewußt sein, wenn Ewert etwas passierte.

Zimmermann faltete die Landkarte auseinander. „Stell den Wagen hier ab“, sagte er. Knoop sah überrascht auf. „Wir wollten doch näher heranfahren“, meinte er. „Nein. Stell ihn hier ab. Es ist mir zu gefährlich; wir wollen nichts

riskieren!“ Knoop lenkte den Wagen in einen Seitenweg. Zimmermann sprang aus dem Wagen und öffnete den Verschlag. „Absteigen“, sagte er. „Jetzt gehen wir zu Fuß weiter.“ „Schon?“ „Ja, schon! Ihr wißt worum es geht. Seid um Himmels willen leise!

Auf keinen Fall schießen! Wenn etwas sein sollte: Ihr habt Messer! Der kleinste Fehler kann Ewert den Kopf kosten!“

Die Männer sprangen vom Wagen und reckten sich. Zimmermann winkte Evans heran.

„Wir beide übernehmen die Spitze. Mick, du machst mit Knoop das Schlußlicht!“

Jagger wollte protestieren, aber als er Zimmermanns

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Gesichtsausdruck sah, schwieg er. Und als Zimmermann und Evans sich in Bewegung setzten, dachte

Jagger: Ich glaube, am liebsten würde er den Bunker mit bloßen Händen aufbrechen.

„Ich höre, Sie fühlen sich wieder auf dem Damm?“

Ewert stand stramm und nickte. „Jawohl, Sir! Ich bin Ihnen sehr dankbar, Sir!“ Der General nickte wohlwollend. Die stramme Haltung gefiel ihm so

sehr, daß er sein ursprüngliches Mißtrauen gegen den neuen Mann, der auf so mysteriöse Weise in den Bunker gelangt war, zurückstellte.

„Leutnant Schultz wird Ihnen Ihren Platz zuweisen!“ Der General wandte sich zum Gehen. Offensichtlich war für ihn die Unterredung damit beendet.

„Sir? Wenn ich eine Bitte vortragen dürfte…“ Der General drehte sich um. „Und?“ „Sir, da Sie mich in so hervorragender Weise behandelt und

aufgenommen haben, möchte ich meinen Teil dazu beitragen, mich in Ihre Gemeinschaft einzufügen und sie zu schützen. Ich bin Scharfschütze, Sir. Ich bitte darum, mich der Bunkerwache zu überstellen!“

Bei dem Wort „Gemeinschaft“ hatte der General die Stirn gerunzelt. Offensichtlich war ihm das Wort zu zivilistisch. Aber Ewerts Haltung war so tadellos, daß er keinen Grund zur Rüge fand.

„Später, Mann, später“, sagte der General, „Schultz wird feststellen, wofür Sie am besten geeignet sind.“

Und damit war er endgültig verschwunden. Simon Dee war der Unterhaltung mit größter Aufmerksamkeit

gefolgt. Er wußte, daß der General krankhaft mißtrauisch war, besonders nach dem Sabotageversuch. Hinter allem, was er nicht auf Anhieb verstand, vermutete er eine Intrige, und Ewert, der sich Modler nannte, war für ihn noch nicht ganz durchschaubar.

„Besser so“, sagte Dee. „Wenn er Sie ohne weiteres zur Wache befohlen hätte, wäre ich, ehrlich gesagt, mißtrauisch geworden. Es entspräche nicht seinem Naturell, Ihnen sofort zu trauen.“

„Ich wollte nur mal einen Test machen“, sagte Ewert. „Ganz hübscher Psychopath, euer General, das muß ich schon

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sagen!“ Dee nickte. „Aber einer von der Sorte, dem Sie es nicht auf Anhieb ansehen.“ „Das haben diese Berufskrieger so an sich. Manchmal denke ich, für

ihn ist das alles nichts weiter als ein Sandkastenspiel mit etwas größerem Radius.“

„Er muß weg“, sagte Simon Dee hart. „Solange diese Typen noch frei herumlaufen, können wir nie in Frieden leben!“

Mittag.

Die drückende Hitze war einer milden Wärme gewichen, die viel eher der Witterung des Spätsommers entsprach. Sie lagerten in einer Bodensenke in der Nähe der Landstraße. Die Männer hatten sich hingeworfen, wo sie gerade standen; der Marsch hatte sie ziemlich angestrengt, denn sie mußten außer den Waffen, die schwer genug waren, auch noch die gesamte Ausrüstung mitschleppen.

„Können wir nicht wenigstens ein kleines Feuer machen, um die Konserven anzuwärmen?“

„Nein!“ „Aber das Zeug ist so kaum genießbar“, sagte Evans. „Trotzdem nicht“, antwortete Zimmermann. „Sie könnten den Rauch

sehen.“ „Wann geht’s richtig los?“ fragte Jagger. „Gegen Mitternacht. Wir bleiben hier, bis es dunkel wird. Dann

müssen wir zusehen, daß wir die letzte Strecke möglichst schnell hinter uns bringen.“

„Ich halte es bald nicht mehr aus“, sagte Gerald Brooks zu Davies. Davies spielte mit der Kaffeetasse.

„Hat gar keinen Zweck, sich jetzt aufzuregen“, sagte er. „Es bleibt bei deiner Wache heute nacht?“

Dee nickte. „Mit wem?“ „Kurztman.“ „Ausgerechnet!“ Dee machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist doch nun auch egal.“ „Und Sie?“ fragte Brooks und wandte sich an Ewert.

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„Ich weiß Bescheid.“ „Lassen Sie sich unterwegs nicht erwischen“, sagte Dee. „Darauf

kommt jetzt alles an!“ Ewert nickte gleichmütig. Aber so kühl, wie er tat, war er beileibe

nicht. Er wußte, daß Gelingen oder Mißlingen nun weitgehend von ihm abhing.

„Hoffentlich kommen Ihre Freunde rechtzeitig!“ „Sie kommen!“ Dee beugte sich vor. „Wir sollten jetzt nicht mehr so lange zusammensitzen! Hier kurz

noch mal der Schlachtplan: Um Mitternacht geht ihr beiden“, er nickte Brooks und Davies zu, „in die Nähe des Generals. Ihr beschäftigt die Wachen und schaltet sie aus. Notfalls…“ Er machte eine entsprechende Gebärde. „Auf jeden Fall müssen wir unbehelligt zum General können, wenn die Leute aus Jackville im Bunker sind, klar?“

Brooks schluckte. „Klar“, sagte er. „Und du?“ Dee wandte sich an Davies. „Ich bin nicht schwerhörig“, sagte Davies. Er stand auf. „Wenn’s

euch interessiert“, sagte er, „ich lege mich noch ein paar Stunden aufs Ohr. Würde ich euch auch raten!“

Einige Stunden später rückte Simon Dee seine Uniform zurecht und

steckte die Taschenlampe ein. Er überprüfte den Karabiner und hängte ihn sich über die Schulter.

„Verschlaf’s nicht!“ sagte er zu Davies, der im Bett über seinem lag. Davies grunzte. „Halt die Ohren steif!“ „Du auch!“ „Paß ein bißchen auf Gerald auf, er ist zu nervös!“ „Gemacht.“ Simon Dee verließ den Schlafraum. Zimmermann atmete auf. Es war eine dunkle Nacht. „Gutes Zeichen, was?“ Evans grinste Zimmermann breit an. Sie

hatten sich die Gesichter mit Erde beschmiert, um sich soweit wie möglich dem Dunkel anzugleichen.

Zimmermann nickte stumm. Er drehte sich um. „Keinen Ton mehr“, sagte er. „Ab jetzt redet niemand mehr,

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verstanden?“ Die Männer nickten. Zimmermann machte eine Armbewegung, und sie folgten ihm. Kurztman wartete schon im Gang. „Ausgeschlafen?“ fragte Dee. Harvey Kurztman brummte etwas Unverständliches. Er war als

Langschläfer bekannt, andererseits aber auch als absolut linientreu, was den General und seine Ziele betraf. Er stammte noch aus der alten Einheit des Generals.

„Na, dann wollen wir mal“, sagte Dee und ging weiter. Sie salutierten und lösten die Wachen ab. „Verdammt dunkel“, sagte Kurztman und starrte hinaus. „Typisch für die Jahreszeit“, antwortete Dee, um überhaupt etwas zu

sagen. „Wir sollten mal ein paar Leuchtkugeln abschießen!“ Dee zuckte

zusammen. Das mußte er auf jeden Fall verhindern.! „Bist du wahnsinnig?“ „Wieso?“ „Du willst wohl, daß dir der Alte auf den Kopf kommt!“ „Nee, das natürlich nicht!“ Kurztman überlegte eine Weile. „Dann

lassen wir’s eben. Los, wir müssen die erste Runde drehen!“ Dee steckte eine Hand in die Hosentasche und fühlte die

Taschenlampe. Bald, dachte er. Bald hat dieser Spuk hier ein Ende. Oder sollte in

letzter Sekunde noch etwas passieren, was alle seine Pläne über den Haufen warf.

Dee beschloß, daran nicht zu denken. Er mußte sich ganz auf seine Aufgabe konzentrieren.

Zimmermann ließ sich auf den Boden nieder und winkte den Männern, es ihm gleichzutun.

Sie waren nur noch wenige hundert Meter von dem Bunker entfernt. Sie krochen weiter. Zimmermann spürte, wie ihm der Schweiß über das Gesicht lief und

sich mit der aufgetragenen Erde zu einem klebrigen, schmierigen Brei vermischte. Er zwang sich, nicht das Gesicht abzuwischen, obwohl es unerträglich juckte.

Es robbte auf den Ellenbogen weiter. Die MPi wurde immer schwerer in seinen Händen.

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Und dann waren sie so nahe heran, daß sie es nicht mehr wagten, weiterzukriechen.

Sie warteten auf das Signal.

Ewert verließ den Schlafraum. Er schloß vorsichtig die Tür und blickte den hellerleuchteten Gang entlang. Es war niemand zu sehen. Ewert ging schnell weiter. Er hatte seine Schuhe ausgezogen und lief auf Strümpfen, um keinen Lärm zu machen.

Vor der letzten Kreuzung der Gänge, kurz vor dem Unterstand, hörte er Schritte. Er lief zurück. Die Schritte verloren sich in einem Seitengang.

Ewert atmete auf und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Als er sie betrachtete, war sie naß von Schweiß.

Er lief weiter. Jetzt achtete er nicht mehr darauf, ob ihm jemand begegnen könnte; er war dem Unterstand, wo die Wachen waren, so nahe, daß hier kaum noch jemand herumlief.

Er blickte um die Biegung. Vor ihm waren die Rücken zweier Männer. Er war am Ziel.

Dave Davies verließ sein Bett und ging zu. Gerald Brooks. Er stieß ihn vorsichtig an und brachte seinen Mund an Brooks’ Ohr.

„Fertig?“ flüsterte er. Brooks nickte stumm. Seine Kehle war wie ausgetrocknet. „Dann komm!“ Sie verließen den Schlafsaal.

Zimmermann wischte sich den Dreck aus den Augenwinkeln. Sein Gesicht brannte unerträglich.

Er spürte, wie ihm der Schweiß in Strömen den Körper herunterlief. Seine Hände zitterten. Was ist nur mit mir los, dachte er. Das war doch früher nicht so, ich

stecke doch nicht zum erstenmal in einer solchen Situation. Und dann dachte er: Wo bleibt das Signal, warum geben Sie nicht endlich das Signal?

Jack Ewert machte ein paar Schritte vorwärts und hustete. Die Posten fuhren herum.

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„Was, zum Teufel, wollen Sie denn hier?“, sagte Kurztman alarmiert und brachte seinen Karabiner in Anschlag. „Hände hoch und näher kommen“, befahl er.

Ewert hob die Hände und machte ein paar Schritte auf Kurztman zu. „Mach doch nicht so ein Theater“, sagte er, „ich wollte doch nur

mal…“ In diesem Augenblick schlug Dee zu.

„Was hast du denn, du zitterst ja“, sagte Davies ärgerlich. Brooks betrachtete ratlos seine Hände. „Ich weiß auch nicht“, sagte er hilflos, „ich kann nichts dagegen

machen!“ „Denke einfach nicht daran“, sagte Davies. „Du weißt, was du zu tun

hast?“ Brooks nickte. „Fang bloß nicht noch an, mit den Zähnen zu klappern“, sagte

Davies, dann hören sie uns gleich!“ Als er Brooks Gesicht sah, tat ihm die Bemerkung wieder leid. „Nimm’s nicht so tragisch. Gerald. Bald haben wir es geschafft!“ Gerald Brooks nickte. Aber es sah nicht sehr überzeugend aus.

Ewert machte einen Satz vorwärts und fing Kurztman auf. „Los, geben Sie das Zeichen!“ stieß Ewert hervor. „Ich kümmere

mich schon um ihn.“ Dee zog die Taschenlampe hervor und ließ sie ein paarmal

aufblitzen. „Gut, das reicht, das müssen Sie gesehen haben!“ Ewert betrachtete Kurztman, der vor ihm auf dem Boden lag. „Wollen wir ihn nicht fesseln?“ fragte Dee. „Nicht mehr nötig“, erklärte Ewert. „Der sagt nichts mehr.“ Dee trat näher. Ewert zog Kurztman beiseite. „Sehen Sie lieber nicht so genau hin“, sagte er. „Sie haben ihm den

Schädel eingeschlagen.“ „Mein Gott, das ... das wollte ich nicht!“ „Der hätte mit Ihnen noch etwas ganz anderes getan, wenn er geahnt

hätte, was wir vorhaben.“

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Vor ihnen, in der Dunkelheit, tauchten Gestalten auf, die rasch näher kamen.

Davies konnte Brooks nicht mehr zurückhalten; die Posten, die vor dem Raum des Generals standen, hatten ihn schon gesehen.

„He, was wollt ihr denn hier?“ fragte einer der Posten. „Wir konnten noch nicht schlafen, da sind wir noch ein bißchen

rumgelaufen“, sagte Brooks. Davies war starr vor Schreck. Das paßte nicht in seinen Plan. „Schläft denn der Alte schon?“ fragte er möglichst harmlos. „Was geht das euch an?“ „Verschwinde endlich“, sagte der andere Posten, „sonst muß ich

euch melden!“ Davies nahm diese Eselsbrücke dankbar an. Er mußte so schnell wie

möglich zurück und die anderen warnen. Da machte Brooks seinen entscheidenden Fehler. Er riß seinen Revolver aus der Tasche und richtete ihn auf die beiden

Posten. „Hände hoch, Gewehre fallen lassen!“ sagte er. Aber er war ihnen nicht gewachsen. Der Posten, der ihm am

nächsten stand, trat ihm den Revolver aus der Hand. Und während Davies noch verzweifelt nach einem Ausweg suchte,

war aus dem Gang eiliges Schrittegetrappel zu hören. Ewert und Zimmermann führten die Kolonne an. Sie bogen beide gleichzeitig um die Ecke und sahen die Posten.

Brooks lag am Boden, Davies hatte die Hände erhoben. „Vorsicht!“ schrie Ewert und stieß Zimmermann beiseite. Aber es war schon zu spät. Zimmermann spürte einen heftigen Schlag in der Brust. Er wurde

mitten im Lauf abgefangen. Er hatte das Gefühl, als wäre er gegen eine Mauer gelaufen.

Er sank langsam zusammen. Jagger war mit einem Satz bei ihm. Während die anderen, Ewert voran, die Posten überwältigten, beugte er sich über ihn und drehte ihn auf den Rücken.

Er war noch bei Bewußtsein. „Hamilton“, flüsterte Zimmermann, und Jagger sah, daß ihm das

Sprechen Schwierigkeiten bereitete, „ihr müßt Hamilton haben!“ Er machte eine unwillige Geste, als Jagger niederkniete und seinen Kopf

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auf die Jacke bettete, die er schnell ausgezogen hatte. „Laß mich“, flüsterte er. „Ihr müßt Hamilton haben!“ Jagger richtete sich langsam auf. Er spürte, wie seine Augen brannten. Es war nicht nur der Schweiß,

der ihm über das Gesicht lief. Jagger ging schnell zu Ewert. „Es hat ihn erwischt“, sagte er. Ewert erschrak. „Wir müssen ihm helfen“, sagte er. „Mein Gott, wir können ihn doch

nicht da liegen lassen!“ Jagger hielt ihn fest, als er zurücklaufen wollte. „Erst den Kopf der

Schlange“, sagte er hart. Und dann trat er die Tür zu Hamiltons Zimmer ein.

General Hamilton erschrak, als das Telefon schrillte. Er lag auf seinem Bett, hatte aber noch nicht geschlafen. Er hatte in

letzter Zeit überhaupt Schwierigkeiten mit dem Einschlafen. So genau wußte er nicht, was das war, und auf die Idee, es könne sein schlechtes Gewissen sein, kam er nicht.

Er konnte auch nicht daraufkommen, denn seiner Meinung nach handelte er richtig. Er hätte gar nicht anders handeln können.

Er sprang aus dem Bett, rannte zum Schreibtisch und nahm den Hörer ab.

„Ja, was ist?“ „Fremde, Sir … sie dringen in den Bunker ein …“ Hamilton erstarrte. Fremde im Bunker – das war eine

Unmöglichkeit! Das gab es nur, wenn jemand sie hereingelassen hatte. Verräter!

„Alarm“, brüllte er in den Apparat, aber er bekam keine Antwort mehr.

Die Verbindung war unterbrochen. Hamilton warf den Hörer auf die Gabel zurück und fühlte sich für

eine Sekunde von seinen Leuten verlassen. Mit einem Satz war er bei der Tür, aber dann zögerte er, sie zu öffnen. Draußen auf dem Gang waren Geräusche, die nicht allein von den Wachtposten stammen konnten. Dann ertönten Schüsse.

Er überzeugte sich, daß die Tür verschlossen war, lief zum Tisch zurück und zog die Schublade auf. Mit einem Griff holte er die Luger daraus hervor und überzeugte sich, daß sie geladen war.

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Die Tür war eine einfache Holztür. Mit einem schweren Gegenstand konnte man sie mühelos zertrümmern. Es kam Hamilton zu Bewußtsein, daß er hier in seinem Zimmer nicht sicher war, wenn wirklich ein Angriff stattfand.

Die Leitstelle der Raketenabschußbasis! Hamilton wußte, wie man die stets startbereiten Feststoffraketen auf

ihre Bahn brachte. Und die Ferngeschosse hatten einen atomaren Sprengkopf.

Die Frage war nur: Wohin sollten sie gelenkt werden? Als von draußen die ersten Schläge gegen die Tür hämmerten, hatte

er sich entschlossen. Es gab Verräter unter seinen Leuten, das war ihm klar. Er sah nicht ein, daß er für sie sein Leben aufs Spiel setzten sollte. Sein eigenes Leben war ihm mehr wert.

Durch eine zweite Tür gelangte er in den geheimen Kommandogang und in den Lift zur Leitzentrale. Hier gab es keine verschlossenen Türen mehr, denn normalerweise kam hier kein Mensch her, der nicht dazu befugt war. Aber im Augenblick herrschten keine normalen Bedingungen.

Hamilton wußte, daß man ihn verfolgen konnte. Die Leitzentrale war unbesetzt. Hamiltons Schritte hallten dumpf

durch den Korridor und die weiten Hallen. Aufrecht standen die Raketen in ihren Startgerüsten, die durch einen Knopfdruck an die Oberfläche gebracht werden konnten. Es waren insgesamt zwölf solcher Raketen.

Hamilton blieb atemlos vor dem Leitstand stehen. Seine Hand umklammerte den Griff der Pistole, die er durchgeladen und gesichert hatte. Ein wenig ratlos betrachtete er die Kontrollen. Aber nicht deshalb, weil er nicht mit ihnen umgehen konnte, sondern nur deshalb, weil er sich nicht für ein Ziel entscheiden konnte. Die Angreifer konnten von überall her kommen. Und keine der zwölf Raketen konnte ein Ziel innerhalb der Vereinigten Staaten ansteuern.

Die Angreifer kamen bestimmt aus dem eigenen Land … In dieser Sekunde wußte Hamilton, woher sie kamen.

Er hörte Schritte. Sie waren also in sein Zimmer eingedrungen und hatten den Gang gefunden. Mit hastigen Handbewegungen drückte er einige Knöpfe ein. Die Raketen würden starten und ihre Ziele ansteuern, wo immer diese auch lagen. Er hatte nun nichts anderes mehr zu tun, als die zwölf Starthebel vorzuziehen.

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Und daran konnte ihn niemand mehr hindern. Er legte die linke Hand auf den ersten Hebel und wartete. Als Jagger die Tür eingetreten hatte, duckte er sich unwillkürlich,

aber es geschah nichts. Das Zimmer war leer. Hamilton mußte Lunte gerochen haben.

„Verdammt!“ knurrte Ewert. „Der Kerl ist weg!“ Jagger entgegnete, ohne sich umzudrehen: „Da drüben ist eine Tür.

Sie ist offen. Seid vorsichtig.“ „Das muß der Weg zum Raketenstand sein“, sagte Gerald Brooks

erschrocken. Er war zu sich gekommen, aber noch etwas benommen. „Wenn der Verrückte auf die Idee kommt…“

Er brauchte nicht weiter zu reden. Jeder wußte, was er sagen wollte. „Los!“ befahl Jagger.

Sie waren nur vier Mann, denn die anderen blieben oben im Bunker zurück, um die Situation unter Kontrolle zu halten. Jagger war davon überzeugt, allein mit dem General fertig zu werden.

Ewert war bei ihm; er verstand sich gut mit ihm. Und die beiden Männer aus dem Bunker, Gerald Brooks und Dave Davies, waren in Ordnung; auf sie konnte er sich verlassen. Aber trotzdem fehlte ihm Zimmermann. Denn wenn Drohung und Gewalt nicht halfen, hätte Zimmermann vielleicht durch seine Überzeugungskraft helfen können.

Jagger hatte keine Skrupel. Nicht dann, wenn es darum ging, Gewalt mit Gewalt zu begegnen.

„Gleich sind wir da“, sagte Dave Davies und ging langsamer. Der Boden und die Wände bestanden aus glattem, kaltem Metall,

ebenso die Decke. Das Licht kam in Abständen aus eingelassenen Lampen. Hier brannte es noch, denn der Bunker wurde durch einen Atomreaktor mit Energie versorgt. Wenn es sein mußte, für viele Jahre.

Und dann endete der Gang abrupt in der Kontrollhalle. Jagger blieb mit einem Ruck stehen, als er in die Mündung von

Hamiltons Pistole blickte. Seine Hände hingen lose herab, und in der Rechten hielt er die Maschinenpistole. Davies stand neben ihm. Er rührte sich nicht, als er sah, wie Hamiltons Finger den Hebel umklammerten.

„Dachte ich es mir doch“, sagte der General spöttisch. „Die Friedensfanatiker vom Land. Wie haben Sie mich gefunden?“

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Brooks und Ewert tauchten ebenfalls auf. Hamilton sah ihnen entgegen. Sein Gesicht drückte fast unmenschliche Beherrschung aus.

„Nun kenne ich endlich die Verräter“, bemerkte er verächtlich. „Ich weiß jetzt, wie der Überfall gelingen konnte. Aber noch haben Sie mich nicht, meine Herren.“

Jagger trat einen Schritt vor. „Es wird Ihnen nichts nützen, Hamilton. Wir erschießen Sie, ehe Sie

eine der Raketen abfeuern können. Ergeben Sie sich. Ich verspreche Ihnen ein ordentliches Gericht.“

Hamilton lachte kurz auf. „Ein ordentliches Gericht...? Was verstehen Sie darunter?

Hergelaufene Zivilisten und Besserwisser, die von Frieden faseln, ohne den Krieg und seine Ursachen zu kennen. Glauben Sie denn, daß man mich laufen läßt, Mr. Jagger? So war doch Ihr Name, wenn ich mich recht entsinne. Wo steckt denn Zimmermann?“

„Sie werden ihn noch rechtzeitig sehen, Hamilton. Werfen Sie die Pistole weg!“

Abermals lachte Hamilton. Seine linke Hand legte sich fester auf den Hebel. Die Rechte zitterte nicht, während sie die Luger hielt.

„Wenn Sie schießen, ziehe ich den Starthebel vor. Vielleicht gelingt es mir noch, die zweite und dritte Rakete zu starten, ehe Sie mich umbringen. Es spielt keine Rolle, wo die Geschosse aufschlagen und detonieren. Die Verseuchung ist perfekt, dafür haben unsere Fachleuchte gesorgt. Und drüben wird man wissen, daß sich die Antwort noch lohnt. Rechnen Sie sich aus, was passiert. Wenn ich aber alle zwölf Raketen starte, bleibt die todbringende Antwort vielleicht aus. Überlegen Sie es sich.“

„Es gibt nichts zu überlegen“, sagte Mick Jagger und rechnete nach, wie schnell man die Hand heben, zielen und schießen konnte. Das Ergebnis war unbefriedigend. „Werden Sie endlich vernünftig. Der Krieg ist aus. Wir alle haben ihn verloren, und das können auch Sie nicht ändern.“

Hamilton rührte sich nicht. „Ich habe einen Beruf, Jagger. Ich bin Soldat. Und es gehört zu

meinen Pflichten, einen Krieg zu gewinnen, nicht, ihn zu verlieren. Sie können mir glauben, daß ich ihn gewinnen werde – wenn Sie mich nicht daran zu hindern versuchen. Dann allerdings wird ihn der Feind gewinnen.“

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„Es gibt keinen Feind mehr.“ Hamiltons Gesicht überzog sich mit einem höhnischen Grinsen. „Es gibt ihn, Jagger. Er wartet nur darauf, uns seine Bomben auf den

Hals zu schicken. Er wartet schon seit Jahren darauf.“ Jagger verbarg seine Ungeduld. „Phrasen, Hamilton, nichts als Phrasen. Warum sollte der Gegner

schon seit Jahren warten und immer gezögert haben? Warum sollte er die besten Chancen zum Angriff versäumt haben, wenn er den Krieg wollte? Er war genauso stark wie wir, trotzdem griff er niemals an. Und der Krieg selbst war ein Zufall, mehr nicht.“

Ewerts Hand bewegte sich unmerklich, aber Hamilton hatte es gesehen.

„Bleiben Sie ruhig, Lockvogel. Sie haben mich in der Tat getäuscht, sehr geschickt dazu. Wohnen Sie in Jackville – oder wie das Nest hieß?“

„Ich komme aus England. Niemand dort denkt an eine Fortsetzung des Krieges. Geben Sie auf, General. Die wenigen Überlebenden sollten an die Erhaltung der menschlichen Rasse denken.“

Hamilton lachte. „Ich denke daran wie Sie, mein Herr. Aber anders. Wenn schon eine

überlebende menschliche Rasse, dann eine starke selbstbewußte. Keine Schwächlinge und Friedensengel. Keine Leute wie Sie. Es war meine Absicht, diese Raketen auf lohnende Ziele zu lenken, die den Gegner für alle Zeiten außer Gefecht setzen. Durch Ihr Dazwischentreten zwingen Sie mich, die Bomben irgendwo detonieren zu lassen, wo vielleicht gar kein Ziel ist. Sie setzen sich der Gefahr aus, selbst vernichtet zu werden. Und so wollen Sie den Frieden sichern?“ Seine Stimme verriet Hohn. „Sie haben Verbindung mit dem Feind, Jagger. Verraten Sie mir seinen Standort. Ich verspreche Ihnen den wirklichen und dauerhaften Frieden.“

Jagger trat ein wenig zur Seite. Sein Körper verdeckte nun die Maschinenpistole Ewerts.

„Wir haben nicht mehr viel Zeit, Hamilton“, sagte er langsam. „Unsere Leute nehmen inzwischen Ihren Bunker ein. Wenn sie hierherkommen, werden sie kurzen Prozeß machen. Auch dann, wenn Sie Ihre Raketen in den Himmel jagen. Erst recht dann, Hamilton.“

Ewerts Arm mit der Maschinenpistole kam unmerklich einige Zentimeter höher.

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„Seien Sie vernünftig, General.“ Brooks’ Stimme klang noch schwach und unsicher. Offensichtlich hatte er Schmerzen. „Ihr ganzer Plan war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, aber wer hätte mit Ihnen reden können? Sie hörten nur auf jene, die Ihnen zustimmten. Sie waren…“

„Halten Sie den Mund!“ unterbrach ihn Hamilton scharf. „Ich werde Sie aburteilen lassen, wenn wir das hier hinter uns haben. Und was Sie angeht, Jagger, so lassen Sie sich gesagt sein, daß Ihre Parolen nichts als Parolen sind. Wir wären ohne das sogenannte Wettrüsten schon vor zehn Jahren tot gewesen - und zwar ohne Überlebende. Die Russen…“

„Jetzt lassen Sie mich auch mal etwas sagen, Hamilton.“ Jagger sah, daß Ewert die Maschinenpistole hinter seinem Rücken bereits in Schußstellung hatte. „Sie verallgemeinern. Selbst wenn Ihre wahnsinnigen Theorien stimmten, so stimmen sie heute nicht mehr. Auf der gegnerischen Seite sind die Verantwortlichen ausgelöscht. Die Überlebenden sind Menschen wir wir – Menschen, die den Frieden wollen. Menschen, die an echter Zusammenarbeit interessiert sind. Wenn Sie ihnen die Raketen auf den Hals schicken, werden sie sich nicht dagegen wehren können, weil sie ihre Abschußbasen vernichtet haben - als Beweis ihres guten Willens.“

„Und das glauben Sie?“ »Ja, ich glaube das. Es gab schon immer, auch vor dem Krieg, auf

beiden Seiten Strömungen, die für das friedliche Nebeneinander eintraten. Sie glaubten an das Gute im Menschen – hüben und drüben. Aber sie waren – nicht zahlenmäßig, wohlverstanden – in der schlechteren Position. Die Macht lag in der Hand weniger. Und sie mißbrauchten sie.“

„Und wissen Sie auch, warum?“ fragte Hamilton. „Weil Ihre sogenannte Friedensgarde von arbeitsscheuen Elementen durchsetzt wurde, die Ideale vortäuschten und durch Verkommenheit das Wohlwollen der anderen Seite zu erringen suchten. Dadurch wurden ernstzunehmende Kreise daran gehindert, Ihre Aktion zu unterstützen. Ihre eigene Schuld, Jagger.“

„Es wird immer Ausnahmen geben. Hamilton. Es wird unsere Aufgabe sein, sie rechtzeitig zu entlarven und unschädlich zu machen. Und nun geben Sie endlich auf. Sie wissen so gut wie wir, wie sinnlos eine Weiterführung des Krieges ist. Wir haben ihn verloren - alle

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haben ihn verloren. Aber wir werden ihn gewinnen, den Frieden nämlich, wenn wir das Wort ,Krieg’ aus unserem Wortschatz streichen. Die andere Seite hat es bereits getan.“

„Sie sind verrückt!“ Hamilton drehte sich langsam so, daß er Jagger und den anderen die Seite zuwandte. Dann ließ er plötzlich seine Pistole fallen, um auch mit der rechten Hand einen Starthebel fassen zu können. „Eine Vorsichtsmaßnahme, Jagger. Nun sind es mindestens drei Raketen, die ich auf den Weg schicken kann. Sie erreichen in zwanzig Minuten ihr Ziel. Und in einer knappen Stunde ist die Antwort hier.“

Jagger wußte, daß das niemals geschehen durfte. Ein einziger Mann war dabei, das endgültige Ende der Welt herbeizuführen. Was Tod und Verderben geschafft hatten, nämlich Vertrauen der Überlebenden und Zusammenschluß der restlichen Menschheit in allen Erdteilen, durfte nicht durch den Wahnsinn eines Fanatikers zunichte gemacht werden. Hamilton mußte sterben.

Aber wie? Selbst wenn er sofort tot war, würde er im Sturz noch die beiden

Hebel vorreißen können. Jagger schätzte die Richtung ab. Ewert hinter ihm stand so, daß seine Geschosse den General schräg von hinten erreichten. Vielleicht würde die Wucht des Aufschlags den Körper nach vorn stoßen, gegen die Hebel. Das war die einzige Chance, die es gab.

Aber es gab keine Möglichkeit, das Ewert zu sagen, ohne daß der General Verdacht schöpfte und handelte.

„Sie sind unbelehrbar“, sagte Jagger schließlich leise. „Namen wie der Ihre stehen in den Geschichtsbüchern aller Völker, und zu manchen Zeiten hatten sie einen guten Klang. Künftig aber werden diese Namen in den Schulen nicht mehr genannt werden, und wenn, dann nur mit Abscheu und Verachtung. Das Spiel mit der Macht ist aus, Hamilton. Sie haben verloren.“

Jagger trat blitzschnell einen Schritt zur Seite, und die ersten Schüsse aus der Maschinenpistole Ewerts streiften ihn fast.

Ewert war ein guter Schütze. Er hatte sich die Chance genau ausgerechnet, noch während Jagger mit Hamilton sprach. Die Maschinenpistole gegen die Hüfte gepreßt, wie er es in seinen Filmen oft genug getan hatte, leerte er das ganze Magazin. Er zielte auf Hamiltons Hände und die beiden Hebel.

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Die Kugeln zerfetzten Hände und Hebel, ehe der General eine Bewegung machen konnte.

Die letzten drei Schüsse Ewerts durchbohrten sein Herz. Ohne Hamiltons Leiche zu beachten, ging Jagger zu der Schalttafel.

Er betrachtete die Hebel und das, was von ihnen übriggeblieben war. „Glück gehabt“, sagte er. Mehr nicht. Ewert schob ein neues Magazin ein. „Das wäre erledigt. Kümmern wir uns um den Rest. „Zimmermann!“ rief Jagger und rannte aus der Schaltzentrale. Mit

schußbereiten Waffen folgten ihm die anderen. Zimmermann lag auf dem Rücken. Er war nicht bei Bewußtsein,

aber er atmete schwach und unregelmäßig. „Puls?“ Jagger sah auf. „Nur schwach“, sagte er zu Evans. Er konnte kaum sprechen. „Wir müssen Dr. Robert holen“, sagte Ewert, „er ist der einzige, der

ihm helfen kann, wenn …“ „Wir können ihn mit dem Hubschrauber holen“, sagte Davies. „Ich komme mit“, erklärte Evans, „ich zeige Ihnen den Weg!“ Sie verließen schnell den Raum. „Steckschuß, soweit ich das feststellen konnte“, sagte Ewert. Jagger blickte ihn hoffnungslos an. „Glauben Sie …“ Ewert wandte sein Gesicht ab. Er konnte Jagger nicht ansehen, als er

antwortete. „Ich weiß es nicht. Wir müssen einfach hoffen. Es bleibt uns nichts

anders übrig.“ „Jetzt… jetzt müssen Sie mit den Soldaten reden“, sagte Jagger. Ewert zögerte. „Gehen Sie“, sagte Jagger. „Gehen Sie und sagen Sie ihnen, warum

wir gekommen sind und warum wir nicht anders handeln konnten. Und sagen Sie ihnen, was er ihnen sagen wollte.“

Ewert blickte einen Augenblick auf Zimmermann. Er wollte noch etwas sagen, aber dann biß er sich auf die Lippen, als er sah, daß ihm Jagger den Rücken zugekehrt hatte. Seine Schultern zuckten. Ewert, wandte sich abrupt ab und verließ den Raum.

Er mußte viele Fragen beantworten, und die Soldaten machten es

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ihm nicht leicht. Zu lange hatte ihnen der General seine Vorstellungen eingehämmert. So schnell kann niemand umdenken. Aber selbst die eifrigsten Verfechter der alten Kriegstheorie fügten sich schließlich, als Ewert ihnen in nüchternen Worten berichtete, wie es auf der Welt aussah.

„Der Kampf und der Krieg sind vorbei“, sagte Ewert. „Von nun an wird der Krieg der Vergangenheit angehören. Einer Vergangenheit, über die man später urteilen wird, wenn die Geschichtsschreibung weiter fortgeschritten ist. Wir aber, die wir das alles erlebt haben, wir sind dazu berufen, alles zu tun, damit ein neues Gemetzel verhindert wird. Und zwar mit allen Mitteln. Es ist an der Zeit, mit allen Menschen, gleich welcher Nationalität, zusammenzuleben, wie man mit guten Nachbarn zusammenlebt. Mit denen, die noch am Leben geblieben sind. Wir wissen nicht, wie viele es sind, aber auch das werden wir sicher bald erfahren. Der Rest der Menschheit kann es sich einfach nicht leisten, sich weiter zu bekämpfen. Jetzt sind alle aufeinander angewiesen. Jetzt braucht jeder seinen Nächsten. Und wenn wir das erst mal alle – mit allen Konsequenzen - begriffen haben, dann ist wirklich Frieden. Der Mann, der Ihnen diese Botschaft bringen wollte, liegt nebenan. Er ist schwer verwundet, und wir wissen noch nicht, ob er am Leben bleiben wird. Ein Hubschrauber ist unterwegs, um aus Jackville einen Arzt zu holen. Wir wollen inständig hoffen, daß er noch rechtzeitig eintrifft. Denn wir brauchen diesen Mann. Wir brauchen ihn dringender denn je.“

„Sie brauchen nichts mehr zu befürchten“, sagte Simon Dee, „sie sind überzeugt“ Er wandte sich um und blickte Brooks an.

„Wir haben es endlich geschafft“, sagte er. Jack Ewert verließ den Raum und ging zu Zimmermann. Mick

Jagger sah ihm mit ausdruckslosem Gesicht entgegen. „Es ist nicht besser und auch nicht schlechter geworden.“ Ewert nahm einen Stuhl und setzte sich neben das Bett. Er starrte vor

sich hin. Plötzlich riß jemand die Tür auf. „Der Hubschrauber ist wieder da!“ Ewert und Jagger standen auf, als Dr. Robert hereinkam.

ENDE

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Die Clark Darlton-Werkausgabe erscheint im Verlag Arthur Moewig GmbH

CLARK DARLTON

Die HOLOCAUST-Trilogie

Dritter Teil

So grün wie Eden

VERLAG ARTHUR MOEWIG GMBH, 7550 RASTATT

CLARK DARLTON Taschenbuch erscheint alle zwei Monate im Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt

Copyright © 1984 by Walter Ernsting Copyright © 1986 by Verlag Arthur Moewig GmbH Originalausgabe –

Titelbild: Nikolai Lutohin Redaktion: Günter M. Schelwokat

Vertrieb: Erich Pabel Verlag GmbH, Rastatt Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin

Printed in Germany März 1986 ISBN 3811833111

Scanned by Spittel1

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Einleitung Als am 14. Mai 1995 das Undenkbare geschah und sich die menschliche

Zivilisation bis zu einem gewissen Grad selbst vernichtete, geschah dies nicht durch Interkontinentalraketen mit atomaren Sprengköpfen, wie man seit Jahrzehnten nicht ohne Grund angenommen und befürchtet hatte, sondern durch eine neue Waffe – ebenfalls durch Raketen ins Ziel getragen –, die beide Seiten besaßen, ohne daß es einer vom anderen wußte. Jeder der Kontrahenten hielt sich für den Überlegeneren.

Man nannte die Waffe den STRAHLENDEN TOD. Dörfer, Städte und andere Einrichtungen wurden nicht zerstört, aber nur

wenige Menschen kamen mit dem Leben davon und begannen von vorn. Sie spürten die in ihren unterirdischen Bunkern wie die Ratten hausenden Verantwortlichen auf – hüben wie drüben – und zogen sie zur Rechenschaft. Kaum einer von ihnen überlebte das Gericht dieser Tage.

Aber so verzweifelt und intensiv die neu Beginnenden auch suchten und forschten, es gelang ihnen nicht, die geheimen Lagerstätten der schrecklichen Waffen zu finden, die ihre Heimatwelt beinahe zur leblosen Wüste gemacht hatte. Jene, die die Verstecke vielleicht gekannt hatten, waren tot.

Und auch jene Männer und Frauen, die einst die Dörfer Jackville und Cornertown wiederaufgebaut und vereinigt hatten, lebten längst nicht mehr. Ihre Nachkommen jedoch hatten das Werk ihrer Eltern und Großeltern fortgeführt, so wie es auch in Europa, Asien und den anderen Kontinenten geschehen war.

Eine neue Zivilisation war entstanden, aber sie wurde bewußt in Grenzen gehalten. Der Natur wurde mehr Spielraum gelassen, schon weil die Erde stark unterbevölkert war. Die Städte strahlten längst nicht mehr, aber sie blieben zum größten Teil unbewohnt. Das Leben aus der Asche hatte sich auf das freie Land zurückgezogen.

Und das Land wurde wieder grün und fruchtbar – grüner, als es je gewesen war. Selbst die Wüsten bedeckten sich mit Vegetation, obwohl es nicht mehr regnete als früher, und einst mühsam am Leben gehaltene Wälder wurden erneut zu undurchdringlichen Dschungelgebieten. Aber noch immer gab es Männer und Frauen, die das Grauenhafte nicht vergessen konnten und wollten, was vor mehr als zwei Generationen geschehen war.

Heute schreiben wir das Jahr 2065 – siebzig Jahre nach dem Untergang der technischen Zivilisation …

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1.

Claire Buchanan, die Enkelin von Gibson Kemp und Mary Buchanan, der Tochter des damaligen Bürgermeisters von Jackville, kehrte nach ihrer Unterredung mit Dr. Sam Roberts ein wenig bedrückt in ihr bescheidenes Heim zurück. Seit dem Tod ihres Mannes lebte sie dort allein, und im Gedenken an ihre Eltern und ihre schon fast zur Legende gewordenen Großeltern hatte sie ihren Mädchennamen wieder angenommen…

Sie sei kerngesund, hatte der Arzt versichert, auch wenn ihre Ehe kinderlos geblieben war. Dann jedoch war er gleich zum eigentlichen Thema ihres Besuchs gekommen:

»Gerald Zimmermann macht mir Sorgen, Claire, genau wie er dir und auch vielen anderen von uns Sorgen bereitet. Er hat das unruhige Blut seines Vaters in den Adern, und der wiederum erbte es von Robert Zimmermann, der – wie wir alle wissen – Ende 1999 von einer Expedition nach Kanada nicht zurückkehrte.«

»Du führst jetzt die Chronik unserer Stadt«, deutete Claire eine Frage an. »Darin findet sich nicht viel über die damaligen Ereignisse. Papier war

knapp. Plünderer und jeder Art von Technik überdrüssige Banden zerstörten die teils nützlichen und teils überflüssigen zivilisatorischen Einrichtungen – und das passierte in aller Welt. Ein paar private Funkstationen konnten gerettet werden, sonst wären wir total isoliert.«

Immerhin hatte Claire erfahren können, daß Robert Zimmermann damals in Begleitung einiger Freunde aufgebrochen war, um die geheimen Lagerstätten des »Strahlenden Todes« zu finden, die er weiter im Norden vermutete. Seitdem hatte man nie wieder von ihm und seinen Begleitern gehört.

»Vielleicht gibt es diese Lager überhaupt nicht«, hatte Claire zu dem Arzt gesagt, aber keine Antwort darauf erhalten.

Sie setzte sich in den Sessel vor dem Kamin, warf ein Stück Holz in die noch glühende Asche und lehnte sich bequem zurück.

Sie mochte den nur um ein Jahr älteren Gerald Zimmermann, dessen Vater fast zur gleichen Zeit gestorben war wie ihr Mann. Die gemeinsame Trauer hatte sie zu Freunden werden lassen. Und nun, nach mehr als sechzig Jahren seit dem Verschwinden seines Großvaters, wollte er den Spuren des Verschollenen folgen.

Ein unsinniges Vorhaben, davon war Claire überzeugt. Nach sechs Jahrzehnten konnte es keine Spuren mehr geben.

Gerald Zimmermann dachte anders darüber, denn sein Vater hatte ihm Unterlagen hinterlassen, die selbst der Arzt Sam Roberts nicht kannte. Es war der schriftliche Bericht seines Großvaters, den dieser vor seinem Aufbruch

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1999 versiegelt seinem Sohn übergeben hatte, und zwar mit der strengen Auflage, ihn erst nach seinem Tod zu öffnen und zu lesen.

Geralds Vater hatte nie an Roberts Tod geglaubt, also blieb das Siegel ungebrochen – bis Gerald die Unterlagen erbte.

Als er die Aufzeichnungen seines Großvaters gelesen hatte, mußte er erkennen, daß die Wahnsinnigen von damals, die den Tod über die Welt geschickt hatten, den nachfolgenden Generationen etwas hinterlassen hatten, dessen wahre Natur auch Robert Zimmermann nicht hatte enträtseln können.

Aber allein die vagen Andeutungen genügten, um in Gerald den Entschluß reifen zu lassen, das Geheimnis zu lüften und die Menschheit vor einer neuen Katastrophe zu bewahren – falls die Vermutungen seines Großvaters überhaupt eine Grundlage besaßen.

Seine Absichten stießen auf wenig Gegenliebe. Es sei doch alles in bester Ordnung, wurde ihm entgegengehalten. Die

Ernten wurden mit jedem Jahr besser, selbst ohne den nicht mehr verwendeten Kunstdünger, die Völker der Welt – das, was von ihnen übriggeblieben war – lebten in Frieden miteinander, und außer einem internationalen Ordnungsdienst und der Bürgerwehr gab es keine Soldaten und keine Armeen mehr. Damals, 1995, waren die plötzlich führerlos gewordenen Flugzeuge abgestürzt, und die Kriegsschiffe mit ihren toten Besatzungen irgendwo aufgelaufen oder gesunken.

»Wir haben ein grünes Paradies«, hatte Sam Roberts ihm entgegengehalten, »wie es sich unsere Vorfahren einst gewünscht haben. Und wenn die alte Waffe wirklich noch existiert, so lagert sie tief unter der Erde, und da sollte sie auch bleiben. Begraben und tot und ganz sicher ungefährlich, solange sie niemand findet.«

»Robert Zimmermann hinterließ ein Vermächtnis …« „… das ich nicht kenne, Gerald. Gib den Gedanken auf, Gerald, nach den

Lagerstätten zu suchen. Was willst du tun, wenn du sie wirklich findest? Wie willst du sie, die Waffe, unschädlich machen? Wie, frage ich dich? Du erweckst sie höchstens zu neuem Leben.«

Sicher, Sam Roberts hatte recht, aber er kannte ja auch Robert Zimmermanns Aufzeichnungen nicht, und Gerald wagte es nicht, sie ihm zu zeigen.

Jetzt noch nicht. Und dafür gab es viele Gründe.

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Die Aufzeichnungen Robert Zimmermanns Ende des Jahres 1999 Irgend jemand wird das hier von mir in Jackville Niedergeschriebene einst

lesen – mein Sohn vielleicht, wenn ich tot bin, vielleicht auch sein Sohn, sollte er je einen haben. Oder seine Tochter, meine Enkelin.

Eigentlich war es meine Absicht, die Entdeckung, die ich gemacht habe, und die Vermutungen, die daraus resultieren, für mich zu behalten und mit ins Grab zu nehmen, aber tief in meinem Unterbewußtsein regt sich unaufhörlich der Gedanke, daß auch Vermutungen und Spekulationen, und mögen sie auch noch so phantastisch und unglaublich erscheinen, sich in furchtbare Realitäten verwandeln könnten.

Nicht von heute auf morgen in diesem Fall, oh nein! Wäre es an dem, so müßte ich schon heute, im Jahre 1999, die Karten offen auf den Tisch legen, ob ich nun wollte oder nicht. Doch selbst eine mehr als nur vage Vermutung der vielleicht drohenden Gefahr würde unsere kleine Gemeinschaft, die gerade erst wieder zu leben beginnt, zutiefst schockieren und ihren Willen zum Wiederaufbau einer neuen Welt lähmen.

Das, und nur das allein ist der Grund, warum ich heute noch schweigen muß, und ich bitte dich, Sohn oder Enkel, das zu verstehen und mir zu verzeihen.

In wenigen Tagen werde ich in Begleitung vom Brendon, Gibson Kemp und Eppstein zu meiner zweiten Expedition aufbrechen, die uns weiter nach Norden führen soll. Wir hatten Funkverbindung mit einigen Gruppen dort, die den unsinnigen Krieg überlebten, genauso wie wir. Mit diesen Gruppen werden wir Kontakt aufnehmen.

Ich kann nur hoffen, daß mir dieser Ausflug nach Norden die endgültige Antwort auf alle meine Fragen geben wird, die mich seit einem Jahr fast unerträglich belasten und quälen. Denn vor einem Jahr fanden Will McHary, Jim Grant und ich das, wonach wir suchten.

Doch ich will der Reihe nach berichten. 26. September 1998: Heute brachen wir auf. Wir wußten, daß der Winter vor der Tür stand, aber

unsere Ungewißheit gab uns weder Zeit noch Ruhe, länger zu warten. Wir mußten endlich jemanden finden, der uns mehr über den »Strahlenden Tod« verraten konnte – oder wollte.

Wir hatten schon viel zu lange damit gewartet. Zuerst nahmen wir die Straße nach Westen und bogen dann nordwärts ab.

Wir hatten den Jeep ausgerüstet, einen der wenigen, die noch intakt waren. Wir beluden ihn mit Lebensmitteln, meist Konserven, von denen wir mehr als genug in General Hamiltons Bunkerversteck gefunden hatten, banden Reservekanister mit Benzin an die Seiten und versorgten uns mit Waffen,

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denn noch immer streiften raubende, plündernde und mordende Banden durch das Land.

Da wir Ansiedlungen möglichst vermeiden wollten, mußten wir immer wieder die ohnehin schlechte und mit Unkraut bedeckte Straße verlassen und die Dörfer durch unwegsames Gelände umfahren.

Obwohl das unserer eigentlichen Absicht, Menschen zu finden, widersprach, hielten wir das für richtig. Denn jene, die wir suchten, wohnten kaum in diesen Ansiedlungen, höchstens als harmlose Bürger getarnt, die ein neues Leben beginnen wollten.

Am fünften Tag unserer Fahrt, am 30. September, sichteten wir von einer Anhöhe aus ein einsames Gehöft, eine Farm. Rauch aus dem Schornstein verriet Leben. Und gegen die Bewohner einer Farm konnten wir, sollte es notwendig sein, uns besser verteidigen als gegen ein ganzes Dorf.

Wir hofften, daß unsere Bedenken überflüssig sein würden. Kurz entschlossen nahmen wir Kurs auf die weiträumig angelegten

Gebäude. In den Koppeln grasten Pferde, und das Getreide auf den Feldern war überreif zur Ernte.

Wir waren noch knapp hundert Meter von dem Hauptgebäude entfernt, als in dessen Tür ein Mann erschien – in der Hand ein Gewehr.

Will McHarry stellte den Motor ab, während ich langsam ausstieg und auf den Mann, dessen Alter schwer abzuschätzen war, zuging. Ich hatte die Maschinenpistole im Jeep gelassen, aber in der Hosentasche meine kleine Pistole mitgenommen – für den Notfall.

Der Mann blickte mir entgegen, den Lauf seines Gewehrs nach unten gerichtet. Erst als ich noch ein Dutzend Schritte von ihm entfernt war, hob er es langsam an, und ich blickte in die Mündung.

»Bleiben Sie dort stehen, Fremder. Was wollen Sie hier in dieser Gegend?« Sein Gesicht drückte Mißtrauen aus, aber keine Furcht. Es war ein gutes

Gesicht, das erkannte ich sofort, und ich habe mich nur selten getäuscht. »Wir kommen aus Jackville und wollen nach Norden. Vielleicht können Sie

uns mit einigen Auskünften dienen, außerdem wären wir für frisches Wasser dankbar.«

»Jackville.. .? Ich habe davon gehört. Gute Leute dort, und mit den Banditen habt ihr bestens aufgeräumt. Seid willkommen in meinem Haus. Meine Frau und meine Tochter sind drinnen.«

Ich winkte zurück zum Jeep, der sich bald darauf in Bewegung setzte und dicht bei uns hielt. Will stellte den Motor ab und stieg mit Jim aus. Sie reichten dem Mann die Hand. Wir nannten ihm unsere Namen.

»Nun kommt schon mit«, antwortete er nur und ging voran. »Hier klaut euch niemand den Wagen. Ruhige Gegend.« Er nickte in Richtung der älteren und jüngeren Frau, die in der Küche beim Fenster standen. »Meine Frau und

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meine Tochter.« Im Gegensatz zu uns nannte er keine Namen, und vielleicht hatte er auch

seine Gründe dafür. Wir fragten ihn nicht. Als wir rund um den Tisch saßen und die Frauen ein einfaches Mahl

auftrugen, betrachtete er uns mit forschenden Blicken, die mehr als bloße Neugier verrieten. Will ging zum Jeep und holte ein paar Dosen Bier als Gastgeschenk. Der Mann nahm einen großen Schluck. Sicher hatte er schon lange kein Bier mehr gesehen.

Erneut blickte er mich an. »Was wollt ihr hier in dieser Gegend und weiter nördlich? Da gibt es nur

die kahlen Hügel und kaum Ansiedlungen oder Farmen. Ihr trefft höchstens auf herumstreifende Nichtstuer, denen die Zukunft nichts mehr bedeutet. Meist sind sie bewaffnet und gefährlich.«

»Wir können uns wehren«, beruhigte ich ihn. Dann kam ich auf seine ursprüngliche Frage zurück. »Wir suchen Menschen, die vielleicht etwas über die Lagerstätten dieses verdammten Zeugs wissen, das uns beinahe alle ausgelöscht hätte: Es befindet sich nicht in den Raketenbunkern, die wir fanden und durchsuchten. Es muß gesondert woanders gelagert worden sein.«

Der Mann nickte langsam. Er schien kaum überrascht zu sein. Wieder sah er uns lange und der Reihe nach an, ehe er sagte:

»Wenn ihr nicht aus Jackville kommen würdet, könntet ihr von mir kein einziges Wort erfahren. Aber ich kenne James Buchanan von früher, er würde kein Gelichter in seiner Stadt dulden.« Er machte eine kurze Pause und trank sein Bier aus. Mit Nachdruck stellte er die leere Dose auf den Tisch zurück. »Der ,Strahlende Tod’ ist nichts anderes als eine klare Flüssigkeit, die wie Wasser aussieht – so wurde wenigstens behauptet. Sie befindet sich in Behältern, die wie Granaten aussehen und daher auch jederzeit im Kopf einer Rakete eingesetzt werden können. Wenn der Kopf über dem Ziel detoniert, beginnt es dort zu regnen, aber die Tropfen lösen sich noch während des Falls in ein tödlich wirkendes Gas auf – oder wie immer man es nennen will.«

»Gift also?« »Nicht im üblichen Sinn, soweit ich informiert bin. Ein Bruder von mir war

Chemiker, er könnte euch mehr darüber sagen, aber ich weiß nicht, wo er ist oder überhaupt noch lebt. Wahrscheinlich wurde er getötet. Er war an der Entwicklung des Teufelszeugs beteiligt, sprach aber niemals darüber.«

»Aber wenn er doch wußte ...« »Niemand wußte es. Die einzelnen Entwicklungslabors arbeiteten

unabhängig voneinander, keines hatte Kontakt mit dem anderen. Die Produkte, die sie herstellten, waren jedes für sich absolut harmlos. Sie wurden verschickt und erst an einem geheimen Ort vermischt. Diese Mischung war es wohl, die uns den Untergang bescherte.«

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Ich muß zugeben, daß mich das Wissen des Mannes mehr erschreckte als überraschte. Auch die Gesichter Jim Grants und Will McHarys zeigten Betroffenheit.

Woher hatte der Mann, der seinen Namen nicht nannte, sein Wissen? Ich entschloß mich zu einer direkten Frage: »Woher wissen Sie das alles? Nur von Ihrem Bruder, der angeblich

verschwunden ist?« Er schüttelte den Kopf. »Von ihm erfuhr ich nur, daß sie ein Pflanzenschutzmittel herstellen, wenn

auch in einer bis dahin unbekannten Zusammensetzung. Nein, mein Wissen stammt von einem Fremden, der hier eines Tages auftauchte, total abgerissen in einer ihm nicht passenden Zivilkleidung. Er war schwer verwundet. Angeblich hatte man ihn überfallen und angeschossen. Er spürte sein Ende nahen und entschloß sich zu einer Art Beichte, bevor er starb. Er gehörte zu den leitenden Männern im Hauptwerk, dort also, wo die endgültige Zusammensetzung der einzelnen Lieferungen stattfand.«

Ich starrte den Mann an. Will und Jim hielten die Luft an. Der Mann lächelte müde. »Ich kann Ihnen verraten, wo es sich befindet, aber das wird Ihnen auch

nicht weiterhelfen. Aber vielleicht gibt es dort Hinweise, wo das verdammte Zeug endgültig bis zum Einsatz gelagert worden ist.«

»Jede Spur, aber auch jede, hilft uns weiter«, ermunterte ich ihn. Er nickte seiner Frau und seiner Tochter zu, die wortlos das Geschirr

zusammenräumten, um es draußen beim Brunnen zu spülen, dann erst stand er auf, ging zu einem wackeligen Regal und holte ein Buch daraus hervor. Er kehrte zum Tisch zurück, setzte sich und schlug das Buch auf, in dessen Mitte eine weiträumige Landkarte verborgen war.

Er breitete sie aus und deutete auf eine Stelle südlich der Berge. »Hier liegt unsere Farm.« Sein Zeigefinger wanderte weiter nach Norden.

»Das hier sind die Berge, kaum hundert Kilometer entfernt und damals größtenteils von der Regierung zwangsevakuiert. In einem der Täler, kaum zu verfehlen, liegt das Hauptwerk.« Er zögerte wieder einen Augenblick, dann stieß sein Finger erneut hinab auf die Karte. »Dies hier müßte es sein!«

»Würden Sie uns die Karte überlassen?« fragte ich ohne viel Hoffnung, aber er nickte zustimmend.

»Ich brauche sie bestimmt nicht mehr, außerdem würde ich meine Familie nicht allein lassen. Nehmen Sie die Karte, sie gehört jetzt Ihnen. Und sollten Sie jemals nach Jackville zurückkehren, so grüßen Sie Buchanan von mir.«

»Wir kennen ja nicht einmal Ihren Namen«, unternahm ich einen letzten Versuch.

Er lächelte und sah zum Fenster hinaus. Die beiden Frauen waren mit ihrer

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Arbeit fertig und kehrten zum Haus zurück. »Sagen Sie ihm nur, der Einsame Wolf ließe ihn grüßen. Das genügt.« Erst jetzt wurde mir klar, daß der Mann von seiner Abstammung her ein

Indianer war, einer jener Menschen also, deren Heimat man nun endgültig zerstört hatte.

1. Oktober 1998 Wir blieben über Nacht, schliefen aber draußen im Freien, wie wir es

gewohnt waren. Für die Jahreszeit war es ungewöhnlich mild, erst gegen Morgen machte sich der Oktober durch einen kühlen Wind von Westen her bemerkbar.

Wir erhielten ein gutes Frühstück, bedankten und verabschiedeten uns mit dem Versprechen, auf der Rückfahrt – wenn möglich – wieder vorbeizukommen.

»Wenn Sie dort in der Hexenküche noch einen lebenden Menschen antreffen, der mit der Sache zu tun hat«, rief uns der Mann hinterher, als Will den Jeep startete, »dann bringen Sie ihn um!«

Ich drehte mich um und rief zurück: »Erst dann, wenn er geredet hat!« Dann fuhren wir los. Ich hatte die Karte vor mir auf den Knien liegen. Sie war eine unschätzbare

Hilfe, denn so ließen sich eventuell bewohnte Ansiedlungen rechtzeitig erkennen und umfahren.

Die Berge rückten näher. Bis zum Abend konnten wir sie erreichen. In mir war eine seltsame Unruhe. Ich bin stets ein friedfertiger Mensch gewesen, dem jede Gewalttätigkeit zuwider war, aber die Unerbittlichkeit des Lebens nach dem großen Krieg, der eigentlich gar keiner gewesen war, hatte mich verändert, und ich hatte seither viele Menschen töten müssen – oder sie hätten mich getötet.

Selbst Jim Grant, der friedlichste Mensch der Welt, konnte jetzt besser mit der Waffe umgehen als jeder andere. Seine Skrupel, töten zu müssen, um selbst am Leben zu bleiben, waren verschwunden.

Und Will McHary, Schotte oder Ire von seiner, Abstammung her, schoß in gewissen Situationen lieber zuerst und stellte dann die Fragen.

Bei einem unserer Umwege gerieten wir in einen Hinterhalt. Wir hielten notgedrungen an einer ziemlich unübersichtlichen Stelle, um Benzin nachzufüllen, als ohne jede Vorwarnung ein paar Schüsse fielen. Die Männer hinter den Gewehren waren zu unserem Glück miserable Schützen, für sie allerdings war es Pech. Außerdem besaßen wir die besseren automatischen Waffen.

Das Gefecht war nur von kurzer Dauer, und von den sieben Banditen blieb

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nur einer lange genug am Leben, um einige Fragen beantworten zu können. Sie hausten in einer verfallenen Hütte am Waldrand und überfielen die in der Nähe liegenden Dörfer oder Reisende, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. An Arbeit dachte keiner von ihnen, geschweige denn an den Wiederaufbau einer neuen Welt. Sie hatten den Tod verdient, so hart das klingen mag, und sicher waren jene, die ihren Raubzügen zum Opfer gefallen waren, kaum zu zählen.

Der Eingang zu dem von unserem Informanten bezeichneten Tal war dank der Karte leicht zu finden. Es führten sogar Bahngeleise hinein, die allerdings derart von Gras und Unkraut überwuchert waren, daß wir eigentlich nur durch Zufall darüber stolperten.

Wir fuhren solange, bis der schmale Zugang eine Biegung machte und der Blick auf einen weiten Talkessel frei wurde. Will fuhr den Jeep in eine Felsennische, dann tarnten wir ihn mit den reichlich vorhandenen grünen Zweigen von Büschen und Bäumen.

Jeder von uns nahm eine Pistole in der Tasche mit. In den Hosenbund schoben wir zwei volle Ersatzmagazine für unsere Schnellfeuergewehre, die wir offen in den Händen trugen. Damit ließ sich schon ein Feuerzauber anfangen, wenn es sein mußte. Aber vielleicht lebte auch niemand mehr hier.

In dem Tal gab es reichlich Pflanzenwuchs, so daß wir uns der Deckung wegen keine Sorgen zu machen brauchten. Wir folgten den Bahngeleisen, die in gerader Linie auf die flachen Gebäude zuführten.

Die Vegetation war üppiger, als es hier zu erwarten gewesen wäre. Der Boden war steinig und trocken, und dennoch wucherte das Unkraut wie in den Tropen. Immerhin bot es Schutz.

»Sie haben also das verdammte Zeug mit der Bahn hierher transportiert«, stellte Jim fest, als er über eine Schwelle stolperte.

»Und die fertige Giftmischung dann von hier zu den Lagerstätten«, folgerte Will ebenso logisch. »Wir brauchen also nur den Schienen aus dem Tal hinaus zu folgen, um diese zu finden.«

Das allerdings war absolut unlogisch, wie Jim ihm sofort klarmachte: »Schienenstränge haben die Eigenschaft, sich mit Hilfe von Weichen zu

verzweigen, in sämtliche Richtungen und vielleicht hundertmal auf hundert Kilometer. Und wenn du einer folgst, stehst du plötzlich abermals vor einer Abzweigung. Nee, so einfach wird es nicht sein, da die richtigen zu finden.«

»Seid mal ruhig!« warnte ich die beiden leise und duckte mich. »Ich meine, da vorn eine Bewegung gesehen zu haben, leider nur sehr vage. Ich konnte nicht erkennen, was es war. Ein größeres Tier vielleicht.«

»Oder ein Mensch«, flüsterte Jim und überprüfte den Sicherungshebel seiner Waffe.

Ich schüttelte warnend den Kopf.

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»Wenn dort wirklich noch jemand lebt, so brauchen wir ihn lebendig. Tot nützt er uns nichts. Seid also vorsichtig und knallt nicht einfach drauflos, wenn ihr jemanden seht. Also weiter, aber immer in Deckung bleiben.«

Geduckt folgten wir erneut der Schiene. Sie machte jetzt einen leichten Bogen und führte dann in gerader Linie auf

das mittlere der Gruppe von Gebäuden zu, das gut ein Stockwerk höher war als die anderen. Im Gegensatz zu diesen anderen hatte es auch keine sichtbaren Fenster. Es schien damit weder als Bürohaus noch als Unterkunft gedient zu haben.

»Wo hast du denn was gesehen?« fragte Jim. »Rechts vom Hauptgebäude, bei dem flachen Langbau. Aber wie gesagt –

ich kann mich auch getäuscht haben.« »Na schön, wenn dem so ist, schlage ich vor, daß wir uns trennen. Folgt ihr

beide weiter den Schienen, ich werde mich auf Umwegen an den Flachbau heranschleichen. Wenn da wirklich jemand ist, finde ich ihn auch. Wenn ich euch brauche, jage ich drei Schüsse in den Himmel. Alles klar?«

»Sei vorsichtig«, warnte ich noch. Jim verschwand rechts von uns zwischen den Büschen. Bereits Sekunden

später war er auch nicht mehr zu hören. Will und ich näherten uns weiter dem Bau, in dem die Schienen

verschwanden. Nun konnten wir auch das große und hohe Doppeltor erkennen, das in der Mitte einen Spalt offen stand. Wir würden also kaum Schwierigkeiten haben, den Schienen zu folgen und in das Innere des Betonklotzes einzudringen.

Die Vegetation reichte bis ans Tor, war aber nicht mehr so hoch und dicht. Kein Wunder, denn es mußte sich hier durch die Betonschicht hindurcharbeiten, mit der man den natürlichen Boden bedeckt hatte. Wieder einmal erhielt ich Gelegenheit, den ungeheuren Lebenswillen der Pflanzen zu bewundern, für die es kein Hindernis auf dem Weg zum Licht zu geben schien.

Bevor wir die letzten Meter zurücklegten, warf ich einen Blick nach rechts, konnte aber keine Spur von Jim entdecken. Dann waren wir mit ein paar Sätzen beim Tor und zwängten uns mit vorgehaltenen Waffen in den Raum, der dahinter lag.

Es war eine riesige Halle, und das einzige Licht erhielt sie von einem großen Fenster in der hochliegenden Decke. Nur so konnten wir feststellen, daß die Schienen am anderen Ende der Halle unter einem Gebilde endeten, das an einen überdimensionalen Trichter erinnerte.

Von diesem aus führten ein halbes Dutzend armdicke Leitungen hinab in den Boden, demnach mußte sich die eigentliche Mischanlage unter der Halle und damit auch unter der Erde befinden.

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Wo aber war der Weg nach unten? Wir durchsuchten die ganze Halle, in der Maschinenanlagen und mir

unbekannte technische Einrichtungen standen, konnten jedoch nichts finden, was einem Abstieg auch nur geähnelt hätte. Er mußte gut getarnt sein oder sich woanders befinden – vielleicht aus Gründen der Sicherheit.

In diesem Augenblick vernahmen wir drei in schneller Folge abgegebene Schüsse, die zweifellos aus Jims Waffe stammten.

Jim hatte, wie vereinbart, das flache Gebäude, das einem verlängerten Bungalow glich, unter dem Schutz der Vegetation umgangen und sich dann von der anderen Seite her vorsichtig genähert, ohne ein Zeichen von Leben zu bemerken, was allerdings nichts zu bedeuten hatte. Der Gesuchte, wenn es ihn überhaupt gab, konnte sich überall verborgen halten.

Jim entdeckte einen offenen Seiteneingang, den er ohne lange zu zögern betrat, nachdem er die Waffe entsichert hatte. Der Mittelgang mit den vielen Türen an beiden Seiten irritierte ihn zuerst, da aber die meisten Türen weit offen standen, fiel ihm das Durchsuchen der dahinterliegenden Räume nicht schwer.

Er fand nichts, was auf die Anwesenheit von Menschen schließen ließ. Die Zimmer waren alle nach dem gleichen Schema eingerichtet. Tische, Stühle und Aktenschränke – also Büros. In einigen standen auch Computer, stumm und schon lange außer Betrieb.

Jim verließ den Bau durch den Ausgang am anderen Ende des Ganges – und sah den Gesuchten.

Er stand in der Tür des benachbarten Bungalows und starrte mit vor Schreck aufgerissenen Augen auf die Waffe in Jims Hand, deren Lauf auf ihn gerichtet war. Er riß die Arme hoch.

»Tun Sie mir nichts«, rief er mit schriller, panikerfüllter Stimme. »Ich bin unbewaffnet.«

Jim ließ das Gewehr sinken. »Dann kommen Sie her, aber langsam.« Der Mann war mindestens fünfzig Jahre alt, vielleicht älter, sah jedoch

wohlgenährt und gut gekleidet aus. Wie sich später herausstellte, hatte er hier keine Not gelitten, denn die Vorratsmagazine waren gut gefüllt gewesen – trotz einiger Überfälle durch Plünderer, die ihn in seinem Versteck jedoch nicht gefunden hatten.

Jim tastete den Mann nach Waffen ab, dann feuerte er die drei vereinbarten Schüsse ab, um uns herbeizurufen.

Meine erste Frage lautete: »Sind Sie allein hier?« Als er das bejahte, fuhr ich fort: »Wer sind Sie und

was tun Sie hier? Sie können ruhig sprechen, denn ich versichere Ihnen, daß wir keine Plünderer sind, sondern aus einer Ansiedlung stammen, deren

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Einwohner bemüht sind, eine neue und friedlichere Welt aufzubauen. Sie haben also nichts zu befürchten.«

Der Mann beruhigte sich in der Tat und hörte auf vor Angst zu zittern. Er faßte Vertrauen zu uns und atmete erleichtert auf.

Wir saßen draußen im Freien auf einer kleinen Lichtung dicht neben den Schienen, nicht weit vom Hauptgebäude entfernt. Will war stehengeblieben und ließ die Umgebung nicht aus den Augen.

Der Mann begann zögernd zu berichten. Ich will es mit meinen eigenen Worten wiedergeben:

Er hieß, so behauptete er wenigstens, Louis Fermont und wurde vor fünfzehn Jahren als Transportbegleiter bei einer staatlichen Firma eingestellt, einer Firma, so betonte er, die ein Pflanzenschutzmittel herstellte. Seine Aufgabe war es gewesen, in unregelmäßigen Abständen Züge mit zwei oder höchstens drei Tankwagen von hier aus zu einer mitten in der Wüste gelegenen Sammelstelle zu geleiten, wo das Produkt, wie es hieß, endgültig »aufbereitet« wurde. Von dort aus erfolgte dann erst die letzte Aufteilung und Versendung zu den eigentlichen Lagerstätten, die auch er nicht kannte – bis auf eine.

»Bis auf eine?« fragte ich, hellhörig geworden. »Ein Mann fiel aus, und ich mußte für ihn einspringen. Wir hatten doch

damals alle noch keine Ahnung, worum es wirklich ging. Wir ahnten es erst, als wir – von der Sammelstelle kommend – unsere Fracht entluden. Es waren Granaten – wenigstens sahen die Dinger so aus. Pflanzenschutzmittel in Form von Granaten – das gab uns zu denken. Aber es war zu spät.«

»Wollen Sie uns helfen, Louis, das Sammellager in der Wüste und das andere Endlager zu finden?«

Er blickte uns der Reihe nach an, nicht mehr ängstlich oder voller Zweifel, sondern wie von einer schweren Last befreit. Dann nickte er.

»Natürlich helfe ich Ihnen. Ich bin lange genug allein gewesen. Abgesehen von den unliebsamen Besuchern, die gelegentlich hier auftauchten.«

»Haben Sie eine Waffe?« »Ich habe hier keine gefunden, konnte mich aber immer so verstecken, daß

mich niemand fand. Heute allerdings ...«, er nickte Jim zu, »... wurde ich überrascht.«

»Wir haben noch eine Ersatzwaffe im Jeep. Wann fahren wir los?« Louis Fermont erhob sich spontan. »Von mir aus sofort – sobald ich meine Sachen geholt habe.« »Ihre Sachen?« Er lächelte – zum erstenmal übrigens. »Was glauben Sie, was die Bonzen hier alles in ihren Magazinen gelagert

hatten? Ich möchte wenigstens ein paar Flaschen Champagner und Cognac

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holen, damit wir auf das Gelingen unserer Expedition anstoßen können. Und ich meine, das lächerliche Sie sollten wir auch vergessen.«

»Also gut«, sagte Will und grinste, während er sich die Lippen leckte. »Dann geh und hole das Gesöff. Jim wird dir gern dabei helfen, denn außer Bier haben wir nichts dabei.«

»Bringt auch noch ein paar Konserven mit«, rief ich ihnen nach. Will setzte sich neben mich, das Gewehr zwischen den Knien. »Du bist sicher, daß wir uns auf ihn verlassen können? Auf Louis, meine

ich.« Ich nickte. »Ganz sicher, Will. Er war nur ein kleines und unbedeutendes Rädchen im

Getriebe dieser riesigen unübersichtlichen Maschinerie, die sich Regierung, Staat oder wie auch immer nannte, deren Opfer er und wir alle wurden. Seltsam ist nur, daß es fast auf der ganzen Welt zur selben Zeit passierte, so als hätte es eine Absprache gegeben, irgendeine Verbindung, von der niemand etwas ahnte.«

»Nein!« widersprach Will überzeugt. »Es war ein Zufall, ein ganz verdammter Zufall!«

»Oder«, vermutete ich ein wenig unsicher, »ein genauso verdammter Fehler, ein Versehen, eine durchgebrannte Sicherung, eine gebrochene Zuleitung, ein verrückt gewordener Computer – irgend etwas in dieser Richtung.«

Will nickte zwar, aber es war keine Zustimmung. »Was auch immer, Robert, hinter allem stand immer der Mensch, und er

allein ist schuld.« Wir schwiegen, denn drüben bei den Gebäuden erschienen Jim und Louis,

beide mit offensichtlich schweren Säcken auf ihren Schultern. Der Champagner schmeckte herrlich. Er war sogar kühl… Ich muß zugeben, daß wir den Aufbruch auf den nächsten Tag verschoben,

auf den 2. Oktober also, denn nach unserer kleinen Feier hatten wir alle einen ziemlich schweren Kopf. Außerdem war das Fahren bei Nacht zu riskant. Man hätte das Scheinwerferlicht meilenweit sehen können und Plünderer nur eingeladen, uns zu überfallen.

Der Tag versprach warm und sonnig zu werden. Heute steuerte ich den Jeep und überließ den anderen Orientierung und Wache. Ersteres war nicht schwierig, denn vorerst brauchten wir nur den Schienen zu folgen. Das einzige Problem war die an manchen Stellen fast undurchdringliche Vegetation, aber der Jeep meisterte auch die dichtesten Büsche und legte kleine Bäumchen um wie ein Panzer.

Louis hockte neben mir, immer noch ein wenig benommen von der plötzlichen Veränderung seines bisherigen Daseins, aber eifrig bei der Sache.

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»Bis auf das eine Mal sind wir immer nur dieselbe Strecke gefahren. Meist durch einsame und unbewohnte Gegenden. Ich schätze, daß wir die Abzweigung in etwa fünfzig Kilometer erreichen. Eine Weiche, das ist alles. Man muß sie mit der Hand umstellen. War übrigens der einzige Ort, an dem der Zug anhalten durfte.«

Um ganz sicher zu sein, fragte ich noch einmal: »Unser Ziel ist also jenes Werk, in dem das fertiggemischte Produkt in die

... nun, in die Behälter gefüllt wurde?« »Richtig! Und von dort aus wurde es dann in die Lagerstätten verteilt. Sie

sind es, die wir finden müssen.« »Zumindest eine kennst du ja, Louis.« Er nickte, langsam und fast bedächtig. »Die finde ich im Schlaf.« Gegen Mittag erreichten wir die Abzweigung. Der bisherige Schienenstrang

führte geradeaus weiter. Ein ganz normaler Weichenhebel gab die Abzweigung nach links frei. Ohne anzuhalten fuhren wir weiter, jetzt nach Norden.

Das Gelände wurde unübersichtlicher und gebirgiger. Oft mußte ich mit dem Jeep auf den Schienen fahren, um nicht in einer Schlucht steckenzubleiben. Als es anfing zu dunkeln, fanden wir auf einem Plateau mitten zwischen den Büschen einen halbwegs sicheren Lagerplatz. Wir machten kein Feuer. Will und Jim teilten sich die Wache.

Der nächste Vormittag – es war der 3. Oktober – brachte uns hinab in die Ebene und damit in die Wüste. Sie bot einen merkwürdigen und ungewöhnlichen Anblick. Wo früher nur fast weißer Sand und Wanderdünen gewesen waren, gab es jetzt grüne Streifen, die fast parallel verliefen und sich am Horizont zu treffen schienen. Eigentlich ein erfreulicher Anblick, aber ich begann mich zu fragen, wie das möglich sein konnte. Vielleicht hatte es hier geregnet, bedingt durch Veränderungen in der Atmosphäre. In Jackville zumindest hatte es in den vergangenen vier Jahren auch nicht mehr geregnet wie in den Jahren zuvor.

Am Nachmittag stand Louis plötzlich auf und deutete über die Windschutzscheibe hinweg nach vorn.

»Da ist es!« Und dann, als wir näher kamen, korrigierte er sich: »Da war es! Es ist zerstört worden.«

Wir sahen es selbst, Es mußte eine gewaltige Explosion gewesen sein, die das sogenannte »Aufbereitungswerk« vernichtet hatte. Wir würden wohl niemals erfahren, ob diese Explosion durch die Verantwortlichen der Anlage oder durch eine Rakete des Feindes verursacht worden war.

Wir fuhren durch das hier mannshoch wachsende Gras auf den Trümmerhaufen zu, ohne weiter auf die Schienen achten zu müssen.

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»Nicht wieder zu erkennen«, murmelte Louis ratlos. »Vielleicht finden wir Hinweise unter der Erde. Dort nämlich wurden die Behälter gelagert, bis sie weiter transportiert wurden.«

Der Jeep durchbrach mühelos die zerfetzten Sperrgitter, rollte über die Trümmer der zerstörten Gebäude hinweg, bis ich schließlich anhielt. Ich warf Louis einen fragenden Blick zu.

»Und nun?« Er zuckte die Schultern. »Irgendwo unter uns«, sagte er lediglich. Wir wanderten bis zum Abend durch das Ruinenfeld, ohne das zu finden,

was wir suchten. Auch hier wucherte Vegetation jeder Art und verwandelte die Trümmerhügel in grüne Halden. Von einem Eingang, der hinab in die unterirdische Anlage führte, gab es keine Spur.

Als es dunkelte, gaben wir auf. Resignierend sagte Louis, als wir mitten in den Ruinen am kleinen Lagerfeuer hockten:

»Hoffentlich ist das nicht auch bei den Lagerstätten passiert, besonders nicht bei jener, die ich kenne.«

»Wir werden ja sehen«, antwortete ich einsilbig, während sich tief in meinem Unterbewußtsein wieder der vage Verdacht regte, der keine erkennbaren Formen annehmen wollte.

Am 4. Oktober fuhren wir den gleichen Weg über das Gebirge zurück, übernachteten bei der Weiche und setzten dann die Fahrt am 5. Oktober fort, wobei wir dem ursprünglichen Schienenstrang folgten.

Jetzt kannte sich Louis recht gut aus, obwohl er die Strecke nur einmal abgefahren hatte. Es gab immer wieder Weichen und Abzweigungen, aber die Schienenstränge führten, wie er behauptete, praktisch ins Nichts. Sie endeten irgendwo in einem Gebäude, das keinen Zweck erfüllte und innen leer war.

»Es ist nicht mehr weit«, versicherte er uns immer wieder, wenn wir ungeduldig wurden. »Wir können das Lager am frühen Nachmittag erreichen. Wenn nichts dazwischenkommt«, fügte er noch hinzu.

Es kam aber etwas dazwischen, jedoch erfolgte der Überfall so stümperhaft und unorganisiert, daß wir damit in weniger als zehn Minuten fertig wurden.

Sie waren etwa ein Dutzend und tauchten hinter den Hügeln auf Pferden auf. Ohne Warnung eröffneten sie das Feuer auf uns. Will, der heute am Steuer saß, lenkte den Jeep geistesgegenwärtig in eine Senke, während Jim, Louis und ich absprangen und in Deckung gingen. Mein Versuch, die Banditen von ihrem Vorhaben abzuhalten, mißlang. Sie schossen wie die Verrückten und kamen schnell näher.

Ich nickte den anderen zu, entsicherte meine Schnellfeuerwaffe und erwiderte das wilde Feuer der Angreifer, allerdings mit mehr Erfolg als diese.

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Meine drei Begleiter folgten meinem Beispiel, und schließlich waren es nur noch zwei von der Bande, die in rasender Flucht hinter den Hügeln verschwanden, von denen sie gekommen waren.

Das Leben in einer neuen und fast menschenleeren Welt war hart und grausam, so paradox sich das auch anhören mag. Wer es aufgab, sich gegen die Angriffe und Überfälle von Banditen zu verteidigen, wurde allzu schnell ihr Opfer.

Louis hatte sich während des Überfalls erstaunlich gut gehalten. Er mußte seine Erfahrungen gemacht haben, sonst hätte er auch nicht so lange überleben können.

Will saß schon wieder hinter dem Steuer. »Na, was ist los mit euch? Wollt ihr hier übernachten?« Ich warf einen Blick hinüber zu den getöteten Banditen. »Die haben sicher nichts dabei, was wertvoll für uns sein könnte, allerdings

könnten wir in Jackville noch ein paar Pferde gebrauchen.« »Können wir ja in den Jeep packen«, feixte Jim und kletterte in den

Beifahrersitz. Ich nahm mit Louis hinten zwischen Kartons und prall gefüllten Säcken Platz.

Die Schienen verschwanden vor uns in einem Wald. Louis sagte: »Das ist es! Nun haben wir es wirklich nicht mehr weit.« Die Fahrt durch den total verwilderten Wald glich einem Alptraum. Von

den Geleisen war kaum noch etwas zu sehen, aber Will lenkte den Jeep rücksichtslos über vertrocknete Äste und kleine Bäume, die zwischen den Schwellen herauswuchsen.

»Nach der nächsten Biegung müßten wir da sein«, hoffte Louis zuversichtlich. »Ich erinnere mich genau. Ein hoher Zaun müßte dann kommen, mit einem Tor und einem Kontrollbunker. Wird aber wohl heute niemand mehr kontrollieren, schätze ich.«

Der Zaun kam in Sicht – eine grüne Pflanzenmauer, ebenso zugewachsen wie der kleine Bunker neben dem herausgerissenen Tor. Wir fuhren einfach hindurch und befanden uns innerhalb der ehemaligen Absperrung auf dem Lagergelände. Die Gebäude standen noch, aber Efeu und andere Kletterpflanzen bedeckten sie fast völlig. Auch hier hatte die Natur Besitz von dem ergriffen, was die Menschen übriggelassen hatten.

»Da drüben!« sagte Louis. »Da drüben muß die Rampe sein, wo abgeladen wurde.«

Will folgte den Schienen, bis uns der Prellbock stoppte. Rechts war die Betonrampe, ebenfalls überwuchert. Soweit sich das feststellen ließ, hatte diesen Ort seit Jahren niemand mehr betreten. Vielleicht war es der Urwald, der ihn so hermetisch von der Außenwelt abschloß.

Trotzdem ließen wir unsere Waffen nicht aus den Händen, als wir

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ausstiegen und die Rampe betraten. Das Tor zu dem anschließenden Lagergebäude stand weit offen. Vorsichtig betraten wir es. Undeutlich waren noch Förderbänder und Aufzüge zu erkennen – Aufzüge, die nach unten führten.

»Unter uns muß sich das eigentliche Lager befinden«, sprach Louis das aus, was wir dachten.

Die Aufzüge waren außer Betrieb. Es gab keine Energie mehr. Jim holte eine Lampe, ein Seil und den Geigerzähler aus dem Jeep. Wir nahmen gleich den ersten Aufzug und brachen den Boden der Transportkabine auf. Der Schacht darunter mochte zehn Meter tief sein. Das Seil wurde befestigt, dann hing ich mir das Gewehr um die Schulter und glitt langsam hinab in das Unbekannte. Noch während die anderen folgten, sah ich mich um.

Ich stand in einer riesigen Halle, in der reihenweise stählerne Regale standen, und in ihren ausgesparten Fächern lagen sie, wohlgeordnet und wie Soldaten auf dem Exerzierplatz: die granatenförmigen »Behälter« mit dem flüssigen »Strahlenden Tod«.

»Mein Gott!« stöhnte Jim, als er neben mir war. Mehr brachte er nicht heraus. »Gib mir mal den Geigerzähler«, forderte ich Will auf. Er gab ihn mir, aber ich konnte keine Spur von Radioaktivität feststellen.

Das Ergebnis beruhigte mich keineswegs. Der »Strahlende Tod« hatte nichts mit normaler Radioaktivität zu tun, sondern mit etwas, das niemand von uns kannte – und das vielleicht noch gefährlicher war. Mit dem Geigerzähler jedenfalls war es nicht zu messen.

Ich gab Will das Gerät zurück und nahm wieder die Lampe, um die Granaten näher zu untersuchen. Das Material war Metall und schien noch intakt zu sein. Nur an einer einzigen Granate bemerkte ich einen feinen Riß.

Unwillkürlich wich ich zurück. »Noch zehn oder zwanzig Jahre, vielleicht mehr oder weniger, und der Tod

kann erneut zuschlagen«, sagte ich zu den anderen. »Wie sollen wir jemals alle Lagerstätten finden? Wie überhaupt läßt sich das Zeug unschädlich machen?«

»Das wissen nur jene, die es erfanden«, befürchtete Jim düster. »Und wenn von denen noch einer lebt, hat er sich dorthin verkrochen, wo ihn niemand findet. Was sollen wir tun, Robert?«

Ich wußte, daß wir nichts tun konnten, überhaupt nichts. Selbst wenn wir in der Lage gewesen wären, sämtliche Lagerstätten zu finden und die Granaten im Meer zu versenken, wäre das Problem nicht gelöst, ganz im Gegenteil: wir hätten es nur noch verschlimmert, denn das Meer hätte den Tod an die Gestade aller Kontinente getragen. Früher oder später hätte auch das Salzwasser die Metallbehälter aufgelöst.

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Unwillkürlich mußte ich an den Bruder des Mannes denken, der sich Einsamer Wolf nannte, an den Chemiker, der allerdings nur eine Komponente des tödlichen Gemischs kannte. Wenn wir ihn fänden, würde er uns helfen können?

Ratlos standen wir nun da in dem riesigen Lagerraum, dessen Inhalt allein genügte, den Rest der Menschheit für alle Zeiten auszulöschen. Der »Strahlende Tod« war grausamer und schlimmer als die Atombombe, so wie die Atombombe schlimmer war als die Musketen des Mittelalters. Niemand hatte an eine derartige Steigerung des Schreckens geglaubt, aber der Erfindungsgeist perverser menschlicher Gehirne schien keine Grenzen zu kennen.

»Was sollen wir tun?« wiederholte Jim seine Frage. Ich schüttelte den Kopf. »Nichts, Jim, gar nichts! Wir können nichts tun! Wir können nur zurück

nach Jackville und warten.« »Dann war alles umsonst?« Jims Stimme verriet Enttäuschung und

Entsetzen. »Aber etwas müssen wir doch tun!« Ich zuckte hilflos die Schultern und sah hinüber zu dem Schacht, durch den

wir hierher gekommen waren. »Gehen wir«, sagte ich nur. Der Rest ist schnell erzählt. Wir verließen das Lager und traten die Rückfahrt an, nachdem wir im Wald

übernachtet hatten. Es war der 6. Oktober, als wir das Kaninchen sahen. Wenigstens dachten wir, es sei ein Kaninchen, bis Louis uns aufklärte:

»Es gab sie haufenweise im Mischwerk. Nachttiere. Kaninchen hoppeln, das da drüben hoppelt aber nicht. Es ist eine Ratte.«

Ich blickte ihn erschrocken an. »Eine Ratte so groß wie ein kleiner Hase? Bist du sicher?« »Und die Mäuse im Mischwerk waren so groß wie Ratten«, fügte Louis

hinzu. Da begann ich zu ahnen, was in anderen Teilen unseres Kontinents und auf

der ganzen Welt geschah: Mutationen, hervorgerufen durch die Reste des Giftzeugs, das nach einer gewissen Zeit zwar die tödliche Wirkung verlor, dafür aber eine Genveränderung erzeugte. Die große Frage war nur: geschah das gleiche auch, wenn sich die verhängnisvolle Mischung noch in den Granaten befand?

Daher also auch der ungewöhnlich starke Pflanzenwuchs, der sich in der Nähe jener Orte bemerkbar machte, die mit der Herstellung und Lagerung zu tun hatten.

Um es kurz zu machen: wir erreichten am 15. Oktober Jackville, und ich berichtete in der Zeitung ausführlich über unsere Expedition, ohne allerdings

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meine Vermutungen, unsere Zukunft betreffend, zum Ausdruck zu bringen. Jim, Will und Louis hatte ich zum absoluten Schweigen verpflichtet, auf sie konnte ich mich verlassen. Ich wollte nicht den Optimismus unserer Gemeinschaft und den Willen der Menschen zum Wiederaufbau durch düstere Zukunftsaussichten schwächen.

Du aber, mein Sohn oder Enkel, der du dies liest, sollst die ganze Wahrheit erfahren – wenn ich einst tot bin. Die Zeit zum Handeln ist jetzt noch nicht gekommen.

Anfang November fuhr ich noch einmal ohne Begleitung los, um den Einsamen Wolf zu besuchen. Er war nicht allein. Er hatte Besuch – seinen Bruder, den Chemiker.

Man hatte ihn weiter oben im Norden aufgespürt, und er war geflohen. Es dauerte eine Weile, bis ich sein Vertrauen gewann, dann konnte ich mich endlich eingehend mit ihm unterhalten. Leider wußte er auch nicht viel mehr als Louis. Er kannte nur die Zusammensetzung seiner Komponente, die vielleicht nur ein Zehntel des Endprodukts ausmachte, aber seine Befürchtungen deckten sich mit den meinen.

»Die tödliche Sofortwirkung hat sich verloren, das stimmt. Dafür ist etwas anderes an ihre Stelle getreten, nämlich ein ungehemmtes Wachstum der Pflanzenwelt. Auch die Fauna wird betroffen sein. Wie der Mensch reagiert, weiß ich nicht, man wird es erst in einigen Generationen erfahren.«

»Und die Lagerstätten?« drängte ich ihn. »Läßt sich das Zeug denn nicht unschädlich machen, neutralisieren vielleicht?«

»Ich weiß es nicht, wirklich nicht!« »Was wissen Sie überhaupt?« fragte ich, allmählich die Geduld verlierend. Er starrte eine Weile vor sich hin, ehe er antwortete: »Wir hörten damals nur Gerüchte, aber Sie wissen ja selbst, wie das mit

Gerüchten ist. Ein Körnchen Wahrheit ist meistens dabei. Nachprüfen ließ sich nichts.«

Ich zwang ihn, mehr zu sagen, und fand heraus, daß sich der staatliche Konzern, in dem der »Strahlende Tod« entwickelt worden war, in Kanada befand, irgendwo in den Bergen um Golden in den Rocky Mountains. Er selbst war nie dort gewesen.

»Es waren nur Gerüchte«, erinnerte er mich. »Aber wenn es irgendwo Entwicklungspläne und Aufzeichnungen gibt, dann dort, wo das Gemisch erfunden wurde – wahrscheinlich also in Kanada.«

Kanada! Ein weiter Weg durch jetzt unbekanntes Gebiet und auf fremden Straßen, an deren Rändern Gefahren lauerten. Aber ich war entschlossen, das Risiko auf mich zu nehmen. Ich erklärte es dem Chemiker, der Brendon hieß, und schloß:

»Und Sie werden mit mir kommen, und wenn ich Sie mit dem Gewehr dazu

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zwingen müßte. Wir werden dem Gerücht nachgehen und die Wahrheit herausfinden. Und nun überlegen Sie genau, ob Ihnen nicht doch noch etwas einfällt, das nützlich für uns sein könnte.«

Ich ließ ihm Zeit und unterhielt mich noch ein wenig mit dem Einsamen Wolf. Nebenan in der Küche hantierten seine Frau und seine Tochter mit dem Geschirr. Es würde bald etwas zu essen geben.

»Es hieß damals, das Rezept für die Endmischung sei gestohlen worden, von Agenten anderer Mächte. Das würde erklären, warum es gleichzeitig von beiden Seiten eingesetzt wurde – vielleicht waren es auch mehr als nur zwei Seiten, wer weiß das schon noch?«

»Der Krieg war so verrückt wie jeder Krieg verrückt ist«, sagte ich. »Glauben Sie, daß die Erfinder – vielleicht in Kanada – noch am Leben sind?«

»Wenn überhaupt, dann in der Brutstätte, deren Standort niemand von uns kannte. Also Kanada – vielleicht.«

»Bitte, Brendon, denken Sie scharf nach! Versuchen Sie sich zu erinnern, was Sie noch so ... nun ja, an Gerüchten vernommen haben. Es ist ungemein wichtig, glauben Sie mir.«

Er sah mich kurz an, dann stützte er das Kinn in seine Hände. Schließlich blickte er wieder auf.

»Auf meiner Flucht traf ich auf einen Mann, von dem ich annehme, daß er bei dem ganzen Projekt eine leitende Stelle bekleidet hatte, jedenfalls schien er wesentlich mehr zu wissen als ich. Es gelang mir, sein Vertrauen zu gewinnen, als ich ihm klarmachte, daß wir, wenn auch in entferntem Sinn, Kollegen waren. Die Brutstätte, bleiben wir mal bei der Bezeichnung, kannte er angeblich nicht, er verriet mir jedoch, daß selbst die Endmischung in den Granaten – auch diese Bezeichnung dürfte nicht ganz richtig sein – unschädlich war, sonst wären die Transporte unter anderen Sicherheitsmaßnahmen vorgenommen worden. Das Metall der Granaten selbst enthielt eine Substanz, die bei der Detonation frei wurde und sich mit der in ihr befindlichen Flüssigkeit vermischte.«

Das war ein völlig neuer Aspekt. Ich konnte ihn nur verblüfft anstarren. Er nickte. Ohne daß ich ihn auffordern mußte, fuhr er fort:

»Da die Granaten mit Raketen und gesonderten Sprengsätzen ins Ziel getragen wurden, wo die Explosion und damit die allerletzte Vermischung stattfand, dürfen wir eigentlich annehmen, daß die Lagerstätten selbst absolut ungefährlich sind. Die wirklich letzte Komponente, nämlich die das Metall zerfetzende Detonation, fehlt.«

»Und die Mutationen?« »Eine kaum beabsichtigte Nebenwirkung, aber auch das ist nur eine

Vermutung.«

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Ob Nebenwirkung oder nicht, Mutationen jeder Art waren mir unheimlich. Dabei war das jetzt alles erst der Anfang, vier Jahre nach der Katastrophe. Wie würde die Welt in vierzig oder hundert Jahren aussehen?

Und das Wichtigste und Entscheidende: Konnte eine lange Lagerzeit nicht den gleichen Effekt auf das Metall der Granaten haben wie eine Explosion?

Brendon schien meine Gedanken erraten zu haben. »Der Mann, den ich traf und den ich kurz’ darauf aus den Augen verlor,

äußerte die Vermutung, daß der unbekannte Stoff, eine Art Legierung, die dem Metall beigefügt wurde, mit der Zeit frei werden und sich mit der Flüssigkeit vermischen könnte. Sollte sich bis dahin die ursprünglich geplante Wirkung nicht verloren haben, brauchen wir uns um das endgültige Ende der Welt keine Sorgen mehr zu machen.«

Ich dachte an die Granate, die ich im Lager gesehen hatte, die mit dem feinen Riß in der sonst blanken Oberfläche. Aber dann wurde mir klar, daß ein Riß noch lange keine Auflösung bedeuten mußte. Die Flüssigkeit verflüchtigte sich vielleicht beim Nachlassen des Drucks, unter dem sie stand, und entwich langsam in Form von Gas – und dieses Gas schlug sich draußen nieder und bewirkte den anormalen Pflanzenwuchs und die ersten Mutationen.

»Wir werden so bald wie möglich aufbrechen«, sagte ich. Es dauerte jedoch noch mehr als ein Jahr, bis es soweit war. Vermehrte

Überfälle immer besser organisierter Banden, teils mit modernsten Waffen ausgerüstet, die sie in den Arsenalen gefunden hatten, erforderten die ständige Abwehrbereitschaft jedes einzelnen von uns. Dann aber, etwa Mitte des Jahres 1999, ließen die Überfälle nach.

Durch gelegentliche Funksprüche erfuhren wir, daß sich der Widerstand anderer Ansiedlungen und Gemeinschaften ebenfalls besser organisiert hatte und daß viele der Banden, die meist in unbewohnten Gebieten ihre Schlupfwinkel besaßen, aus diesen nicht mehr zurückgekehrt waren, als habe der Erdboden sie verschluckt.

Gab es dort Gefahren, von denen wir nichts wußten – oder höchstens ahnten?

Ich drängte jetzt energisch zum Aufbruch. Es ist November geworden. Gibson Kemp und Eppstein haben den

Geländewagen für den Winter ausgerüstet. Wir sind startbereit. Auch Brendon, der sich gut in unsere Gemeinschaft eingelebt hat, kann es kaum erwarten. Morgen brechen wir auf.

Ich bin fertig mit meinem Bericht, und wir wissen nicht, was wir finden werden. Aber ich bin sicher, daß wir bei unserer Rückkehr mehr wissen werden als heute – falls wir jemals zurückkehren. Diese Ungewißheit, ob wir es schaffen, hat mich dazu veranlaßt, diesen Bericht zu schreiben, der leider

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noch keine endgültige Antwort darstellt. Wie Brendon mir versichert, besteht noch keine akute Gefahr was den

»Strahlenden Tod« selbst betrifft, der kritische Zeitpunkt läge noch etliche Jahrzehnte in der Zukunft. Aber die andere Gefahr ist akut! Dort, wo keine Menschen leben, und in der Umgebung der Lagerstätten haben Vegetation und einige Tierarten bereits ihr Erbe angetreten.

Ich bin fertig. Janet und ich werden den Abend zusammen und allein verbringen. Von den anderen habe ich mich schon verabschiedet, da wir noch vor Sonnenaufgang starten wollen. Möge das Glück auf unserer Seite sein und mögen wir jene finden, die uns die Antworten auf alle unsere Fragen geben können. Mit der Waffe in der Hand werden wir sie dazu zwingen, und Gott möge uns vergeben, wenn wir sie töten müssen ...

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2.

Robert Zimmermann hatte November 1999 den Bericht unterschrieben und die Namen der drei anderen Expeditionsteilnehmer hinzugefügt:

Gibson Kemp, Eppstein und Brendon. Man hat nie mehr wieder von ihnen etwas gehört. Gerald Zimmermann blieb an diesem Abend noch lange bei Claire

Buchanan, und dann, nach langer Diskussion, sagte sie energisch: »Du mußt Sam den Bericht lesen lassen, Gerald, unbedingt! Wie soll sonst

jemand deinen Entschluß begreifen, den Spuren deines verschollenen Großvaters folgen zu wollen, falls du überhaupt welche findest nach sechseinhalb Jahrzehnten? Aber ...«, sie legte ihre Hände auf die seinen und sah ihn an, „… aber du wirst doch nicht ernsthaft daran denken, diesen Ort in Kanada aufzusuchen, nur auf eine bloße Vermutung hin ...?«

»Ich werde es wohl tun müssen, Claire, denn dieser Bericht ist nichts anderes als ein Vermächtnis. Und wenn mein Großvater recht hatte mit seinen Vermutungen und Befürchtungen, leben wir gerade jetzt in der Zeit, für die der Ausbruch der Katastrophe vorausgesagt wurde. Ein gutes halbes Jahrhundert…«

»Aber das ist doch alles Unsinn! Was ist denn bisher schon passiert? Sicher, in den verlassenen Gebieten breitet sich die Vegetation aus, aber das ist doch nicht ungewöhnlich. Schön, die im Bericht erwähnten Ratten sind größer geworden, einige Insektenarten auch, aber sie haben sich nicht bedrohlich vermehrt und ...«

»Richtig!« fiel Gerald ihr ins Wort. »Sie haben sich nicht sonderlich vermehrt! Ist dir vielleicht auch schon aufgefallen, daß die Bevölkerung von Jackville sich ebenfalls kaum vermehrt hat und daß immer weniger Kinder geboren werden? Hast du darüber schon mal nachgedacht, Claire?«

Verwirrt suchte sie nach einer Erklärung. »Vielleicht wollen die Leute keine Kinder mehr, wenigstens nicht so viele

wie früher.« »Dann frage mal Sam Roberts, Claire. Er wird dir bestätigen, daß immer

mehr Frauen zu ihm kommen, weil sie gern Kinder hätten, aber keine bekommen. Sie sind unfruchtbar geworden, nicht alle, aber ich schätze mehr als achtzig Prozent. Bei den Männern liegt die Prozentzahl etwas niedriger. Meinst du wirklich, daß sei noch ein Zufall?«

»Und wenn es kein Zufall ist, was willst du dagegen tun?« Er grinste, fast ein wenig spitzbübisch. »Wenn ich zurück bin, Claire, werden wir heiraten, und dann werden wir ja

sehen, ob meine Befürchtung stimmt oder nicht.«

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Sie lief rot an. »Aber Gerald, das Trauerjahr ist ja kaum vorbei.« »Bis ich zurückkomme, ist es zweimal vorbei.« Zum zweiten Mal an diesem Abend legte sie die Hände auf die seinen. »Und wann ... wann ist es soweit?« »Wann ich aufbreche, meinst du?« Als sie nickte, fuhr er fort: »Keine

Ahnung, die Vorbereitungen benötigen Zeit. Ich werde James und John fragen, ob sie mich begleiten wollen. Sie sind zuverlässig und mit uns befreundet.« Er sann eine Weile schweigend vor sich hin, so als müsse er eine Entscheidung treffen, was er dann auch tat. »Du hast recht, Claire, ich muß Sam den Bericht meines Großvaters lesen lassen, auch James und John werden ihn lesen. Aber sie werden über den wahren Grund der Expedition ebenso schweigen müssen wie du. Es gäbe sonst eine Panik.«

Sie nickte. »James Townshend und John Ewert sind gute Männer. Wenn sie mit dir

gehen, bin ich etwas beruhigter.« Sie stand auf. »Ich mache uns noch eine Tasse Tee.«

Erst spät in der Nacht kehrte Gerald in seine eigene Wohnung zurück. Morgen würde er mit den Freunden reden. Die Verbindung zu anderen Ansiedlungen mit einem Funkgerät war mehr

als locker. Ab und zu wurden Informationen ausgetauscht oder Warnungen vor Überfällen durchgegeben, das war aber auch schon alles. Die einzelnen Gemeinschaften lebten unabhängig voneinander, gegenseitige Besuche oder Tauschgeschäfte gab es nur selten.

So war es nicht nur in Amerika. Auf der ganzen Welt, auf allen Kontinenten, von denen keiner dem »Strahlenden Tod« entkommen war, spielte sich das Leben in ähnlicher Form ab.

Es gab immer noch ein paar Flugzeuge und Schiffe, aber es wurden keine neuen mehr gebaut. Wozu auch? Öl wurde keins mehr gefördert, keine Raffinerie arbeitete noch, und die immer noch hier und da vorhandenen Treibstofflager reichten für den geringen Bedarf der letzten und immer wieder reparierten Fahrzeuge aus.

Es war ein einfaches und primitives – und natürliches Leben, das der Rest der Menschheit führte, und sie war damit zufrieden. Jene Orte, an denen sich die neuen Gemeinschaften gebildet hatten, konnten von der überall vordringenden Vegetation freigehalten werden, wenn dafür auch größte Anstrengungen notwendig waren, aber auf den vom Unkraut freigehaltenen Anbauflächen konnten Ernten erzielt werden, die jene von früher um das Doppelte und Dreifache übertrafen. Es gab keinen Hunger.

Dafür jedoch gab es kaum noch Fleisch. Pferde, Kühe, Schweine und anderes Nutzvieh wurde mit jedem Jahr rarer, weil sich die Tiere kaum

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vermehrten. Geschlachtet wurde nur in äußersten Notfällen, und schließlich wurde Fleischgenuß in den meisten Teilen der Welt verboten – solange zumindest, bis eine merkbare Aufstockung des Viehbestands erfolgte.

Mit den Hühnern war es ähnlich. Zwar legten sie Eier in gewohnter Menge, aber selten nur schlüpften Küken aus. Das gebratene Huhn gehörte der Vergangenheit an, wenn man von jenen Exemplaren absah, die man röstete, weil sie keine Eier mehr produzierten.

Überfälle gab es jetzt weniger, und wenn, dann wurden sie von den betroffenen Gemeinschaften mit erbitterter Entschlossenheit abgeschlagen.

Die Welt begann sich von dem Schock des letzten Krieges zu erholen. Gerald Zimmermann hatte Doc Sam Roberts den Testamentbericht

vorgelegt und dann auf eine Reaktion gewartet. Sam hatte sich mit dem Lesen Zeit gelassen und dann bedächtig genickt.

»Da gibt es kaum eine andere Wahl, Gerald. Du mußt das Vermächtnis deines Großvaters erfüllen. Er wollte es so. Und ich meine, es ist lebenswichtig, daß wir alle die Wahrheit erfahren, wie immer sie auch aussehen mag. Ich selbst verstehe nicht viel von Chemie, schon gar nicht, wenn es sich um chemische Kampfstoffe handelt. Und das war der »Strahlende Tod« ja wohl zweifelsfrei. Allerdings bin ich jetzt davon überzeugt, daß er nicht nur tötete, sondern daß die Zusammensetzung nach einer bestimmten Zeitspanne einer Veränderung unterworfen wurde, die etwas völlig anderes als den Tod verursacht. Wahrscheinlich haben das selbst jene nicht gewußt, die den Stoff entwickelten. Du mußt die Formel der Zusammensetzung finden, Gerald! Nur dann haben wir eine Chance, etwas dagegen zu unternehmen. Lehrbücher sind noch genügend in unserer Bibliothek vorhanden.«

»Hoffentlich nützen sie uns was.« Sam schob den Bericht über den Tisch zurück. »Wozu haben wir unsere Schule mit dem kleinen chemischen Labor? Wozu

haben wir Peter Helling, den Chemielehrer? Hat er zwar nur bei sich zu Hause studiert, aber ich glaube schon, daß er eine Menge von dieser Materie kennt.«

Gerald verstaute den Bericht in der Rocktasche. »Ich habe also dein Einverständnis. Packe Medikamente zusammen. Wir

werden sicher welche gebrauchen können. Auch Verbandszeug. Wir werden in einer Woche starten.«

»Wir …? Wer kommt noch mit dir?« Gerald lächelte. »Ich dachte an James Townshend, dessen Vater mit dem Flugzeug von

England kam und hier blieb, weil er heiratete. Und natürlich an John Ewert, dessen Großvater ebenfalls aus England zu uns stieß. Sie sind Freunde von

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mir. Ich bin gespannt, was sie sagen, wenn sie die Neuigkeit erfahren.« Sam lächelte zurück. »Wie ich die beiden kenne, sind sie mit Feuer und Flamme dabei. Dann

also viel Glück – schon jetzt im voraus.« Doc Sam behielt recht. Als James und John den Bericht gelesen hatten und Geralds Vorschlag

vernahmen, sagten sie sofort zu. »Vielleicht finden wir auf dem Weg ein Flugzeug, das noch fliegt«, hoffte

der vierzigjährige James begeistert. »In dieser Hinsicht trete ich gern in die Fußstapfen meines Vaters. Er hat mir alles, was zur Fliegerei notwendig ist, in der alten Mühle beigebracht, mit der sie damals den Ozean überquerten und hier, eine Bruchlandung machten. Leider fliegt die Kiste nicht mehr.«

»Und ich«, gestand John Ewert ohne Verlegenheit, »bin zwar nicht so ein berühmter Schauspieler wie mein Großvater Jack, dafür verstehe ich aber etwas von Physik. Und gut schießen kann ich auch!«

»Das wird vielleicht auch nötig sein«, nahm Gerald das Einverständnis zur Teilnahme an der geplanten Expedition freudig entgegen. »In einer Woche brechen wir auf. Wir nehmen den großen Jeep, das Geländefahrzeug. Hat eine Menge Platz darin. Außerdem ist er in Ordnung und läßt uns kaum im Stich.«

»In einer Woche also«, meinte James und klopfte sich begeistert auf die Schenkel. »Ich kann es kaum erwarten.«

»Und ich«, sagte John, »werde mir noch einige Informationen von Peter Helling holen. Man kann nie wissen.«

In zuversichtlicher Stimmung verabschiedeten sie sich. Auch diesen Abend verbrachte Gerald zusammen mit Claire, die immer

noch gehofft hatte, er würde seine Pläne aufgeben. Sie war eine tapfere Frau und ließ sich ihre Sorge und Enttäuschung nicht

anmerken, als sie seine feste Entschlossenheit erkannte. Halb Jackville hatte sich versammelt, als der Gelände-Jeep von James auf

den kleinen Platz im Zentrum der kleinen Stadt gelenkt wurde. Neben ihm hatte Gerald Platz genommen, während John hinten zwischen der Ausrüstung saß, deren Hauptteil allerdings im Laderaum untergebracht worden war. Die Waffen lagen griffbereit zwischen den Sitzen.

Bis auf die vier genannten Ausnahmen hatten die Bewohner von Jackville keine Ahnung von dem Testament Robert Zimmermanns, dessen Name jeder kannte. Schließlich war er einer der Gründer dieser Ansiedlung gewesen, damals, nach der großen Katastrophe. Somit war es selbstverständlich, daß man seinem Enkel den nötigen Respekt entgegenbrachte und ihm sowie seinen beiden Begleitern Glück wünschte und seine Erklärung, man wolle Kontakt mit anderen Menschen suchen, vollen Glauben schenkte. Und

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Gerald hatte nicht einmal zu lügen brauchen, denn sie suchten ja tatsächlich Menschen – Menschen, die etwas wußten.

Nach einer Ehrenrunde lenkte James den Jeep aus der Stadt hinaus auf die Straße, die nach Norden führte. Etwa zweihundert Kilometer in dieser Richtung lebte ebenfalls eine kleine Gemeinschaft, Nachkommen jener, die damals überlebt hatten.

»Wir haben mehrmals Funkkontakt mit ihnen gehabt«, plauderte John und stützte sich an den festgezurrten Kisten ab, denn die Straße bestand zum größten Teil nur noch aus Schlaglöchern. »Ganz vernünftige Leute dort. Leider hatten sie vor zwei oder drei Jahrzehnten ziemliches Pech.«

»Wieso? Was ist passiert?« fragte Gerald. »Sie wurden überfallen, hatten eine Menge Tote, konnten aber dann den

Rest der Bande vertreiben. Die jedoch hatte das einzige Treibstofflager bei ihrer Flucht in Brand gesteckt. Es explodierte und zerstörte die drei dort abgestellten Autos völlig.«

Gerald schüttelte den Kopf. »So vernünftig, wie du behauptest, scheinen sie also doch nicht gewesen zu

sein.« »Denen von heute kannst du deshalb doch keinen Vorwurf machen, die

meisten waren damals noch Kinder«, verteidigte John die Bewohner von Rocktown, so hieß der Ort. »Fahr nicht so schnell, James, sonst haben wir bald einen Achsenbruch.«

»Nicht mit dem Karren!« knurrte James und mogelte sich geschickt an den Schlaglöchern vorbei, wenn es gerade möglich war.

So ganz unrecht hatte er nicht mit seiner Behauptung, denn das ständig immer wieder reparierte und mit Metallverstärkungen versehene Fahrzeug war mit Sicherheit robuster als jedes andere, das damals aus der Fabrik rollte. Es war auch schwerer, allein schon wegen der gepanzerten Reservetanks. Der Sprit reichte für gut anderthalbtausend Kilometer, wenn man die schlechten Straßen und Fahrten durchs Gelände einkalkulierte.

Gegen Abend erreichten sie ohne Zwischenfall Rocktown, eine Ansiedlung mit schätzungsweise dreihundert Menschen. Gerald ließ James in einiger Entfernung anhalten. Er stieg aus und schwenkte ein weißes Handtuch, damit es keine Verwechslungen gab.

Ein einziges Funkgerät war Rocktown verblieben, und auf diesem Weg hatte man ihr Kommen angekündigt. Es würde also kaum Probleme geben.

Es dauerte fast drei Minuten, ehe am Rand der Siedlung eine Bewegung zu erkennen war. Ein Mann erschien dort und winkte Gerald zu. Er trug ein Gewehr in der anderen Hand, hielt aber den Lauf nach unten.

Gerald nickte seinen Freunden zu und ging dem Mann von Rocktown entgegen. Das weiße Tuch behielt er in der Hand. Als er sich ihm bis auf

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wenige Meter genähert hatte, blieb er stehen. »Wir kommen aus Jackville. Sie wissen Bescheid?« Der Mann nickte und lächelte. »Sie wurden uns angekündigt – aber lassen wir das unüblich gewordene

Sie. Seid uns willkommen. Ich weiß zwar nicht, ob wir euch helfen können. Viel hat man uns nicht verraten können.«

»Können meine Freunde nachkommen?« »Natürlich, wenn sie nicht im Wagen da draußen übernachten wollen.« »Danke, aber das Schlafen im Wagen und im Freien werden wir uns

ohnehin noch angewöhnen müssen.« Er drehte sich um und winkte zurück. Der Jeep setzte sich sofort in

Bewegung und hielt dann an. James stellte den Motor ab und stieg aus. John folgte ihm.

Der Mann aus Rocktown hieß Olaf Brandström und war Vorsitzender des Gemeinderats. Noch vor der großen Katastrophe waren seine Großeltern von Norwegen eingewandert und hatten sich hier angesiedelt. Gerald und seine Begleiter stellten sich ebenfalls vor, doch bevor sie auf den Zweck ihres Besuches zu sprechen kamen, winkte Olaf ab.

»Hat Zeit bis später, Freunde. Wir wissen, daß ihr jemand sucht, wenigstens sagte man das in Jackville. Der Funk war rein zufällig eingeschaltet und auf Empfang, weil es genügend Wind für den Strom gab. Ihr seid auf der Suche nach jemand – mehr haben sie uns nicht gesagt. Hoffentlich sucht ihr diesen Jemand nicht gerade bei uns.«

»Nein, das wäre unwahrscheinlich«, lächelte Gerald. Olaf Brandström war sichtlich beruhigt. »Dann kommt mit, man wartet schon auf den seltenen Besuch. Ihr bleibt

doch bis morgen?« »Gern«, stimmte Gerald zu. »Wird ja auch schon dunkel.« Der Jeep wurde einfach auf der Straße abgestellt, denn so etwas wie

Diebstahl gab es in Rocktown nicht. Dann saßen die drei Freunde in der großen Stube eines gemütlich eingerichteten Gasthauses – dem einzigen von Rocktown – an einem langen Holztisch. Etwa vier Dutzend Männer und Frauen betrachteten sie voller Neugier, stellten aber noch keine Fragen. Zuerst wurde gegessen.

Dann erst, bei einem Glas selbstgebrauten Bieres, kam eine Unterhaltung auf. Sie beschränkte sich anfangs auf allgemeine Themen, die das Leben in den beiden Siedlungen betrafen, dann fragte Gerald schließlich:

»Ich weiß nicht, ob hier eine Dorfchronik geführt wird, in der die Ereignisse der letzten Jahrzehnte niedergeschrieben wurden.« Er sah, daß Olaf nickte.

»Wenn ja, dann müßte man in ihr auch den Namen meines Großvaters

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finden, denn als er vor sechsundsechzig Jahren nach Norden aufbrach, kam er mit Sicherheit hier vorbei.«

»Vielleicht hat er sich in unser Besucherbuch eingetragen«, rief jemand vom anderen Ende des Tisches.

»Möglich«, räumte Olaf ein. »Ich bin mir nicht ganz sicher, aber den Namen Zimmermann habe ich schon mal irgendwo gehört oder gelesen – früher, meine ich. Käthe, sei so gut und hole das Buch. Bring auch gleich die Chronik mit.«

Eine ältere Frau erhob sich und verließ den Raum. Gerald befriedigte inzwischen die erklärliche Neugier ihrer Gastgeber und

erzählte von der Expedition seines Großvaters und ein wenig über ihren Zweck. Er schloß:

»Er und seine drei Begleiter sind damals spurlos verschwunden und niemals zurückgekehrt. Wir wollen herausfinden, was geschehen ist.«

»Das ist alles eine sehr lange Zeit her, da kann es keine Spuren mehr geben«, erklärte Olaf.

Käthe kam mit zwei Aktendeckeln zurück und gab sie Olaf. Der blätterte in ihnen und schlug dann bei dem dünneren die letzten Seiten auf.

Gerald wartete geduldig. Er wollte nichts überstürzen. Dann sah er, daß sich die Miene des Norwegers aufhellte. Sein Finger stieß auf das vor ihm liegende Blatt hinab, als wolle er es aufspießen.

»Tatsächlich! Sie waren hier!« Nun hielt Gerald es nicht mehr länger aus. Er streckte die Hand über den

Tisch, und Olaf schob ihm das »Buch« bereitwillig entgegen. Gerald erkannte die typische steile Schrift seines Großvaters auf den ersten

Blick. Atemlose Stille herrschte in der Gaststube, als er laut vorlas: »Erreichten heute die Siedlung Rocktown, unsere erste Station, und

bedanken uns für die erwiesene Gastfreundschaft. Unser Weg führt uns weiter nach Norden, und wir hoffen, immer auf so ehrliche Menschen zu treffen wie hier. Nochmals vielen Dank. Gezeichnet: Robert Zimmermann, auch im Namen meiner Begleiter Brendon, Eppstein und Kemp. November im Jahre fünf nach dem Ende der Welt.«

November 1999 also. Gerald blickte auf und begegnete den fragendem Augen Olafs. Eine kleine

Erklärung würde er ihm und den anderen wohl schuldig sein. »Er war hier, das wissen wir nun, aber leider hinterließ er keinen Hinweis

über den Zweck der Expedition. Nach Norden also! Irgendwo im Norden gab es etwas, das er finden wollte.«

»Der Norden ist weit und groß«, sagte Olaf nachdenklich. »Die nächste Siedlung in nördlicher Richtung dürfte ungefähr vierhundert Kilometer entfernt sein. Ich hoffe, ihr habt genügend Benzin, denn bei uns gibt es

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keinen Tropfen mehr seit dem Überfall. Wir benötigen auch keins, davon abgesehen.«

»Die vierhundert Kilometer schaffen wir leicht mit unseren Vorräten. Wie heißt übrigens die Siedlung?«

»Manchmal haben wir Funkkontakt mit ihr. Nennt sich Heidelberg – komischer Name, nicht wahr?«

»Eine deutsche Stadt hieß so«, erinnerte ihn Gerald. »Einer meiner Vorfahren studierte dort«, warf John ein. »Dann werden wir

in Heidelberg wohl auf deutsche Siedler beziehungsweise deren Nachkommen treffen.«

»Das ist anzunehmen«, sagte Gerald und unterdrückte ein Gähnen, aber Olaf hatte es trotzdem bemerkt.

»Ihr werdet nach der langen Fahrt müde sein. Wir haben Zimmer hier im Gasthaus.«

»Keine Umstände«, bat Gerald. »Entweder Zimmer hier im Gasthaus«, rief Olaf mit dröhnender Stimme,

»oder wir jagen euch aus der Stadt!« »Unter solchen Umständen«, spielte Gerald den Eingeschüchterten, »ziehen

wir es natürlich vor, dein Angebot dankend anzunehmen.« Beide lachten, aber es dauerte doch noch gute zwei Stunden, bis sie endlich

in den Betten lagen. Es gab zuviele Fragen, und das Bier war gut. Am zweiten Tag schafften sie auch wieder zweihundert Kilometer, aber

dann lag vor ihnen ein Gebirgszug. Die bisher gut erhaltene Straße endete in einem Geröllhaufen.

»Da war wohl mal der Paß«, vermutete James. »Wir hätten Olaf fragen sollen, ob man das Gebirge umfahren kann.«

»Der weiß das ebensowenig wie wir«, war sich Gerald sicher. »Entweder versuchen wir es, indem wir einfach weiterfahren und hoffen, die Straße wiederzufinden, oder wir weichen nach Osten oder Westen aus, bis wir einen Übergang finden.«

»Das kann aber Tage dauern«, befürchtete John. »Kämen wir überhaupt durch das Geröll hindurch, James?«

»Ich denke schon. Ist zwar eine Menge von da oben heruntergekommen, und das ausgerechnet auf die Straße – hm, merkwürdig.«

Gerald warf ihm einen prüfenden Blick zu, dann nahm er sein Gewehr, überprüfte das Magazin und stieg aus. Er ging zu dem Haufen Steine, die die Straße sperrten, und betrachtete sie aufmerksam und nachdenklich. Er kletterte sogar ein Stück hinauf, um zu sehen, was dahinter war. Dann kehrte er zum Jeep zurück.

»Eine von Menschen errichtete Barriere«, teilte er ihnen das Ergebnis seiner Untersuchung mit. »Jemand, der oben in den Bergen haust, legt keinen

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Wert auf Gesellschaft. Für einen einzelnen Mann war das wohl zuviel Arbeit. Es könnten also mehrere sein, die sich da oben verstecken. Banditen?«

»Dann gäbe es hier unten sicher eine Wache«, gab James zu bedenken. »Wozu denn? Wer kommt denn schon hier vorbei?« »Wir, zum Beispiel.« Er war ebenfalls ausgestiegen und inspizierte die sehr natürlich wirkende

Straßensperre. Dann drehte er sich um und sagte: »Ganz klarer Fall. Die vordere Schicht ist von Hand gelegt worden, sehr

geschickt, aber doch zu erkennen. Dahinter liegt alles völlig anders und durcheinander. Und dort oben, knapp hundert Meter von hier entfernt, ist die Straße wieder frei. Wir könnten es also bis da schaffen, und dann geht alles von alleine.«

»Aber die vordere Schicht muß weg?« vergewisserte sich Gerald. »Ja, das bleibt uns nicht erspart.« »Hoffentlich lohnt sich die Mühe«, maulte John, dem nicht gerade nach

Schwerarbeit zumute war. »Bewegung tut uns nach der Fahrerei ganz gut«, gab Gerald das Zeichen

zum Beginn der Räumarbeit. Als es dunkelte, hatten sie einen schmalen Durchgang zum natürlichen

Geröll freigelegt. James startete den Jeep und fuhr langsam los. Gerald und John gingen hinterher und schoben, wenn es nötig wurde. Zweimal blieb James stecken, und sie mußten die Hindernisse beiseite räumen, aber dann, als es schon finster wurde, erreichten sie die Straße, die steil bergan führte.

»Wir übernachten gleich hier«, schlug Gerald vor und deutete auf eine Nische in dem Felsen, der links fast senkrecht aufsteilte. »Ist im Notfall gut zu verteidigen.«

Auf einem kleinen Feuer wärmten sie einige Konserven auf, die in Rockville hergestellt wurden, und krochen dann in ihre Schlafsäcke – bis auf John, den man zur ersten Wache verdonnert hatte.

Der nächste Tag brachte eine Überraschung. Obwohl die Straße, eigentlich wohl mehr ein Fahrweg, ziemlich steil nach

oben führte, kamen sie gut voran. Der Gebirgszug mochte vielleicht achthundert Meter hoch sein, von der Ebene aus gerechnet.

Als sie die Paßhöhe erreichten, sahen sie das Haus. James hielt sofort an und schaltete den Motor ab. Gerald nahm das

Fernglas, blieb aber sitzen. Die beiden anderen legten ihre Waffen griffbereit neben sich.

Gerald setzte das Glas wieder ab. »Auf dem Feld hinter dem Blockhaus ist ein Hang. Dort arbeitet ein älterer Mann, soweit sich das beurteilen läßt. Dürftige

Vegetation hier. Merkwürdig, nicht wahr? Vor dem Haus ist ein Brunnen.

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Eine Frau holt gerade Wasser. Sieht alles sehr friedlich aus.« »Weiter rechts ist eine Wiese«, sagte James, der gute Augen hatte. »Ich

kann zwei Kinder erkennen, dazu ein halbes Dutzend Kühe, zwei Pferde und einige Schafe oder Ziegen. Hier scheint sich jemand sein eigenes Paradies geschaffen zu haben, unabhängig vom Rest der Welt.«

»Und die Geröllsperre?« fragte John und blieb skeptisch. »Vielleicht wollen sie allein bleiben«, meinte Gerald und stieg aus. »Bleibt

hier und seid wachsam. Ich gehe mal hin. Wenn ich winke, könnt ihr beruhigt nachkommen. Ansonsten seht ihr ja, was passiert.«

Außer seiner kleinen Pistole in der Hosentasche nahm er keine Waffe mit. Mit bedächtigen Schritten überquerte er eine magere Wiese und näherte sich dem Brunnen. Die Frau holte gerade mit der Seilwinde einen zweiten Eimer mit Wasser aus der Tiefe, als sie plötzlich den Fremden bemerkte. Erschrocken ließ sie das Seil los, und der volle Eimer sauste zurück in den Schacht. Dann rannte sie ins Haus und kam Sekunden später mit einem Gewehr in der Hand wieder zum Vorschein.

»Stehenbleiben!« rief sie. Ihre schrille Stimme verriet Angst. Der Mann auf dem Feld hörte sie auch. Er behielt den Spaten in der Hand

und kam herbeigelaufen, blieb aber stehen, als er sah, daß Gerald nicht bewaffnet war oder die Frau bedrohte.

»Wer sind Sie und was wollen Sie hier? Wie sind Sie überhaupt durch die Sperre gekommen?«

»Sie ist nicht unüberwindbar, und zu Fuß kann da jeder hinüber. Aber keine Sorge, wir möchten nur ein paar Auskünfte, dann fahren wir weiter. Weiter nach Norden«, fügte Gerald noch hinzu.

Der Mann, er mochte an die sechzig Jahre alt sein, kam näher und stützte sich auf seinen Spaten. Er sah hinüber zu der Frau.

»Nelly, du kannst weiter Wasser holen.« Und zu Gerald gewandt: »Sie sehen ehrlich aus, Fremder. Und was ist mit den beiden drüben im Wagen?«

»Meine Freunde, und genauso ehrlich.« Er gab das verabredete Zeichen. James und John kamen herbei, die Waffen in der Hand. »Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte Gerald schnell, während er sich und seine Freunde vorstellte.

Der alte Mann nickte. «,Ich bin Ferdi Mayer, und das da ist meine Frau Nelly. Wir haben zwei

Kinder und leben allein hier.« Er deutete zum Haus. »Setzen wir uns auf die Bank, das ist bequemer.«

Gerald berichtete ihm vom Zweck der Expedition und stellte ein paar Fragen. Der Mann sann lange vor sich hin, ehe er langsam und stockend zu sprechen begann.

»Mein Vater, er ist schon lange tot, erzählte oft von den vier Fremden, die

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eines Tages hier erschienen. Das war, bevor ich geboren wurde und meine Mutter starb. Meine Eltern hatten sich gleich nach der Katastrophe hierher zurückgezogen. Freunde aus Heidelberg, nördlich von hier, halfen ihm beim Bau der Hütte und den beiden Sperrmauern, aber es gab trotzdem mehrmals Überfälle durch Banden. Später blieben sie aus.«

Er machte eine Pause, als er in seinen Erinnerungen suchte. Gerald, James und John warteten geduldig. Nelly brachte ein Stück kaltes Fleisch und einen Krug kühles Brunnenwasser. Dann begann Ferdi Mayer wieder zu reden:

»Die vier Fremden, so erzählte mir mein Vater – die Namen habe ich vergessen – wollten nach Norden, sehr weit nach Norden. Sie sind bestimmt auch durch Heidelberg gekommen – wenigstens drei von ihnen.«

»Wieso nur drei?« horchte Gerald auf. Ferdi Mayer seufzte. »Während sie hier waren, griff eine Bande von Räubern und Mördern das

Haus an. Mein Vater und die vier Fremden wehrten sich erbittert und töteten fast die Hälfte der Banditen. Der Rest floh und kehrte nie mehr zurück. Leider fand auch einer der vier Fremden den Tod. Er ist der einzige, dessen Namen erhalten blieb.«

Gerald war unwillkürlich aufgesprungen, setzte sich aber dann langsam wieder hin.

»Wie war der Name?« Nun erhob sich der alte Mann. »Kommt mit, ich zeige euch das Grab. Es liegt neben dem meiner Eltern.« Er führte sie an dem kleinen Garten vorbei zu dem Hang, der mit Büschen

bewachsen war. Drei flach gewordene Grabhügel, eingerahmt von Steinen, wären in der Wildnis kaum noch aufgefallen, wenn nicht die Holzkreuze gewesen wären. Regen und Wind hatten die Inschriften fast unleserlich gemacht, aber der Name auf dem linken Kreuz ließ keine Mißverständnisse aufkommen.

BRENDON stand da, sonst nichts, auch kein Datum. Die Expedition Robert Zimmermann hatte hier ihren wichtigsten Mann, den

Chemiker, verloren. »Ja, das war einer der Männer, deren Spuren wir folgen«, sagte Gerald

schließlich und wandte sich ab. »Es ist noch früh am Tag, wir werden weiterfahren.«

Auf dem Weg zum Haus sagte der alte Mayer noch: »Heidelberg wurde von deutschen Auswanderern gegründet, lange vor dem

Krieg. Es leben gute Menschen dort. Manchmal kommt der eine oder andere hierher, um uns zu besuchen. Die Straße nach Heidelberg führt durch einen Wald, früher soll dort nur Wüste gewesen sein. Ich wäre froh, wenn bei mir das Gemüse so gut wachsen würde wie in Heidelberg.«

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Sie füllten ihre Wasservorräte nach und verabschiedeten sich herzlich von den einsamen Siedlern. Die Straße führte nun steil bergab, und schon von weitem war die grüne Ebene zu erkennen, die sich bis zum Horizont erstreckte.

»Ob es da unten auch eine Lagerstätte gab?« wunderte sich John. »Sieht ganz so aus«, erwiderte Gerald wortkarg. »Aber das ist nicht das,

was wir suchen.« Bald war der Fahrweg von den wild wuchernden Gräsern und Büschen

kaum noch zu unterscheiden, aber James’ scharfe Augen entdeckten immer wieder Reste von Reifenspuren oder Pferdehufen. Und dann begann der Wald.

Nun konnte von einer Straße oder auch nur einem Weg keine Rede mehr sein. Die wenigen Spuren, die sie fanden, führten kreuz und quer durch das Unterholz, immer dort, wo die Bäume nicht zu dicht standen. Soweit es möglich war, hielten sie sich trotz des ständigen Richtungswechsels nach Norden, in der Hoffnung, früher oder später wieder auf die Straße zu treffen, die nach Heidelberg führte.

Immerhin schafften sie an die hundert Kilometer, ehe sie die anbrechende Dunkelheit zwang, auf einer kleinen Lichtung zu übernachten.

Der Wald wurde lichter und die Bäume niedriger und unansehnlicher. Schließlich kam auch die Straße wieder zum Vorschein, wenn auch zum größten Teil mit Gras bedeckt. James konnte wieder aufs Gaspedal treten, und bald tauchten weit vor ihnen die Umrisse einer größeren Siedlung auf.

Heidelberg hatte doppelt so viele Einwohner wie Rocktown und war über Funk durch Olaf Bergström informiert worden. Ohne Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, lenkte James den Jeep geradewegs in die Ansiedlung hinein und hielt auf dem Dorfplatz an, auf dem sich etwa hundert Männer und Frauen versammelt hatten. Gerald stieg aus und ging auf den Mann zu, der sich aus der Menge löste und ihm entgegenkam.

»Willkommen in Heidelberg, Herr Zimmermann – nehme ich an. Ich bin Dieter Wagner, der Bürgermeister.«

»Danke – aber lassen wir das ,Herr’ und ,Sie’ gleich fort. Hat Olaf Bergström dich unterrichtet?«

»Die Unterlagen liegen zur Einsicht bereit.« »Deutscher Ordnungssinn«, lobte Gerald ohne jede Ironie. »Vielleicht

können wir dann heute noch weiter.« »Kommt nicht in Frage, das Nachtquartier ist vorbereitet. Sie werden, wenn

die alten Aufzeichnungen richtig sind, im gleichen Raum schlafen wie dereinst die drei Männer, deren Spuren Sie folgen – oh, Verzeihung, deren Spuren ihr folgt.«

»Der eine war mein Großvater.«

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Wagner nickte und lächelte. »Ja, ich weiß. Und die beiden anderen hießen Eppstein und Kemp.« Gerald, James und John mußten noch ein paar Dutzend Fragen der auf dem

Platz Versammelten beantworten, die gern wissen wollten, was sich in Rocktown und Jackville tat, dann konnte Wagner seine Gäste endlich in die Bürgermeisterei entführen. In einem Raum mit großen Fenstern, die genügend Licht durchließen, stand ein schwerer Tisch aus Holz, und auf ihm lag ein Buch, so dick wie eine Bibel und so groß wie ein Atlas.

»Unsere Chronik«, erklärte Wagner nicht ohne Stolz. »Mein Vater begann sie wenige Wochen nach der Katastrophe. Er glaubte an eine zweite und wollte – wenn es abermals Überlebende gab – diese von dem, was geschehen war, informieren. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, daß Robert Zimmermann damals einen längeren Bericht hineinschrieb.«

Gerald spürte die Erregung, die Besitz von ihm ergriff. »Dürfen wir ihn lesen?« »Da liegt das Buch«, gab Wagner lächelnd seine Zustimmung. »Im Raum

nebenan könnt ihr später schlafen. Für Essen und Trinken ist gesorgt. Ich lasse euch jetzt allein. Ihr sollt in aller Ruhe lesen, was Robert Zimmermann damals plante – und warum.«

Er grüßte freundlich, ehe er den Raum verließ. Gerald, James und John setzten sich an den Tisch. Ersterer schlug das Buch

auf. Die Daten der verschiedenen Eintragungen waren säuberlich aufgeführt und begannen Ende 1995.

Gerald überschlug die Seiten, bis er das Ende von 1999 erreichte und auf den ersten Blick die Schrift seines Großvaters erkannte.

»Den Anfang kennen wir ja«, sagte er, während sein Zeigefinger über die Zeilen wanderte. »Beginnen wir hier in Heidelberg. Ich werde es euch am besten gleich vorlesen …«

Heute sind wir den vierten Tag in Heidelberg und wir haben es der Gastfreundschaft der Bevölkerung zu verdanken, daß mir Bürgermeister Heinrich Wagner die Gelegenheit gibt, die Ereignisse seit unserer Abreise von Jackville niederzuschreiben. Der Tod unseres Freundes Brendon bei der Hütte August Mayers hat uns schwer getroffen, nicht nur, weil wir mit ihm unseren Spezialisten, den Chemiker, verloren. Zum Glück gab er uns vorher noch viele Tips und Hinweise, die wir vielleicht verwerten können, wenn wir das gefunden haben, was wir suchen.

Nach dem Studium einiger Karten und Atlanten wissen wir mit Sicherheit, daß wir uns irrten. Wir glaubten, die Stadt Golden liege in Kanada – was ja auch stimmt. Das Golden jedoch, das wir suchen, liegt nordwestlich von hier in den amerikanischen Rocky Mountains. Keine fünfhundert Kilometer entfernt.

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Somit haben wir unser Ziel bald erreicht – jene Stätte, an der man den »Strahlenden Tod« entwickelte. Nur wenn wir die Formeln finden, läßt sich die letzte und gefährlichste Komponente der Teufelsmischung unschädlich machen. Was übrigbleibt, ist dann nichts anderes als ein harmloses Pflanzenschutzmittel, das jede Art von Bakterien und andere Schädlinge genetisch beeinflußt und so die Nachkommenschaft verhindert.

Ein wenig dieser schnell sich verflüchtigenden Flüssigkeit sickerte bereits aus den Lagerstätten und verwandelte Steppen und Wüsten in Grünflächen und beginnende Wälder. Aber wir müssen jene finden, die den tödlichen Metallzusatz entwickelten, zumindest ihre Aufzeichnungen. Sie sind die Schuldigen!

Eppstein hat da eine andere Meinung. Er sagt, und vielleicht hat er recht, daß alle schuld sind – wir alle! Wir haben es zugelassen. Ich halte ihm entgegen, daß kaum jemand wußte, was sich da in Wirklichkeit zusammenbraute, aber sein Gegenargument lautet: Wenn etwas geheim ist, streng geheim, dazu in noch geheimeren Labors, dann ist es kaum für den Frieden gedacht. Niemand schöpfte Verdacht oder tat etwas dagegen. Ich wiederum mußte ihn fragen: Was hätte man denn tun können, wenn man nichts wußte? Protestieren vielleicht? Er meint und ist überzeugt davon, daß schon beim leisesten Verdacht hätte protestiert werden müssen, und zwar nicht des bloßen Protestierens willen, wie es meist geschah und daher unglaubwürdig wurde, sondern gezielt, mit echten Argumenten – und vor allen Dingen: Protest gegen alle beteiligten Parteien und Staaten, nicht immer nur gegen die eigenen Institutionen.

Kemp stimmt ihm zu, und auch ich beginne zu glauben, daß er recht hat. Wie auch immer, morgen brechen wir erneut auf. Sprit haben wir noch

genug, und es sind ja auch nur fünfhundert Kilometer bis Golden. Die Informationen, die wir von Wagner erhielten, sind spärlich. Es muß sich demnach um eine längst verlassene Ansiedlung ehemaliger Goldsucher handeln, um eine Art Geisterstadt. Das ideale Versteck für die Leute, die wir suchen.

Hiermit möchten wir den Bewohnern von Heidelberg für ihre freundschaftliche Aufnahme danken und ihnen und auch uns Glück wünschen. Gezeichnet: Robert Zimmermann, Eppstein, Kemp.

Gerald schob das Buch in die Mitte des Tisches, nachdem er es fast behutsam zugeklappt hatte.

»Nun wissen wir eine Menge mehr. Stellt euch nur vor, wir hätten Heidelberg umfahren und hätten Golden in Kanada gesucht! Ein paar tausend Kilometer! Nun sind es nur noch fünfhundert.«

James runzelte die Stirn, dann sagte er nachdenklich: »Zwischen hier und diesem sagenhaften Golden muß es etwas geben, das

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deinem Großvater, Kemp und Eppstein zum Verderben wurde, sonst wären sie ja nach Jackville zurückgekehrt.«

»Oder in Golden selbst«, räumte Gerald ein. »Vielleicht haben sie ihr Ziel erreicht, eben dieses Golden, und dort erfüllte sich ihr Schicksal. Vergiß nicht, daß jene, die für alles verantwortlich waren, damals noch lebten – möglicherweise in Golden.«

»Liegt in einer ziemlich gottverlassenen Gegend«, vermutete John. »Und mit Sicherheit unverdächtig und harmlos wirkend«, gab James ihm

recht. Gerald sagte mit einer Ruhe, die fast unnatürlich war: »Wir werden Golden finden. Immerhin ist es auf der Karte als Geisterstadt

eingezeichnet – auf einer Karte, die älter als siebzig Jahre ist. Aber wer hat damals schon eine Geisterstadt aufgesucht, in der es weder ein Steakhouse noch Coca Cola gab …«

Den Rest des Tages verbrachten sie im »Hotel Heidelberg«, wo es tatsächlich noch einen guten Wein gab – Wein, der in den nahen Südhügeln wie Unkraut wuchs.

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3.

Das Problem war, daß es einst mehrere Straßen gegeben hatte, die in Richtung Golden führten, den Ort jedoch nicht berührten, sondern weit vorbeigingen. Nur eine einzige, ein alter Fahrweg für Kutschen, zweigte irgendwo ab und endete in Golden.

Die Frage war nun, welche der Straßen Robert Zimmermann damals gewählt hatte. Hier wußte auch Dieter Wagner keinen Rat, wenn seine Vermutung auch logisch klang:

»Nur eine einzige Straße geht von uns aus in nördliche Richtung, dann verzweigt sie sich sowohl nach Westen wie nach Osten. Dein Großvater hat sicher die nach Westen genommen, aber die hatte auch viele Kreuzungen und Abzweigungen. Das Vernünftigste scheint mir zu sein, jene Straßen zu nehmen, die die kürzeste Strecke zu der Abzweigung nach Golden bildet.«

»Gibt es zwischen hier und dieser Geisterstadt Siedlungen?« fragte Gerald. »Ihr habt doch sicher Erkundigungsfahrten unternommen.«

»Keine, soweit wir wissen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes Niemandsland, abgesehen von dort vielleicht noch existierenden Banden. Wenn es sie gibt, so verhalten sie sich ruhig, nachdem sie uns einmal überfallen haben. Wir haben ihnen einen höchst unfreundlichen Empfang bereitet und sie ziemlich dezimiert.«

»Wie können sie denn im Niemandsland überleben. Was gibt es dort schon?«

Wagner zuckte die Schultern. »Wovon leben, wenn nicht von Überfällen? Nun, es kann ja sein, daß sie

sich eines Besseren besonnen haben und arbeiten. Ackerbau und Viehzucht, wie es so schön heißt.«

»Der Mensch soll Vernunft angenommen haben? Das klingt ja fast wie ein Märchen.«

»Vielleicht hat ihn die Not dazu gezwungen«, erwiderte Wagner sarkastisch.

»Wir werden ihnen begegnen, davon bin ich überzeugt – und dann sehen wir ja, wie es damit aussieht. Funkverbindung in der Richtung nach Norden habt ihr nicht?«

»Nein, keine.« Funkgeräte waren rarer als Autos, und nicht mehr lange, dann würden auch

diese ganz verschwinden. Noch gab es genügend Ersatzteile, die man aus den Wracks ausbaute, aber auch das ging einmal zu Ende, ganz abgesehen von dem noch vorhandenen Treibstoff. Vielleicht würde man wieder mit Holzgas fahren müssen.

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»Tut mir leid«, sagte Wagner nach einer Weile, »daß wir euch nicht mehr als zweihundert Liter Sprit geben können, aber zusammen mit euren eigenen Vorräten dürfte das für Golden und zurück reichen.«

»Es reicht bestimmt«, versicherte James und kletterte hinter das Steuer. »Danke für alles.«

Der Abschied war kurz und herzlich, ähnlich wie in Rocktown, dann fuhren sie los.

Die Straße nach Norden war anfangs ganz ordentlich und von der Vegetation freigehalten, aber auch nur bis dahin, wo die Felder rechts und links aufhörten.

»Ende der Autobahn«, knurrte James und begann wieder mit der gewohnten Slalomfahrt um Schlaglöcher und umgestürzte Bäume.

Nach drei Stunden Fahrt entdeckten sie nur durch einen Zufall eine Abzweigung nach rechts. Sie verschwand bereits nach wenigen Metern in undurchdringlichem Gestrüpp. Gerald warf einen Blick auf die von Wagner korrigierte alte Karte.

»Weiter geradeaus, James. Nach fünfzig Kilometer müßte eine Abzweigung nach Westen kommen, aber sie führt nicht nach Golden. Können wir ignorieren.«

»Kann ich mal die Karte haben?« fragte John. Gerald reichte sie ihm nach hinten. John studierte sie fast fünf Minuten lang, dann gab er das Ergebnis seiner

Überlegungen bekannt: »Die dritte Abzweigung nach Westen dürfte es sein, war wohl mal eine der

vielen Nebenstraßen. Geht später nach Norden, wenn auch nicht direkt bis Golden, das am Fuß der Berge liegen dürfte. Bei der Abzweigung hat Wagner ein Haus eingezeichnet, war sicher ein Dorf oder sowas.«

»Das werden wir ja morgen sehen«, sagte James. »Heute schaffen wir es nicht mehr bis dorthin. Dürften an die dreihundert Kilometer sein.«

»Wäre mir lieber, wir würden es umfahren«, deutete John seine Bedenken an. »Wagner sprach von Banditen.«

»Wenn möglich, tun wir das auch«, beruhigte ihn Gerald. Hundert Kilometer nach Heidelberg fanden sie die erste Abzweigung nach

links, also nach Westen. Es mußte eine Hauptverkehrsstraße gewesen sein, denn der Betonbelag war teilweise noch erhalten und ließ die einstige Breite der Fahrbahn erkennen. Ein paar Ruinen standen zu beiden Seiten. Sie waren nicht bewohnt. Brandspuren verrieten, daß hier nicht alles friedlich verlaufen war. Wahrscheinlich hatten die letzten Einwohner ihre Häuser verlassen und woanders eine neue Heimat gefunden – falls sie mit dem Leben davongekommen waren.

Nach kurzer Rast fuhren sie weiter. Die Bäume wurden kleiner und mehr

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verkrüppelt. James fuhr sie einfach um, wenn sie ihm im Weg standen. Immerhin legten sie an diesem Tag fast zweihundertfünfzig Kilometer zurück und fanden etwa fünfzig Kilometer vor der Abzweigung nach Golden einen sicheren Lagerplatz für die Nacht.

Vorsichtshalber verzichteten sie auf das übliche Lagerfeuer und aßen kalt. John hätte beinahe ein Kaninchen geschossen, ließ es dann aber sein, weil sich das Tier in der typischen Art einer Ratte fortbewegte.

Die Nacht war sternenklar, und am anderen Morgen weckte sie strahlender Sonnenschein. Es würde ein warmer und trockener Tag werden, was für diesen Teil des Landes ohnehin normal war.

»Noch fünfzig Kilometer«, sagte James, »dann sollten wir sehr vorsichtig sein.«

Die Straße führte fast unmerklich bergan. Rechts und links gab es mehr Geröll als Vegetation, und die Fahrbahn selbst war streckenweise völlig frei. Und dann, kurz vor Mittag, sahen sie von einer Kuppe aus die Siedlung vor sich liegen.

James hielt und schaltete den Motor aus. Gerald nahm das Glas und richtete es auf das Dorf. Er schätzte etwa zwei Dutzend Häuser, die meist zwischen Bäumen und Büschen standen und ungepflegt wirkten. Einmal nur entdeckte er einen Mann, der die Straße überquerte und in einem der Häuser verschwand. Er trug ein Gewehr.

Gerald setzte das Glas ab. »Sieht nicht gerade sehr vertrauenerweckend aus, aber die Straße führt

mitten hindurch. Unsere Abzweigung liegt einen halben Kilometer hinter dem Dorf, der Karte nach zu urteilen. Umfahren können wir es kaum, ohne daß wir gesehen werden.«

»Wir können es immerhin versuchen«, schlug James vor. »Wenn wir hier links abbiegen und uns dann nördlich halten, stoßen wir zwangsläufig früher oder später auf die Straße nach Golden. Das Gelände ist unübersichtlich, wir könnten also Glück haben.«

»Na schön, versuchen wir es. Halten wir aber besser die Waffen bereit. Ich habe kein gutes Gefühl.«

Von der Siedlung aus konnte man sie sehen, falls jemand zufällig in ihre Richtung blickte, aber bis auf den einen Mann mit dem Gewehr war niemand zu entdecken gewesen.

Gerald kam der Gedanke, daß es vielleicht falsch gewesen war, den Ort zu meiden. Vielleicht wußte dort jemand mehr, als die Chronik von Heidelberg zu berichten hatte. Auf der anderen Seite machten die verkommenen Häuser nicht den Eindruck, als wohnten darin Menschen, die sich um die Vergangenheit groß kümmerten.

»Hat Wagner auf der Karte etwas über den Ort eingetragen?« fragte John.

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»Du hast sie dir schon einmal angesehen«, knurrte Gerald ungehalten und reichte sie nach hinten. »Vielleicht findest du es beim vierten Mal heraus.«

»Man kann ja schließlich nicht alles behalten«, gab John, ebenfalls gereizt, zurück. Er warf einen Blick auf die Karte. »Ja, Wagner hat den ursprünglichen Namen durchgestrichen und einen neuen daneben geschrieben. Stronghold. Sonst keine Angaben, außer einem großen Ausrufezeichen.«

»Das könnte ,Vorsicht!’ bedeuten«, vermutete James und wich einem größeren Baum aus, der nicht den Eindruck machte, als würde er sich von einem Jeep umlegen lassen. »Aber das Kaff ist bereits außer Sicht.«

»Biegen wir ab nach Norden«, riet Gerald. »Das Gelände sieht günstig aus. Felsblöcke und Buschwerk.«

»Schafft der Jeep spielend. Diese Nebenstraße kann ja nicht mehr weit sein.«

»Knappe zwei Kilometer«, schätzte Gerald nach einem Blick auf die Karte. Das Gelände wurde unübersichtlicher, hauptsächlich durch Bodenwellen

und flache Hügel. Trotz des steinigen Untergrunds war die Vegetation wieder dichter geworden, blieb jedoch niedrig und leicht zu überfahren. Der Ort Stronghold jedenfalls kam nicht wieder in Sicht.

Und dann, als sie die Kuppe eines mit Büschen bewachsenen Hügels erreichten, sahen sie weit vor sich Telegraphenstangen. Die meisten waren abgebrochen oder umgekippt. Der Draht war verschwunden. Nur einige der Stangen standen noch da, die Gerippe einer vergangenen Zivilisation.

James hielt an. »Das muß die Straße nach Golden sein«, sagte er, ohne den Motor

abzustellen. Ehe Gerald etwas erwidern konnte, drang aus den nahen Büschen eine rauh

und heiser klingende Stimme, gleichzeitig wurde der Lauf eines Gewehrs sichtbar, das auf sie gerichtet war. Die Stimme sagte:

»Ganz recht, das ist die Straße nach Golden. Und nun rührt euch keinen Millimeter von der Stelle, wenn ihr weiterleben wollt. Es sind zwanzig Gewehre auf euch gerichtet, und alle sind scharf geladen.«

James sah einige Läufe und wagte es nicht einmal, den Motor abzustellen. Es war Jerry Eppstein, der über die Straße ging und den Jeep in

südwestlicher Richtung auf der alten Hauptstraße entdeckte. Er ließ sich jedoch nichts anmerken und verschwand in seinem Laden, mit dem er die Bevölkerung von Stronghold mit allem Notwendigen versorgte, was zum Überleben notwendig war. Dazu gehörte auch das selbstgebraute Bier und der selbstgebrannte Fusel. Irgendwo hatte er die Rezepte gefunden.

In seiner an den Laden grenzenden Pub fand er vier Männer vor, die sich einen genehmigten, während ihre Frauen nebenan im Laden damit beschäftigt

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waren, sich von seiner Frau Fiona bedienen zu lassen. Geld gab es nicht mehr. Abgerechnet wurde mit Arbeit und

Tauschgeschäften. »Ein Fahrzeug, drüben auf der alten Straße, die nach Norden geht. Aber sie

haben angehalten. Ich glaube, sie wollen versuchen, auf die Seitenstraße zu gelangen, um Stronghold zu umfahren. Wollen wir uns die Leutchen nicht mal ansehen? Ich meine so wie früher.«

Ein alter Mann, der im Augenblick der Katastrophe noch ein Kind gewesen sein mußte, hob die Hand. Das war das übliche Zeichen, wenn sich jemand zu Wort meldete. Jerry nickte ihm zu.

»Nicht wie früher«, bat der Alte mit brüchig klingender Stimme. »Ich dachte, das wäre endlich vorbei.«

»Natürlich nicht ganz so wie früher«, beruhigte ihn Jerry. »Hast du aber eben noch gesagt«, beharrte der alte Mann. »Nur am Anfang, damit sie nicht gleich schießen oder abhauen. Dann reden

wir mit ihnen. Sie haben bestimmt etwas zum Tauschen dabei.« Der Alte nickte. »Aber nicht wieder das sinnlose Morden wie früher«, wiederholte er seine

Bitte. Die drei anderen Männer waren sofort dabei. »Dann müssen wir uns aber beeilen«, riet einer und leerte sein Glas. Mit

Wucht stellte er es zurück auf die primitive Holztheke. »Wenn sie abkürzen wollen, müssen sie durch das Buschgelände«,

vermutete Jerry nicht zu Unrecht. »Das kostet sie eine Menge Zeit. Wir nehmen einfach die Straße, dann sind wir vor ihnen da.«

»Waffen?« fragte ein anderer. »Na klar, wir wissen ja nicht, was sie dabei haben. Sie müssen einen

Schreck bekommen, dann läßt sich leichter mit ihnen reden.« Sie sagten den Frauen Bescheid und gingen, um die anderen Männer des

Dorfes zu holen. Jerry Eppstein war im Grunde genommen kein schlechter Kerl, wenn seine

Vergangenheit auch nicht gerade gewaltlos verlaufen war. Ganz im Gegenteil. Jahrelang war er der Anführer von Banden gewesen, die raubten und plünderten und auch vor einem Mord nicht zurückschreckten, wenn sie freiwillig nicht das bekamen, was sie haben wollten.

Dann aber kam die Zeit, in der sich Gemeinschaften von Menschen bildeten, die sich entschlossen hatten, neu zu beginnen. Sie leisteten bei Überfällen erbitterten und gut organisierten Widerstand und machten in ihrer Verzweiflung nur selten Gefangene. Die Banden zogen sich in die Wildnis oder verlassene Dörfer zurück.

So auch Jerry Eppstein und jene, die von seiner Bande überlebt hatten.

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Dazu gehörten auch die Frauen. Sie waren es in erster Linie gewesen, die die Männer zur Vernunft brachten und sie zwangen, ein einigermaßen anständiges und geregeltes Leben zu führen. Ein Leben, das sie alle ernähren konnte, mehr brauchte man nicht.

Das war nicht immer so einfach gewesen, denn die Überfälle und eine Existenz ohne Arbeit steckte ihnen noch im Blut. Aber das neue System funktionierte. Und so wurde aus dem ehemaligen Stronghold, dem Versteck, die jetzige Ansiedlung, ein friedlicher, aber total isolierter Ort.

In alten Rundbehältern und Fässern bewahrten sie den kostbaren Treibstoff für ihre verbliebenen Fahrzeuge auf. Noch ein paar Jahre, dann war auch der selbst bei sparsamen Verbrauch zu Ende. Vielleicht hauchten aber auch schon vorher die drei Autos ihr verrostetes Leben aus. Darauf wurden sogar im Pub Wetten abgeschlossen.

Sie besaßen einen leichten Lastwagen, einen Dreitonner. Mit ihm fuhren sie los, ganze zwanzig Mann, um den Jeep zu »überfallen«.

Sie bogen auf die verwachsene Goldenstraße ab, die sie niemals interessiert hatte, bis sie eine Stelle fanden, an der man einen guten Blick nach Süden hatte, ohne selbst zu früh entdeckt werden zu können. Schon von weitem sahen sie den Jeep, der sich mühsam nach Norden, genau in ihre Richtung, durch das Gestrüpp kämpfte.

»Wie ich gesagt habe«, meinte einer der Männer. »Die wollen weiter nach Norden, oder, wenn sie links abbiegen, in Richtung dieser verdammten Geisterstadt, in der die Geister noch leben und sogar über modernste Waffen verfügen.«

Jerry gönnte ihm einen verächtlichen Blick. »Das ist schon lange her, und es waren auch keine Geister, sondern ein paar

Verrückte, die sich dort versteckten. Vielleicht hatten sie den selben Beruf wie wir und konnten nicht damit aufhören. Wir haben nie versucht, nach Golden zu fahren. Wäre die reinste Benzinverschwendung gewesen.«

Langsam kam der Jeep näher. Er fuhr direkt auf ihr Versteck zu. Hastig verteilten sie sich. Sie hielten ihre Gewehre bereit, wenn sie auch kaum noch über Munition verfügten. Im Ernstfall würde es nicht gut für sie aussehen.

Der Jeep hielt an, der Motor wurde nicht abgestellt. »Das muß die Straße nach Golden sein«, sagte der Mann, der am Steuer

saß. Das Gewehr auf ihn gerichtet bestätigte Jerry rauh: »Ganz recht, das ist die Straße nach Golden. Und nun rührt euch keinen

Millimeter von der Stelle, wenn ihr weiterleben wollt.« Er sah, daß seine Männer den Jeep von allen Seiten in der Zange hatten.

Die drei Insassen schienen bereit zu sein, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Er kam aus seinem Versteck, das Gewehr schußbereit. Er verließ sich

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auf seine Leute, denn er hatte nur fünf Schuß Munition dabei. Neben dem Jeep blieb er stehen.

»Langsam aussteigen! Und daß mir keiner von euch eine der Knarren anrührt, die ihr da bei euch habt. Keine Sorge, es wird euch nichts geschehen, wenn ihr vernünftig seid. Wir wollen nur mit euch reden. Du zuerst!« Er deutete auf James. »Und stell den Motor ab.«

Gerald und John stiegen ebenfalls aus. »Was wollt ihr von uns?« fragte Gerald. Jerry musterte ihn. »Bist wohl der Boß«, erkundigte er sich dann sachkundig. »Ihr wollt zu

dieser Geisterstadt, das ist ganz offensichtlich, denn die kleine Straße führt nur dorthin. Dazwischen ist nichts. Warum also nach Golden? Das würde uns interessieren.«

»Können wir nicht darüber reden, ohne ständig mit Gewehren bedroht zu werden«, schlug Gerald vor, der zu ahnen begann, daß sie es nicht mit gewöhnlichen Banditen zu tun hatten.

Jerry nickte. »Von mir aus gern, aber dann nimmt einer von uns den Jeep. Ihr kommt mit

uns im Lastwagen.« »Einverstanden. Wir stellen unseren guten Willen gern unter Beweis. Ich

heiße übrigens Gerald Zimmermann, und das hier ist James Townshend und John Ewert.«

»Ich bin Jerry Eppstein. Das genügt fürs erste.« Gerald zuckte nicht einmal zusammen, so gut hatte er sich in der Gewalt. Im Testament seines Großvaters hatte der Name Eppstein gestanden. Er,

Kemp und Brendon hatten Robert Zimmermann damals begleitet. Gab es da einen Zusammenhang? Er mußte es herausfinden. Während der kurzen Fahrt nach Stronghold hatte er Gelegenheit, sich seine

»Gastgeber« genauer anzusehen. Sie machten ohne Ausnahme einen rauhen Eindruck, ungehobelt vielleicht, aber nicht unbedingt schlecht. Möglicherweise ließ sich wirklich mit ihnen reden. Was sie allerdings von ihm und seinen beiden Begleitern wollten, wenn sie nicht an Beraubung dachten, blieb weiterhin ein Rätsel.

Reguläre Banditen konnten sie kaum sein. Die hätten gleich zu Anfang kurzen Prozeß mit ihnen gemacht.

Der Name Eppstein gab ihm erneut zu denken. Es war ein seltener Name. Konnte dieser Jerry tatsächlich ein Verwandter jenes Eppstein sein, der damals zusammen mit Robert Zimmermann und Kemp spurlos verschwand? Gab es hier endlich die bisher vergeblich gesuchte heiße Spur?

Die Männer sprachen nicht viel, und das Gerüttele hörte auf, als der Lastwagen endlich Stronghold erreichte und anhielt. Der Motor begann zu

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stottern und lief noch ein paar Sekunden trotz ausgeschalteter Zündung weiter.

Der Jeep hielt dich hinter der fehlenden Ladeklappe. Jerry erschien vom Führerhaus des Lastwagens her.

»Endstation! Alles aussteigen!« Frauen kamen aus den Häusern, blieben aber in einiger Entfernung

abwartend stehen. Neugierig beobachteten sie, was passierte. Gerald kletterte als erster von der Ladefläche. Er sah sich um. Aus der

Ferne hatte er die Häuser ja schon studieren können, aber aus unmittelbarer Nähe wirkten sie noch verfallener. Immerhin waren sie noch bewohnbar, denn hier regnete es nur äußerst selten.

»Hinein in unsere gute Stube!« befahl Jerry und deutete auf den Eingang des Ladens. »In unserer Pub können wir uns in Ruhe unterhalten.«

Fast alle folgten der fast freundlich klingenden Einladung, nur ein paar Männer blieben bei dem Jeep zurück, um ihn zu bewachen.

»So«, sagte Jerry Eppstein, als sie an dem langen und einzigen Tisch der Gaststube saßen, »und nun erzählt mal, woher ihr kommt und was ihr hier oder in Golden eigentlich wollt.«

Gerald hatte sich inzwischen dazu durchgerungen, aus dem Zweck ihrer Expedition kein Geheimnis zu machen und wahrheitsgemäß zu berichten. Ausschlaggebend für seinen Entschluß war Jerrys Familienname.

Er erzählte von dem Testament seines Großvaters und der tödlichen Gefahr, die immer noch von den alten und inzwischen längst vergessenen Lagerbeständen ausging.

»Wir hoffen, in Golden eine Antwort zu finden, wie diese Gefahr ein für allemal aus der Welt zu schaffen ist – eine Gefahr, die uns alle bedroht.«

»Ausgerechnet in Golden?« wunderte sich Jerry verblüfft, schwieg aber, als Gerald mit dem Finger auf ihn deutete und sagte:

»Einer der Begleiter meines Großvaters hieß Eppstein, Jerry. Ist das nicht merkwürdig?«

Mit Befriedigung stellte er fest, daß Jerry ihn mit weit aufgerissenen Augen fassungslos anstarrte. Auch die anderen Männer waren überrascht. Niemand achtete darauf, daß sich nebenan der Laden mit Frauen füllte, denen plötzlich eingefallen zu sein schien, daß noch einige Dinge für den Haushalt fehlten. Fiona, Jerrys Frau, bediente sie, heute jedoch sehr unaufmerksam.

Schließlich erholte sich Jerry. »Das ist allerdings mehr als nur merkwürdig. Ich habe meinen Vater nie

gekannt, es könnte aber dieser Eppstein gewesen sein, der Name ist ja nicht gerade alltäglich. Meine Mutter können wir nicht mehr fragen. Sie starb, als ich noch ein Kind war.«

»Sind mein Großvater mit Gibson Kemp und Eppstein durch diesen Ort

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gekommen – damals?« Jerry zuckte die Schultern. »Das weiß niemand. Wir leben erst seit etwa dreißig Jahren hier. Vorher

waren wir... nun, eigentlich überall mal. Also gut, bleiben wir bei der Wahrheit: Wir lebten von Überfällen, aber das ist schon lange vorbei.«

»Und warum habt ihr uns überfallen?« »Ist ja kein richtiger Überfall«, entschuldigte sich Jerry. »Wir waren nur

vorsichtig. Es treiben sich vereinzelt immer noch Banditen in der Gegend herum, meist weiter westlich.«

Gerald studierte sein Gesicht. Dann fragte er: »Ist das wirklich der einzige Grund, uns hierher zu bringen?« »Nicht ganz«, mischte sich einer der Männer ein. »Wir hoffen, mit euch ein

Geschäft machen zu können.« »Ein Geschäft?« »Ihr habt sicher Dinge dabei, die uns fehlen. Und wir wiederum könnten

euch dafür …« »Was wir dabei haben, benötigen wir selbst«, unterbrach ihn Gerald und

versuchte, nicht unhöflich zu klingen. »Tut uns ehrlich leid.« Jerry sagte, wobei er einen kurzen Blick zur offenen Ladentür warf, in der

vier oder fünf Frauen sich drängten: »Wir hätten früher nicht lange gefragt, sondern uns genommen, was wir

brauchen, aber die Zeiten haben sich geändert. Trotzdem würde ich an eurer Stelle doch mal nachsehen, was ihr entbehren könnt. Wir geben euch Sprit dafür, die Autos machen es ohnehin nicht mehr lange.«

James warf ein: »Treibstoff können wir noch gut gebrauchen.« »Na also! Das ist doch schon eine geschäftliche Grundlage«, freute sich

Jerry und grinste. Sie waren sich überraschend schnell handelseinig. Die Leute von

Stronghold bekamen ein als Reserve gedachtes Schnellfeuergewehr und genügend Munition, dafür erhielten Gerald und seine Freunde zweihundert Liter Benzin.

Dann mahnte Gerald zum Aufbruch. Er wollte nicht unbedingt in Stronghold übernachten, aber dann fiel ihm plötzlich noch etwas ein:

»Jerry, gibt es hier im Ort noch jemand, der mit deiner Mutter befreundet war, ich meine so gut befreundet, daß sie ihm vielleicht etwas über deinen Vater erzählt haben könnte?«

Sie standen bereits draußen vor dem Laden beim Jeep. Jerrys Frau hatte die Frage gehört und kam heraus.

»Die alte Calligan vielleicht«, sagte sie zögernd. »Die beiden steckten oft zusammen und hatten so ihre Geheimnisse.«

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Gerald wandte sich ihr zu. »Wie alt ist denn die Dame?« Einige lachten, aber Fiona blieb ernst. »Das weiß sie wahrscheinlich selbst nicht mehr. Ich würde sie auf über

achtzig schätzen.« »Ob ich sie sehen kann?« »Sehen sicher, aber sie redet kaum mit jemandem. Wenn Sie es aber

trotzdem versuchen möchten …« Jerry nahm seinen Arm, fast ein wenig zu vertraulich. Er schien selbst

neugierig geworden zu sein. »Komm mit, ich zeige dir, wo die Alte haust. Kriege aber keinen Schreck,

wenn du die Bude siehst. Sie bekommt von uns allen, was sie zum Leben braucht, denn arbeiten kann sie nicht mehr.«

Gerald war von der Einstellung der ehemaligen Banditen überrascht, ließ sich aber nichts anmerken. In einer Zeit wie dieser war die nachbarliche Hilfe innerhalb einer Gemeinschaft selbstverständlich.

James und John blieben beim Jeep zurück, damit niemand der Einwohner von Stronghold auf dumme Gedanken kam und sich selbst bediente.

In der Tat hauste die alte Calligan in einer halb eingefallenen Steinhütte inmitten eines unbeschreiblichen Durcheinanders. Neugierig blickte sie den Besuchern entgegen, dann blieben ihre immer noch erstaunlich klaren Augen auf Gerald haften.

»Ein Fremder, sieh mal einer an!« Gerald stellte sich höflich vor und blieb stehen, während Jerry sich auf

einem wackeligen Stuhl niederließ. Er ärgerte sich, daß er nicht schon längst selbst auf die Idee gekommen war, die Calligan nach seinem unbekannten Vater zu fragen.

»Ja, auf der Durchreise«, bestätigte Gerald. »Ich will Sie nicht lange belästigen, Mrs. Calligan, aber Sie sind der einzige Mensch, der mir vielleicht weiterhelfen kann.«

Kurz berichtete er, worum es ging, und erst zum Schluß stellte er die Frage nach seinem Großvater und dessen Begleitern. Die Alte dachte lange Zeit nach, ehe sie sich zu seiner Antwort aufraffte:

»Lieber Himmel, ich war damals vielleicht gerade fünfzehn Jahre alt, als ich Jerrys Mutter kennenlernte. Wir wohnten bei unseren Eltern in einem Dorf, irgendwo westlich oder südlich von hier – ich habe den Namen vergessen. Dann mußten wir fort, weil alles brannte und viele starben. Gute Menschen nahmen uns auf, und eines Tages kam ein Mann in unsere Siedlung – es gibt sie heute bestimmt nicht mehr. Er war verwundet und krank. Jerrys Mutter pflegte ihn. Er blieb ein Jahr bei ihr, ehe er starb. Danach erst wurde Jerry geboren. Der Mann hieß Eppstein, darum wurde

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Jerry auch so genannt.« Jerry schlug sich auf die Schenkel. »Warum hat denn meine Mutter nie darüber gesprochen? Ich habe sie

hundertmal nach meinem Vater gefragt.« »Ich weiß es nicht, ich mußte ihr versprechen, niemals etwas zu verraten.« »Warum denn nur?« »Ich glaube, deine Mutter hielt deinen Vater für einen jener Männer, die

von Raub und Mord lebten.« Gerald sah, daß die alte Frau erschöpft war und kaum noch sprechen

konnte. Schnell fragte er: »Hat Eppstein niemals die Namen Zimmermann oder Kemp erwähnt?

Versuchen Sie sich zu erinnern, bitte! Es ist wichtig für mich.« Mrs. Calligan suchte verzweifelt in ihren Erinnerungen, man sah es ihr

deutlich an. Sie gab sich ehrliche Mühe, doch dann schüttelte sie den Kopf, zögernd und unsicher.

»Ich weiß es nicht mehr, aber es könnte schon sein. Ich habe ihn auch ein bißchen gepflegt, diesen Eppstein. Da hat er viel geredet, von Tod und Verderben, auch von zwei Freunden, die er im Stich gelassen hatte, als die Gefahr zu groß wurde. Aber die Namen – nein, ich bin mir da nicht sicher. Ich habe es vergessen.«

Er war auf der richtigen Spur, darüber war sich Gerald klar. Die beiden Freunde Eppsteins konnten nur sein Großvater und Kemp gewesen sein. Aber warum sollte Eppstein sie verlassen haben? Einer bloßen Gefahr wegen?

Er wandte sich an Jerry: »Wie alt bist du jetzt, Jerry?« Der sah nicht gerade geistreich aus, als er antwortete: »Wie alt...? So an die fünfzig, glaube ich. Können auch ein paar Jahre mehr

sein. Warum?« »Nur so, Jerry.« Eppstein war also erst zehn oder fünfzehn Jahre nach dem Aufbruch von

Jackville wieder aufgetaucht, aber warum war er dann nicht in die heimatliche Siedlung zurückgekehrt? War er wirklich so krank gewesen, wie die alte Calligan behauptete?

»Und nun laßt mich in Frieden«, unterbrach die Alte seine fruchtlosen Überlegungen.

»Wir gehen ja schon«, beruhigte Jerry sie und zog Gerald mit sich. »So ein Luder! Hat mir nie etwas davon erzählt.«

»Vielleicht hast du sie auch nie gefragt. Du bist also mit ziemlicher Sicherheit der Sohn eines Mannes, der mit meinem Großvater befreundet war. Ein seltsamer Zufall.«

»Zufall oder nicht, jedenfalls mußte Eppstein seine Freunde im Stich

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gelassen haben, als sie sich in Gefahr befanden. Ich sollte mich für ihn schämen.«

Gerald klopfte ihm auf die Schultern. »Es waren schlimme Zeiten damals, und wir wissen nicht, was wirklich

geschah.« Und wir werden es vielleicht auch niemals erfahren, fügte er in Gedanken

hinzu.

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4.

Die Straße nach Golden war als solche kaum noch zu erkennen. James hatte alle Mühe, nicht mit dem Jeep irgendwo mitten in der Gestrüppwildnis unwiderruflich steckenzubleiben. Immer wieder wurde er gezwungen umzukehren, um lichtere Stellen oder gar Spuren des alten Fahrwegs zu finden. Oft legten sie Hunderte von Metern im Rückwärtsgang zurück.

»Gut, daß wir die zusätzlichen zweihundert Liter Sprit haben«, sagte er, als sie eine kurze Rast einschoben.

John füllte Wasser nach. Der Motor war heiß geworden. Es war bereits später Nachmittag, und es würde bald dunkel werden. Stronghold lag knapp dreißig Kilometer hinter ihnen. Jerry Eppstein hatte unbedingt mitkommen wollen, aber zum Glück war da noch seine Frau gewesen, deren drohende Miene nichts Gutes verhieß. Gerald mußte ihm jedoch versprechen, auf dem Rückweg vorbeizukommen, falls er mehr über die damaligen Geschehnisse erfuhr, soweit sie seinen Vater betrafen.

Um sie herum war Vogelgezwitscher. Eine große Echse huschte über die Lichtung, und in der Ferne heulte ein Schakal. Fingerlange Ameisen krochen flink den handbreiten Pfad entlang, den sie auf dem Weg zu ihrem Bau angelegt hatten. Ein ständiges Summen erfüllte die Luft; ganz in der Nähe mußte sich ein Bienenvolk niedergelassen haben.

Aus der ehemaligen toten Wüste war ein grünes und lebendiges Paradies geworden.

»Obwohl es doch kaum Wasser hier gibt«, wunderte sich John und schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich begreife das nicht.«

»Da bist du nicht allein«, gab Gerald zu. »James, wir müssen weiter. Ein paar Kilometer schaffen wir noch.«

Sie verbrachten die Nacht auf der Kuppe eines dicht bewaldeten Hügels oberhalb des wiedergefundenen Fahrwegs. Von der Anwesenheit menschlichen Lebens hatten sie während der ganzen Fahrt nichts bemerkt. Sie schienen allein in diesem Teil der Welt zu sein.

Als der Morgen graute, begann es leicht zu nieseln. Der Himmel hatte sich bezogen, aber weit im Westen wurde er schon wieder blau.

»Hier hat es früher nie geregnet, oder nur sehr selten«, sagte John, als sie hinab zum Weg rollten und dabei den gestern eingefahrenen Doppelpfad benutzten. »Die Natur ist durcheinandergeraten.«

»Sie ist wieder normal geworden«, widersprach ihm Gerald. »Der Mensch greift nicht mehr ein.«

Sie sprachen nicht viel an diesem Tag, aber mittags, als die Sonne wieder vom wolkenlosen Himmel herabbrannte, hielt James plötzlich mit einem

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Fluch an und rief: »Wer löst mich freiwillig ab? Mir tun die Augen schon weh von dem ewigen Suchen nach dem verdammten Weg. Ich wäre jetzt richtig dankbar für ein Stück Sandwüste.«

Gerald übernahm das Steuer. »Vielleicht wird es bald besser, wenn wir ins Gebirge kommen. Da wächst

das Grünzeug nicht so gut.« Ungefähr fünfzig Kilometer vor Golden begann es zu dunkeln. Es wurde

Zeit, einen günstigen Lagerplatz zu finden. Sie waren gut vorangekommen, seit es stetig ein wenig bergauf ging. Selbst der ehemalige Kutschenweg war wieder zu erkennen. Die Grasschicht war nur dünn. Wenn es in Golden wirklich technische Anlagen oder so was gab, mußten Material, Lebensmittel und die Menschen auf dem Luftweg dorthin transportiert worden sein – es sei denn, es war eine größere Straße aus anderer Richtung angelegt worden, von Norden her vielleicht.

Der Wald zu beiden Seiten war niedriger geworden. Links quälte sich ein klares Rinnsal durch das selbst gegrabene Bett, um weiter unten in der Ebene zu versickern. Weit vorn in Fahrtrichtung wurde der Horizont durch einen langen Gebirgszug begrenzt, der auch auf der Karte eingezeichnet war.

Irgendwo an seinem Fuß lag Golden – oder das, was von Golden übriggeblieben war.

Wer mochte wohl damals, vor mehr als siebzig oder achtzig Jahren auf den Gedanken gekommen sein, das geheimste Giftlabor der Welt ausgerechnet in einer gottverlassenen Goldgräberstadt unterzubringen? Ein Genie? Oder ein Wahnsinniger? Der Unterschied war manchmal gering.

Der Jeep verließ den Fahrweg und hielt hundert Meter weiter links zwischen den Büschen gut getarnt an. Der kleine Bach bot eine willkommene Gelegenheit zum Waschen, außerdem konnten sie ihren Wasservorrat ergänzen.

»Feuer?« erkundigte sich Gerald einsilbig. Es war, als spüre er die Nähe seines toten Großvaters.

James nickte nur, sammelte trockene Äste und hatte bald ein rauchloses Feuerchen in Gang gebracht. John hatte in dem kleinen Bach mit der Hand einige Forellen gefangen.

»Weiß der Teufel, wie die hierher gelangen«, murmelte er, als er sie fachmännisch ausnahm.

Sie schmeckten vorzüglich. »Eine Blasphemie, es auch nur zu denken«, deutete John dann ein Problem

an, mit dem er sich lange beschäftigt haben mußte. »Aber ich muß es immer und immer wieder denken.«

James warf ihm einen fragenden Blick zu. »Wovon redest du eigentlich?«

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John schleuderte die Gräten ins nächste Gebüsch. »Von der Welt, wie sie jetzt ist. Gegen die Welt, wie sie vor und

unmittelbar nach der großen Katastrophe existierte, muß sie das reinste Paradies sein. Es ist paradox und verrückt, aber zuerst mußte sich die Menschheit nahezu ausrotten, um die Erde wieder bewohnbar zu machen.«

Gerald sah ihn an. Zögernd fast nickte er. »Ein ketzerischer Gedanke und sicher nicht jedermanns Geschmack, John.

Außerdem wissen wir nicht, wie es jenseits der Ozeane aussieht. Die sporadischen Funkverbindungen verraten nicht viel. Aber vielleicht hast du nicht so ganz unrecht.«

»Ihr seid alle beide ein bißchen übergeschnappt«, wies James die absurd klingende Theorie Johns zurück. »Allerdings«, fügte er dann unsicher hinzu, »wenn ich mich so an das erinnere, was mir mein Vater erzählte, der damals alles miterlebte …«

Er schwieg und stocherte geistesabwesend in der Glut herum. Wenig später lagen sie in ihren Schlafsäcken, jeder mit seinen eigenen

Gedanken und auch Befürchtungen beschäftigt. Unverändert wie vor siebzig Jahren standen die Sterne am Himmel. Nur war er damals nicht so klar gewesen. Es war gegen Mittag am anderen Tag, als sie zum erstenmal Golden

erblickten. James hielt an und stellte den Motor ab. Stumm saßen sie da, ohne

auszusteigen. Sie versuchten, eine Spur menschlichen Lebens in den verfallenen Holzruinen zu entdecken, die in einer Entfernung von etwa vier Kilometern unmittelbar am Fuß des Gebirgshangs lagen.

Die Vegetation war erstaunlich karg hier, aber es gab auch kaum Erde, in der Wurzeln hätten Fuß fassen können. Das Bachgerinnsel war breiter geworden. Es schien direkt aus Golden zu kommen. Die alten Goldsucher hatten schon gewußt, wo das edle Metall zu finden war, nämlich in den Bächen oder Flüssen, die aus den Bergen kamen.

Gerald setzte das Glas ab. »Nichts zu sehen, nicht einmal die Reste eines Zauns, so wie bei den

Lagerstätten, die mein Großvater beschrieb. Hat Jerry Eppstein in Stronghold nicht behauptet, hier gäbe es Banditen? Wenn ja, dann möchte ich wissen, wovon sie leben – wenn nicht von Raubzügen.«

»Er war sich keineswegs sicher«, nahm James den ehemaligen Bandenführer in Schutz. »Er sprach nur von Vermutungen.«

»Jedenfalls sollten wir verdammt vorsichtig sein«, riet John. Gerald überprüfte den nun deutlich sichtbaren Fahrweg, der sich um die

vereinzelten Hügel herumschlängelte und dann direkt nach Golden führte. »Dürfte im Dunkeln auch ohne Licht nicht zu verfehlen sein.«

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James sah ihn überrascht an. »Du meinst, wir sollten nachts hineinfahren? Finde ich aber nicht gut,

Gerald. Den Motor hört man meilenweit, und in der Dunkelheit ist ein Hinterhalt kaum rechtzeitig zu bemerken – erst dann, wenn es zu spät ist.«

Gerald überlegte, dann nickte er. »Du hast recht, James. Schalte den Motor ein. Wir fahren nach Golden.

Legt die Waffen bereit und die Magazine. Sollte man uns wirklich angreifen, gibt es ein Feuerwerk, wie die Brüder es noch nie erlebt haben.«

»Bist ja ganz schön scharf heute«, gab sich John überrascht. »Bin ich ja gar nicht gewohnt.«

Gerald verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. »Ich glaube, es ist deshalb, weil hier wahrscheinlich mein Großvater starb.« »Und ich kann mir nicht vorstellen, Gerald, daß die Leute, die hier

vielleicht leben, etwas damit zu tun haben.« Gerald gab keine Antwort. James schaltete die Zündung ein. Die ersten zwei Kilometer fuhren sie in normalem Tempo, soweit die

»Straße« das zuließ, dann mußte der Geländegang eingelegt werden. Senken und regelrechte Risse im Gestein machten ein schnelles Fahren unmöglich. James fluchte schon wieder und meinte, es sei genauso, als wären hier Stollen oder ein ganzes Bergwerk eingebrochen.

Gerald sah ihn nicht an. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der langsam näherrückenden Geisterstadt, als er sagte:

»Vielleicht ist es genau das.« Der ehemalige Fahrweg für die Kutschen wurde breiter, als er die ersten

zusammengebrochenen Häuser erreichte, in denen man jedoch zur Not immer noch Schutz vor Unwetter fand. Die Schilder waren zwar verschwunden, aber man konnte erraten, daß die hölzernen Ruinen einstmals Geschäfte, Wohnhäuser oder auch Saloons gewesen waren.

Weiter oben am Berghang waren noch die rechteckigen oder auch runden Eingänge zu den Stollen zu erkennen, die mühsam mit Hacke und Schaufel in den Berg getrieben worden waren.

Mit schußbereiten Waffen fuhren sie einmal durch Golden und dann wieder zurück, ohne auch nur einen Menschen zu sehen. Es konnte kaum noch ein Zweifel daran bestehen, daß hier niemand mehr lebte – außer allerlei Getier, das bei ihrem Erscheinen rasch verschwand.

James hielt an. »Und was nun?« fragte er. Gerald sicherte sein Schnellfeuergewehr. »Stell den Motor ab, wir machen einen Spaziergang. Wenn mein Großvater

wirklich dieses Golden meinte, müssen wir eine Spur von dem finden, was er suchte. Ein solches Labor, eine noch so geheime Forschungs- und

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Entwicklungsstätte kann nicht einmal in zweihundert Jahren spurlos vom Erdboden verschwinden.«

»Und wenn sie darunter oder im Berg gelegen hat?« deutete John an und stieg aus. Die Waffe hielt er locker in der herabhängenden Hand.

Gerald folgte ihm, dann James. »Die Geisterstadt war eine perfekte Tarnung.« Gerald setzte sich als erster

in Bewegung. »Wir werden finden, was wir suchen, und wenn wir in sämtliche Stollen kriechen müssen.«

Bevor sie sich jedoch um die Stollen kümmerten, durchsuchten sie die Häuser, eins nach dem anderen. Einer von ihnen blieb dabei stets draußen auf der Straße, damit jemand, der sich vielleicht doch noch hier versteckt hielt, keine Gelegenheit erhielt, den Standort zu wechseln.

Es gab Anzeichen dafür, daß in Golden noch vor nicht allzu langer Zeit Menschen gehaust hatten. Zwar waren die Reste in weggeworfenen Konservendosen bereits verschimmelt, aber viel länger als zwei oder drei Jahre war es kaum her, daß man sie geöffnet hatte.

Nachdem sie Golden gründlich durchgekämmt hatten, ruhten sie sich auf den Holzstufen der letzten Hütte aus. Der Bach, der aus den Bergen kam, floß ganz in der Nähe vorbei.

»Wir werden Tage benötigen, bis wir herausfinden, was hier einmal vorging«, verriet James eine gewisse Hoffnungslosigkeit.

»Und wenn wir Wochen brauchen«, hielt Gerald ihm entschlossen entgegen, »wir geben nicht so schnell auf.«

John deutete hinauf zum Berg. »Wenn wir uns die Stollen vornehmen, dann der Reihe nach. Muß einer als

Wache draußen bleiben?« Gerald schien sich nicht sicher zu sein. »Es wird vielleicht überflüssig sein, denn außer uns ist kein Mensch mehr

hier. Es kommt auch darauf an, in welchem Zustand sich die Stollen befinden. Wenn Einsturzgefahr besteht, wäre es leichtsinnig von uns, gemeinsam hineinzugehen. Dann muß einer von uns draußen bleiben, um den anderen helfen zu können.«

»Spaten haben wir ja dabei«, seufzte John, stand auf und ging zum Bach, trank und erfrischte sich. Das Wasser war so kühl, als käme es gerade aus der Erde.

Später holten sie Lampen, einige Stangen Dynamit und Werkzeuge aus dem Jeep. Da der Boden fast nur aus Fels bestand, waren die alten ausgetretenen Pfade noch gut zu erkennen. Vegetation gab es kaum. Es war warm, und bald brach ihnen der Schweiß aus allen Poren.

»In den Minen wird es kühler sein«, sprach Gerald seinen Freunden Mut zu. »Außerdem läßt die Hitze schon nach.«

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Sie erreichten den ersten Stolleneingang. Er war durch kräftige Holzbalken abgestützt, die wie ein Wunder gute zweihundert Jahre überdauert hatten. Wenn es im Innern des Stollens auch so aussah, hatten sie Glück.

»Ich gehe vor«, erbot sich Gerald und übergab John sein Gewehr, um dafür Spaten und einige Dynamitstangen zu nehmen. »James, du kommst nach, wenn du mich rufen hörst.«

Gebückt betrat er den Stollen, ohne eine Entgegnung abzuwarten. Schon nach wenigen Metern mußte er die Lampe einschalten. Auch hier hatte die Abstützung gehalten. Einige Felsbrocken hatten sich aus der Decke gelöst und waren in den Gang gestürzt. Sie ließen sich leicht umgehen.

Nach fünfzig Metern rief er James. Der kam sofort. Ein Blick genügte. »Aus!« sagte er nur. Gerald nickte und studierte das herabgestürzte Gestein, das den Stollen

versperrte. Niemand konnte auch nur ahnen, wie dick die so gebildete Schuttmauer war. Fünf Meter? Oder fünfzig?

»Es hat wenig Sinn, wenn wir hier zu graben beginnen. Vielleicht war es hier im Berg feuchter als draußen. Das Holz verfaulte schneller und trug die Belastung nicht mehr.«

James stimmte ihm zu: »Untersuchen wir den nächsten Stollen. Vielleicht gibt es auch

Querverbindungen.« Das würde ihre Chancen natürlich erheblich verbessern und ihnen eine

Menge Arbeit ersparen. Enttäuscht, aber nicht ganz ohne Hoffnung, traten sie den Rückweg zum Ausgang des Stollens an.

Die echte Enttäuschung kam erst später. Bis zum Anbruch der Dämmerung hatten sie zehn Stollen untersucht, und

alle endeten nach zwanzig bis fünfzig Meter vor einer Einsturzstelle. Es sah fast nach Absicht aus.

Sie hatten den Jeep vor einem ehemaligen Saloon geparkt und hockten auf wackeligen Stühlen an einem ebenso wackeligen Tisch.

»Das mit den Minen«, sagte James bedächtig, »gibt mir zu denken. Wenn mich nicht alles täuscht, sind die Stollen nicht erst gestern oder vor ein paar Jahren eingestürzt. Außerdem sind sie offensichtlich eingestürzt worden.«

»Den Eindruck habe ich auch«, gab Gerald zu. »Diese ganzen alten Minen dienten nur zur Tarnung. Ein

Ablenkungsmanöver, wenn du so willst. Es gab niemals einen Zaun um Golden. Jeder konnte die Geisterstadt betreten, ohne daran gehindert zu werden. Und doch befand sich hier eine Top-Secret-Anlage. Die logische Erklärung dürfte sein: sie lag unter Golden.«

James starrte ihn voller Zweifel an. »Willst du damit sagen, daß im Geheimlabor gearbeitet wurde, während

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sich gleichzeitig hier oben die Touristen herumtrieben?« »Viele kamen nicht hierher, das wissen wir ja, ein paar Einzelgänger

vielleicht, und die sahen nichts. Wir brauchen jetzt nur noch den Eingang zu finden, einen Schacht etwa, der nach unten führt.«

John hieb mit der Faust auf die Tischplatte, die der ungewohnten Belastung zum Glück standhielt.

»In einem der Häuser also! Darauf haben wir natürlich bei der ersten Durchsuchung nicht geachtet.«

»Diesmal werden wir darauf achten, und zwar sehr genau. Aber erst morgen, heute ist es zu spät. Es wird schon dunkel.«

Sie verbrachten die Nacht im Saloon. Eine Wache einzuteilen war überflüssig, denn in Golden gab es nicht

einmal mehr Geister. »Und achtet mir vor allen Dingen auf getarnte Falltüren, die in einen Keller

führen«, mahnte Gerald am anderen Morgen. »Etwas in dieser Richtung könnte sehr gut der Eingang oder auch Abstieg in die alte Forschungsstätte sein.« Sie begannen mit ihrer Suche im ersten Haus auf der linken Straßenseite, die verfallene Hütte, die sie schon kannten. Der Boden bestand aus Fels. Nichts deutete darauf hin, daß sich darunter ein Hohlraum befand.

»Hier bestimmt nicht«, erklärte John, der den Boden systematisch mit einem Hammer abklopfte. »Ich würde eher auf ein größeres Gebäude tippen, ein Saloon oder so was.«

»Das, was wir suchen«, meinte James, »kann überall sein, selbst in der verrottetsten Bude.«

Mittags wurde es unerträglich heiß. Neben dem Bach machten sie Siesta. »Sauarbeit!« schimpfte John und goß sich einen Eimer Wasser über den

erhitzten Oberkörper. »Dachte, in den Häusern wäre es kühler.« »Die Vorräte werden allmählich knapp«, rückte James heraus, der für die

Verpflegung verantwortlich war. »Wir werden sparsamer damit umgehen müssen.«

»Noch sind wir nicht am Verhungern«, schwächte Gerald das Problem ab. »Vielleicht finden wir auch noch irgendwo Konserven. Bis jetzt haben wir ja auch nicht darauf geachtet und kaum in einen Schrank gesehen, geschweige in einen Keller.«

»Konserven ...?« dehnte John ungläubig. »Nach so langer Zeit? Das soll wohl ein Witz sein.«

»Konserven«, betonte Gerald, »die von den letzten Bewohnern stammen. Und die sind erst vor wenigen Jahren fortgegangen. Außerdem vergißt du, daß schon Ende des vergangenen Jahrhunderts Konserven hergestellt wurden, die sich garantiert achtzig bis neunzig Jahre halten sollten. Man findet noch heute welche, und sie sind gut.«

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»Wir suchen das Labor«, erinnerte sie James und erhob sich. »Ich schlage vor, daß wir weitermachen.«

Sie begannen dort, wo sie aufgehört hatten. Nichts. Das nächste Gebäude war ein größeres und relativ gut erhalten. Die

verwaschene Schrift auf dem Holzschild verriet, daß es eine Bank gewesen war.

»Hm«, gab Gerald von sich, als er die nur noch in einer verrosteten Angel hängende Tür mit einem Fußtritt beseitigte.

Dahinter lag ein großer Raum, den sie am Tag ihrer Ankunft nur oberflächlich nach Menschen durchsucht hatten. Von den ehemaligen Schaltern war nicht mehr viel übrig, und der Holzboden war mit Glassplittern übersät. In der Ecke stand ein Stahltresor, dem die Zeit nichts hatte anhaben können. Nicht einmal Rost hatte er angesetzt.

»Ob da noch Moneten drin sind?« fragte John hoffnungsvoll, obwohl Geld keinen Wert mehr besaß.

»Sieh doch nach, wenn du die Kombination kennst«, riet James spöttisch und begann den Boden abzuklopfen.

Die Bank war nicht unterkellert, wenigstens nicht hier im Schalterraum. Im dahinter liegenden Büro allerdings klang es hohl.

»Hier ist etwas drunter«, erregte sich James und begann sorgfältig zu suchen, bis er endlich die feinen Ritzen entdeckte, die ein Quadrat bildeten.

»Wir haben es gefunden!« jubelte er. »Nicht so voreilig«, blieb Gerald skeptisch und kam zu ihm »Und wie

können wir die Klappe öffnen?« James holte den Meißel aus der Tasche und fuhr damit die Ritzen entlang,

bis er auf Widerstand stieß. Mit einem kräftigen Ruck konnte er die Holzplatte anheben und die darunter verborgene Öffnung freilegen. Steinerne Stufen führten knapp drei Meter hinab. Gerald leuchtete mit der Lampe in die Tiefe. Ein kleiner Raum wurde erkennbar, noch gut erhaltene Regale und mehrere Kisten.

Gerald stieg vorsichtig als erster hinab, dicht gefolgt von dem aufgeregten James. Aber so sehr sie auch suchten und die Wände abklopften – es gab keine Geheimtür und damit auch keinen zweiten Raum.

James öffnete eine der Kisten mit Hammer und Meißel. Sie enthielt Nägel und Schrauben. In der zweiten befand sich Werkzeug. Wahrscheinlich hatte die Bank mit einem Hardwarestore zusammengearbeitet oder Waren gepfändet. Die restlichen Kisten waren leer.

Enttäuscht kehrten sie nach oben zurück. Sie fanden den fluchenden John beim Tresor. Noch immer bemühte er sich, die Kombination des erstaunlich modern wirkenden Schlosses herauszufinden.

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»Nun laß doch den Blödsinn!« riet James wütend. »Wir müssen noch das obere Stockwerk durchsuchen.«

John drehte sich nicht einmal um. »Das könnt ihr euch sparen, Freunde. Wenn das Geheimlabor unter Golden

liegt, was wir ja annehmen, kann der Eingang dazu niemals in einem oberen Stockwerk sein. Helft mir lieber, den Tresor zu knacken. Ich habe da so eine recht merkwürdige Ahnung.«

James schüttelte den Kopf. »Du vertrödelst nur wertvolle Zeit, John. Was immer auch in dem Tresor

liegen mag, es interessiert uns nicht.« Jetzt drehte John sich um. Sein Gesicht war ungewöhnlich ernst, als er

sagte: »Es sollte uns aber ungemein interessieren, was hinter dem Tresor ist.« Sie begriffen sofort, worauf er anspielte und starrten ihn überrascht an.

Dann rief James: »Wartet, ich hole Dynamit!« Er war auf der Straße, ehe jemand etwas sagen konnte. Der Tresor mußte damals so ziemlich das modernste Modell gewesen sein,

jedenfalls stammte er nicht aus der Pionierzeit des 19. Jahrhunderts. Das war der erste konkrete Hinweis, den Gerald registrierte. Der zweite war die Tatsache, daß es sich in Verbindung mit dem elektrisch gesteuerten Schloß um ein sehr ungewöhnliches Modell handelte, das keineswegs in die Bank einer verlassenen Goldgräberstand paßte. Er mochte fast zwei Meter breit und anderthalb tief sein.

»Der Eingang«, murmelte John fast ehrfürchtig, »und ich habe ihn gefunden.«

»Ich glaube, das hast du wirklich«, gestand ihm Gerald zu. »Ich hoffe nur, daß wir ihn auch öffnen können.«

»Mit dem Zeug hier kein Problem«, rief James von der Tür her und wedelte mit den Dynamitstangen. »Wir müssen nur herausfinden, wo wir die Dinger am wirkungsvollsten anbringen. Ich habe nämlich noch nie einen Tresor aufgesprengt.«

Gerald richtete sich wieder auf. »Hier unten vielleicht, wo die Angeln sein könnten. Versuchen können wir

es ja.« Es kostete sie einige Mühe, die Stangen zu befestigen, bis Gerald auf die

Idee kam, sie mit Steinen und Felsbrocken derart zu barrikadieren, daß die Wucht der Explosion nur in Richtung Tresortür wirken konnte.

Es war eine mühevolle Arbeit, aber sie war nicht zu vermeiden. Steine lagen auf der Straße in genügender Menge herum, aber sie besaßen nicht soviel Sprengstoff, um mehr als zwei oder drei Versuche anstellen zu

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können. Schließlich hatten sie es geschafft. James wischte sich den Schweiß von der

Stirn. »Wehe dir, John, wenn in dem verdammten Ding nur Geldscheine liegen!« John grinste zuversichtlich. »Es ist der gesuchte Eingang!« versicherte er überzeugt. »Und nun mach

schon weiter! Ich platze vor Ungeduld.« »Wir sind fertig. Es wird gut sein, wenn wir uns nach draußen verziehen.

Los, haut schon ab! Den Rest erledige ich hier allein.« Das Ende einer Zündschnur ragte aus den aufgeschichteten Steinen hervor.

James wartete, bis Gerald und John den Raum verlassen hatten, dann bückte er sich und hielt die Flamme seines Feuerzeugs an die Lunte, bis diese sprühend zu zischen begann. Er rannte auf die Straße, als sei der Teufel hinter ihm her.

Kaum war er bei den Freunden angelangt, die hinter einem vertrockneten und halb zusammengebrochenen Brunnentrog Deckung gesucht hatten, als die Detonation erfolgte. Sie war so gewaltig, daß die halbe Vorderfront der alten Bank weggesprengt wurde.

Kein gutes Zeichen, sagte sich Gerald enttäuscht. Die Wucht der Explosion ging in die falsche Richtung.

Seine Befürchtung bewahrheitete sich, aber immerhin war doch eine kleine Ecke der Tresortür herausgesprengt worden. Die so entstandene Lücke war allerdings nicht groß genug, um einen Blick in das Innere zu gestatten.

»Bestens!« zeigte sich James befriedigt. »Nun schieben wir ein paar Stangen in die Lücke hinein und schichten die Steine wieder auf. Ich wette, daß uns die halbe Tür entgegenkommt.«

Erneut machten sie sich an die Arbeit, nachdem James das restliche Dynamit plaziert hatte.

»Diesmal funktioniert es«, sagte er voller Zuversicht. »Und nun raus auf die Straße!«

Die kurz darauf folgende Explosion riß die restliche Vorderfront ein und nahm dem darüber liegenden Stockwerk die Stütze. Holzbalken und mürbe gewordene Ziegel stürzten auf die Straße und in den Schalterraum. Sie bedeckten die aus Halterung und Schloß gesprengte Tresortür.

Der Tresor selbst gähnte weit offen. Sie arbeiteten sich über die Trümmer der Bank hinweg und starrten in das

Innere dessen, was wie ein Tresor ausgesehen hatte. Ein leerer Raum, fast zwei mal anderthalb Meter groß – und ohne Boden.

Gerald beugte sich vor und leuchtete in die Tiefe. »Ein Schacht«, sagte er dann, und er versuchte, Fassung zu bewahren.

»Kann ein Aufzug gewesen sein, aber der funktioniert bestimmt nicht mehr.«

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»Und wie sollen wir da hinunter?« fragte John. »Wie tief ist der Schacht denn?«

»Zehn Meter schätze ich, mit unserem Seil also leicht zu schaffen.« »Ich kann es noch immer nicht fassen, es ist alles so unglaublich und

verrückt. Was nehmen wir außer den Lampen noch mit? Waffen werden wir wohl kaum benötigen.«

»Die Pistolen. Als Ersatz für Dynamit.« Es begann bereits zu dunkeln, aber keiner von ihnen hätte jetzt schlafen

können. Außerdem spielte es keine Rolle, ob sie die unterirdische Anlage tagsüber oder nachts aufsuchten. Da unten war es immer dunkel.

James hatte das Seil aus dem Jeep geholt und Knoten hineingearbeitet, um das Klettern zu erleichtern. Er befestigte das eine Ende an der Seitenwand des »Tresors«, in der ein Loch entständen war.

»Wer geht zuerst?« erkundigte er sich und trat zurück. Gerald deutete auf John. »Diese Ehre gebührt dem Entdecker. Dann ich. Du übernimmst die

Nachhut.« John klemmte die eingeschaltete Lampe zwischen die Zähne und ließ sich

dann langsam in die Tiefe gleiten. Unter sich sah er den metallisch schimmernden Boden des Schachtes, der sich bald als Plattform entpuppte.

Als er darauf stand, hielt er das Seilende fest und rief nach oben: »Du kannst kommen, Gerald. Keine Gefahr.« Schließlich standen sie alle drei neben der nur wenige Zentimeter dicken

Plattform und sahen sich um. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß dieser »Keller« unter keinen Umständen zu jener Zeit entstanden war, die man damals die Pionierzeit des Westens genannt hatte. Diese unterirdische Anlage war mit modernsten Mitteln angelegt worden, das war schon jetzt klar zu erkennen, obwohl sie sie erst gerade betreten hatten.

Der Gang mochte fünf Meter breit sein und führte in beide Richtungen. Die Lampen waren nicht stark genug und reichten nicht weit.

»Nehmen wir zuerst die linke Seite«, schlug Gerald vor. »Wir bleiben in jedem Fall zusammen, halten aber immer einen gewissen Abstand, damit wir uns gegenseitig helfen können, falls es verborgene Sperren oder so was geben sollte.«

»Hoffentlich bekommt Golden in der Zwischenzeit keinen Besucher, der auf die Idee gerät, das Seil hinaufzuziehen. Dann säßen wir aber schön in der Tinte«, sagte John.

Gerald zuckte nur mit der Schulter und ging langsam in den linken Gang hinein, der in gerader Linie in das Gebirge hineinführte. Die anderen folgten ihm, und sie hielten jeweils fünf Meter Abstand. Immer wieder sahen sie hinauf zu der fugenlosen und leicht gewölbten Decke, als erwarteten sie

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jeden Augenblick von dort das plötzliche Herabsausen eines Gitters oder einer Sperrwand. Aber nichts dergleichen geschah.

Die Luft war ein wenig stickig, aber ein kaum spürbarer Zug verriet, daß irgendwo verborgene Verbindungen zur Oberfläche vorhanden sein mußten. Aber wenn es Ventilatoren oder Ähnliches gegeben hatte, so funktionierten sie nicht mehr.

»Wie konnten sie den Gang nur anlegen, ohne daß es jemand bemerkte?« wunderte sich James, der hinter Gerald ging. »Dazu gehörten Maschinen und Energieerzeuger. Der Schacht, durch den wir kamen, ist zu klein dafür.«

»Wir werden schon eine Erklärung finden«, vertröstete ihn Gerald. Er blieb stehen und leuchtete nach vorn. »Da ist eine Tür, aber sie scheint nicht verschlossen zu sein.«

Sie näherten sich ihr mit aller Vorsicht. Es war eine Stahltür, die einen Spalt offen stand. Mit weißer Schrift stand auf einem roten Metallschild:

EINTRITT NUR MIT SONDERGENEHMIGUNG GESTATTET.

»Die haben wir ja«, knurrte Gerald und untersuchte das Schloß. »Es ist

aufgebrochen worden, so als sei schon jemand vor uns hier gewesen.« »Dein Großvater und seine Begleiter«, murmelte John, der als Nachhut

zuletzt durch die Öffnung schritt und die Fortsetzung des Ganges betrat. Nach ungefähr zwei Dutzend Schritten zweigten rechts und links schmalere

Gänge ab, die bereits nach wenigen Metern in dunklen Räumen endeten. Einst mußten sie hell erleuchtet gewesen sein, wie die erloschenen Neonröhren unter der Decke verrieten. Beide Räume waren identisch eingerichtet. Tische, Schränke und Stühle, alles aus Leichtmetall und unzerstörbar.

»Könnten Wachstuben gewesen sein«, vermutete Gerald nach der oberflächlichen Inspektion.

Sie kehrten zum Hauptgang zurück, der weiter hinein in das Gebirge führte. Über ihren Köpfen lastete nun eine Gesteinsschicht von vielleicht hundert Metern Dicke – ein unvorstellbares Gewicht.

Der Gang mündete in einer runden Halle. Ringsum befanden sich türlose Öffnungen, hinter denen Räume sein mußten.

»Ab hier waren keine Sicherheitsmaßnahmen mehr notwendig«, überlegte Gerald. »Wer bis hierher kam, damals, mußte absolut ‚sauber’ sein. Ich glaube, wir sind am Ziel.«

»Hoffentlich halten die Batterien solange«, befürchtete John. »Lange genug«, hoffte Gerald und wandte sich rechts der ersten Öffnung

zu. In ihr blieb er stehen und leuchtete in den dahinter liegenden Raum hinein. »Eine Art Büro muß das gewesen sein.«

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»Schade nur«, beschwerte sich James sarkastisch, »daß die hübsche Empfangsdame fehlt.«

Außer Aktenschränken und einer Gegensprechanlage fanden sie keine weiteren Hinweise. Der zweite Raum war dagegen schon wesentlich interessanter. Ohne jeden Zweifel handelte es sich um die Nachrichtenzentrale. Unter einer Reihe von Bildschirmen nahm die Funkanlage die ganze Wand ein. Sie war mit Computern und Aufzeichnungsgeräten aller Art verbunden. Von hier aus wurde also der Kontakt mit den Kommandostellen – irgendwo in Amerika – hergestellt.

Gerald tippte auf einen massiven Kasten mit der lapidaren Aufschrift: ARIEL.

»Die Antenne, wahrscheinlich von hier aus zu bedienen. Ich nehme an, sie befindet sich auf einer unzugänglichen Bergspitze hoch über uns und konnte nach Belieben ein oder ausgefahren werden. Die haben aber auch an alles gedacht.«

»Und doch scheint sich noch während der Entwicklungsphase ein Agent eingeschlichen zu haben, sonst wäre alles vielleicht ganz anders gekommen«, spekulierte James.

»Vielleicht.« Das war alles, was Gerald dazu meinte. John machte sich an der Funkanlage zu schaffen, tippte völlig sinnlos

Frequenzen in die Speicher und spielte mit den Videoaufzeichnungen herum. Die Geräte gaben kein Lebenszeichen von sich, denn es gab keine Energie.

»Es muß doch eine Art Generator hier unten geben«, entschuldigte er sein zweckloses Unterfangen, »der unter Umständen automatisch anspringt, wenn man hier den richtigen Dreh findet.«

»Gehen wir weiter«, schlug Gerald vor. »Hier nicht«, ging James auf die Bemerkung von John ein. »Dafür dürfte es

eine extra Zentrale gegeben haben, von der aus alles gesteuert wurde. Die finden wir auch noch, und dann kannst du weiter experimentieren. Wäre schön, wenn wir mehr Licht hätten.«

Dann fanden sie das Labor. Es ähnelte nicht jenen Laboratorien, wie sie sie aus Büchern und

Schilderungen kannten. Es gab weder Reagenzröhrchen, Retorten oder Bunsenbrenner und was sonst noch in einem ordentlichen Labor vorhanden sein mußte, wenn die althergebrachte Meinung stimmen sollte.

Aber es gab einen Schmelzofen mit automatisch bedienbaren Tiegeln und mehreren Mischvorrichtungen. In den Regalen an den Wänden ruhten handliche Metallbarren. Lücken deuteten darauf hin, daß fast die Hälfte von ihnen fehlte, also wahrscheinlich verarbeitet worden war.

Wozu, blieb vorerst nur Vermutung. Aber nicht lange. John, der den großen Raum wahllos durchstöberte, rief plötzlich aufgeregt:

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»Kommt mal her! Das ist doch eine Gießform, wenn ich mich nicht völlig irre. Hier haben sie die verdammten Granaten hergestellt, mit denen das Zeug verschossen wurde.«

Gerald nickte, als er Johns Entdeckung betrachtete. »Zumindest die ersten Versuchsexemplare«, schränkte er ein. »Und die

richtige Mischung des flüssigen Metalls wurde hier zusammengestellt, nachdem die Formel nebenan im Labor entwickelt worden war. Hier also entstand der Strahlende Tod!«

»In seiner letzten Phase«, fügte James hinzu, befriedigt und geschockt zugleich. »Ob dein Großvater auch hier gewesen ist?«

Gerald sah auf. »Vielleicht ist er nicht so weit gekommen«, befürchtete er düster. James starrte auf die Barren, die in unterschiedlichen Farben schimmerten. »Einer davon ist es, der die letzte und tödliche Komponente darstellt – aber

welcher? Die Barren bestehen aus sämtlichen metallischen Elementen, die es auf der Erde gibt, und das sind eine ganze Menge. Dort stehen auch Bleibehälter. Sie enthalten wahrscheinlich radioaktiv strahlende Barren.«

»Man müßte von jeder Sorte einen Barren mitnehmen«, schlug John vor. James bedachte ihn mit einem fast mitleidigen Blick. »Das würde uns in keiner Weise weiterhelfen, selbst wenn wir sie alle

identifizieren könnten. Wenn schon, dann müßten wir eine der fertigen Granaten, zumindest die Hülle, analysieren können. Und das eben können wir nicht, da uns die Kenntnisse und die Mittel fehlen.«

»Wir sind also keinen Schritt weitergekommen«, faßte James resigniert zusammen.

»Eigentlich nicht«, gab Gerald zu, »aber sollen wir deshalb aufgeben? Irgendwo müssen Aufzeichnungen sein, und die suchen wir.«

»Ein schöner Mist ist das alles«, fluchte John, setzte sich auf eine Kiste und löschte die Lampe, um Strom zu sparen. »Da sind wir nun an der lange gesuchten Quelle angelangt und können nicht daraus trinken.«

»Feiner Vergleich«, spöttelte James. »Und was nun?« »Weitersuchen!« sagte Gerald mit der Entschlossenheit des Fanatikers. »Ich

will auf keinen Fall ohne ein greifbares Resultat zurück nach Jackville.« James seufzte. »Gehen wir«, schlug er vor und trat John sachte gegen die ausgestreckten

Beine. Der nächste Raum brachte eine weitere Überraschung, allerdings eine

erfreuliche. Er war ein riesiges Vorratslager, in dem Konserven aller Art und bis zur Decke aufgestapelte Kisten lagerten. Obwohl große Lücken vorhanden waren, hätten sich ein Dutzend Menschen hier noch jahrelang ernähren können. Selbst Trinkwasser in Dosen, alkoholische Getränke und

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Fruchtsäfte mit Vitaminen fehlten nicht. »Champagner!« jubelte John, der eine der Kisten aufgebrochen hatte. »Wer

hat Durst und stößt mit mir an?« Keiner protestierte, und da James noch eine Kiste mit passenden Batterien

gefunden hatte, feierten sie ihr kleines Fest bei entsprechender Beleuchtung. Noch ahnten sie nicht, daß es sich bei ihrem Fest um eine makabre Art von

Leichenschmaus handeln sollte... Die restlichen Räume der Halle, die den linken Gang begrenzten, enthielten

eine unübersichtliche Menge schriftlicher und akustisch aufgezeichneter Berichte oder wissenschaftlicher Untersuchungsergebnisse, die man schon vor langer Zeit aus ihren Fächern und Behältern herausgerissen und verstreut haben mußte. Hier war eine systematische Nachforschung unmöglich gemacht worden.

»Wenn das jene Leute waren, die hier gearbeitet haben, warum wurde dann das Material nicht wirklich total vernichtet?« stellte James die logische Frage.

Gerald schürzte die Lippen. »Sieht so aus, als seien nicht sie es gewesen, die das Durcheinander

verursachten, sondern andere. Aber, wer? Auf jeden Fall hat hier jemand etwas gesucht – und vielleicht auch gefunden. Es hat wenig Sinn, wenn wir versuchen, Ordnung in das Chaos zu bringen. Außerdem verstehen wir nicht genügend von der Materie, mit der sich diese Teufel befaßt haben.«

Sie gingen den langen Weg durch den linken Gang zurück und überzeugten sich davon, daß der Strick noch immer unverändert im Schacht auf sie wartete. Auch die Tür, die den rechten Gang einst absperrte, war gewaltsam aufgebrochen worden. Auch hier gab es die beiden Wachräume und dann den weiten Weg bis zur Rundhalle.

Gerald schätzte, daß sie mehr als fünfhundert Meter von Golden entfernt tief unter der einstigen Wüste lag, denn der Gang hatte langsam, aber stetig nach unten geführt. Der Höhenunterschied, so rechnete er überschlägig, würde etwa hundert Meter betragen.

Sie fanden als erstes die Energieanlage. Eine Bleitür, die Aufschriften trug, verriet eindeutig, daß hinter ihr ein kleiner Atomreaktor aktiv gewesen war. Man hatte ihn abgeschaltet, denn er spendete keine Energie mehr. Sie verzichteten darauf, den Versuch zu unternehmen, die Bleitür zu öffnen.

Damit wurde auch eine genauere Untersuchung der elektronischen Schaltzentrale überflüssig, die für die Verteilung des erzeugten Stroms gesorgt hatte.

»Wie haben die das nur unbemerkt unter die Erde geschafft?« wunderte sich James erneut. »Keine Absperrungen auf der Oberfläche, und durch den Schacht in der Bank kann das ganze Zeug auch nicht transportiert worden sein. Ich stehe da vor einem Rätsel.«

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»Da bist du nicht allein«, sagte Gerald und ging weiter. Etwas länger hielten sie sich in einem Raum auf, der wohl Besprechungen

gedient haben mochte. Ein langer ovaler Tisch stand in seiner Mitte, umgeben von bequemen Sesseln – alles aus einem unzerstörbaren Plastikmaterial, das die Jahrzehnte ohne Schaden überstanden hatte.

Auch hier gab es Spuren von Menschen, die noch nach der großen Katastrophe unter Golden gelebt hatten. Leere Konservendosen waren achtlos in die Ecken geworfen worden, ohne daß ein Hinweis zu finden war, wann sie geöffnet worden waren.

»Kann sein«, grübelte Gerald vor sich hin, »daß in diesem Raum der Strahlende Tod geboren wurde – zumindest aber gezeugt.«

»Und ich möchte wissen«, meinte James, »woher die relativ frische Luft kommt, die wir hier unten atmen, hundert Meter unter der Erde.«

Niemand antwortete ihm. Sie durchsuchten noch weitere Räume und gelangten schließlich zur

zweiten Tür der Rundhalle. Sie bestand aus Teakholz, nicht aus Blei, und sie war nur angelehnt und besaß auch kein Schloß. Dahinter lag ein schmaler Gang, von dem rechts und links weitere Türen abzweigten. Hinter diesen Türen lagen die Unterkünfte der einstigen Besatzung der Anlage.

Es waren kleine aber zweckmäßig eingerichtete Apartments: Wohnschlafzimmer mit Bad und Toilette, einige sogar mit einem Doppelbett.

»Schlecht zu sagen, wann hier jemand zum letztenmal geschlafen hat«, stellte John fest und deutete auf ein zerwühltes Bett.

Gerald lauschte auf ein Geräusch, dann durchquerte er das Zimmer und betrat das Bad. Die Wanne war bis zum Rand gefüllt und lief über. Aus dem Hahn tropfte Wasser, und der Überlauf schien verstopft zu sein.

Er kehrte zu den anderen zurück. »Da hat jemand vergessen, das Wasser abzustellen –weiß der Teufel, wie

lange das schon her ist.« Sie schätzten, daß es mehr als dreißig Apartments waren, hinzu kam noch

ein größerer Gemeinschaftsraum, wohl eine Art Kantine mit Bar und Videoschirm, der einen großen Teil der Wand einnahm. Das Vorführgerät war mit einem schweren Gegenstand zertrümmert worden.

»Den Rest können wir uns sparen«, schlug James vor, verließ den Raum und setzte sich in Richtung Rundhalle in Bewegung, aber Gerald hielt ihn zurück:

»Wir haben noch nicht alle Apartments durchsucht.« James blieb stehen. »Wozu das? Sehen doch alle gleich aus.« »Trotzdem! Wenn wir schon mal hier unten sind, wollen wir keine

Unterlassungssünden begehen. Ich weiß selbst nicht, was wir noch finden

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könnten, aber ich will wenigstens wissen, daß wir nichts übersehen haben.« »Und ich«, sagte John entschlossen, »möchte auch nichts übersehen. Ich

will mir unter allen Umständen noch einmal das eigentliche Labor ansehen. Ein wenig von Physik verstehe ich ja, vielleicht finde ich was. Wir waren ja bisher ziemlich oberflächlich.«

»Kannst du haben«, versprach Gerald und nahm sich das nächste Apartment vor. »Nehmt das gegenüber, dann sind wir schneller fertig.«

Er stieß die Tür auf, um einen flüchtigen Blick in den Raum dahinter zu werfen.

Da stockte ihm das Blut in den Adern. Auf dem breiten Einzelbett lag ein menschliches Skelett. In der gleichen Sekunde fast hörte er von der anderen Seite des Ganges

einen Aufschrei. Es war James. »Gerald! Komm schnell her! Ich habe einen Toten gefunden – aber nur die

Knochen, ein Skelett!« John kam aus dem Nachbarapartment gestürzt, erschrocken und blaß. Gerald sah nur kurz nach hinten, um sich dann wieder seinem eigenen Fund

zu widmen, denn etwas anderes als das Skelett hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Neben dem Bett, auf dem Nachttisch, lag ein Bündel beschriebener Papierbögen, sorgfältig durch einen Barren beschwert, obwohl das überflüssig sein mochte.

Vorsichtig, als wolle er die Ruhe des Toten nicht stören, näherte er sich dem kleinen Tisch und beugte sich hinab. Die Batterie seiner Lampe mußte erneuert werden, sie leuchtete nur noch schwach, trotzdem erkannte er die Schrift sofort.

Es war dieselbe Handschrift wie jene im Testament seines verschollenen Großvaters Robert Zimmermann.

Seine Knie zitterten, als er sich wieder aufrichtete und dem Skelett einen scheuen Blick zuwarf.

Er hatte endlich den Vater seines Vaters gefunden.

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5.

Robert Zimmermanns Tagebuch, beendet im Jahre 2020

Wer immer auch meine Aufzeichnungen finden mag, er möge sie nach Jackville bringen, jener kleinen Ansiedlung etwa tausend Kilometer südöstlich von hier. Es ist meine letzte Bitte, bevor ich sterbe.

Wir – das sind Gibson Kemp, Brendon, Eppstein und ich – sind im Jahr 1999 von dort aufgebrochen, um das Rätsel des Strahlenden Todes zu lösen und die Gefahr zu beseitigen, die noch heute von ihm ausgeht, falls ein Verrückter erneut das Geheimnis lüftet.

Brendon fand unterwegs den Tod und wurde begraben. Kemp, Eppstein und ich gaben nicht auf und fanden schließlich den Weg nach Golden, der alten Geisterstadt. Einige Familien hatten sich hier niedergelassen, wollten aber nicht für immer bleiben, denn sie wußten, daß es spukte. Die Seelen der Toten, so sagten sie, fänden keine Ruhe.

Meine Freunde und ich dachten bald anders darüber, und als eines Nachts zwei junge Frauen spurlos verschwanden und wir Hinweise auf eine gewaltsame Entführung fanden, begannen wir intensiver zu suchen. Jene Tips, die wir unterwegs erhalten hatten, deuteten darauf hin, daß sich unter Golden das befand, was wir suchten, und das Verschwinden der Frauen bewies uns, daß die Verbrecher in dem Entwicklungslabor unter Golden noch lebten.

Einer von uns war nachts immer wach und hielt sich in den dunklen Straßen auf. Früher oder später, so nahmen wir an, würde sich wieder einer der Verborgenen an die Oberfläche wagen, und dann brauchten wir ihm nur heimlich zu folgen, um den Eingang zu finden.

Zwei Wochen lang geschah nichts, aber dann, ich hatte den Wachdienst für diese Nacht übernommen, geschah das, worauf wir gewartet hatten. Um Mißverständnissen vorzubeugen, bestand für Golden allgemeines Ausgehverbot während der Nacht. Wenn sich also jemand nachts auf der Straße sehen ließ, konnte es keiner von uns oder den Familien sein.

Ich sah die beiden Schatten an den Häusern vorbeischleichen. Es war nicht schwierig, sie im Auge zu behalten, denn sie schienen völlig arglos zu sein und ließen keine besondere Vorsicht walten. Undeutlich konnte ich erkennen, daß sie bewaffnet waren.

Ich fragte mich, was sie suchten, wenn nicht wieder Frauen oder Mädchen. Auf Lebensmittel schienen sie keinen Wert zu legen, die gab es in ihrem Versteck wohl noch mehr als genug. Frauen jedoch schienen knapp zu sein.

Die meisten Häuser ignorierten sie, und wenn sie eins betraten, dann immer nur einer von ihnen. Der andere blieb auf der Straße und wartete. Ich begann

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mich zu wundern, warum sie sich nicht mit offener Gewalt das holten, was sie haben wollten.

Schließlich, etwa nach einer Stunde, traten sie ohne Erfolg den Rückweg an. Wenn Kemp und Eppstein jetzt bei mir gewesen wären, hätten wir unser Ziel schneller erreicht, so aber blieb mir nichts anderes übrig, als den beiden zu folgen, bis sie im Bankgebäude verschwanden.

Der Tresor dort! Jetzt fiel es mir wieder ein. Natürlich, der Tresor mußte der Eingang sein, den wir vergeblich gesucht hatten.

Ich blieb draußen stehen und sah durchs Fenster, wie sie eine Kombination einstellten, die schwere Tür öffneten, den Raum dahinter betraten, nachdem sie die Kombination wieder verstellt hatten, und dann die Tür hinter sich zuzogen. Das Geräusch des absackenden Lifts war kaum zu vernehmen, dann herrschte wieder absolute Stille.

Ich kehrte zu Kemp und Eppstein zurück, um ihnen meine Entdeckung mitzuteilen. Zufällig verließen auch am nächsten Tag die Familien Golden, und wir waren allein.

Von nun an schliefen wir hinter den Schaltern der Bank. Und warteten, die Waffen schußbereit neben uns. »Wie machen wir es?« hatte Eppstein gefragt. Darüber hatte ich lange nachgedacht. Wir konnten die Kerle überwältigen,

wenn sie aus dem Tresor kamen, aber dann würden wir kaum jemals die Kombination erfahren, die ja auch von der Innenseite der Tür her wirksam sein mußte. Es würde also sicherer sein, zu warten, bis sie zurückkehrten, die Kombination einstellten – und dann blitzschnell handeln.

Kemp und Eppstein stimmten meinem Plan zu. Wir wußten alle drei nicht, daß wir etwas vergessen hatten. In der dritten Nacht, die wir in der Bank verbrachten, weckte mich ein

Geräusch. Ich richtete mich auf und konnte den vom Mond beschienenen Tresor gut erkennen. Das Geräusch hörte auf. Dann öffnete sich die Tür. Ein Mann erschien, hantierte kurz an der Innenseite der Tür, kam heraus und drückte sie wieder zu.

Ich wagte kaum zu atmen, als er den Schalterraum durchquerte und auf die Straße hinausging. Nun, niemand brauchte ihm zu folgen, denn er würde bald zurückkehren, weil er nicht mehr fand, was er vielleicht suchte. Immerhin weckte ich nun Eppstein und Kemp, und wir bereiteten uns vor, den Mann im richtigen Augenblick zu überraschen – nicht zu früh und nicht zu spät. Eine einzige Sekunde konnte alles verderben.

Nach zwei Stunden schien der Mann überzeugt zu sein, daß die Leute die Stadt verlassen hatten. Er kam zurück. Wir hockten sprungbereit hinter den Schaltern, unsere Waffen für alle Fälle durchgeladen und entsichert.

Ahnungslos näherte sich unser Opfer dem Tresor und begann an den beiden

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Rädern zu drehen, wobei kein Geräusch zu hören war. Langsam zog er die schwere Metalltür auf. Kemp war mit einem Satz über der Schaltertheke, dessen Glaswand er

vorher beseitigt hatte. Er packte den völlig Überraschten und zog ihn in die Mitte des Raumes. Kemp hockte sich auf ihn, hielt ihm den Mund zu und entriß ihm den Revolver.

»Ganz ruhig bleiben, sonst bist du erledigt«, warnte er ihn. »Wir brauchen dich nicht mehr, vergiß das nicht. Aber wenn du vernünftig bist, bleibst du am Leben.«

Der Überwältigte rollte mit den Augen vor Todesangst, dann versuchte er zu nicken. Kemp nahm die Hand von seinem Mund. Eppstein war inzwischen zur Tresortür gegangen und merkte sich die Kombination. Die Buchstaben ergaben das Wort TITAN, und die Zahl lautete 1987.

»Da kommt ihr nie wieder raus, sagte der Gefangene, und in seiner Stimme war Spott. Er begann sich von seinem Schock zu erholen – erstaunlich schnell, wie mir schien. »Außerdem ist der Zutritt für Unbefugte verboten.«

Kemp verpaßte ihm eine Ohrfeige. »Auch für die letzten Überlebenden einer Katastrophe, die ihr verschuldet

habt? Wißt ihr überhaupt, wie uns zumute ist? Ja, glaubst du denn wirklich, daß so ein Verbot noch Gültigkeit hat? Du mußt verrückt sein, wahnsinnig, wie ihr alle da unten!«

»Wir taten nur unsere Pflicht.« Er bekam die zweite Ohrfeige, diesmal etwas kräftiger. Ich schielte hinüber zum Tresor. Es bestand durchaus die Möglichkeit, daß dort abermals jemand erschien,

die Lage zu schnell durchschaute und die Tür schloß, ehe wir etwas dagegen unternehmen konnten. Aber wir kannten ja die Kombination.

Kemp stellte noch einige Fragen, erhielt aber trotz wiederholter Ohrfeigen keine Antwort mehr. Aus dem Keller des Bankbüros holten wir Stricke, dann fesselten und knebelten wir den Mann derart, daß er sich unmöglich selbst befreien konnte, und legten ihn in den Keller. Vielleicht fand ihn dort jemand. Wir waren plötzlich frei von allen Skrupeln.

Die Plattform im Lift war einfach zu bedienen. Vorsichtig zogen wir die Tresortür zu, ließen sie aber nicht ins Schloß gleiten. An ihrer Innenseite war eine identische Kombinationsvorrichtung angebracht.

Langsam glitten wir in die Tiefe, etwa zehn Meter schätzte ich. Unsere Schnellfeuergewehre lagen entsichert in der Armbeuge. Wir waren entschlossen, von nun an jede Rücksicht fallenzulassen.

Als wir den Lift verließen und den Wachkorridor betraten, ging alles so blitzschnell und überraschend, daß uns kaum Zeit blieb, zwei oder drei Atemzüge zu tun. Ich erhielt einen starken elektrischen Schlag, der mich fast

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augenblicklich lähmte. Das Gewehr polterte auf den Boden und entlud sich. Kemp und Eppstein sackten hilflos in sich zusammen. An Gegenwehr war nicht zu denken.

Von beiden Seiten kamen sie auf uns zu, in Uniform und mit grimmigen Gesichtern. In ihren Händen waren pistolenähnliche Waffen, wie ich sie noch nie gesehen hatte.

Grob stellten sie uns auf die Füße. Sie stellten keine Fragen, stießen uns in den linken Gang und brachten uns

in einen dürftig eingerichteten Raum ohne Tür. Aber zwei von ihnen blieben dort stehen, die Waffen auf uns gerichtet. Der dritte Uniformierte sagte barsch:

»Ihr werdet einiges zu erklären haben, und wenn wir nicht manches über das erfahren möchten, was draußen vor sich geht, wäret ihr bereits tot. Und nun wartet. Ihr werdet bald Gelegenheit zum Reden erhalten. Ein Fluchtversuch wäre zwecklos, aber das wißt ihr ja wohl selbst.«

Ich nickte nur und setzte mich auf die Holzpritsche. Auch Kemp und Eppstein nahmen Platz. Stumm starrten wir unsere beiden Wächter an.

Im Magen hatte ich plötzlich ein verdammt flaues Gefühl. Sie führten uns später durch den langen Korridor zurück in einen größeren

Raum. An dem langen Tisch saßen etwa ein Dutzend Männer, einige von ihnen in Uniform, die meisten in Zivil. Am Kopfende des Tisches hatte ein älterer Mann Platz genommen, sein Haar war fast weiß. Er strahlte Autorität aus und betrachtete uns mit finsteren Blicken.

Wir blieben stehen, hinter uns die Wächter. Ich will versuchen, das Verhör aus der Erinnerung ziemlich. wortgetreu

wiederzugeben. »Mein Name ist Weisenberg«, begann der Zivilist am Kopfende. »Dr.

Weisenberg, Leiter des Projekts. Was haben Sie hier zu suchen?« Kemp wartete nicht, bis ich antwortete. »Was wir knapp fünf Jahre nach dem verdammten Krieg hier suchen,

wollen Sie wissen?« brüllte er den Wissenschaftler an. »Wir suchen die Schuldigen, Sie!«

Zu meinem Erstaunen geschah nichts. Weisenberg nickte nur. »Verständlich, und sehr menschlich. Ihre Namen?« Wir nannten sie ihm,

und er fuhr fort: »Dies hier war das Entwicklungslabor für ein Pflanzenwuchsmittel, wie sie es in vielen anderen Ländern auch gab. Im Jahr 1989 jedoch fand jemand heraus, daß eine Mischung, die man dem Endprodukt beifügte, aus dieser nützlichen Mixtur eine tödliche Chemikalie machte. Aus dem Pflanzenwuchsmittel wurde der Strahlende Tod.«

»Warum«, fragte ich, »wurde dieses Labor unterirdisch angelegt, wenn nur ein harmloses Pflanzenmittel produziert werden sollte?«

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Weisenberg lächelte hintergründig. »Das geschah erst 1989 unter größter Geheimhaltung. Denn die Militärs

...«, er warf den Männern in Uniform einen schrägen und nicht gerade freundlichen Blick zu, »... waren naturgemäß mehr an der neuen Waffe als an dem Mittel interessiert. Hinzu kam die strikte Anweisung der damaligen Regierung. Klar genug ausgedrückt, Zimmermann?«

»Sehr klar«, gab ich zu. »Das Militär war also stärker als die Regierung. Keine Entschuldigung für uns.«

»In aller Welt geschah etwa das gleiche«, machte Weisenberg ihn aufmerksam. »Wir konnten nicht tatenlos zusehen.«

»Ich weiß: das Gleichgewicht mußte erhalten werden, so wie zuvor das atomare Gleichgewicht stabil bleiben mußte.« In meiner Stimme war Bitterkeit, als ich fortfuhr: »Das Resultat dieses irrsinnigen Standpunkts ist ja nun bekannt.«

»Richtig«, gestand er. »Es funktionierte nicht.« Kemp wurde ungeduldig. »Wir haben einige Lagerstätten des verdammten Zeugs gefunden, auch

Sammelstellen für den Abtransport. Wir suchen die verhängnisvolle Komponente. Dann bietet sich vielleicht endlich die Gelegenheit, diesen tödlichen Dreck unschädlich zu machen, der heute noch den jämmerlichen Rest der Menschheit bedroht.«

Einer der Uniformierten schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie werden unverschämt und vergessen, daß Sie unser Gefangener sind

und diese Anlage nie mehr verlassen werden. Oder glauben Sie vielleicht, wir lassen uns draußen lynchen?«

»Das könnte leicht passieren«, stritt Kemp diese Möglichkeit nicht ab. »Aber noch steht nicht fest, ob wir von Ihnen gelyncht werden.«

»Davon ist keine Rede«, mischte sich Weisenberg nun wieder ein. »General Wales deutete lediglich an, daß Sie uns weiterhin Gesellschaft leisten werden – freiwillig oder nicht.«

Damit war es heraus. Ich protestierte: »Dr. Weisenberg, wir wollen nichts anderes als die letzte Komponente, um

die restlichen Lagerbestände unschädlich zu machen. Wir wissen, daß es möglich ist. Sie haben unser Wort, daß wir niemandem Ihren Aufenthaltsort verraten werden.«

Abermals lächelte der Wissenschaftler, ein wenig mitleidig, wie mir schien. »Auf Ihr Wort, so ernst es gemeint sein mag, können wir uns nicht

verlassen. Und dann möchte ich Ihnen noch etwas verraten, was Sie bestimmt beruhigen wird: Die von Ihnen gesuchte Komponente ist ein metallisches Element und wird den ... den Behältern bei ihrer Herstellung beigefügt. Die

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spätere Vermischung erst resultiert im Strahlenden Tod. Es ist jedoch so, daß diese Beimischung nach einem Zeitraum zwischen fünfzig und achtzig Jahren unwirksam wird. Was übrigbleibt, ist das ursprüngliche Pflanzenwuchsmittel. Es wirkt schon vorher zu einem geringen Bruchteil, aber nach dem eben angegebenen Zeitpunkt wird sich die Oberfläche der Erde in ein grünes Paradies verwandeln. Ganz ohne unser Hinzutun. Nun, was sagen Sie jetzt?«

»Wir werden es kaum erleben«, hielt ich ihm verbittert entgegen. »Aber jene, die nach uns kommen«, gab er ungerührt zurück. Mir war klar, daß seine Beruhigungspille rein theoretischer Natur war, denn

eine Praxis gab es nicht. Unsere Enkel, die würden das »grüne Wunder« vielleicht erleben, aber auch das war nicht sicher. Für die jetzt Überlebenden war Weisenbergs Behauptung so gut wie wertlos. Deshalb wiederholte ich meine Forderung:

»Wir benötigen die Formel der Metallegierung, aus der die Granaten hergestellt wurden – und die Methode, die Komponente zu neutralisieren. Wenn wir Erfolg haben, können Sie beruhigt Ihren Bunker verlassen. Es wird Ihnen nichts geschehen.«

»Der Kerl ist wahnsinnig!« polterte General Wales empört. »Wir sollten auf der Stelle Schluß mit diesen drei Verrückten machen.«

»Niemand macht hier Schluß!« sagte Weisenberg ruhig. »Nicht, solange ich hier als Chef der Entwicklung gelte.«

»Die Entwicklung ist abgeschlossen«, machte der General ihn aufmerksam. »Und Chef der Sicherheit bin ich, wie Sie sich erinnern werden. Es wird also das geschehen, was ich anordne.«

Weisenberg sah Kemp, Eppstein und mich an, als er dem General antwortete:

»Wir werden ja sehen …« Die Wachen packten uns und brachten uns in einen abschließbaren Raum

am Ende des anderen Korridors. Es ist das Apartment, in dem ich dieses niederschreibe. Unsere Chancen standen nicht gut, das war uns klar. Das Militär unter dem

Kommando des Generals war bewaffnet und zahlenmäßig den paar Wissenschaftlern überlegen. Dr. Weisenberg, so schuldig er auch sein mochte, blieb unsere einzige Hoffnung, aber er war praktisch außer Gefecht gesetzt worden.

»Hätten wir nur unsere Knarren!« jammerte Eppstein verzweifelt. »Gegen die Übermacht würden sie uns kaum helfen«, hielt Kemp ihm

entgegen. »Aber sie würden beruhigend wirken.« Mir wurde klar, daß wir lebendig hier nicht mehr herauskamen. Wir wußten

zuviel. Und wer da draußen in den Siedlungen würde achtzig Jahre warten wollen, bis die Gefahr vorüber war? Keiner!

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Auf der anderen Seite: konnte Weisenberg sich nicht irren? Er hatte nur von der Theorie gesprochen.

Sie brachten uns Konserven und Trinkbares. Kein Wort wurde dabei gesprochen und keine Frage beantwortet. Es schien, als benötige man Zeit, um über unser Schicksal zu entscheiden.

Viel zuviel Zeit, wie sich herausstellen sollte. Aus Tagen wurden Wochen, ohne daß etwas geschah. Einmal versuchten

wir in unserer Verzweiflung einen Ausbruch, der jedoch mißlang. Eppstein trug eine Schußverletzung davon, die jedoch harmlos war und bald verheilte. Mir fiel auf, daß er seit dieser Zeit verschlossener wurde und kaum noch mit uns sprach. Er begann mir Sorgen zu machen.

Damals schrieb ich noch nicht an meinem Tagebuch, ich kann die Zeit also nur abschätzen. Es mußte bereits das Jahr 2000 sein, das neue Jahrtausend. Was außerhalb unseres Gefängnisses geschieht, wissen wir nicht. In Jackville wird man sich Sorgen um uns machen, aber eines Tages wird man unsere Spuren suchen, sie verfolgen und – vielleicht – uns finden. Wenn wir dann noch leben.

Gestern holten sie mich zum Verhör, aber es kam nicht viel dabei heraus. Weisenberg war ebenfalls anwesend, aber er machte einen niedergeschlagenen Eindruck. Ich wiederholte meine alte Forderung, die barsch von Wales abgelehnt wurde. Er ließ mich in unser Apartment zurückbringen.

Kemp war der nächste. Er war fünf Minuten später wieder da und schüttelte nur den Kopf, als er sich auf sein Bett legte und die Augen schloß.

Dann holten sie Eppstein. Und Eppstein kehrte nicht zurück. Erst viel später erfuhren wir, was geschehen war, aber ich will nicht

vorgreifen. Kemp hatte begonnen, einen Kalender zu führen, denn man hatte uns die

Uhren gelassen. Ich bin sicher, daß das Datum nur ungefähr stimmte, aber welche Rolle spielte das noch?

Man ließ uns in Ruhe. Wales hatte wohl seinen Entschluß, uns zu eliminieren, aufgegeben. Er ließ uns aber auch nicht verhungern oder verdursten. War das ein menschlicher Zug seines Wesens, oder wollte er einfach nur unsere Qualen verlängern? Wir haben es nie erfahren.

Es muß so Mitte des Jahres 2001 gewesen sein, als General Wales persönlich in unserem Apartment erschien, von zwei bewaffneten Soldaten begleitet. Während diese in der Tür stehenblieben, setzte er sich auf einen der vorhandenen Stühle. Kemp und ich blieben ausgestreckt auf unseren Betten liegen.

»Es ist soweit«, begann er, aber in seiner Stimme war kein drohender

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Unterton. »Wir werden die Forschungsstätte verlassen. Unsere ausgeschickten Leute kehrten mit guten Nachrichten zurück. Das Land draußen ist so gut wie leer, und wir werden leicht eine unbewohnte Stadt finden, in der wir uns niederlassen können. Mit den Banden werden wir schon fertig, falls sie uns angreifen sollten. Wenn wir hier unten bleiben, würde die Elite unseres Volkes aussterben, da es zu wenig Frauen gibt. Eppstein hat sich entschieden, mit uns zu kommen. Ihnen, Zimmermann und Kemp, wird die gleiche Chance geboten, sobald Sie den Eid abgelegt haben. Sie haben einen Tag Zeit, sich zu entscheiden.«

Er wollte aufstehen, aber ich hielt ihn zurück. »Moment, General der Elite unseres Volkes.« Er sah mich wütend an, blieb

jedoch sitzen. »Ich wüßte nicht, für wen oder was ich einen Eid leisten sollte. Und zweitens: was geschieht, wenn wir uns weigern?«

Er lächelte zynisch. »Nichts weiter, Zimmermann. Wir sind doch keine Unmenschen. Sie

werden hier bleiben, ganz ohne Bewachung – mal von Weisenberg abgesehen, der ebenfalls auf die Freiheit draußen verzichten möchte, obwohl er sich innerlich danach sehnt. Aber wahrscheinlich gebietet ihm sein schlechtes Gewissen, hier zu bleiben. Er nämlich war es, der den Strahlenden Tod endgültig entwickelte.«

»Sie verurteilen uns also, bis zu unserem Lebensende hier unten zu bleiben?«

»Vorräte sind genügend vorhanden, andere Dinge auch. Und Sie sind sicher vor Überfällen, denn niemand wird den Tresoreingang knacken können. Wozu auch? Man wird Geld darin vermuten, und das hat keinen Wert mehr. Bücher und Filme finden Sie in den entsprechenden Räumen. Sie werden einen wunderbar ausgeglichenen Lebensabend verbringen dürfen. Fast möchte ich Sie beneiden.«

Er stand endgültig auf. An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: »Ich werde wieder abschließen, damit wir ungestört die Anlage verlassen

können. Weisenberg wird Sie später herauslassen.« Die Tür schloß sich, ehe ich etwas sagen konnte. Kemp und ich sahen uns nur stumm an. Das Urteil war gefällt. Weisenberg kam zwei Stunden später. Er öffnete die Tür und kam ohne

jede Furcht zu uns herein. Er deutete auf Eppsteins leeres Bett. »Darf ich mich setzen?« Ich nickte. Er setzte sich. Gerade gut sah er nicht aus, ganz im Gegenteil.

Ich hatte den Eindruck, daß man ihm arg zugesetzt, aber am Leben gelassen hatte.

Immerhin hatte er sich offen gegen die Militärs gestellt, was ich ihm hoch

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anrechnete. Sicher würde ich bald mehr erfahren. »Die anderen sind fort«, sagte ich, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Er nickte, ein wenig hilflos, wie mir schien. So ganz begriff ich das nicht,

denn wir waren durchaus nicht dazu verurteilt, den Rest unseres Lebens hier unten zu verbringen.

Kemp und ich kannten die Kombination des Tresors. »Ja, sie sind fortgegangen«, begann er endlich. »Und ich kann nur hoffen,

daß sie nie mehr zurückkehren. Obwohl wir dann dazu verurteilt sind, den Rest unseres Lebens hier unten zu verbringen.«

Ich versuchte, zuversichtlich zu bleiben. »Das glaube ich nicht, Dr. Weisenberg. Wir werden einen Weg in die

Freiheit finden.« Wenn er überrascht war, so ließ er sich das nicht anmerken. »Hinter dem Reaktorraum, der uns die Energie liefert, führt ein zehn Meter

breiter Korridor etwa zwei Kilometer in die Wüste hinaus. Er steigt allmählich an, bis etwa fünf Meter unter die Oberfläche. Von dort aus gelangte alles Material, das Sie hier vorfinden, in die Anlage. Man hat diese Möglichkeit jedoch später mit einer vier Meter dicken Betonschicht für alle Zeiten verschlossen. Darüber liegt, wie überall, die Wüste. Diese vier Meter werden wir mit keinen Mitteln durchbrechen können. Geben Sie also Ihre Hoffnungen auf, damit Sie später nicht zu enttäuscht sein werden.«

Diesmal brachte ich sogar ein Lächeln zustande. »Aber Weisenberg, haben Sie denn den regulären Zugang vergessen, den

Tresor?« Er schüttelte den Kopf. »Den habe ich natürlich nicht vergessen, Zimmermann. Aber der nützt uns

nichts. Ich kenne die Kombination nicht. Und die Außenkombination nützt uns überhaupt nichts.«

Ich horchte auf. Der Schock kam Sekunden später. »Außenkombination...?« dehnte ich starr vor beginnendem Entsetzen.

»Wollen Sie damit sagen, daß es eine abweichende Innenkombination gibt? Eine andere?«

»Leider ja«, bedauerte er. »Die äußere kenne ich natürlich, die innere aber nicht. TITAN 1987 ist nur für den Einlaß bestimmt, aber wenn jemand von uns die Anlage verließ, mußten wir uns beim Einstellen der Kombination umdrehen. Eine Vorsichtsmaßnahme, die ein unerlaubtes Verlassen verhinderte.«

In mir brach die ganze Welt der Hoffnung zusammen. Es konnte Jahre dauern, bis wir die Millionen Möglichkeiten der Kombinationen durchprobiert hatten. Zu den Zahlen kamen schließlich noch die Buchstaben. Nein, es war unmöglich.

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»So also ist das«, brachte ich hervor, während Kemp wortlos vor sich hin starrte, die Augen halb geschlossen.

Und ganz langsam begann ich zu begreifen, welches Schicksal uns bevorstand.

Es war der Augenblick, an dem ich mich entschloß, dieses Tagebuch zu schreiben.

Weisenberg zeigte uns alles, was wir zum Überleben benötigten – die Vorratslager, die ohne Energie funktionierenden Luftschächte (viel zu eng, um als Fluchtwege in Betracht gezogen werden zu können), Bücher und Videoanlagen. Selbst ein Waffen und Munitionslager gab es noch, halb ausgeräumt, aber immer noch recht eindrucksvoll.

Im Labor erklärte er uns, wie die Granathüllen hergestellt wurden, obwohl dies hier nur eine Experimentieranstalt gewesen war. Wo die Fertigungsstätten lagen, wußte er angeblich nicht, es spielte nun auch keine Rolle mehr.

»Ich habe nie gewußt, worum es eigentlich ging, trotzdem fühle ich mich schuldig«, gestand er eines Tages.

Ich nickte. »So erging es vielen Wissenschaftlern und Forschern, die in dem Glauben,

der Menschheit Nützliches zu geben, in Wirklichkeit ihren Untergang nur beschleunigten. Es ist schwer, hier zwischen Schuld und Unschuld zu unterscheiden. Der Rest der Menschheit jedenfalls hat sich entschlossen, dieses Risiko zu vermeiden. Der sogenannte Fortschritt ist zum Stillstand gekommen – von mir aus nennen Sie es Stagnation.«

»Stagnation bedeutet Rückschritt«, hielt er mir entgegen. »Meinetwegen, Weisenberg, aber Stagnation bedeutet auch, ein neues

Unheil zu vermeiden. Vor dem Krieg wurden die Ansprüche immer höher geschraubt, und früher oder später mußte dieser verfluchte Wohlstandsturm zusammenbrechen.«

»Ein interessanter Vergleich«, murmelte Weisenberg. Ich wechselte das Thema: »Diese Beimischung im Metall der Granathülse, die Ursache allen Übels –

läßt sie sich so behandeln, daß sie unwirksam wird?« »Die Zeit behandelt sie, neutralisiert sie und damit die Wirkung,

Zimmermann. Wir können nichts tun. Und da keine dieser Granaten mehr explodiert, besteht auch keine Gefahr mehr.«

»Und wenn jemand draußen ein Lager findet, oder wenn die Hülsen undicht werden – was geschieht dann?«

Weisenberg lächelte müde. »Nichts, mein Freund, gar nichts – außer daß die Wüsten plötzlich grün

werden und vielleicht bei niederen Lebewesen Mutationen auftreten.

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Menschen werden keinen Schaden erleiden, solange sich das bei einer Explosion schmelzende Metall nicht mit der Flüssigkeit innerhalb der Granate vermischt.«

»Es wird keine Explosionen mehr geben?« »Kaum. Die Abschußrampen wurden zerstört.« Nach diesem und späteren Gesprächen mit Weisenberg wurde ich nach und

nach ruhiger und gelassener. Auch wenn ich nie mehr nach Jackville zurückkehrte, würde das für die Menschen dort keinen Unterschied machen. Mein Sohn würde vielleicht eines Tages meinen Bericht lesen, oder seine Kinder, wenn diese alt genug geworden waren. Vielleicht würden sie auch versuchen, meiner Spur zu folgen, aber sie würden mich niemals hier finden.

Trotzdem habe ich dies alles niedergeschrieben, denn selbst in einer völlig aussichtslosen Situation trägt jeder Mensch einen Funken Hoffnung mit sich herum.

Im Jahr 2009 starb Weisenberg einen friedlichen Tod. Begraben konnten wir ihn nicht, also legten wir ihn in einem der Apartments zur letzten Ruhe.

Vier Jahre später, 2013 bemerkte ich bei Kemp die ersten Anzeichen von Klaustrophobie. Von Tag zu Tag wirkte er niedergeschlagener und hoffnungsloser. Stundenlang war er verschwunden, bis ich herausfand, daß er mit dem Lift nach oben gefahren war und versuchte, die Öffnungskombination zu finden – ein aussichtsloses Unterfangen.

Im Jahr 2018 verübte Kemp Selbstmord. Von nun an war ich allein, und die ersten Wochen waren nicht leicht für mich. Ich saß halbe Tage oder Nächte im Videoraum und bemerkte kaum, was sich vor mir auf der großen Projektionswand abspielte. Es interessierte mich auch nicht. Trotzdem tat ich es.

Einmal hörte ich Geräusche, so als hämmere jemand mit einem schweren Gegenstand gegen die Tür des Tresors, aber sie verstummten, ehe ich den Lift in Betrieb nehmen und nach oben fahren konnte. Mein Versuch, mich bemerkbar zu machen, schlug fehl.

Es waren Menschen in Golden angekommen, und vielleicht blieben sie auch, aber auch sie würden mich nicht finden. Nicht so schnell wenigstens. Aber die Hoffnung, daß es doch geschehen könnte, hielt mich am Leben.

Vor einem halben Jahr begann das Licht zu flackern, um dann zu erlöschen. Der Atomreaktor, wahrscheinlich auf eine Überprüfung programmiert, hatte

sich abgeschaltet. Ich war ohne Energie, aber es gab genug Lampen und Batterien. Wasser kam direkt aus dem Berg und sammelte sich in einem Tank. Es war stets frisch.

Es dauerte Wochen, bis ich mich an die neuen Umstände gewöhnt hatte. Meist lag ich hier im Bett und las oder schrieb. Aber ich bin sehr gealtert und ich spüre, daß ich nicht mehr lange zu leben habe. Meine Aufgabe ist erfüllt,

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und ich weiß, daß den überlebenden Menschen keine Gefahr mehr droht. Ich weiß nicht, was aus General Wales und den anderen geworden ist, aber

das ist jetzt auch egal. Ich hasse sie nicht mehr. Mich bedrückt nur die Tatsache, daß ich den Menschen draußen nicht mehr sagen kann, daß ihnen keine Gefahr mehr droht und daß sie ohne Furcht in die Zukunft blicken können.

Du, der du vielleicht diese Zeilen lesen wirst, sage es ihnen. Ich werde schwächer, von Tag zu Tag. Ich werde aufhören zu schreiben,

denn es gibt nichts mehr zu sagen. Im Apartment auf der anderen Seite liegt Kemp, mein Freund. Und in einem anderen ruht Weisenberg, der – ohne es vielleicht zu wollen – unserer Welt ein neues Gesicht gab, nachdem sie die Hölle erlebte.

Wenn Weisenberg recht behält, und ich bin nun überzeugt, daß er sich nicht irrt, wird das Leben auf der Erde einfach, aber voller Frieden sein. Und sie wird wieder grün werden, diese Erde, so grün wie einst der Garten Eden gewesen sein muß.

Robert Zimmermann, irgendwann im Jahr 2020

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6.

Gerald Zimmermann schichtete die losen Blätter und ordnete sie fast geistesabwesend. James Townshend und John Ewert hatten ihn nicht ein einziges Mal unterbrochen, während er vorlas. Fragend sahen sie ihn an, als erwarteten sie eine Antwort von ihm, die er ihnen nicht gegen konnte.

Schließlich sagte James: »Ich glaube, damit wäre unsere Aufgabe gelöst. Wir können zurück nach

Jackville. Wir haben den letzten Willen deines Großvaters erfüllt.« Gerald blickte auf, dann nickte er. »Ich glaube, du hast recht. Die Zeit der Ungewißheit ist vorüber. Wir

brauchen keine Angst mehr zu haben. Der Strahlende Tod wurde durch die Zeit in das Grüne Leben verwandelt.« Er schob die Papiere in die Brusttasche, dann nahm er den Barren auf, mit dem sie beschwert worden waren. »Den nehmen wir mit – als Andenken.«

Er ahnte, woraus der Barren bestand, und daß er das war, was er auch gesucht hatte, aber er schwieg.

»Ja, gehen wir. Hier ist nichts mehr zu tun.« Gerald erhob sich. »Wir werden Sprengstoff mitnehmen und den Tresoreingang mit den

Trümmern der Bank verschließen, wir werden den ganzen Schacht mit Material füllen, damit die Toten hier unten ihre Ruhe haben. Niemand wird nach ihnen oder nach der Anlage suchen – und wenn, dann vergebens. Ich werde die entsprechenden Stellen in dem hier ...«, er klopfte gegen die Brusttasche, »... unleserlich machen.«

Schweigend nahmen sie ihre Waffen und verließen den Raum nach einem letzten Blick auf das, was von Robert Zimmermann übriggeblieben war. Erst als sie sich dem Lift im Wachkorridor näherten, hörten sie die Schüsse.

Sie blieben stehen, dicht neben dem Eingang zum Lift. Kein Zweifel, in den Trümmern der Bank oder auf der Straße davor war eine wilde Schießerei im Gang. Vielleicht waren zwei Banden zum gleichen Zeitpunkt auf die Idee gekommen, Golden einen Besuch abzustatten – ein Zufall, wie er kaum verrückter sein konnte.

»Es ist noch nicht zu Ende«, murmelte James freudlos. »Ohne den Jeep sind wir erledigt«, sagte Gerald. »Egal, wer sich da oben

herumschlägt, wir müssen hinauf. Ich kann nur einzelne Gewehrschüsse unterscheiden, also dürften wir ihnen zumindest waffentechnisch überlegen sein.«

»Hört das denn niemals auf?« fragte John fast verzweifelt. »Müssen sich die letzten Menschen denn immer noch gegenseitig umbringen.«

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»Solange ihre Natur sich nicht radikal ändert, hört es nicht auf«, bedauerte Gerald nicht ohne einen bitteren Unterton. »Gehen wir.«

Er sah vorsichtig um die Ecke zum Liftschacht, und als er sich wieder den anderen zuwandte, war sein Gesicht bleich geworden.

»Sie haben das Seil hochgezogen«, flüsterte er entsetzt. »Zehn Meter glatter Schacht.. . wie sollen wir das schaffen?«

James und John waren genauso erschrocken. »Verdammt! Da sitzen wir schön in der Falle«, fluchte James. »Nicht lange«, beruhigte ihn Gerald, der sich wieder gefaßt hatte. »Aber

wir müssen warten, bis oben wieder Ruhe herrscht. In einem der Lagerräume habe ich Rollen mit Tau oder Seilen gesehen. Wir sitzen hier nicht unbedingt fest. Fragt sich nur, ob einer von uns geschickt genug ist, den an das Ende eines Seils befestigten Barren zehn Meter hoch zu werfen, und dann auch noch so, daß er sich oben zwischen den Trümmern verklemmt.«

»Ob das genügt, unser Gewicht zu tragen?« zweifelte James. Gerald zuckte die Schultern und übergab ihm seine Waffe. »Wartet hier und laßt den Liftschacht nicht aus den Augen. Könnte ja sein,

daß jemand auf die Idee kommt, herabzuklettern.« John grinste. »Mit Hilfe unseres Seils, das sie hochgezogen haben – wäre doch die

einfachste Lösung. Jedenfalls wissen sie, daß jemand hier unten ist.« »Und dann tauchte eine andere Bande auf, und sie haben nun ihre Sorgen,

wobei sie den Tresor vielleicht vergessen«, befürchtete James. Gerald kehrte mit einer Rolle dünnen Nylonseils zurück. Sorgfältig begann

er damit, den Barren zu befestigen, bis er nicht mehr aus dem Gewirr der Knoten und Schlingen rutschen konnte. Er wog ihn prüfend in der Hand.

»Hat ein hübsches Gewicht. Es wird sehr schwierig sein.« James nahm ihm den Barren ab. Er schüttelte den Kopf. »Das schaffen wir niemals, zumal der Schacht ziemlich eng ist und man

nicht richtig ausholen kann. Es wird vernünftiger sein, aus Kisten und anderen Dingen eine Treppe zu bauen. Fünf Meter würden genügen.«

»Großartige Idee!« lobte Gerald, sichtlich erleichtert. »Fangen wir gleich damit an.«

Im Liftschacht war ein schabendes Geräusch. Erst jetzt fiel ihnen auf, daß oben keine Schüsse mehr fielen.

Gerald warf einen Blick in den Schacht und sah das baumelnde Seilende mit den Knoten. Jemand kletterte zu ihnen herab.

»In den Wachraum!« flüsterte er den anderen zu. Sie konnten den ganzen Korridor und den Lifteingang aus der Deckung

heraus gut übersehen. Gespannt warteten sie, und ihre Waffen waren bereit, als ein Mann mit vorgestrecktem Gewehr aus dem Schacht trat und sich

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vorsichtig nach allen Seiten umsah. Er war einfach gekleidet und trug sogar einen breitrandigen Hut. Kein Bart

bedeckte sein Gesicht, so daß er gut zu erkennen war. Er machte einen gespannten, aber keinen schlechten Eindruck. Gerald hatte nicht das Gefühl, es mit einem gewöhnlichen Banditen zu tun zu haben.

Trotzdem blieb er vorsichtig. »Jetzt!« flüsterte er seinen Freunden zu. »Ehe die anderen nachkommen

…« Sie sprangen gleichzeitig aus ihrer Deckung, die Waffen auf den Fremden

gerichtet, der erschrocken herumfuhr und sofort erkannte, daß er keine Chance gegen drei Gegner hatte. Langsam ließ er den Lauf seines Gewehrs sinken.

»Schon gut, schon gut«, sagte er heiser. »Reden wir lieber, es wurde schon genug geschossen und getötet.«

»Wir haben nicht die Absicht, Sie zu töten«, eröffnete ihm Gerald mit ruhiger Stimme. »Wir wollen nur hier heraus, mehr nicht.«

»Euer Seil also, und draußen der Jeep, der gehört auch euch?« »Richtig! Und was ist mit Ihnen? Wir hörten Schüsse.« »Wurden überfallen. Mörderbande verfluchte! Wir haben die Hälfte von

ihnen erledigt, der Rest ist geflohen. Mit Pferden.« »Und Sie?« »Auch Pferde, deshalb wunderten wir uns über den Jeep. Wir kommen aus

Brixtown, drei Reitstunden von hier in den Bergen. Wollten uns Golden mal ansehen. Hörten so allerlei Gerüchte. Scheinen ja zu stimmen. Übrigens können Sie mich Dutchman nennen, das tun alle.«

Kurz entschlossen reichte Gerald ihm die Hand. Er nannte seinen Namen und die seiner Freunde. In kurzen Worten berichtete er, was er und sie hier gefunden hatten, und Dutchman meinte daraufhin:

»Uns interessieren nur Werkzeuge und Lebensmittel. Beides ist bei uns ziemlich knapp. Ihr habt doch nichts dagegen ...?«

»Keineswegs, Dutchman. Wir brauchen weiter nichts als unseren Jeep. Wir wollen nach Hause.«

»Niemand wird euch aufhalten«, versprach Dutchman. »Aber klettern wir nach oben, ehe da jemand vor Neugier platzt. Keine Sorge, es sind gute Menschen, die in Brixtown leben.«

Er kletterte voran, und sie folgten ihm mit umgehängten Waffen. Dutchman rief nach oben, wo undeutlich ein paar Gesichter zu erkennen

waren: »Alles in Ordnung, Leute. Ich bringe Freunde mit – und laßt die Finger von

dem Jeep. Paßt lieber auf, daß die Banditen nicht zurückkommen.« »Haben Wachen aufgestellt, Dutchman. Keine Sorge.«

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Hilfreiche Hände streckten sich ihnen entgegen, Hände mit Schwielen, die von schwerer Arbeit zeugten. Jetzt hielten sie Gewehre, die Läufe nach unten.

Über die Trümmer der Bank hinweg erreichten Gerald und seine Begleiter die Straße. Mit einem schnellen Blick zählte er vier Tote, die vor den Hauseingängen lagen. Zwei Männer bewachten ein gutes Dutzend Pferde ohne Sättel.

Dutchman gab eine kurze Erklärung ab, Hände wurden geschüttelt, und dann berichtete Gerald erneut, was sich unter Golden befand – oder besser: einst befunden hatte. Er wiederholte seine Bitte, die er Dutchman gegenüber bereits geäußert hatte.

»Ist doch selbstverständlich«, erwiderte einer der Männer. »Wir werden lediglich die Vorratslager ausräumen, und dann sorgen wir dafür, daß niemand mehr nach unten kann.«

Gerald sah hinauf in den Himmel. »Es beginnt zu dämmern, wir werden heute nacht hier bleiben. Wir können

euch helfen.« Dutchman schüttelte den Kopf. »Ihr seht ganz so aus, als könntet ihr Schlaf gebrauchen, wir schaffen es

schon allein. Haut euch aufs Ohr, wir teilen Wachen ein. Nur wenn geschossen wird, wäre es nett von euch, wenn ihr mitballern würdet. Sind hartnäckige und brutale Burschen, die uns da an den Kragen wollten.«

James, der zum Jeep gegangen war, kehrte zurück. »Alles in Ordnung, Gerald. Der Sprit reicht leicht bis Stronghold.« »Wenn wir Jerry Eppstein Geschenke mitbringen, wird er uns wieder mit

Treibstoff versorgen. Ein paar Kisten Konserven etwa.« Inzwischen waren Dutchman und einige Männer im Tresorschacht

verschwunden. Andere hatten zerbeulte Eimer organisiert, an die sie Seile befestigten. Vor der Bank auf der Straße loderte ein Feuer – Holz gab es mehr als genug. Rund um die Stadt patrouillierten Wachtposten.

Direkt neben dem Jeep, den James rangiert hatte, stand eine gut erhaltene Hütte mit einem einzigen Raum. Gerald, James und John breiteten ihre Decken aus, und bald waren sie trotz des Lärms draußen vor der Bank eingeschlafen.

Die Männer von Brixtown waren von der unverhofften Beute so begeistert, daß sie die ganze Nacht durcharbeiteten. Bald stapelten sich auf der Straße die Kisten mit Lebensmitteln, Getränken und auch Waffen. Einer hatte in einem verfallenen Schuppen einen alten Wagen aufgestöbert und ihn soweit instand gesetzt, daß er von vier oder sechs Pferden gezogen werden konnte. Damit sollten die Schätze in die Siedlung transportiert werden. Als Gerald am anderen Morgen die Straße betrat, begegnete er zwar übermüdeten, aber

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fröhlichen Gesichtern. Einige der Männer schwankten verdächtig, aber mit Sicherheit nicht vor Übermüdung. Dutchman kam ihm freudestrahlend entgegen.

»Und da sitzen wir seit Jahrzehnten in Brixtown und haben kaum genug zu essen, während hier alles im Überfluß vorhanden war. Wir werden Tage benötigen, um alles wegzuschaffen. Mann, sind wir froh, daß ihr den Eingang gefunden habt. Auf die Idee wären wir nie gekommen.«

»Eines Tages werden wir euch in Brixtown besuchen. Du kannst mir die Lage auf unserer Karte einzeichnen. Auf der anderen Seite seid ihr jederzeit in Jackville willkommen. Eine lange Reise mit dem Pferd, aber das hat es in der guten alten Zeit ja auch schon gegeben.«

»Wollt ihr heute schon abfahren?« »Ja, wir wollen nicht noch mehr Zeit verlieren. Die Leute sollen erfahren,

daß der Strahlende Tod gestorben ist. Sie haben lange genug Angst gehabt.« »Schön, dann nehmt euch von den Vorräten mit, was ihr schleppen könnt.

Eigentlich gehört ja der ganze Kram euch.« »Ihr werdet es dringender benötigen. Jackville leidet keine Not. Und bald

wird auch bei euch in den Bergen alles wachsen, was ihr haben wollt. Saatgut müßt ihr euch in anderen Siedlungen besorgen – ihr habt ja nun genug zum Eintauschen.«

Der Abschied war herzlich, so wie unter Freunden, die sich schon seit Jahren kannten.

Abgesehen von wenigen Ausnahmen, die es immer geben würde, begannen die Menschen umzudenken. Sie rückten trotz geographischer Entfernungen näher zusammen, und die alte Wahrheit, daß Freundschaften um so besser hielten, je seltener man sich sah, bestätigte sich damit.

Die Fahrt nach Stronghold verlief ohne Zwischenfall. Von den Banditen, die Golden überfallen hatten, bemerkten sie nichts.

Trotzdem waren sie froh, als sie von den Hügeln weit unten die Häuser von Stronghold sahen, schon deshalb, weil der Treibstofftank fast leer war.

Über Stronghold und Heidelberg gelangten sie nach Rocktown. Als sie die Siedlung in Richtung Jackville verlassen hatten und Rocktown außer Sicht war, sagte Gerald:

»Halt mal an, James. John, die Karte, bitte.« »Wieso? Geht immer geradeaus nach Hause.« Gerald schüttelte den Kopf. »Wir werden einen kleinen Umweg machen, Sprit haben wir wieder genug.

Ihr erinnert euch an den Bericht meines Großvaters. Irgendwo rechts von hier, im Westen also, muß das große Lager sein. Er hat den Weg genau beschrieben. Wir brauchen nur den Schienen zu folgen, falls wir sie finden. Die Abzweigung nach Norden.«

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»Du bist verrückt«, äußerte James ernste Besorgnis. »Was willst du denn in dem alten Lager?«

»Es sind inzwischen fast siebzig Jahre vergangen. Wir müssen mit Sicherheit feststellen, ob die Informationen stimmen, die mein Großvater in Golden erhielt. Wir müssen wissen, ob der Strahlende Tod wirklich unschädlich geworden ist. Sonst war die ganze Expedition sinnlos. Wir können nicht so dicht vor dem Ziel aufgeben.«

»Und wie«, fragte John, indem er die Karte vorreichte, »willst du das feststellen?«

»Durch Versuche.« Sie nahmen die erste Abzweigung nach Westen, die mehr einem Feldweg

ähnelte, der durch üppige Wiesen führte. Weiter im Norden hatte sich der Wald ausgebreitet und begrenzte den Horizont. Immer wieder studierte Gerald die Karte und trug jede Richtungsänderung ein. Er war fest davon überzeugt, früher oder später auf Schienenstränge zu stoßen. Einige waren sogar auf der Karte angedeutet.

Am dritten Tag nahmen sie eine unbedeutende Steigung und erreichten ein Plateau. John mußte auf einen Baum klettern, um sich nach allen Seiten umsehen zu können. Er deutete in nordwestliche Richtung und rief:

»Alles Büsche und meterhohes Gras, aber wenn mich nicht alles täuscht, ist da eine gerade verlaufende Linie, so als sei da früher mal eine Straße gewesen. Total überwachsen und nur aus dieser Höhe zu erkennen. Macht weiter nördlich einen sanften Bogen. Ist kaum natürlichen Ursprungs.«

Gerald machte wieder Eintragungen auf der Karte, um später die Richtung zu finden.

»Könnte eine ehemalige Bahnlinie sein«, murmelte er und wartete, bis John im Jeep saß. »Fahr weiter, James. Immer Nordwest.«

Die ehemalige Straße gab es längst nicht mehr, sie hatten sie verloren. Aber das spielte nun auch keine Rolle mehr. Der Jeep schien unverwüstlich zu sein und nahm fast alle Hindernisse ohne jede Schwierigkeit. Nur größeren Bäumen und Felsbrocken wich James aus.

Sie fuhren quer durch die Grassteppe. Gerald verfolgte ihren Kurs auf der Karte. Büsche und Bäume wurden häufiger, und dann glaubte auch James weiter vorn eine gewisse Regelmäßigkeit im Gelände zu bemerken, die kaum in diese Wildnis paßte. Nach weiteren fünf Minuten hielten sie vor einem quer verlaufenden Damm an, den vor langer Zeit Menschen aufgeschüttet hatten.

Die Bahnlinie? Gerald kletterte aus dem Jeep und kämpfte sich durch das Gestrüpp den

Damm hinauf. Er bückte sich, und dann rief er: »Schienen! Wir haben sie gefunden. Sind fast völlig mit Sand, Erde und

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Gras bedeckt. Ich glaube, wir können sie als Straße benützen.« Mit dem Geländegang schaffte es James, den Hang emporzuklettern. »Es müßte die Hauptabzweigung sein, die zum Lager führt«, blieb Gerald

optimistisch. »Versuchen wir es.« Nach zwei Stunden Holperfahrt hielten sie an und übernachteten an einer

Stelle, wo der Damm breiter wurde und früher einmal eine Ausweichstelle gewesen war.

So weit der Blick auch reichte, war die Welt grün. Gegen Mittag des folgenden Tages wurde der Damm niedriger und die

Vegetation dichter. Weiter vorn zeichnete sich ein richtiger Urwald ab. »Das ist es!« sagte Gerald. »Genau wie mein Großvater es beschrieben hat.

Die Schienen führen mitten hinein.« »Kann Zufall sein«, blieb James skeptisch. »Wir werden ja sehen«, meinte Gerald und drängte zum Weiterfahren. Dann ging es nur noch schrittweise voran. Immer wieder zwangen

umgestürzte Baumriesen James zu Umwegen, und mehr als einmal verloren sie die Geleise und mußten lange suchen, um sie wiederzufinden. Sie waren die einzige Markierung, die sie zum Ziel führen konnte.

Und sie erreichten es, noch bevor es völlig dunkel wurde. Der ehemalige Zaun war nur noch zu erraten, das Wachhaus völlig

verfallen. Aber das langgestreckte Gebäude mit der Rampe stand noch. Es war nur durch seine Form zu erkennen, denn die Kletterpflanzen bedeckten es völlig. Selbst in der Halle drangen Pflanzen durch von Wurzeln geschaffene Ritzen.

James fuhr den Jeep in die große Halle hinein und hielt an. Das Motorengeräusch erstarb. Ein paar Vögel flogen aufgescheucht hinaus in die beginnende Nacht.

»Ich glaube«, schlug John vor, »wir warten bis morgen. Einen besseren Übernachtungsplatz finden wir ohnehin nicht.«

»Einverstanden.« Gerald stieg aus und streckte sich. »Bin auch ganz steif von dem langen Sitzen. Vor Überraschungen sind wir hier ja wohl sicher.«

Sie fuhren den Jeep in eine Ecke der Halle und verzehrten kalte Konserven. Dazu tranken sie eine Flasche Wein, die sie in Golden gefunden hatten.

Durch einige Lücken im Dach fielen Sonnenstrahlen, als James den Jeep fünf Meter vor dem leeren Liftschacht festkeilte und die Seilwinde ausfuhr. An ihr ließ sich Gerald als erster in die zehn Meter tiefe Lagerhalle hinab. John folgte, während James beim Wagen blieb, um die Winde zu bedienen.

Genau wie Robert Zimmermann es beschrieben hatte, lagen die wohl einen Meter langen »Granaten« in den stählernen Regalen. Ein Dutzend, überschlug Gerald schnell, wiesen Sprünge auf. Die Flüssigkeit war ausgeronnen – und vielleicht verdunstet. Sogar mit Sicherheit verdunstet,

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denn woher sonst sollte die üppige Vegetation stammen, die sich über das ehemals nahezu unfruchtbare Gebiet ausgebreitet hatte. Das Gas, wenn man es so bezeichnen wollte, hatte sich mit dem seltenen Regen niedergeschlagen und das Land in eine grüne Wildnis verwandelt.

»Also stimmt es doch!« Gerald schritt die langen Reihen der Regale ab und kehrte zu John zurück. »Zwei Möglichkeiten: die verhängnisvolle letzte Komponente verliert mit der Zeit ihre tödliche Wirksamkeit, oder ohne die zuvor erfolgte Explosion bleibt sie einfach harmlos. Aber wie auch immer, von nun an können wir alle Wüsten der Welt, wenn wir das wollten, in grüne Paradiese verwandeln. Abgesehen davon, daß die Menschheit stark reduziert wurde, wird sie künftig im Überfluß leben. Auch – oder gerade weil ein Geburtenrückgang zu beobachten ist, doch das ist nicht weiter tragisch. Ich glaube, auch das wird sich wieder normalisieren, besonders beim Nutzvieh. Weiden gibt es ja nun genug. John, an die Arbeit! Wir nehmen zwei der Behälter mit nach Jackville. In einem Jahr wissen wir, ob Robert Zimmermann recht hatte.«

»Du willst tatsächlich .. .?« »Was denn sonst? Einer muß ja den Anfang machen.« Stumm nickte John sein Einverständnis. Sie befestigten einen der Behälter am Ende des Zugseils und hörten in

seinem Innern die Flüssigkeit gluckern. Eine Flüssigkeit, die der Welt vor siebzig Jahren den Tod gebracht hatte und die ihr nun zu neuem Leben verhelfen sollte – welche Ironie des Schicksals!

James ließ die Winde vorsichtig anlaufen, konnte aber nicht verhindern, daß der Behälter mehrmals gegen die Betonwände des Liftschachts stieß. Der Klang verriet, daß die Metallhülle der ehemaligen Granaten ziemlich dünn sein mußte.

Nach einer Stunde waren die beiden Zylinder gut im Jeep verstaut und festgezurrt. John saß neben ihnen, und obwohl er grinste, verriet seine Miene Unbehagen.

»Es kann losgehen«, sagte er nur. »Aber umfahre Hindernisse oder Löcher, damit wir nicht so durchgerüttelt werden.«

»Es kann überhaupt nichts passieren«, beruhigte ihn Gerald und nickte James zu. »Ziemlich genau im Südosten liegt Jackville. Worauf warten wir noch?«

Sie fuhren los und folgten ihrer eigenen Spur, die der Jeep am Tag zuvor durch die grüne Wildnis gezogen hatte.

Nur wenige Tage später, und sie hätten sie nicht mehr gefunden. Die Bewohner von Jackville bereiteten ihnen einen großartigen Empfang,

und als Gerald Zimmermann steifbeinig aus dem Jeep kletterte und zur Begrüßung beide Hände in die Höhe reckte, fiel ihm Claire Buchanan um den

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Hals, küßte ihn und flüsterte in sein Ohr: »Du hattest recht – es ist mehr als ein Trauerjahr vergangen.« Mehr zu sagen war nicht mehr möglich, denn jeder wollte den

Heimgekehrten die Hände drücken und hören, wie es »draußen in der Welt« aussah. Sam Roberts verschaffte sich schließlich mit lauter Stimme Ruhe.

»Nun seid vernünftig, Leute!« rief er, nachdem er in den Jeep gestiegen war und sich ausgerechnet auf die beiden Flüssigkeitszylinder gestellt hatte, um besser gesehen zu werden. »Wir treffen uns alle in zwei Stunden im neuen Gemeindesaal. Es genügt, wenn unsere drei Abenteurer ihre Geschichte einmal erzählen.«

Einige murrten, aber dann verlief sich die Menge. Peter Helling blieb stehen und betrachtete nachdenklich die beiden Zylinder, nachdem Sam Roberts aus dem Jeep geklettert war. Er stieß Gerald an.

»Sag mal, Gerald – sind das vielleicht...?« »Ja, das sind sie, Peter. Und das, was in ihnen ist, wird uns zu drei Ernten

im Jahr verhelfen. Bin gespannt, ob du das Zeug analysieren kannst.« John Ewert wühlte inzwischen in den Kartons herum, die sie in Golden

aufgeladen hatten. Endlich hatte er gefunden, was er suchte. Er wog es mit einem hintergründigen Lächeln in den Händen, ehe er es Sam Roberts gab.

»Ein Geschenk für dich, Sam. Ich helfe dir beim Aufbau. Unser alter Sender gibt sowieso bald den Geist auf, abgesehen davon, daß wir zu wenig Strom haben. In einem zweiten Karton habe ich Dauerbatterien mitgebracht, die geben mehr her als unser Windrad.«

»Ein Funkgerät?« vergewisserte sich Sam und drückte den Karton an sich. John nickte. »Und was für eins! Las in einem Fachbuch darüber. Gehört zu den letzten

Entwicklungen damals. Bald werden wir wissen, wie es in der restlichen Welt aussieht. Wir werden den anderen sagen können, was wir entdeckt haben.«

»Ich bekam kürzlich für ein paar Sekunden die Russen herein, aber sie konnten mich nicht empfangen«, murmelte Sam Roberts. »Wir sehen uns in zwei Stunden. Ich muß das Ding hier untersuchen.«

Mit Sender und Batterien beladen, ging er mit schnellen Schritten davon, ohne eine Antwort abzuwarten. John warf den anderen einen um Entschuldigung bittenden Blick zu und folgte ihm.

James lachte. »Nun wird bald alle Welt wissen, daß Jackville existiert und es uns gut

geht. Ich kann nur hoffen, daß die restlichen Banditen, wo immer sie auch sein mögen, keine Funkgeräte haben. Sonst haben wir sie auf dem Hals.«

»Sollen Sie nur kommen«, sagte Claire Buchanan energisch und deutete auf

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den neu errichteten Kirchturm, in dessen Glockengehäuse deutlich Schießscharten zu erkennen waren.

»Ich glaube, es gibt keine plündernden Banden mehr – wenigstens nicht in unserer Gegend«, beruhigte sie Gerald. Er wandte sich an Peter Helling: »Wir bringen die beiden Behälter am besten zu dir ins Labor. Aber warte mit Experimenten, bis wir alles theoretisch geklärt haben.«

Quer über die Straße kam John Ewert gerannt und rief schon von weitem: »Es klappt! Wir haben mit Leuten in Europa und Australien gesprochen.

Überall gibt es Siedlungen. Es ist phantastisch! Sogar Brixtown hat sich gemeldet. Sie haben die restlichen Banditen aufgestöbert und sie vor die Wahl gestellt, künftig friedlich bei ihnen zu leben – oder liquidiert zu werden.«

»Nun reg dich wieder ab«, riet Gerald. »Ich bin nicht ganz so begeistert wie du von der Technik, die uns bisher nur Unglück gebracht hat, aber zum Glück haben wir es ja nur mit den kläglichen Überbleibseln dieses sogenannten Fortschritts zu tun. Bis die alle und verbraucht sind, werden wir ohne sie auskommen – besser als jemals zuvor.«

»Laden wir ab und lassen die Leute nicht länger warten«, schlug James vor und setzte sich hinter das Steuer des Jeeps. »Wohin damit?«

»In das Gemeinschaftsvorratslager«, befahl Claire, »wohin denn wohl sonst...?«

Als Arzt hatte Dr. Sam Roberts nicht viel zu tun in Jackville, und die meiste Zeit verbrachte er in seiner Praxis, in der auch das neue Funkgerät untergebracht war. Allmählich, nach vielen Tagen und Nächten, rundete sich das Bild ab.

Die Menschheit hatte in der Tat überlebt, aber von dem, was sie einst den »technischen Fortschritt« genannt hatte, war nicht viel übriggeblieben. Viele der größeren Städte waren abgebrannt und nie wieder aufgebaut worden, in den anderen vegetierten noch immer Banditen und Plünderer, aber ihre Tage waren gezählt, denn auch die letzten haltbaren Vorräte gingen zu Ende. Sie wagten es schon lange nicht mehr, die wehrhaften Siedlungen im weiten Land anzugreifen, und allmählich wurden die Ruinen von der vordringenden Vegetation überwuchert und glichen bald nur noch bewaldeten Hügeln, unter denen in künstlichen Höhlen Menschen wie Tiere hausten – und starben.

Australien war zu einer immergrünen Prärie geworden, denn der Wind hatte die einst tödliche sich in Gas verwandelnde Flüssigkeit um den ganzen Erdball getragen und war, vermischt mit dem Regen, so selten er auch an manchen Stellen fiel, in die Erde gedrungen. Ein einziges Samenkorn genügte oft, eine Wüste innerhalb von Jahren in riesige Grünflächen zu verwandeln.

In Asien gab es vier Ernten im Jahr – zumindest dort, wo Menschen

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arbeiteten und sich bemühten, ihre Felder von dem ebenso wuchernden Unkraut freizuhalten. Der Hunger vergangener Generationen war zu einer fernen Sage geworden.

Afrika wurde von riesigen Urwäldern bedeckt, und auf den grünen Prärien tauchten Herden von Tieren auf, die vor siebzig Jahren als fast ausgerottet galten. Die schwarzen Menschen lebten frei und ungebunden in ihren Siedlungen oder zogen als Nomaden mit reichen Viehbeständen durch ihr neues Paradies.

Vom Atlantik bis zum Ural zog sich der grüne Teppich dahin, nur durch die wieder sauberen und fischreichen Ströme getrennt. Hier hatte man die positive Eigenschaft des ehemaligen »Strahlenden Todes« schon zehn Jahre früher entdeckt und genutzt.

Aber die Städte waren leer geblieben und lagen wie Pyramiden der Mayas und Inkas unter dichten Dschungeln verborgen. Die Gesamtbevölkerung Europas mochte wieder annähernd fünf Millionen betragen.

Kanada war so gut wie entvölkert worden. Von dort empfing Sam Roberts nur spärliche Nachrichten. Es gab Überlebende, die sich zu fast isolierten Gemeinschaften in der grünen Wildnis zusammengeschlossen hatten. Die Frage, warum gerade Kanada so hart getroffen worden war, wurde nie befriedigend beantwortet. Helling machte den Wind dafür verantwortlich, der für den hohen Norden aus der falschen Richtung kam.

In Südamerika hatte der amazonische Regenwald wieder die Herrschaft übernommen. Niemand hätte zu sagen vermocht, wieviele der in ihm lebenden Indios, die damalige Katastrophe überstanden hatten, aber wahrscheinlich war, daß es heute mehr von ihnen gab als jemals zuvor. Ihre alten Prophezeiungen schienen sich erfüllt zu haben. Der Urwald dehnte sich unaufhörlich weiter nach Süden aus.

Nordamerika selbst, einst die USA, war zu einem Land der Farmer und Siedler geworden, die langsam und vorsichtig wieder Kontakt miteinander aufnahmen. Drei Ernten im Jahr sicherten das Überleben. Die Autos starben aus, und Pferdewagen kamen wieder in Mode. Auf den unübersehbaren fruchtbaren Weiden grasten die Herden, und in den Bergen konnten die nun wieder freien Indianer ihre ersten Büffel jagen.

Die vom Holocaust verschonten Schwarzen waren in den Süden gewandert, obwohl sich der früher so verhängnisvolle Unterschied zwischen den menschlichen Rassen im Nichts verloren hatte. Die Hautfarbe hatte ihre ehemals so wichtige Rolle ausgespielt.

Sam Roberts schaltete das Gerät aus, als Peter Helling die Praxis betrat. Gerald Zimmermann folgte ihm, an der Hand Claire.

»Ich habe das Zeug endlich hundertprozentig analysieren können«, hielt Helling es nicht mehr länger aus. »Es enthält Stoffe, die jede Arbeit des

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pflanzlichen Chlorophylls tatkräftig unterstützen – und noch eine Menge mehr. Die metallische Komponente, die den Tod brachte, ist wirkungslos geworden. Ich habe die Mischung, die uns wohl allen das Überleben gesichert hat, ‚Greenlife’ getauft. Irgendwelche Einwände?«

»Greenlife ...«, murmelte Claire mit strahlenden Augen, »es hätte dir kein besserer Name dafür einfallen können, Peter.«

»Und nun, Sam«, sagte Helling weiter, »kannst du der ganzen Welt, falls sie es noch nicht weiß, das große Geheimnis mitteilen. Nimm ihr zumindest die heimliche Angst vor einer neuen Katastrophe.«

»Niemand hat noch Angst. Es ist zu lange her.« »Aber niemand soll vergessen, was einst geschah!« mahnte Gerald. Sam Roberts Gesicht hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen,

als er langsam und bedächtig sagte: »Wir, die Nachkommen der Überlebenden, verdanken unsere Existenz

lediglich dem Umstand, daß den Wissenschaftlern und Militärs von damals keine Zeit mehr blieb, ihre teuflische Erfindung ausreifen zu lassen. Hätten sie gewußt, was einmal aus ihrer Giftmischung werden könnte, hätten sie nicht gezögert, eine weitere Komponente hinzuzufügen – und zwar eine für alle Zeiten tödliche. Wir haben einfach Glück gehabt, das ist alles. Ich frage euch aber: Was geschah eigentlich mit dem riesigen Arsenal der Atomwaffen, die in allen Teilen der Welt gelagert wurden? Was wurde aus ihnen? Wo sind sie geblieben?«

Gerald Zimmermann hatte eine steile Falte auf der Stirn, aber seine Stimme verriet Zuversicht und Überzeugung:

»Der Großteil, so berichten die Chroniken von Heidelberg und Rocktown, wurde verschrottet oder in die Sonne geschossen, während man bereits an der neuen Waffe arbeitete. Ich nehme an, es gibt noch unterirdische Silos, aber die findet heute niemand mehr. Urwälder und undurchdringliche Buschwildnis haben sie längst überwuchert. Um sie und um das, was in ihnen ist, brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen.«

»Ich hoffe, du hast recht«, blieb Sam skeptisch. »Und noch etwas: wenn durch ,Greenlife’ und durch unachtsame Anwendung die Natur außer Kontrolle gerät, kann das, was wir heute als Segen bezeichnen, genausogut das Verderben künftiger Generationen sein. Die grün wuchernde Wildnis könnte unkontrollierbar werden und uns alle regelrecht unter sich begraben.«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, mischte Peter Helling sich ein. »In einem solchen Fall müßte man ein Gegenmittel entwickeln, eine Art Unkrautvernichtungs …«

Er schwieg plötzlich, erschrocken über das, was er da angedeutet hatte. Gerald nickte ihm zu. »Gut, daß du es nicht ausgesprochen hast. Der ganze Kreislauf würde

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erneut beginnen – und in zwei oder drei Generationen wären wir wieder dort, wo wir vor knapp hundert Jahren waren. Nein, ,Greenlife’ sollte überhaupt nicht absichtlich eingesetzt werden. Wir wissen, daß allein das allmählich und glücklicherweise nach unterschiedlichen Zeiträumen auftretende Undichtwerden der Zylinder genügt, doppelte und dreifache Ernten zu erzielen. Niemand muß da nachhelfen, und dort, wo Land benötigt wird, muß eben auf natürliche Weise gerodet werden. Das bedeutet zwar Arbeit, ist aber risikofrei. Das, Sam Roberts, solltest du deinen Gesprächspartnern in aller Welt eindringlich klarmachen.«

Der Arzt nickte zustimmend. »Ich werde es jedenfalls versuchen.« »Gut!« Gerald Zimmermann verabschiedete sich ein wenig hastig, und als er

davonging, in Richtung des Hauses, in dem Claire Buchanan lebte, lächelten sie nachsichtig.

Morgen sollten die beiden getraut werden.

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Nekrolog

Ziemlich genau hundert Jahre später landete an der Küste Nordamerikas ein dreimastiger Segler, primitiv und plump gebaut, aber er hatte die Stürme der langen Überfahrt von Europa gut überstanden.

Die dreißig Abenteurer hatten den vom Urwald überwucherten und fast menschenleeren Kontinent verlassen, um in den Weiten Amerikas, das sie nun neu entdeckten, eine neue Heimat zu finden. Aber was sie fanden, war ebenfalls Urwald, undurchdringlicher Dschungel und Bäume, die bis in den Himmel zu wachsen schienen.

»Im Innern kann es anders aussehen«, entschied der Anführer der Expedition. »Auf keinen Fall werden wir zurückkehren. Die Chancen des Überlebens sind in diesem Land größer.«

Und sie stießen in das Innere des Landes vor, immer in Richtung Westen. Ihre Gegner waren nicht allein die ungezügelte Natur, die außer Kontrolle geratene Flora, sondern auch Schwärme von Insekten, Rudel großer Ratten und noch größere Raubtiere.

Und doch erreichten fünf von diesen dreißig Männern eines Tages einen überwucherten Hügel, der ihnen wie eine rettende Insel im Ozean der Bäume erschien. Verwitterte Holzreste und Steintrümmer verrieten, daß hier einst ein Dorf gewesen war.

Europa hatte Jackville gefunden – oder das, was von Jackville übriggeblieben war.

Erschöpft, verzweifelt und sich der Tatsache bewußt, daß es kein Weiterkommen und auch keine Rückkehr mehr für sie gab, beschlossen sie, den Rest ihrer Tage hier zu verbringen. Mit Pfeil und Bogen konnten sie sich Fleisch beschaffen, und in den verwilderten Gärten fand sich mitten zwischen dem überhand nehmenden Unkraut immer noch Eßbares.

Und dann entdeckte einer der Männer die Baumhütte am Rand der Lichtung, auf der einst Jackville gestanden hatte. Er kletterte hinauf und fand die eng beschriebenen Blätter, schon vergilbt, aber noch teilweise lesbar. Sie enthüllten, was geschehen war.

Markus Zimmermann wurde im Jahre 2080 als Sohn der Eheleute Gerald und Claire Zimmermann geboren. Jackville war eine Lichtung inmitten des Waldes, der immer weiter vordrang und die Felder immer kleiner werden ließ. Längst war der einzige Sender ausgefallen, nur der Empfänger funktionierte noch, wenn auch unregelmäßig. So erfuhren die Bewohner von Jackville, daß die befürchtete »Vegetationsexplosion« nun doch in aller Welt stattgefunden hatte.

Die Zylinder mit Greenlife waren zur gleichen Zeit undicht geworden – das war die einzige Erklärung.

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Dann kamen die Ameisen, gefolgt von den Ratten und anderem Getier, das kaum noch Gegner hatte. Man erschlug sie zu Tausenden und ließ die Ameisen in Feuergräben laufen, aber man fand keine Zeit mehr, den Wald aufzuhalten.

Das Ende war abzusehen. Einige Männer und Frauen verließen Jackville. Man hörte nie mehr wieder

etwas von ihnen. Markus’ Mutter starb 2098 an einer Infektion, zwei Jahre später Gerald

Zimmermann, sein Vater. Noch weitere zwanzig Jahre kämpften die letzten Bewohner von Jackville

ums nackte Überleben. Es war ein aussichtsloser Kampf. Kinder wurden keine mehr geboren, und die Älteren starben einer nach dem anderen.

Markus wurde zum Einsiedler. Hoch oben im Wipfel des großen Baumes, der alle anderen überragte, baute er sich eine primitive Hütte.

Hier überlebte er zwanzig Jahre. Einige der Bäume trugen Früchte, von denen er sich ernährte, nur selten kletterte er hinab, um in einem Kanister seinen Wasservorrat zu erneuern. Diese Exkursionen wurden immer gefährlicher. Nun tauchten auch größere Raubtiere auf, die wiederum die Ratten dezimierten. Wie durch ein Wunder verschwanden sogar die Ameisen.

Im Jahr 2140 etwa, so genau wußte es Markus Zimmermann nicht, aber er glaubte, nun sechzig Jahre alt zu sein, spürte er die zunehmende Schwäche und wußte, daß er nicht mehr lange zu leben hatte. Er begann mit seinen Aufzeichnungen.

Er beendete sie, noch ehe er den Baum zum letztenmal hinabkletterte und mitten in den überwucherten und menschenleeren Ruinen den Tod erwartete, der in der Gestalt eines riesigen Bärens kam.

Der Anführer der fünf Europäer legte die Blätter zur Seite. »Das hier also war Jackville, und so wie hier war es überall. Wir werden

hier bleiben. So, wie wir es beschlossen haben. Vielleicht sind wir die letzten Menschen in diesem Land, wir werden es wohl nie erfahren. Aber wir werden auch nicht aufgeben, diese winzige Insel gegen die vordringende Natur zu verteidigen. Wir werden Bäume fällen und einen Wall bauen. Dahinter heben wir Gräben aus, die wir mit trockenem Reisig füllen, falls die Ameisen zurückkommen. Und wir werden aus den Trümmern der alten Siedlung ein festes Steinhaus bauen, in dem wir nachts schlafen können. Los, an die Arbeit, Freunde!«

Sie waren nicht die einzigen Überlebenden, die der Natur zu trotzen versuchten, die sich die Erde zurückerobert hatte. In vielen Teilen der Welt bildeten sich die letzten Bastionen des einstigen Homo sapiens, aber es schien so gut wie sicher zu sein, daß die Menschheit nur dann überleben würde, wenn sie es verstand, sich anzupassen, wenn sie wieder mit der Natur

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leben würde, und nicht gegen sie. Der Mensch war gezwungen, wieder von vorn zu beginnen. Und Markus Zimmermann hatte den Weg gewiesen, als er sich den großen

Baum zum Freund machte.

ENDE