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Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten Von Peter-Christian Müller-Graff, Heidelberg * Die horizontale Direktwirkung der transnationalen Marktzugangs-Grundfreiheiten des Binnenmarktes im Sinne der Bindung privater Akteure ist seit Jahrzehnten unter dem fehlleitenden Begriff der „Drittwirkung“ umstritten, wird von der Rechtspre- chung aber fallweise anerkannt, jüngst auch für die Warenverkehrsfreiheit. Text- fassung, Konzeption und ideengeschichtliche Genese der Beschränkungsverbote bestätigen, dass für deren Anwendbarkeit zuallererst die Wirkung, nicht aber die Urheberschaft einer Maßnahme maßgeblich ist. Das Verhalten privater Akteure kann daher gegen die Grundfreiheiten verstoßen, allerdings nur im Rahmen ihres jeweiligen Zwecks. Dies hat Folgen für den Kreis der betroffenen Beschränkungs- verbote, die erfassten Beschränkungsformen und Beschränkungsinhalte, die Adres- satenkategorien Privater, die Berücksichtigung der Privatautonomie und Grund- rechtswahrnehmung im wettbewerbsfördernden Zweck der Grundfreiheiten, den Marktakteuren transnationale Präferenzentscheidungen zu ermöglichen, sowie für die Rechtsfolgen eines Verbotsverstoßes. Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten des Binnenmarktes, mit der Private nicht nur als Berechtigte, sondern auch als Verpflichtete ins Visier genom- men werden, 1 ist für Rechtswissenschaft 2 und die Rechtspraxis 3 zwar kein taufri- sches Thema, erfordert aber dogmatisch und konzeptionell eine Überprüfung und systemrationale Neujustierung auf der Grundlage des geltenden Primärrechts. An- lass dazu gibt das umfänglich aufgelaufene, kontroverse rechtswissenschaftliche Schrifttum ebenso wie die sich tastend mehrende Rechtsprechung. Nicht wenige Texte haben sich in jüngerer Zeit dieser Frage gewidmet – oft unter dem verleitlichen Begriff der „Drittwirkung“ der transnationalen Marktzugangs- freiheiten. Schon die einschlägige deutschsprachige Qualifikationsliteratur des zu- rückliegenden Jahrzehnts ist reichlich und umfasst allein mindestens sechzehn Mo- nographien: so namentlich (in ihrer Publikationsreihenfolge) diejenigen von Gan- * Der Verf. ist Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht der Rup- recht-Karls-Universität Heidelberg und Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, Europarecht und Rechtsvergleichung. 1 Der vorliegende Text ist die schriftliche Fassung des Vortrags, den Verf. am 3. Dezember 2012 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn gehalten hat. 2 Vgl. zur Entwicklung der Diskussion um das Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Privatautonomie W.-H. Roth, Privatautonomie und die Grundfreiheiten des EG-Vertrags, in: Beuthien/Fuchs/Roth/Schiemann/Wacke (Hrsg.), Perspektiven des Privatrechts am Anfang des 21. Jahrhunderts. Festschrift für Dieter Medicus zum 80. Geburtstag, 2009, S. 393, 39 ff. 3 Vgl. schon EuGH, Rs. 36/74 (Walrave/UCI), Slg. 1974, 1405. EuR – Heft 1 – 2014 3

Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten · Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten Von Peter-Christian Müller-Graff, Heidelberg* Die horizontale Direktwirkung

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Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten

Von Peter-Christian Müller-Graff, Heidelberg*

Die horizontale Direktwirkung der transnationalen Marktzugangs-Grundfreiheitendes Binnenmarktes im Sinne der Bindung privater Akteure ist seit Jahrzehnten unterdem fehlleitenden Begriff der „Drittwirkung“ umstritten, wird von der Rechtspre-chung aber fallweise anerkannt, jüngst auch für die Warenverkehrsfreiheit. Text-fassung, Konzeption und ideengeschichtliche Genese der Beschränkungsverbotebestätigen, dass für deren Anwendbarkeit zuallererst die Wirkung, nicht aber dieUrheberschaft einer Maßnahme maßgeblich ist. Das Verhalten privater Akteurekann daher gegen die Grundfreiheiten verstoßen, allerdings nur im Rahmen ihresjeweiligen Zwecks. Dies hat Folgen für den Kreis der betroffenen Beschränkungs-verbote, die erfassten Beschränkungsformen und Beschränkungsinhalte, die Adres-satenkategorien Privater, die Berücksichtigung der Privatautonomie und Grund-rechtswahrnehmung im wettbewerbsfördernden Zweck der Grundfreiheiten, denMarktakteuren transnationale Präferenzentscheidungen zu ermöglichen, sowie fürdie Rechtsfolgen eines Verbotsverstoßes.

Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten des Binnenmarktes, mit derPrivate nicht nur als Berechtigte, sondern auch als Verpflichtete ins Visier genom-men werden,1 ist für Rechtswissenschaft2 und die Rechtspraxis3 zwar kein taufri-sches Thema, erfordert aber dogmatisch und konzeptionell eine Überprüfung undsystemrationale Neujustierung auf der Grundlage des geltenden Primärrechts. An-lass dazu gibt das umfänglich aufgelaufene, kontroverse rechtswissenschaftlicheSchrifttum ebenso wie die sich tastend mehrende Rechtsprechung.Nicht wenige Texte haben sich in jüngerer Zeit dieser Frage gewidmet – oft unterdem verleitlichen Begriff der „Drittwirkung“ der transnationalen Marktzugangs-freiheiten. Schon die einschlägige deutschsprachige Qualifikationsliteratur des zu-rückliegenden Jahrzehnts ist reichlich und umfasst allein mindestens sechzehn Mo-nographien: so namentlich (in ihrer Publikationsreihenfolge) diejenigen von Gan-

* Der Verf. ist Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht der Rup-recht-Karls-Universität Heidelberg und Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts-und Wirtschaftsrecht, Europarecht und Rechtsvergleichung.

1 Der vorliegende Text ist die schriftliche Fassung des Vortrags, den Verf. am 3. Dezember 2012 an der RheinischenFriedrich-Wilhelms-Universität Bonn gehalten hat.

2 Vgl. zur Entwicklung der Diskussion um das Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Privatautonomie W.-H.Roth, Privatautonomie und die Grundfreiheiten des EG-Vertrags, in: Beuthien/Fuchs/Roth/Schiemann/Wacke(Hrsg.), Perspektiven des Privatrechts am Anfang des 21. Jahrhunderts. Festschrift für Dieter Medicus zum 80.Geburtstag, 2009, S. 393, 39 ff.

3 Vgl. schon EuGH, Rs. 36/74 (Walrave/UCI), Slg. 1974, 1405.

EuR – Heft 1 – 2014 3

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ten4, Wernicke5, Graber6, Parpart7, Kainer8, Körber9, Preedy10, Lübke11, Förs-ter12, Löwisch13, Lengauer14, Perner15, teils auch von Riesenhuber16, Remien17 und(etwas früher) Jaensch18 und Hintersteiniger19. Auch an Einzeltexten und Kom-mentaraussagen mangelt es nicht20. Tatsächlich geht es um eine europarechtswis-

4 T. O. Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000.5 St. Wernicke, Die Privatwirkung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002.6 R. Graber, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten: eine Untersuchung anhand einer Auslegung des

EG-Vertrages, der Rechtsprechung des Gerichtshofes und der Folgen einer angenommenen unmittelbaren Dritt-wirkung, 2002.

7 H. Parpart, Die unmittelbare Bindung Privater an die Personenverkehrsfreiheiten im europäischen Gemein-schaftsrecht, 2003.

8 F. Kainer, Unternehmensübernahmen im Binnenmarktrecht. Zugleich ein Beitrag zur Privatrechtswirkung derGrundfreiheiten, 2004, S. 208-248.

9 T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004.10 K. Preedy, Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten. Zur sogenannten Drittwirkung im Euro-

parecht, 2005.11 J. Lübke, Der Erwerb von Gesellschaftsanteilen zwischen Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit, 2006,

insbesondere S. 256-268.12 Ph. Förster, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten. Zur Dogmatik des Adressatenkreises von

Pflichten der EG-Grundfreiheiten, 2007.13 St. Löwisch, Die horizontale Direktwirkung der Europäischen Grundfreiheiten. Zur Frage der unmittelbaren

Verpflichtung Privater durch die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, 2009.14 A. Lengauer, Drittwirkung von Grundfreiheiten. Ein Beitrag zu dem Konzept des Normadressaten im Gemein-

schaftsrecht, 2010.15 St. Perner, EU-Verträge und Privatrecht (im Typoskript) 2012.16 K. Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 84-119.17 O. Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, 2003, S. 178-220.18 M. Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997.19 M. Hintersteiniger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot. Unter besonderer Berücksichtigung der Situation

nicht-staatlicher Handlungseinheiten, 1999.20 Vgl. dazu in jüngerer Zeit namentlich G. Bachmann, Nationales Privatrecht im Spannungsfeld der Grundfrei-

heiten, AcP 210 (2010), 424, 465-478; G. Wagner, Materialisierung des Schuldrechts unter dem Einfluss vonVerfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in: Blaurock/Hager (Hrsg.), Obli-gationenrecht im 21.Jahrhundert, 2010, S. 13, 59 ff.; W.-H. Roth, a.a.O. (Fn. 2); ders., Drittwirkung der Grund-freiheiten?, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Band II, 1995, S. 1231 ff.; G.Franck, Die horizontale unmittelbare Anwendbarkeit der EG-Grundfreiheiten – Grundlagen und aktuelle Ent-wicklung, 2009; P.-Chr. Müller-Graff, Das Verhältnis von Grundrechten und Grundfreiheiten im Lichte desEuropäischen Verfassungsvertrages, in: Europarecht Beiheft 1/2006, S. 19 ff.; ders., Grundfreiheiten und Ge-meinschaftsgrundrechte, in: Cremer/Giegerich/Richter/Zimmermann (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit.Festschrift für Helmut Steinberger, 2002, 1281 ff.; ders., Die Verdichtung des Binnenmarktrechts zwischenHandlungsfreiheiten und Sozialgestaltung, in: Europarecht Beiheft 1/2002, S. 7, 36 ff.; ders., in: von der Groe-ben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV. Kommentar, 6. Aufl. 2003, Art. 28 Rdz. 301-309 (s. schon ders., in: von derGroeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Aufl. 1991, Art. 30 EWGV Rdz.127-131).; K. Vieweg/A. Röthel, Verbandsautonomie und Grundfreiheiten, ZHR 166 (2002), 6 ff.; C.-W. Cana-ris, Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten, in: Bauer u.a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft undRecht, 2002, S. 29 ff.; A. Röthel, Grundfreiheiten und private Normgebung. Zur unmittelbaren Drittwirkung derGrundfreiheiten auf Verbandsnormen, EuR 2001, 908 ff.; E. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996,S. 277 ff.; ders., Drittwirkung der Grundfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Badura/Scholz(Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 575 ff.; als jüngsteKommentierungen vgl. z.B. M. Franzen, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV. Kommentar, 2. Aufl., 2012, Art. 45AEUV Rdz. 92 ff.; P.-Chr. Müller-Graff, ebda., Art. 49 Rdz. 38 und Art. 56 AEUV Rdz. 64 ff.; U. Forsthoff, in:Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, EL 42, 2010, Art. 45 AEUV Rdz. 152 ff.;aus anderssprachiger Literatur z.B. St. van den Bogaert, Horizontality, in: Barnard/Scott (eds.), The Law of theSingle European Market. Unpacking the Premises, 2002, S. 123 ff.; J. Baquero Cruz, Between Competition andFree Movement, 2002, S. 105 ff.; J. Snell, Goods and Services in EC Law. A Study of the Relationship betweenthe Freedoms, S. 129 ff.; zum Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und Privatrecht P.-Chr. Müller-Graff, Privat-recht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, in: Müller-Graff/Zuleeg (Hrsg.), Staat und Wirtschaft in der EG,1987, S. 17 ff. (P.-Chr. Müller-Graff, Privatrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2. Aufl. 1991); ders.,

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senschaftlich schon deutlich früher erörterte Frage: so namentlich in der grundle-genden, von Nicolaysen betreuten Dissertation von Detlef Schaefer aus dem Jahre198721. Das Meinungsspektrum reicht von genereller Ablehnung (z.B. Riesenhu-ber22, Körber23) über differenzierende Lösungen bis zur generellen Bejahung (z.B.Schaefer24, Förster25, Löwisch26). Für die mit der Frage nach der horizontalen Di-rektwirkung der transnationalen Markt-Grundfreiheiten verbundene Frage des Ver-hältnisses zu den Grundrechten (und deren unmittelbaren oder mittelbaren Dritt-wirkung) ist dadurch das Terrain gleichfalls bereits beackert.27 Geht es davon un-abhängig um die von der Grundrechte-Charta (GRC) aktualisierte Frage der unmit-telbaren Drittwirkung unionsrechtlicher Grundrechte, wird diese generell zurück-haltend beurteilt und allenfalls als Ausnahme für ein einzelnes Recht themati-siert.28

Einen frischen Blick auf die Frage der horizontalen Direktwirkung der Grundfrei-heiten zu wagen,29 gibt gerade auch die jüngste Entwicklung der auch schon früherpunktuell damit befassten Rechtsprechung des EuGH Anlass, nämlich neben meh-reren neueren Entscheidungen (Raccanelli30, Olympique Lyonnais31, Casteels32)insbesondere seine Antwort vom 12.7.2012 auf eine Vorlagefrage des OLG Düs-seldorf, eine private Normungs- und Zertifizierungsstelle, die Deutsche Vereini-gung des Gas- und Wasserfaches e.V. (DVGW), an das warenverkehrsrechtlicheVerbot der Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschrän-kungen zu binden.33 Endlich fand eine derartige Konstellation aus dem Bereich der

Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft – Ansatzpunkte, Ausgangsfragen, Ausfaltungen,in: Müller-Graff (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 2.Aufl. 1999, S. 9 ff.

21 D. Schaefer, Die unmittelbare Wirkung des Verbots der nichttarifären Handelshemmnisse (Art. 30 EWGV) inden Rechtsbeziehungen zwischen Privaten. Probleme der horizontalen unmittelbaren Wirkung des Gemein-schaftsrechts, gezeigt am Beispiel des Art. 30 EWGV, 1987.

22 A.a.O. (Fn. 16), S. 101-118.23 A.a.O. (Fn. 9), insbesondere S. 796-797.24 A.a.O. (Fn. 21), S. 180 f.25 A.a.O. (Fn. 12), insbesondere S. 194-195.26 A.a.O. (Fn. 13), insbesondere S. 220-224.27 Im Ansatz bereits D. Schaefer, a.a.O. (Fn. 20), S. 214 ff.; vgl. sodann teilweise die in Fn. 20 genannten Autoren

und oben aufgeführten Qualifikationsschriften.28 Vgl. dazu H. D. Jarass, Charta EU-Grundrechte, 2010, Art. 51 Rdz. 24 f.; Ch.-H. Chen, Die speziellen Diskri-

minierungsverbote der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2011, S. 37 ff., 44 ff.; R. Streinz/W.Michl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV. Kommentar, 2. Aufl. 2012, Art. 51 GR-Charta Rdz. 18; dies., Die Dritt-wirkung des europäischen Datenschutzgrundrechts (Art. 8 GRCh) im deutschen Privatrecht, EuZW 2011,384 ff.; R. Streinz, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV. Kommentar, 2. Aufl. 2012, Vor Charta Rdz. 12; T. Kin-green, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV. Kommentar, 4.Aufl., 2011, EU-GRCharta, Art. 51 Rdz.18; P.M. Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, 2385, 2389; für eine „Horizon-talwirkung“ der GRC im Hinblick auf einzelne Grundrechte und wegen der Einwirkung der EMRK; A. Seifert,Die horizontale Wirkung von Grundrechten. Europarechtliche und rechtsvergleichende Überlegungen, EuZW2011, 696, 700 ff., der allerdings auch die Grenzen des Art. 51 GRC für eine derartige Wirkung anspricht.

29 Zu früheren Ausführungen des Autors zu dieser Frage vgl. Nachweise oben in Fn. 20.30 EuGH, Rs. C-94/07 (Raccanelli), Slg. 2008, I-5939; dazu die Anmerkungen von R. Repasi, EuZW 2008,

529 ff.; Cl. Birkemeyer, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, EuR 2010, 662 ff.31 EuGH, Rs. C-325/08 (Olympique Lyonnais), Slg. 2010, I-2177.32 EuGH, Rs. C-379/09 (Casteels), Urteil v. 11.11.2010.33 EuGH, Rs. C-171/11 (Fra.bo/DVGW), Urteil v. 12.7.2012.

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Warenverkehrsfreiheit den Weg zur Curia, wenn auch ohne die Folgefragen einerderartigen Bindung.34

Traditionell nicht zu diesem Thema zählen die staatliche Privatrechtsetzung, dasstaatlich zurechenbare Verhalten in privater Form (so beispielsweise die „Buy-Irish“-Kampagne des Irish Good Council35 und Maßnahmen von Organisationenmit hoheitsähnlichen Befugnissen36) und auch nicht die private Nutzung der vonMitgliedstaaten legislativ bereit gestellten spezifischen Rechtsinstitute (im Unter-schied zur Privatautonomie als solcher) wie namentlich von Vermarktungsre-geln37 und vor allem von gewerblichen Schutzrechten und Urheberrechten, derenim Territorialitätsprinzip wurzelndes, marktabschottendes Potential von der Recht-sprechung seit langem mittels der Erschöpfungslehre binnenmarktkonform domes-tiziert wird38 – bis hin etwa zum Abschliff des Markenrechts bei umgepackten pa-rallelimportierten Arzneimitteln.39

Nachfolgend soll die Ausgangsfrage in drei Schritten angegangen werden, wobeider Suggestion zur Generalisierung der Grundfreiheiten zu widerstehen ist, ohneaber deren große gemeinsame normative Schnittmenge zu leugnen. Zunächst ist diequerschnittige Unterfrage aufzuwerfen, ob eine Bindung Privater an die Beachtungder transnationalen Marktzugangsfreiheiten unter Beachtung deren Grundrechtenormkonzeptionell überhaupt oder wenigstens begrenzt passfähig ist (A). Sodannist die Folgefrage aufzugliedern, welche rechtlichen Konsequenzen sich im Falleder allgemeinen oder konditionierten Bejahung einer horizontalen Direktwirkungim Einzelnen ergeben (B). Abschließend ist noch kurz die spezielle Anschlussfrageaufzuwerfen, inwieweit die Grundrechte (Grundrechte-Charta; allgemeine Rechts-grundsätze; nationale Grundrechte) „drittwirkende“ Gegenläufer und Selbstläufersein können (C).

Grundsätzliche normkonzeptionelle Passfähigkeit der BindungPrivater an die transnationalen Marktzugangsfreiheiten?

Fragt man daher zuerst nach der normkonzeptionellen Passfähigkeit der BindungPrivater an die transnationalen Marktzugangsfreiheiten im allgemeinen (also nochnicht differenziert nach den einzelnen Grundfreiheiten), so lässt schon die verbrei-tete begriffliche Fassung des Themas als „Drittwirkung“ eine solche zweifelhaftoder zumindest als begründungsbedürftige Ausnahme erscheinen. Dieses „Ausnah-me“-Dogma dominiert die Diskussion. Das Wort „Drittwirkung“ entstammt aller-

A.

34 Vgl. dazu jedoch ansatzweise die Schlussanträge von GA Trstenjak in der Rs. C-171/11 (Fra.bo/DVGW),Rn. 37 ff.

35 EuGH, Rs. 249/81 (Buy Irish), Slg. 1982, 4005.36 EuGH, Rs. 266/87 und 267/87 (Association of Pharmaceutical Importers), Slg. 1989, 1295, Rn. 13 ff.;

Rs. C-292/92 (Hünermund u.a.), Slg. 1993, I-6767.37 EuGH, Rs. 58/80 (Dansk Supermarked), Slg. 1981, 181.38 Vgl. grundlegend z.B. EuGH (Sterling Drug), Rs. 15/74, Slg. 1974, 1147, 1163 f.; Rs.16/74, Slg. 1974 (Centra-

pharm/Winthrop), 1183, 1194 f. (Centrapharm/Winthrop).39 EuGH, C-71/94 bis C-73/94 (Eurim-Pharm), Slg.1996, I-3603, 3621.

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dings ideengeschichtlich einem gänzlich anderen Kontext. Es wurzelt in der älterendeutschen Grundrechtskontroverse zwischen Hans Carl Nipperdey40 und GünterDürig41. In der modernen Lehre wird die unmittelbare Drittwirkung der Grund-rechte des Grundgesetzes mit wenigen Ausnahmen durchgängig verneint.42 Zu-gleich ist der Topos der mittelbaren Drittwirkung von der Schutzpflichtenlehreüberholt.43 Gleichwohl transportiert das dadurch in seinem Ursprungsterrain veral-tete Wort der „Drittwirkung“ fernwirkend in die Grundfreiheiten subtextuell einVorverständnis, diese als konzeptionell primär staatsgerichtete Beschränkungsver-bote zu begreifen.

Auslegungstopoi gegen eine horizontale Direktwirkung

Als normtextlich unterlegtes Auslegungsargument gegen eine horizontale Direkt-wirkung lässt sich dies allerdings nur im genuin staatsgerichteten warenverkehrs-rechtlichen Verbot von Zöllen und mengenmäßigen Beschränkungen erhärten, nichtaber in den anderen binnenmarktkonstitutiven Verboten. Ein die horizontale Di-rektwirkung ausschließendes Verständnis mag sich entstehungsgeschichtlich ausmehreren weiteren Gesichtspunkten stützen lassen: aus der gründerstaatlichen Ur-heberschaft der Errichtung eines gemeinsamen Marktgebietes,44 aus den einstigenStillhalteklauseln (namentlich im Zollrecht45) und, schon mit schwächerem Ge-wicht, aus der völkervertraglichen Grundlage der Verbote. Es hat einen Widerscheinin einzelnen Formulierungen des EuGH gefunden (Stichwort: Staatsbezogenheit inder Entscheidung „Vlaamse Reisbureaus“46 mit dem Nachhall der „förmlichen“Staatsgerichtetheit in der Entscheidung „Viking“;47 oder „Hauptadressat“ in denSchlussanträgen von GAin Trstjenak im „Fra.bo/DVGW“-Verfahren48). Es kanndarüber hinaus systempositiv auf den staatsgerichteten Zuschnitt der Rechtferti-gungsgründe für Beschränkungen auf Gemeinwohlgüter wie „öffentliche Ordnung,Sicherheit und Sittlichkeit“ verweisen (so namentlich in Art. 36 AEUV), des wei-teren die Existenz spezieller Wettbewerbsbeschränkungsverbote für Unternehmen

I.

40 H. C. Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, 1961, S. 15.41 G. Dürig, Grundrechte und Zivilrechtsprechung, in: Maunz (Hrsg.), Vom Bonner Grundgesetz zur gesamtdeut-

schen Verfassung. Festschrift zum 75. Geburtstag von Hans Nawiasky, 1956, S. 157, 173.42 Vgl. das Resümée von M. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 12 f.;

C.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1998, S. 34 f.; zuvor ders., Grundrechte und Privatrecht, AcP 184(1984), 201, 202 ff. in Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts.

43 Vgl. dazu M. Ruffert, a.a.O. (Fn. 42), S. 20 ff., 141 ff.44 So in der Sache – vorsichtig – G. Bachmann, a.a.O. (Fn. 20), S. 469.45 So der ehemalige Art. 12 EWGV, der Gegenstand der grundlegenden Entscheidung des EuGH, Rs. 26/62 (van

Gend & Loos), Slg. 1963, 1 zur unmittelbaren Anwendbarkeit eines primärrechtlichen Verbots war.46 EuGH, Rs. 311/85 (Vlaamse Reisebureaus), Slg. 1987, 3801, Rn. 30.47 EuGH, Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779, Rn. 58; dazu die Anmerkung von M. Pießkalla, Unmittelbare

Drittwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages bei Boykottaufrufen durch Gewerkschaften, NZA 2007,1144 ff.; zu den Schlussanträgen in diesem Verfahren N. Reich, Gemeinschaftliche Verkehrsfreiheiten versusNationales Arbeitskampfrecht, EuZW 2007, 391 ff.

48 A.a.O. (Fn. 34), Rn. 29.

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benennen49 sowie schließlich faktisch die schiere Quantität der judikativ auffälliggewordenen Hindernisse anführen, die den Mitgliedstaaten zuzurechnen sind.

Auslegungstopoi für eine allgemeine Bindungswirkung

Bringt man in dem auch für das Unionsrecht maßgeblichen, klassisch vierteiligenAuslegungskanon gegenüber diesen, zunächst überwiegend allgemein historischenund systempositiven Ansätzen allerdings Text und Zweck der Beschränkungsver-bote in Anschlag, so ist die überkommene Deutung bei Reflexion im Licht des Bin-nenmarktkonzepts doch auch schon im Grundsatz zweifelhaft.

Die Textfassung der Beschränkungsverbote

Die binnenmarktkonstitutiven Grundverbote des Primärrechts benennen, wie schonangesprochen, textlich die Mitgliedstaaten als Adressaten nur indirekt im Zollver-bot, da Zölle in ihrem authentischen Begriffskern nur von der öffentlichen Handauferlegt oder legitimiert werden, die im übrigen denkmöglich auch die Union seinkönnte.50 Davon und von den zollgleich wirkenden Abgaben und mengenmäßigenBeschränkungen abgesehen, sind indes alle Grundverbote der Behinderung destransnationalen Marktzugangs ausdrücklich oder indirekt als Verbote von „Be-schränkungen zwischen Mitgliedstaaten“ formuliert, ohne deren Urheber genauerzu identifizieren. Die Kernnormen sind bekannt. Im Warenverkehr sind (nebenZöllen, zollgleich wirkenden Abgaben und mengenmäßigen Beschränkungen) vorallem auch die heute protektionell faktisch bedeutsamen Maßnahmen gleicher Wir-kung wie mengenmäßige Beschränkungen verboten (Art. 34, 35 AEUV). Für Ar-beitnehmer ist innerhalb der Union „die Freizügigkeit gewährleistet“ unter Ein-schluss der Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschied-lichen Behandlung der Unionsbürger in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung undsonstige Arbeitsbedingungen (Art. 45 AEUV). Zugunsten der Selbständigen sind„Beschränkungen der freien Niederlassung“ von Unionsbürgern im Hoheitsgebieteines anderen Mitgliedstaats verboten (Art. 49 AEUV) und ebenso Niederlassungs-beschränkungen von in einem Mitgliedstaat rechtlich konfigurierten Marktakteuren(„Gesellschaften“) mit fortdauernder Unionsverknüpfung (Art. 54, 49 AEUV).Ebenso gilt dies für die „Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs“ in-nerhalb der Union zugunsten von Unionsbürgern, die in einem anderen Mitglied-staat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind (Art. 56 AEUV). Undschließlich verbietet Art. 63 AEUV auch „alle Beschränkungen“ des Kapital- und

II.

1.

49 So früher W.-H. Roth, in: Festschrift für Ulrich Everling, a.a.O. (Fn. 20); aufgegeben in: Festschrift für DieterMedicus, a.a.O. (Fn. 20); in neuerer Zeit aber forciert T. Körber, a.a.O. (Fn. 9).

50 Folgerichtig wurde Art. 31 Abs. 2 der VO 816/70/EWG vom EuGH als nichtig angesehen, soweit er Mitglied-staaten zu zollgleich wirkenden Abgaben ermächtigte: Rs. 80 und 81/77 (Société les Commissionaires réunis v.Receveur des Douanes), Slg. 1978, 927, Rn. 38.

8 EuR – Heft 1 – 2014 Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten

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Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie, darüber hinausgehend, zwi-schen den Mitgliedstaaten und Drittländern.Der textliche Befund ist mithin eindeutig. Abgesehen von den genannten, historischhoheitsbezogenen Handlungsformen erzwingt keines der Verbote ein Verständnis,das eine staatliche Urheberschaft der Behinderung erfordert. Speziell für die Dienst-leistungsfreiheit stellte dies der EuGH bereits vor nahezu vier Jahrzehnten aus-drücklich in seiner Entscheidung „Walrave“ fest.51

Die Konzeption der Beschränkungsverbote

Diese grammatikalische Lage verwundert nicht. Denn die Verbote richten sich inihrem Zusammenspiel konzeptionell grundsätzlich gegen alle Beschränkungen destransnationalen Marktzugangs innerhalb des binnenmarktlichen Raums (heute:Art. 26 Abs. 2 AEUV). Dies ist Ausdruck des seit 1958 angestrebten Ziels, die na-tionalen Volkswirtschaften über einen Gemeinsamen Markt – heute Binnenmarkt –zu verschmelzen (heute: Art. 3 Abs. 3 EUV). Darin wurzeln die Verbote, mit denenim gemeinsamen Marktraum der Freiverkehr von Produktionsfaktoren und Pro-dukten nach dem (ideengeschichtlich mit dem Gedanken der Arbeitsteilung ver-bundenen) Prinzip des komparativen Kostenvorteils52 (moderner: des Prinzips derfreien wettbewerblichen Steuerung) innerhalb des Rahmens der sozial unabding-baren rechtlichen Schutzordnung gewährleistet werden soll, um die Leitzieltrias derUnion von Frieden, Werten und Wohlergehen (Art. 3 Abs. 1 EUV) zu fördern. Ausdieser Sicht ist es im Grundsatz unerheblich, wer Urheber einer Beschränkung ist:ein Akteur der öffentlichen mitgliedstaatlichen Hand, ein Unionsorgan, ein privaterVerband oder ein Einzelner. Wäre es anders, stünde die einheitliche Durchsetzungzur mitgliedstaatlichen Organisationsdisposition, wie erst jüngst treffend GAinTrstjenak auführte53. Besonders klar zeigt dies der Begründungsgang der „Fra.bo/DVGW“-Entscheidung für den Kupferfitting-Markt.54 Das Urteil beschäftigt sichallein mit Funktionen und Wirkung der DVGW (Normierung, Zertifizierung, Ver-mutungswirkung der Zertifizierung für die rechtlich geforderte Entsprechung mitden anerkannten Regeln der Technik), analysiert die faktische Stellung der DVGW(einzige Einrichtung, Nachfragepraxis) und summiert diese darin, dass die DVGW„in Wirklichkeit über die Befugnis verfügt, den Zugang von Erzeugnissen wie denim Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kupferfittings zum deutschen Markt zu

2.

51 EuGH, Rs. 36/74 (Walrave/UCI), Slg. 1974, 1405, Rn. 20: „allgemeine Fassung des Artikel 59, der nicht aufden Ursprung der Behinderung abstellt.“.

52 Vgl. dazu z.B. W. Molle, The Economics of European Integration. Theory, Practice, Policy, 1991, S. 9. ff.53 A.a.O. (Fn. 34) Rn. 48 und 49.54 Kupferfittings sind Verbindungsstücke zwischen zwei Rohrleitungsstücken zur Sicherstellung der Dichtigkeit

mittels Dichtungsringen aus Elastomer.

Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten EuR – Heft 1 – 2014 9

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regeln.“55 Nicht erörtert wird eine staatliche Zurechnung über die Vermutungswir-kung. Man mag die daraus gefolgerte Bindung mit dem schillernden Gedanken des„effet utile“ erklären (wie schon seinerzeit Steindorff die Bindung eines internatio-nalen Sportverbands in der Entscheidung „Walrave“56) oder inhaltlich etwas blassals „logische Folge“ ansehen (wie GA Maduro in seinen Schlussanträgen im Ver-fahren „Viking“57), doch sind das letztlich lediglich abstrakte Formulierungen fürein aus dem Richtgedanken des Funktionieren des Binnenmarktes gespeistes teleo-logisches Verständnis.

Die ideengeschichtliche Genese der Beschränkungsverbote

Dieses Verständnis passt auch zur Genese des Begriffs des Gemeinsamen Marktes.Er geht auf die Montanunion zurück. Jean Monnet schreibt dessen Schöpfung PierreUri zu,58 einem Mitglied seines Kreises. Dieser Gruppe ging es nicht um einenklassischen wirtschaftsvölkerrechtlichen Vertrag mit wechselseitigen einzelnen Zu-geständnissen. Schon im Urtext des Vorschlags der Montanunion, der 1950 vonJean Monnet und seinen drei Mitstreitern Etienne Hirsch, Paul Reuter und PierreUri erarbeitet wurde und zur Schuman-Erklärung führte, findet sich der Satz „Pro-gressivement, se dégageront les conditions assurant spontanément la repartition laplus rationelle de la production au niveau de productivité le plus élevé“59 („Schritt-weise werden sich die Bedingungen ergeben, die spontan die rationellste Verteilungder Produktion auf dem höchstmöglichen Produktivitätsniveau sichern“60). Späterim Montanvertrag hieß es: „von sich aus“ (Art. 2 Abs. 2 EGKSV). Darin äußert sichkein primär eingriffsabwehrendes, individualschützendes Anliegen wie in der his-torischen Ursprungskonzeption der Grundrechte des 18. Jahrhunderts, sondern eintransnational initiativer makroökonomischer Systemsteuerungsgedanke mit gesell-schaftlicher Dimension. Eine schlichte Parallelisierung von Grundfreiheiten undGrundrechten verbietet sich aus dieser genetisch unterschiedlichen Funktion, un-geachtet abstrakter struktureller Ähnlichkeiten.61 Das Wort „spontan“ oder „vonsich aus“ signalisiert den Gedanken der grundsätzlichen Selbststeuerung durch dieMarktakteure, wenn auch im Interventions- und Kontrollrahmen der Montanunion.

3.

55 EuGH, Rs. C-171/11, a.a.O. (Fn. 33) a.E. Dies hätte auch in der Entscheidung „Dansk Supermarked“ (EuGH,Rs. 58/80, a.a.O., Fn. 37) gegolten, wenn der seinerzeitige einstweilige Rechtsschutz nicht auf das dänischeVermarktungsgesetz, sondern auf die vertragliche Bindung des englischen Steingutherstellers, nicht nach Skan-dinavien zu liefern, gestützt worden wäre.

56 E. Steindorff, Drittwirkung der Grundfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Badura/Scholz (Hrsg.),Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 575.

57 Vgl. Schlussanträge in der Rs. C-438/05 (Viking), Rn. 33, 35.58 J. Monnet, Erinnerungen eines Europäers, 1988, S. 379.59 J. Monnet, Mémoires, 1976, S. 353.60 J. Monnet, a.a.O. (Fn. 58), S. 4379 f.61 Vgl. P.-Chr. Müller-Graff, in: Festschrift Steinberger, a.a.O. (Fn. 20), S. 1281 f.

10 EuR – Heft 1 – 2014 Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten

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Monnet nannte dies „forte organisation et … finalité libérale à la fois“62 („starkeOrganisation und … liberale Zweckbestimmung“63).Von den hierfür zu beseitigenden Hindernissen ist in Monnets Erinnerungen zu-nächst nur höchst abstrakt die Rede: „Raum ohne Zollschranken, ohne Diskrimi-nierung, aber mit Regelungen im allgemeinen Interesse“.64 Allerdings kontrastiertauch dazu das Wort der „Drittwirkung“, welches ein Verständnis subintelligiert, dasdie Anwendbarkeit der Verbote auf privates Handeln begründungsbedürftig er-scheinen lässt. Dies trifft aber nicht die makroökonomische und makropolitischeWirkungsorientierung des Binnenmarktziels. Daraus erhellt sich erneut, dass für dieBeschränkungsverbote grundsätzlich die Wirkung eines Verhaltens maßgeblichist65, nicht dessen Urheberschaft.66

Die Ausrichtung auf den institutionellen Marktgedanken

Zugrunde liegt mithin der institutionelle Marktgedanke. Der Markt ist eine traditi-onsreiche Interaktionsform der verantworteten Privatautonomie im Wettbewerb.67

Wöchentlich ist sie auf städtischen Marktplätzen zu besichtigen. Sie lässt sich ab-strahieren als freie Koordination der freien Präferenzentscheidungen von Anbieternund Nachfragern. Präferenz ist immer Selektion. Sie ist markt- und wettbewerbs-immanent, weil sie Ausdruck willkürlicher Selbstbestimmung ist (oder jedenfallsdes Individualverhaltens, wenn mit einer neurologisch deterministischen Schule dieWillensfähigkeit geleugnet wird). In Parenthese sei erwähnt, dass es im öffentlichenRecht Stimmen gibt, die sich an der zentralen Bedeutung dieses Unionsziels inArt. 3 Abs. 3 EUV reiben oder es nicht als Integrationsvision gelten lassen wollen.Diese Geringschätzung erstaunt. Denn mit dem Binnenmarkt geht es um nichts we-niger als um die gelebte wirtschaftliche Freiheit und um die Privatinitiative, die dasgrenzübergreifende Zusammenkommen seit alters her anscheinend reibungsloserzu aktivieren geeignet ist als Bemühungen um hoheitliche transnationale Machtag-gregation (so schon Rudolf von Jhering68).

4.

62 A.a.O. (Fn. 59), S. 353.63 A.a.O. (Fn. 58), S. 379.64 A.a.O. (Fn. 58), S. 379.65 Zutreffend G. Franck, a.a.O. (Fn. 20), S. 27 f.66 Dies führt im Ergebnis dazu, Private von der Bindung an Grundfreiheiten nicht grundsätzlich auszunehmen; so

bereits: D. Schaefer, a.a.O. (Fn. 21), S. 73; von den jüngeren Qualifikationsschriften vgl. insbesondere: T. O.Ganten, a.a.O. (Fn. 4), S. 221; K. Preedy, a.a.O. (Fn. 10), S. 126; Ph. Förster, a.a.O. (Fn. 12), S. 213; St. Lö-wisch, a.a.O. (Fn. 13), S. 220 ff.; A. Lengauer, a.a.O. (Fn. 14); St. Perner, a.a.O. (Fn. 15).

67 P.-Chr. Müller-Graff, Unternehmensinvestitionen und Investitionssteuerung im Marktrecht, 1984, S. 283.68 Vgl. R. von Jhering, Zweck im Recht, 4. Aufl. 1904 Band I, S. 280: „Längst bevor der Staat sich erhob vom

Lager, noch in der Morgendämmerung der Geschichte, hatte der Handel schon ein Gutteil seines Tageswerkesvollbracht, während die Staaten sich bekämpften, suchte und bahnte er die Wege, die von einem Volk zumanderen führten, und stellte ihnen ein Verhältnis des Austausches der Waren und Ideen her – ein Pfadfinder inder Wildnis, ein Herold des Friedens, ein Fackelträger der Kultur.“.

Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten EuR – Heft 1 – 2014 11

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Einwände aus der unionsrechtlichen Systematik?

Allerdings sind damit die genannten systematischen Einwände aus dem System despositiven Rechts gegen die Bindung Privater an die Beschränkungsverbote nochnicht ausgeräumt: die fehlende Passfähigkeit der ausdrücklichen Rechtfertigungs-gründe (1) und die Sperrwirkung der Wettbewerbsregeln (2).

Die fehlende Passfähigkeit der ausdrücklichen Rechtfertigungsgründe?

Der erste Einwand ist zutreffend, aber nicht durchschlagend. Private sind grund-sätzlich nicht zur Selbsthilfe legitimiert, um ein Gemeinwohlinteresse mittels Be-schränkungen des Marktzugangs zu wahren: etwa die öffentliche Ordnung, Sicher-heit und Sittlichkeit im Sinne der Art. 36, 44, 52 AEUV oder zwingende Allge-meininteressen im Sinne der Cassis-Rechtsprechung69. Dies wurde von der Judika-tur des EuGH verdeckt, als sie im „Bosman“-Urteil diesen Rechtfertigungsgrundauch für einen internationalen Sportverband zugrunde legte.70 Allerdings lässt sichdarin ein rationalisierbarer richtiger Gedanke erkennen, nämlich die Gewährleistungder Wahrnehmung grundrechtlicher Handlungsfreiheiten als Teil der öffentlichenOrdnung. Dies wird der Sache nach in der „Bosman“-Entscheidung mit der Erwäh-nung der Verbandsfreiheit (Art. 11 EMRK) angesprochen.71 Solche Wahrnehmungist per se Ausdrucksform des zwingenden Allgemeininteresses eines freiheitsba-sierten Gemeinwesens, mithin sowohl jedes Mitgliedstaats (nach Art. 2 S. 2 EUV)als auch der Union selbst. Deren erster nach der Achtung der Menschenwürde ge-nannte Wert ist die Freiheit (Art. 2 S. 1 EUV) und wird in Teil 2 der Grundrechte-Charta ausgefaltet. Daher ist es zwingend, Marktzugangsbeschränkungen privaterUrheber im Licht von deren wirtschaftlichen Handlungsfreiheiten zu bewerten. Undwenn eine Beschränkung bejaht und eine Prüfung der Rechtfertigbarkeit erforder-lich wird, ist es folgerichtig, „sachliche Gründe“ genügen zu lassen, wie es derEuGH in der Entscheidung „Angonese“72 aussprach, wohingegen seine jüngereRechtsprechung zwischen diesen und den „zwingenden Allgemeininteressen“ mä-andert73. Ein derartiges Doppelerfordernis ist stimmig, wenn damit verlangt wird,dass die sachlichen Individualinteressen zwingendem Recht nicht widersprechendürfen.

III.

1.

69 Anders allerdings jüngst GAin Trstjenak, a.a.O. (Fn. 34), Rn. 37.70 EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 86; dazu W. Kluth, Die Bindung privater Wirtschafts-

teilnehmer an die Grundfreiheiten des EG-Vertrages – Eine Analyse am Beispiel des Bosman-Urteils des EuGH–, AöR 122 (1997), 557 ff.

71 EuGH, Rs. C-415/93, a.a.O. (Fn. 69), Rn. 79.72 EuGH, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139; dazu die Anmerkungen von R. Streinz/St. Leible, Die un-

mittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, EuZW 2000, 459 ff.; T. Körber, Innerstaatliche Anwendung undDrittwirkung der Grundfreiheiten?, EuR 2000, 926 ff.

73 So stellt er in der Entscheidung Casteels auf zwingende Allgemeininteressen ab: a.a.O. (Fn. 32), Tz. 30; dem-gegenüber fordert er einen berechtigten Grund und zwingende Allgemeininteressen in den EntscheidungenLaval (EuGH, Rs.C-341/05, Slg. 2007, I-11767) und Olympique Lyonnais, a.a.O. (Fn. 31), Rn. 38; s. auch EuGH,a.a.O. (Fn. 69), Rn. 104 (Bosman). Zu den Schlussanträgen im Verfahren „Laval“ N. Reich, a.a.O. (Fn. 47).

12 EuR – Heft 1 – 2014 Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten

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Sperrwirkung der Wettbewerbsregeln?

Der zweite Einwand, die Sperrwirkung der Wettbewerbsregeln, hat verschiedeneEbenen.

Die Ausschließlichkeitsthese

Soweit gesagt wird, für freiverkehrshinderndes Verhalten Privater im Binnenmarktseien allein die Wettbewerbsregeln, nicht aber die Grundfreiheiten maßgeblich74,wird eine Arbeitsteilung der beiden Normgruppen prämittiert, die in dieser Allge-meinheit weder aus Wortlaut noch aus Systematik oder Normzweck ableitbar ist.Die Wettbewerbsregeln adressieren lediglich Unternehmen (oder Unternehmens-vereinigungen), nicht aber Privatakteure schlechthin75, also namentlich nicht Ge-werkschaften oder gemeinnützige Normungsorganisationen ohne Koordinierauf-gabe für Wettbewerber. Sie betreffen auch nur bestimmte Verhaltensweisen (wett-bewerbsbeschränkende Koordinierung; Missbrauch marktbeherrschender Stel-lung). Und sie verfolgen im Binnenmarktrecht das wirtschaftsordnungsrechtlichgesondert76 identifizierbare Ziel, den von den Grundfreiheiten ermöglichten trans-nationalen Wettbewerb wettbewerbsordnenden Regeln zu unterstellen. Beide die-nen zwar dem Funktionieren des Binnenmarktes, aber jede gegen unterschiedlicheGefährdungen.77

Das Konkurrenzverhältnis

Soweit ein bestimmtes, nach den Wettbewerbsregeln verbotsrelevantes Verhalten(Art. 101, 102 AEUV) zugleich die transnationale Wettbewerbseröffnung be-schränkt (z.B. eine Abschlussbindung entlang der Staatsgrenzen78), geht es dem-gegenüber um das Konkurrenzverhältnis zu den Grundfreiheiten im Einzelfall. Ak-zeptiert man die unterschiedliche Zielsetzung (Marktöffnung, Wettbewerbsord-nung), ist die parallele Anwendbarkeit folgerichtig (so nach der Offenhaltung derFrage im Urteil „Bosman“79 zutreffend die Entscheidung „Wouters“80). Allerdingsist in der Frage der Rechtfertigbarkeit einer Freiverkehrsbeschränkung infolge einer

2.

a)

b)

74 So in jüngerer Zeit namentlich T. Körber, a.a.O. (Fn. 9), S. 745 ff., 765; s. auch K. Riesenhuber, a.a.O. (Fn. 16),S. 103; H. Parpart, a.a.O. (Fn. 7), S. 332 ff., 335; davor schon M. Jaensch, a.a.O. (Fn. 18), S. 140 ff.; R. Gra-ber, a.a.O. (Fn. 6), S. 103 ff.; früher auch W.-H. Roth, in: Festschrift für Ulrich Everling, a.a.O. (Fn. 20),S. 1242 ff.

75 Zutreffend G. Bachmann, a.a.O. (Fn. 20), S. 470.76 Zu den Strukturelementen des Wirtschaftsordnungsrechts vgl. P.-Chr. Müller-Graff, Gesellschaftsrecht im

Kontext und in der Dynamik des europäischen Wirtschaftsordnungsrechts, in: Müller-Graff/Teichmann (Hrsg.),Europäisches Gesellschaftsrecht auf neuen Wegen, 2010, S. 9, 16 f.

77 So im Ergebnis auch H. Parpart, a.a.O. (Fn. 7), S. 292 ff., 334. Im Übrigen belegen Art. 101, 102 AEUV dieMöglichkeit der Bindung Privater an Primärrecht.

78 So etwa in EuGH (Dansk Supermarked), Rs. 58/80, Slg. 1981, 181.79 EuGH, Rs. C-415/93, a.a.O. (Fn. 70), Rn. 138.80 EuGH, Rs. C-309/99, Slg. 2002, I-1577, Rn. 119 ff. (Wouters); s. auch EuGH, Rs.176/96 (Lehtonen), Slg. 2000,

I-2681.

Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten EuR – Heft 1 – 2014 13

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Vereinbarung die Bewertung auf Grund der gleichfalls unmittelbar anwendbarenspeziellen Freistellungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV zu berücksich-tigen.81

Die rechtlichen Konsequenzen der Anwendbarkeit der Grundfreiheitenauf das Verhalten Privater

Nimmt man daher die Qualität der Beschränkungsverbote als allgemein anwendbareKonstitutivbestimmungen des Binnenmarktes zum archimedischen Punkt, so er-scheinen die Diskussionen der einzelnen überkommenen Problemstellungen teils inneuem Licht. Dies soll für sechs Fragenfelder durchgemustert werden: den Kreisder betroffenen Grundfreiheiten (I), die Beschränkungsformen durch Privatverhal-ten (II), die Beschränkungsinhalte (III), die Adressatenkategorien Privater (IV), diedogmatische Trennlinie von Tatbestand und Rechtfertigung (V) sowie die Rechts-folgen der Verletzung (VI).

Der Kreis der betroffenen Beschränkungsverbote

Erstens geht es um den Kreis der betroffenen Verbote. Primäre Folge des Verständ-nisses der Allgemeinverbindlichkeit der Verbote ist, dass keine Gruppe der Grund-freiheiten für eine Bindung Privater von vornherein ausscheidet, also weder Fak-torfreiheiten noch Produktfreiheiten, weder Unionsbürgerfreiheiten noch allgemei-ne Freiheiten.

Die Differenzierung nach der Natur der Beschränkungen

Die Frage nach dem Kreis der betroffenen Grundfreiheiten ist bei dem aufgezeigtenAnsatz mithin nicht, ob eine Bindung überhaupt besteht, sondern welche Variantender Beschränkungsverbote aus der Natur der Sache Private nicht adressieren kön-nen. Dies sind in der Warenverkehrsfreiheit die schon genannten Handlungsformender Einfuhr- und Ausfuhrzölle, Abgaben gleicher Wirkung und mengenmäßigenEinfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen. Nicht von Art. 28 AEUV erfasst sind mithindie Mauterhebung für private Land- oder Flusswege oder Schutzgeldforderungenprivater Banden für eine Passage. Hingegen sind alle anderen Verbote im Primär-recht der Grundfreiheiten nicht auf hoheitliche Beschränkungsformen begrenzt.

B.

I.

1.

81 So einleuchtend W.-H. Roth, in: Festschrift für Dieter Medicus, a.a.O. (Fn. 20) S. 401; s. dazu auch EuGH,Rs. C-415/93, a.a.O. (Fn. 70), Rn. 97 ff.

14 EuR – Heft 1 – 2014 Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten

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Die Entwicklung der Rechtsprechung

Tatsächlich hat die Rechtsprechung in dem ihr gemäßen fallweisen Tempo bereitseinen Gutteil des konzeptionell derart vorgezeichneten Weges zurückgelegt.82

Am relevantesten erwiesen sich hierbei Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizü-gigkeit, die in der Tat breitflächig gefährdet sein könnte, wären private Kollektiv-vereinbarungen wie Tarifverträge oder Satzungen von Verbänden insoweit nichtgebunden. Daher leuchtet die Rechtsprechung des EuGH zu den Sportverbändenseit „Walrave“83 und „Doná“84 bis „Bosman“85 und „Lehtonen“86 unschwer ein.Hinsichtlich des Verbots von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehö-rigkeit war für Tarifverträge, sonstige Kollektivvereinbarungen und Einzelarbeits-verträge bereits sekundärrechtlich durch Art. 7 Abs. 4 VO 1612/68/EWG die Nich-tigkeit diskriminierender Bestimmungen ausgesprochen. Dies ist aber unabhängigdavon bereits primärrechtlich sinnfällig, so dass die genannten Urteile und – imVorfeld eines möglichen Arbeitsvertrages – auch die jeweils einen Einzelakteuradressierenden Entscheidungen „Angonese“87 und „Raccanelli“88 konsequent sind,um die Arbeitsmärkte im gemeinsamen binnenmarktlichen Wirtschaftsraum trans-national durch Beseitigung von Schlechterstellungen auf Grund der Staatsangehö-rigkeit zu öffnen.Gleichermaßen gefährdet sein können die Dienstleistungserbringung und die Nie-derlassung. Folgerichtig sind die genannten Urteile daher auch insoweit und, überrechtlich bindende Maßnahmen hinausgreifend, auch die Urteile „Viking“89 und„Laval“90. Dies gilt auch für den Warenverkehr, zu dem der Judikatur bislang Paral-lelfälle fehlen wie der bereits in der von der Groeben-Kommentierung von 1991imaginierte Konflikt.91 Immerhin hat aber die Entziehung bzw. Verweigerung derVerlängerung eines Zertifikats für das Kupferfitting eines italienischen Herstellersdurch die private Normungs- und Zertifizierungsvereinigung DVGW den EuGHnunmehr deren Bindung an die Warenverkehrsfreiheit mit einer Begründung beja-hen lassen,92 die nicht auf die staatliche Verantwortung für die Vermutungsregelung(Entsprechung zu den Regeln der Technik) abstellt. Sobald im Bereich des Kapi-talverkehrs passfähige Fälle die Gerichte erreichen, ist es ein Gebot systemrationaler

2.

82 Unerklärlich ist daher die kürzliche Aussage von P. M. Huber, a.a.O. (Fn. 28), der EuGH verneine „im Bereichder Grundfreiheiten eine unmittelbare Drittwirkung“.

83 EuGH, Rs. 36/74, a.a.O. (Fn. 51), Rn. 17 f.84 EuGH, Rs. 13/76 (Doná), Slg.1976, 1333.85 EuGH, Rs. 415/93, a.a.O. (Fn. 70).86 EuGH, Rs. 176/96, a.a.O. (Fn. 80).87 EuGH, Rs. 281/98, a.a.O. (Fn. 72).88 EuGH, Rs. 94/07, a.a.O. (Fn. 30).89 EuGH, Rs. C-438/05, a.a.O. (Fn. 47).90 EuGH, Rs. C-341/05, a.a.O. (Fn. 73).91 Vgl. P.-Chr. Müller-Graff, in: von der Groeben/JThiesing/Ehlermann (Hrsg.), a.a.O. (Fn. 17); gedacht war hier-

bei an die Anweisung einer Hafenarbeiter-Gewerkschaft an ihre Mitglieder, ein Schiff mit Gütern aus einemanderen Mitgliedstaat nicht zu entladen, um damit ein Solidaritätszeichen zur Sicherung heimischer Arbeits-plätze zu geben.

92 EuGH, Rs. 171/11, a.a.O. (Fn. 33).

Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten EuR – Heft 1 – 2014 15

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Folgerichtigkeit, auch hier die Bindung Privater auszusprechen;93 dies ist beispiels-weise, unbeschadet von Rechtfertigungsmöglichkeiten, denkbar bei privaten Ab-wehrmaßnahmen gegen eine Unternehmensübernahme,94 bei einer Vinkulations-klausel in einer Satzung, die die Veräußerung von Anteilen an Auslandsinvestorenuntersagt, oder bei Bonitätsherabsetzungen durch Ratingagenturen, die Finanzpa-pieren ihre Tauglichkeit zur Kreditsicherung in Cross-Border-Leasing-Verträgennehmen.

Die erfassten Beschränkungsformen

Das zweite Fragenfeld betrifft die Beschränkungsformen durch Privatverhalten.Die bei staatlich ausgelösten Beschränkungen entwickelte Zweiteilung zwischenrechtlich bindenden (z.B. durch Gesetz) und nicht-bindenden Maßnahmen95 ist auchhier passfähig.

Privatautonome Regelungen

Im Vordergrund der Judikatur standen anfangs verbindliche privatautonome Rege-lungen: so die in der Entscheidung „Walrave“ so benannte „kollektive Regelung imArbeits- und Dienstleistungsbereich“96, also vor allem Verbandsregeln (namentlichStaatsangehörigkeitserfordernisse97 und Ablöseverpflichtungen beim Vereins-wechsel98) und Verträge zwischen Kollektivorganisationen (namentlich Tarifver-träge99). Grundsätzlich ist daher kein Regelwerk einer Privatorganisation per seausgenommen. Dies betrifft neben Sportverbänden100, Gewerkschaften101 und tech-nischen Normungsvereinen102 beispielsweise auch Verbände von Krankenhäu-sern103, von Berufsgruppen104 und von Marktsektoren105, aber auch Kirchen und

II.

1.

93 Vgl. zu privaten Abwehrmaßnahmen von Unternehmensübernahmen die Beispiele von F. Kainer, a.a.O.(Fn. 8), S. 346 ff; s. auch M. Nettesheim, Unternehmensübernahmen durch Staatsfonds: Europarechtliche Vor-gaben und Schranken, ZHR 172 (2008), 729, 744 f.; zu Satzungsgestaltungen P.-Chr. Müller-Graff, Gesell-schaftsrecht als Teil des sich entwickelnden europäischen Wirtschaftsordnungsrechts, in: Müller-Graff/Teich-mann (Hrsg.), Europäisches Gesellschaftsrecht auf neuen Wegen, 2010, S. 24.

94 Vgl. F. Kainer, a.a.O. (Fn. 8), S. 346 ff.95 So namentlich eine staatlich zurechenbare Werbekampagne; vgl. EuGH, Rs. C-249/81 (Buy Irish), Slg. 1982,

4005.96 EuGH, Rs. 36/74, a.a.O. (Fn. 51).97 Ebda.98 EuGH, Rs. 415/93, a.a.O. (Fn. 70); s. auch EuGH, Rs. 325/08, a.a.O. (Fn. 31).99 EuGH. Rs. C-271/06, Urteil v. 15.7.2010; dazu W. Frenz, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten im

Arbeitsrecht, RdA 2011,199 ff.; sekundärrechtlich s. schon Art. 7 VO 1612/68/EWG.100 EuGH, Rs. 36/74, a.a.O. (Fn. 51); EuGH, Rs.415/93, a.a.O. (Fn. 70); EuGH, Rs. 176/96, a.a.O. (Fn. 80); EuGH,

Rs.C-51/96 und C-191/97 (Deliège), Slg. 2000, I-2549; EuGH, Rs.325/08, a.a.O. (Fn. 31).101 EuGH, Rs.C-438/05, (Fn. 47); EuGH, Rs.C-341/05, a.a.O. (Fn. 73).102 EuGH, Rs.C-171/11, a.a.O. (Fn. 33).103 EuGH, Rs. C-411/98 (Ferlini), Slg. 2000, I-8081.104 EuGH, Rs. C-309/99, a.a.O. (Fn. 80); s. auch EuGH, Rs. 246/80 (Broekmeulen), Slg. 1981, 2311 Tz. 18 ff.105 Zu einer staatlich-privaten Mischform vgl. Entscheidung 76/684/EWG der Kommission v. 26.7.1976, JZ 1977,

645 ff.; dazu P.-Chr. Müller-Graff, Intermediäre Marktverbände im Wettbewerbs- und Warenverkehrsrecht desEWG-Vertrages, JZ 1977, 632 ff.

16 EuR – Heft 1 – 2014 Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten

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Gesellschaften106. Erfasst sind auch einzelne Vertragsklauseln wie diskriminierendeVersicherungsbedingungen107 oder ein mietvertragliches Verbot, eine Parabolan-tenne zum Empfang des Programms eines Senders eines anderen Mitgliedstaatesanzubringen.108

Faktisches Verhalten

Beschränkungen privater Akteure können auch rein faktischem Verhalten entsprin-gen. Die Sachverhalte der aufwachsenden Judikatur spiegeln dies wider: Gewalt-maßnahmen (wie die Blockade der Einfuhr spanischer Erdbeeren nach Frankreichdurch private Aktivisten109); Boykottaufrufe und Boykottbefolgung (wie interna-tionale Gewerkschaftsmaßnahmen gegen eine Reederei, die ein Schiff von Finnlandin ein kostengünstigeres Land ausflaggen will110); Blockaden von Baustellen zurErzwingung unklarer Verhandlungen (wie in Schweden gegen die lettische FirmaLaval111); Demonstrationen, die den Straßenverkehr stilllegen (wie eine Umwelt-manifestation auf der Brennerautobahn,112 die allerdings von der Tiroler Landesre-gierung genehmigt war, so dass die Verantwortung für diese Beschränkung dieserzuzurechnen war); Regulierungsusancen einer Versicherung;113 Bewerbungsbedin-gungen und Einstellungspraktiken durch einen Arbeitgeber (wie das Verlangeneiner bestimmten Form des Zweisprachigkeitsnachweises durch eine SüdtirolerBank114 oder eine personelle Förderentscheidung durch einen wissenschaftlichene.V.115).

Die erfassten Beschränkungsinhalte

Der dritte Fragenkreis richtet sich auf die erfassten Beschränkungsinhalte privaterMaßnahmen. Auch hinsichtlich dieser geht es im Ausgangspunkt nicht anders alsbei staatlichen Maßnahmen darum, inwieweit die Schlechterbehandlung aus Grün-den der Staatsangehörigkeit (1) und differenzierungslose Beschränkungen (2) tat-bestandsrelevant sind.

2.

III.

106 S. oben Fn. 92 und 93; dies kann gegebenenfalls auch Satzungsgestaltungen treffen, ungeachtet der Zurück-haltung des EuGH in Rs.C-112/05 (VW-Gesetz), Slg. 2007, I-8995, Tz. 40, 45.

107 EuGH, Rs. 251/83 (Haug-Adrion), Slg. 1984, 4277, Tz. 12 ff.108 BGH, NJW 2006, 1062, 1064; dazu W.-H. Roth, in: Festschrift für Dieter Medicus, a.a.O. (Fn. 20), S. 395, 407.109 EuGH, Rs. C-265/95 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997, I-6959.110 EuGH, Rs. C-438/05, a.a.O. (Fn. 47).111 EuGH, Rs. C-341/05, a.a.O. (Fn. 73).112 EuGH, Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, I-5659.113 EuGH, Rs. 90/76 (van Ameyde), Slg. 1977, 1091.114 EuGH, Rs. C-281/98, a.a.O. (Fn. 72).115 EuGH, Rs. C-94/07, a.a.O. (Fn. 30).

Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten EuR – Heft 1 – 2014 17

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Schlechterbehandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit undwettbewerbsstimmiges Präferenzverhalten

Bei den direkten und indirekten Schlechterbehandlungen aus Gründen der Staats-angehörigkeit durch Private116 ergibt sich die Frage nach der Verbotseingrenzungwegen der privatautonomen Priorisierungs- und Präferenzfreiheit der Marktteil-nehmer.Der praktischen Phantasie beunruhigender Fragen sind insoweit keine Grenzen ge-setzt. Sollte dem Betreiber eines bayrischen Biergartens eine Einstellungspolitikuntersagt sein, die für sein Geschäftsmodell ausschließlich auf Personal setzt, dasden ortsüblichen Dialekt authentisch beherrscht und damit in der Regel mittelbarnach Staatsangehörigkeit differenziert? Steht die Dienstleistungsfreiheit der Praxiseines Unternehmers entgegen, aus innerer Überzeugung von der Solidität schwäbi-scher Handwerksbetriebe nur diese mit Werkaufträgen zu betrauen? Macht es hier-bei einen Unterschied, wenn öffentliche Fördermechanismen genutzt werden? Istes einem Fluggast verwehrt, im Interesse seiner Sicherheit Buchungen allein bei derLufthansa vorzunehmen? Darf ein deutscher Weinhändler sich auf französischeRotweine spezialisieren? Ist ein schwedischer Arbeitnehmer gehindert, ihm eine ineinem südeuropäischen Mitgliedstaat angebotene Stelle abzulehnen? Die Lösungliegt auf der Hand. In diesen Fällen geht es jeweils um wirtschaftliche Präferenzent-scheidungen von Marktteilnehmern. Sie sind das Salz des Wettbewerbs in der freienKoordination freier Entscheidungen. Sie sind Ziel und Kern der Konstitutivnormender wettbewerbsverfassten Marktwirtschaft des Binnenmarkts, mithin systemim-manent. Dies gilt grundsätzlich unabhängig davon, ob der Marktteilnehmer Ver-braucher oder Unternehmer,117 Anbieter oder Nachfrager ist. Einschränkungen die-ser Präferenzfreiheit ergeben sich erst im Rahmen des Kartellrechts für Unterneh-men, des weiteren im Hinblick auf das im Unionsrecht fundamentale Diskriminie-rungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit für Arbeitgeber118 (mit allen Un-schärfen des Kriteriums der „mittelbaren Diskriminierung“) und im Rahmen desöffentlichen Vergaberechts für Auftraggeber.119

Den zugrunde liegenden Kerngedanken der Binnenmarktgemäßheit der wettbe-werblichen Optionenwahl treffen die Begründungen zur grundsätzlichen Verbots-einschränkung für die am Leistungsaustausch Beteiligten120 oder des marktkonfor-men Präferenzverhaltens121. Allerdings sind von dieser marktkonzeptionellen Be-wertung Diskriminierungen von Arbeitnehmern auszunehmen, die aus Gründen derStaatsangehörigkeit erfolgen, da dem (im Übrigen nicht den Wettbewerbsregeln

1.

116 So in EuGH, Rs. 281/98, a.a.O. (Fn. 72); und möglicherweise in EuGH, Rs.94/07, a.a.O. (Fn. 30).117 So zutreffend W.-H. Roth, in: Festschrift für Dieter Medicus, a.a.O. (Fn. 20), S. 401.118 W.-H. Roth, in: Festschrift für Dieter Medicus, a.a.O. (Fn. 20), S. 408, 411.119 Zu dem auch juristische Personen des Privatrechts erfassenden Begriff des öffentlichen Auftraggebers vgl.

§ 98 GWB.120 So W.-H. Roth, in: Festschrift für Dieter Medicus, a.a.O. (Fn. 20), S. 404 f.121 So G. Bachmann, a.a.O. (Fn. 20), S. 474.

18 EuR – Heft 1 – 2014 Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten

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unterworfenen122) Arbeitsmarkt eine wichtige sozialintegrative Bedeutung für dieUnion insgesamt zukommt und er eine besondere Struktur aufweist. In der Dog-matik der Grundfreiheiten siedelt die Lokation des wettbewerbsimmanenten Ver-haltens in der noch zu behandelnden Abgrenzung zwischen Adressatenschaft, Be-schränkungstatbestand und Rechtfertigung (s. unten V).Anders stellt sich die Lage jedoch dar, wenn Private nicht durch ihr eigenes Trans-aktionsverhalten andere behindern, sondern das Transaktionsverhalten anderer mitDritten behindern, sei es durch nach Staatsangehörigkeit differenzierende Regeln(beispielsweise durch Ausländerklauseln für Vereinsmannschaften123), sei es durchnicht danach differenzierende Regeln (siehe unter 2).

Nach Staatsangehörigkeit differenzierungsfreie Beschränkungen

Schwierig scheint die Erstreckung des Verbots auf Beschränkungen, die unter demGesichtspunkt der Staatsangehörigkeit (auch bei Berücksichtigung der unklarenmittelbaren Diskriminierungsdimension) differenzierungsfrei sind, doch ist dieswegen des Ziels des binnenmarktlich offenen Marktzugangs nicht schon grundsätz-lich auszuschließen. Im Licht des Binnenmarktkonzepts zutreffend wurde dahervom EuGH die unterschiedslos anwendbare UEFA-Regel der Ablösepflicht beimVereinswechsel dem Beschränkungsverbot unterworfen124 und ebenso die Zertifi-zierungspraxis der DVGW, die einen Ozontest und einen 110° Celsius-3.000-Stun-den-Test für Kupferfittings vorsieht und über die Einbeziehung von Subprüfernentscheidet125 (wobei die Rechtfertigungsfrage nicht gestellt wurde126). Bei dennach der Staatsangehörigkeit differenzierungsfreien Behinderungen stellt sich aberumso markanter die Frage nach der Verbotseingrenzung für Transaktionsbeteiligte.

Spürbarkeit und „Keck“-Formel?

Diese Frage lässt sich weder mit dem Spürbarkeitsgedanken noch mit der so ge-nannten „Keck“-Formel lösen.Die Anwendung des Prinzips „de minimis non curat praetor“, wie es beim Kartell-verbot praktiziert wird, ist zwar auch bei den grundfreiheitlichen Beschränkungs-verboten sinnfällig, wenn Private gebunden sind127 (anders als die völkervertraglichund rechtsstaatlich verpflichtete öffentliche Hand), wobei als Maßstab nicht dieAuswirkung im Einzelfall, sondern die typisiert gedachte Auswirkung des genera-lisiert gedachten Verhaltens auf die transnationale Marktoffenheit im Binnenmarktqualifiziert (z.B. die typisiert gedachte Auswirkung des Verlangens eines bestimm-

2.

a)

122 Darauf weist W.-H. Roth, in Festschrift für Dieter Medicus a.a.O. (Fn. 20), S. 408 hin.123 Z.B. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 119.124 EuGH, Rs. C-415/93, a.a.O. (Fn. 70) Rn. 104; s. auch EuGH, Rs.C- 325/08, a.a.O. (Fn. 31).125 EuGH, Rs. C-171/11, a.a.O. (Fn. 33).126 Vgl. aber die von GAin Trstjenak aufgeworfenen Fragen, verbunden mit der Anregung zu einer gegebenenfalls

weiteren Vorlage, a.a.O. (Fn. 34).127 Zutreffend G. Bachmann, a.a.O. (Fn. 20), S. 469 f.

Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten EuR – Heft 1 – 2014 19

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ten Dokuments durch ein Unternehmen im Bewerbungsverfahren um eine Stelle aufdie Arbeitnehmerfreizügigkeit im Binnenmarkt). Aber mit dem Spürbarkeitskrite-rium wird nur eine Beschränkung nicht sanktioniert, die logisch gleichwohl vor-ausgesetzt wird (sofern es nicht schon an dieser selbst fehlt). Eine Beschränkungwird für das Handeln einzelner Privatrechtssubjekte (im Unterschied zu privatemKollektivverhalten) im Schrifttum vereinzelt generell verneint,128 aber die Wirk-kraft eines einzelnen Privatrechtssubjekts kann sich im konkreten Kontext unter-schiedlich darstellen. Gleiches gilt für den Vorschlag, die nur einmalige Beschrän-kung auszunehmen.129

Keine Lösung bietet der Vorschlag Gantens, die in der Warenverkehrsfreiheit zurEingrenzung der weiten „Dassonville“-Definition der Maßnahmen gleicher Wir-kung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen entwickelte „Keck“-Formel130

auf das Verhalten Privater weiterzuspinnen.131 Diese war von Anfang an wegen derUnbestimmtheit der „bestimmten“ Verkaufsmodalitäten und der darin liegendenBegründungsverschleierung verunglückt132. Ihre Transferfähigkeit auf andereGrundfreiheiten blieb umstritten. In der Praxis verblasst sie zu Recht gegenüber demKriterium der Attraktivitätsverminderung des Marktzugangs133 und dem „Drei-Stu-fen“-Test.134

Transaktionsbeteiligte und Dritte

Weiterführend ist demgegenüber auch hier der Wettbewerbsaspekt des Binnen-marktes. Sind bereits selektierende Präferenzentscheidungen von Marktteilnehmernwettbewerbsimmanent, muss dies erst recht für ein Verhalten gelten, mit dem (di-rekte oder indirekte) Differenzierungen nach Staatsangehörigkeit oder Herkunftnicht verbunden sind. Handelt es sich hingegen um Beschränkungen, die nicht aufdem Präferenzverhalten der unmittelbaren Transaktionsbeteiligten selbst beruhen,sondern umgekehrt auf deren Präferenzverhalten eingrenzend, behindernd oder er-schwerend einwirken oder einzuwirken geeignet sind, sind sie grundsätzlich ver-botsrelevant. Tatbestandserfasst sind mithin Maßnahmen Dritter, die die Marktop-tionen anderer beschränken. Dies ist die trennscharfe Kategorie des Dritten, die sehrtreffend von Roth herausgestellt wird135. Daraus folgt, pointiert, für differenzie-rungsloses Verhalten die Begrenzung der direkten „Drittwirkung“ auf Dritte.

b)

128 So G. Wagner, a.a.O. (Fn. 20), S. 63 f.129 So vorgeschlagen von W.-H. Roth, in: Festschrift für Dieter Medicus, a.a.O. (Fn. 20), S. 413.130 EuGH, Rs.C-267/98 und C-268/91 (Keck und Mithouard), Slg. 1993, I-6007, Rn. 15.131 T. O. Ganten, a.a.O. (Fn. 4), S. 136 ff.132 Vgl. P.-Chr. Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV. Kommentar, 6. Aufl., 2003,

Art. 28 EG Rdz. 247 ff.133 Z.B. namentlich im Bereich der Dienstleistungsfreiheit EuGH, Rs.C-55/94 (Gebhard), Slg.1995, I-4165,

Rn. 37; EuGH, Rs.C-3/95 (Reisebüro Broede), Slg. 1995, I-6511, Rn. 25; st. Rspr.; in jüngerer Zeit z.B. EuGH,Rs.C-42/07 (Liga Portuguesa), Slg. 2009, I-7633, Rn. 51.

134 Vgl. EuGH, Rs.C-110/05 (Kommission/Italien), Slg. 2009, I-519, Rn. 33 ff., 49 ff., 58; EuGH, Rs. C-142/05(Mickelsson), Slg. 2009, I-4273, Rn. 24 (Mickelsson); zu dieser Entwicklung R. Sack, EWS 2012, S. 265,276 ff.; A. Brigola, EuZW 2012, S. 248, 252 ff.

135 W.-H. Roth, in: Festschrift für Dieter Medicus, a.a.O. (Fn. 20), S. 406, 412.

20 EuR – Heft 1 – 2014 Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten

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Die Adressatenkategorien Privater bei den Beschränkungsverboten

Das vierte Problemterrain betrifft die Adressatenkategorien Privater bei den Be-schränkungsverboten. Die überkommene Frage lautet, ob die Bindung auf Verbändezu beschränken ist, die eine öffentliche, quasi-öffentliche oder intermediäre Rege-lungsfunktion ausüben.136

Kollektivorganisationen

Dieser Eingrenzungsgedanke entstammt dem Sachverhalt der „Walrave“-Entschei-dung, in welcher der EuGH unter dem Gesichtspunkt des Diskriminierungsverbotsdie Satzung eines internationalen Radsportverbands den Maßnahmen staatlicherBehörden gleichstellte.137 Er wurde im Schrifttum teils als Grenzlinie betrach-tet138 oder als Bezeichnung des Regelfalls139. GAin Trstjenak versteht ihn in ihrenSchlussanträgen in der Rechtssache „Fra.bo/DVGW“ zu Recht als etablierte Kon-stellation.140 Freiverkehrsbehinderungen durch Kollektivorganisationen können in-tern gegenüber ihren Mitgliedern (z.B. Satzungen) und extern gegenüber Dritten(z.B. Boykott) erfolgen.

Einzelne

Da aber bereits die Behinderung von Dritten in deren Präferenzverhalten beschrän-kend wirken kann, kann es unter dem Gesichtspunkt des von den Grundfreiheitenangestrebten behinderungsfreien Verkehrs aller Produktionsfaktoren und Produkteim Binnenmarkt keinen grundsätzlichen Unterschied machen, ob eine Beschrän-kung aus einer Kollektivregelung oder einem Einzelverhalten folgt.141 Allerdingssind Kollektivregeln, welche die Handlungsoptionen von Marktteilnehmern be-schränken, per se nicht stimmig zum Leitbild eines wirtschaftsordnungsrechtlichenSystems der Wettbewerbsfreiheit, wohingegen das Präferenzverhalten einzelnerMarktteilnehmer regelmäßig marktgemäß ist (s. oben III).

IV.

1.

2.

136 Vgl. dazu W.-H. Roth, in: Festschrift für Dieter Medicus, a.a.O. (Fn. 20), S. 402; G. Bachmann, a.a.O. (Fn. 20),S. 466, K. Vieweg/A. Röthel, a.a.O. (Fn. 20), 22.

137 EuGH, Rs. 36/74, a.a.O. (Fn. 51).138 So früher W.-H. Roth, in; Festschrift für Ulrich Everling, a.a.O. (Fn. 20).139 P.-Chr. Müller-Graff, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag,

4. Aufl., 1991, Art. 30 Rdz. 128.140 A.a.O. (Fn. 34).141 In diese Richtung im Licht des zu entscheidenden Sachverhalts der in dieser Allgemeinheit jedoch vereinzelt

gebliebene Leitsatz 3 von EuGH, Rs. 58/80 (Dansk Supermarked), Slg. 1981, 181.

Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten EuR – Heft 1 – 2014 21

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Die inhaltliche und dogmatische Berücksichtigung der (behindernden)Privatautonomie: Schutzpflichtenlösung, tatbestandsimmanenteRestriktion des Beschränkungsverbots oder Rechtfertigung?

Den fünften Fragenkreis bildet die dogmatische Eintaktung der (behindernden) Pri-vatautonomie im Recht der Grundfreiheiten: Schutzpflichtenlösung, tatbestandsim-manente Restriktion oder Rechtfertigung. In dieser Frage kulminiert die Antinomiezwischen Marktzugangsfreiheit und Präferenzentscheidung, zwischen Grundfrei-heit und grundrechtsunterlegter Privatautonomie.

Schutzpflichtlösung als Alternative?

Stimmen im Schrifttum wollen der Frage mittels Rückgriff auf die Schutzpflicht-lösung entweder ausweichen oder der horizontalen Direktwirkung eine „ultima ra-tio“-Rolle zuweisen.142 Damit wird die Pflicht eines Mitgliedstaats in Stellung ge-bracht, in seinem Hoheitsgebiet Grundfreiheiten gegen Beschränkungen Privater zugewährleisten.143 Bachmann vermutet „autonomiefreundlichere Ergebnisse“ in derPraxis: erstens auf Grund einer „rechtspsychologischen“ Annahme bei Rechtsan-wendern,144 die freilich spekulativ ist, und zweitens wegen der „Gesetzesmediati-sierung“, weil die Schutzverantwortung nicht beim Richter, sondern beim Gesetz-geber liege. Abgesehen davon, dass Schutzpflichten jede Emanation öffentlicherHoheit treffen können,145 ist die Schutzpflichtenlösung bei Eingrenzung auf denGesetzgeber weniger effektiv. Im Falle fehlenden oder nicht auslegungsfähigen na-tionalen Rechts wäre der Konflikt stets zu Lasten des transnationalen Marktakteursentschieden.146 Zustimmungswürdig hat der EuGH in der Entscheidung „Viking“die Schutzpflicht nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zur horizontalen Di-rektwirkung angesehen.147

V.

1.

142 So G. Bachmann, a.a.O. (Fn. 20), S. 473 ff.143 Vgl. etwa K. Riesenhuber, a.a.O. (Fn. 16), S. 100; T. Körber, a.a.O. (Fn. 9), S. 708 ff., 804 ff.; G. Bachmann,

a.a.O. (Fn. 20), 471 ff.; s. auch R. Streinz/St. Leible, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, EuZW2000, S. 459 ff.; M. Burgi, Mitgliedstaatliche Garantiepflichten statt unmittelbarer Drittwirkung der Grund-freiheiten, EWS 1999, S. 327 ff.

144 A.a.O. (Fn. 20), 472.145 Bei den Grundrechten des Grundgesetzes wegen Art. 1 Abs. 3 GG; bei der Warenverkehrsfreiheit beispiels-

weise im „Erdbeeren“-Fall die (wegsehende) Polizei, EuGH, Rs. C-265/95, a.a.O. (Fn. 109).146 Insbesondere auch bei Diskriminierungen in Einstellungsfällen.147 Vgl. EuGH, Rs. C-438/05, a.a.O. (Fn. 47) Tz. 62; W.-H. Roth, in: Festschrift für Dieter Medicus, a.a.O

(Fn. 20), S. 402, 410; P.-Chr. Müller-Graff, in: Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., 2012, Art. 43EGV Rdz. 38.

22 EuR – Heft 1 – 2014 Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten

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Tatbestandsimmanente Reduktion des Beschränkungsverbots beiwettbewerbsimmanentem Präferenzverhalten undrechtfertigungsbedürftiges Verhalten

Die Frage, ob der die jeweilige Privatautonomie (des Behindernden und des Be-hinderten) betreffende Gegensatz zwischen Grundfreiheit und Grundrecht im Tat-bestand oder in der Rechtfertigung zu behandeln ist, erinnert an den Streit um diedogmatische Zuordnung der „Cassis“-Begrenzung der „Dassonville“-Definitionder Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkungzum Verbotstatbestand148 oder den bekannten berufsständischen Streit um die dog-matische Einstufung des ärztlichen Heileingriffs als tatbestandliche Körperverlet-zung in § 823 Abs. 1 BGB. Solange sich daraus keine unterschiedliche Rechtsfolgeergibt, mag sie auf sich beruhen. Vorzugswürdig ist die Berücksichtigung im Rah-men der teleologischen Auslegung des (normativen) Beschränkungsbegriffs desVerbotstatbestands.Der in der Festschrift für Steinberger149 vorgestellte Lösungsvorschlag beinhaltetein dreiteiliges Prüfungsprogramm, das sich im Licht des zwischenzeitlichen Gangsder Diskussion heute so formulieren lässt: Erstens ist die Frage der faktischen oderfaktisch möglichen Marktzugangsbeschränkung eines privaten Verhaltens zu klä-ren. Zweitens ist dessen Vereinbarkeit mit den Marktgrundfreiheiten zu vermuten,soweit es eine wettbewerbsimmanente Präferenzentscheidung bzw. der Ausdruckder grundrechtlich gewährleisteten Privatautonomie ist (mit der möglichen dogma-tischen Konsequenz, den Beschränkungsbegriff normativ zu restringieren150), wo-bei, wenn diese Vermutung nicht schon dem Marktprinzip entnommen wird, son-dern den Grundrechten, eine noch zu klärende Drittwirkung der Grundrechte aufden Inhaber der Verkehrsfreiheit vorausgesetzt wird. Drittens ist, falls die Vermu-tung nicht greift, die Verhältnismäßigkeit des Verhaltens für ein berechtigtes pri-vates Interesse nach den Kriterien der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnis-mäßigkeit zu überprüfen (statt methodisch inhaltsarme Überlegungen zur prakti-schen Konkordanz anzustellen151). Zu derart überprüfungsbedürftigen Verhaltens-weisen zählen Gewaltmaßnahmen, Blockaden, Demonstrationen, Boykottaufrufe,Satzungsbindungen und anderes nicht wettbewerbsimmanentes und daher erklä-rungsbedürftiges Verhalten (wie beispielsweise die Forderung des Nachweises einerFähigkeit allein durch ein bestimmtes Dokument unter Ausklammerung anderergleichwertiger Nachweise152). Im Fall der neuen Tests der DVGW für die Kupfer-

2.

148 Vgl. dazu P.-Chr. Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV. Kommentar, a.a.O.(Fn. 20), Art. 28 EG Rdz. 190.

149 A.a.O. (Fn. 20).150 So der Sache nach auch W.-H. Roth, in: Festschrift für Dieter Medicus, a.a.O. (Fn. 20), S. 417.151 Das unionsrechtliche Prüfungsschema ergibt sich daraus, dass die Zuständigkeit des EuGH in Fragen der

Grundfreiheitenauslegung von den Grundfreiheiten eröffnet wird, nicht von den Grundrechten, worauf derPräsident des EuGH, V. Skouris, zu Recht hinweist: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten imeuropäischen Gemeinschaftsrecht, DÖV 2006, S. 89, 95.

152 EuGH, Rs. C-281/98, a.a.O. (Fn. 72).

Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten EuR – Heft 1 – 2014 23

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fittings153 muss daher zuallererst ein derartiges berechtigtes Interesse prästiert wer-den.154

Rechtsfolgen des Verbotsverstoßes

Schließlich betrifft eine sechste Fragengruppe die Rechtsfolgen des Verbotsver-stoßes durch Private.155 Ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Private oder einVerfahren wie bei einem Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln ist nicht vorgese-hen. Im Fall der Behinderung der spanischen Viktualieneinfuhr durch private Ak-tivisten wandte sich die Kommission daher an Frankreich wegen unterlassener Ge-währleistung freien Geleits der Früchte an südfranzösische Verbraucher (Schutz-pflichtverletzung),156 ohne dass deshalb aber ein tatbestandlicher Verbotsverstoßder privaten Aktivisten fehlt. Hinsichtlich der Rechtsfolgen für behindernde Privatebeschränkt sich der EuGH auf rechtstechnisch offene Wendungen (Stichworte: „be-achten“, „entgegenstehen“) und überlässt die Umsetzung sinnfällig der einzelstaat-lichen Ausprägung des rechtlichen Gewaltmonopols157. Im Einzelnen ist wiederumnach der Beschränkungstechnik zu unterscheiden.

Rechtsfolgen bei privatautonomen Regelungen

Für privatautonome Regelungen folgt aus dem Beschränkungsverbot unionsrecht-lich nur allgemein deren Unwirksamkeit158. In Deutschland ist ein Verstoß gegendas Beschränkungsverbot als Verletzung eines gesetzlichen Verbots im Sinne des§ 134 BGB mit Nichtigkeitsfolge anzusehen. Ist dadurch Schaden entstanden, kannwegen der Kehrseite des Verbots als subjektives Recht ein deliktischer Anspruchwegen Verletzung eines Schutzgesetzes nach § 823 Abs. 2 BGB begründet sein (sowie früher bei Verstoß gegen Art. 81, 82 EWG; jetzt § 33 Abs. 3 GWB). System-rational im Unionsrecht ist die Fortentwicklung der judikativen „Franco-vich“159/“Courage“160-Linie zu einer grundsätzlichen unionsrechtlichen Ersatz-pflicht Privater wegen Verstoßes gegen das Beschränkungsverbot.161

Rechtsfolgen bei faktischem Verhalten

Bei nur faktischem Verhalten sind verschiedene Rechtsfolgen denkbar, die ebensowie bei der Verletzung der Wettbewerbsregeln solange auf nationales Recht zu

VI.

1.

2.

153 A.a.O. (Fn. 33).154 So zutreffend GAin Trstjenak, a.a.O. (Fn. 34).155 Vgl. dazu schon D. Schaefer, a.a.O. (Fn. 21), S. 245 ff.; T. O. Ganten, a.a.O. (Fn. 4), S. 222 ff.156 EuGH, Rs. 265/95, a.a.O. (Fn. 109).157 Vgl. ähnlich W.-H. Roth, a.a.O. (Fn. 20), S. 419 ff.158 So mit vorsichtiger Formulierung EuGH, Rs. 36/74, a.a.O. (Fn. 51) Tz. 25: Bei der Prüfung der Gültigkeit

„berücksichtigen“.159 EuGH, Rs. 6/90 und C-9/90 (Francovich), Slg. 1991, I-5357.160 EuGH, Rs.453/99 (Courage), Slg. 2001, I-6297.161 So auch W.-H. Roth, in: Festschrift für Dieter Medicus, a.a.O. (Fn. 20), S. 420.

24 EuR – Heft 1 – 2014 Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten

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stützen sind, solange das Unionsrecht keine eigenen Remedia fordert oder bereit-stellt: also Unterlassungsansprüche bei einem Boykott (in Deutschland §§ 823Abs. 1, 1004 BGB oder §§ 823 Abs. 2, 1004 BGB), Gegendarstellungen (als Be-seitigungsansprüche), Schadensersatz,162 Einbeziehung eines ausgeschlossenen Be-werbers in die Bewerbung (nach deutschem Recht als „restitutio ad integrum“ imSinne des § 249 BGB i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB, Art. 44 AEUV).

Grundrechte als „drittwirkende“ Gegenläufer und Selbstläufer?

Eines kurzen abschließenden Blicks bedürftig ist die freilich schon vorbehandelteFrage, inwieweit die Grundrechte, insbesondere der Union,163 Gegenläufer derGrundfreiheiten sein können (I), die sich um die Frage nach deren drittwirkendenSelbstläuferschaft erweitern lässt (II). Nicht betroffen sind davon Fälle der Beteili-gung der hoheitlichen Hand: wie etwa bei einer Genehmigung einer Demonstrationmit Beschränkungsfolgen164 oder bei einem proaktiven Schutz der Menschenwürdegegen virtuelle Tötungsspiele.165

Drittwirkende Gegenläuferschaft der Grundrechte

Für die Lösung der Frage der drittwirkenden Gegenläuferschaft sind zwei Prämissenzu substantiieren: die maßgebliche Ebene des Grundrechtsschutzes (1) und derrechtsdogmatische Mechanismus (2).

Die maßgebliche Ebene des Grundrechtsschutzes

Zum einen ist zu klären, welche Ebene des Grundrechtsschutzes in Anspruch ge-nommen werden kann: die unionale und/oder die nationale. Es besteht kein Grund,hier von vornherein eine Einschränkung vorzunehmen. Beide kommen in Betracht.Allerdings sind zwei Differenzierungen zu beachten. Erstens unterliegt die Ver-wirklichung eines nationalen Grundrechts bei staatlichem Handeln im Anwen-dungsbereich des Unionsrechts einer Kompatibilitätsprüfung mit dem Unionrecht,wohingegen mit dem Schutz eines Unionsgrundrechts automatisch ein legitimesZiel verfolgt wird.166 Dies ist auch bei der Wahrnehmung durch Private zu beachten.Zweitens sind speziell die Charta-Bestimmungen in ihrer rechtskategorialen Qua-lität unterschiedlich: sowohl in ihrer Ausprägung als subjektives Recht oder als

C.

I.

1.

162 Vgl. Dazu auch den Kontext in BGH, IPrax 1997, 36, 38; dazu W.-H. Roth, in: Festschrift für Dieter Medicus,a.a.O. (Fn. 20), S. 394.

163 Zum konzeptionellen und rechtspositiven Verhältnis von Grundrechten und Grundfreiheiten nach der Reformvon Lissabon vgl. P.-Chr. Müller-Graff, Die Rolle der Grundrechte in der föderalen Rechtsgemeinschaft derEuropäischen Union, ZöR 2013, S. 685 ff.

164 EuGH, Rs. C-112/00, a.a.O. (Fn. 112).165 EuGH, Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609; dazu P.-Chr. Müller-Graff, Entscheiden und Entscheidungen

im Verständnis Winfried Bruggers aus Sicht eines europarechtlichen Konflikts, in: Verfassungsvoraussetzun-gen – Gedächtnisschrift für Winfried Brugger, 2013, S. 683 ff.

166 R. Streinz, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., 2012, Art. 51 GRCh Rdz. 11.

Müller-Graff – Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten EuR – Heft 1 – 2014 25

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objektiver Grundsatz167 als auch hinsichtlich Verpflichtungsgrad und Verpflich-tungsdichte.168

Der rechtsdogmatische Mechanismus

Zum anderen ist zu klären, über welchen rechtsdogmatischen Mechanismus das inAnspruch genommene Grundrecht gegenüber anderen Privaten derart wirkt, dasseine Marktzugangsbeschränkung unionsrechtskonform ist.

Unmittelbare oder mittelbare Drittwirkung?

Wird dieser Mechanismus als unmittelbare Drittwirkung verstanden, ergeben sichProbleme für die Grundrechte des Grundgesetzes unter dem Gesichtspunkt, dasseine unmittelbare Bindung Privater ganz überwiegend abgelehnt wird,169 für dieUnionsgrundrechte wegen der Adressatenbeschränkung des Art. 51 Abs. 1 GRCund für die Rechtsprechung des EuGH zu den ungeschriebenen Gemeinschafts-grundrechten als Ausdruck allgemeiner Rechtsgrundsätze aus demselben Grund.Art. 51 Abs. 1 GRC begrenzt die Anwendbarkeit auf Akte der Union und derenmitgliedstaatliche Durchführungsakte. Private werden nicht adressiert.Indes geht es im Konflikt zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten nicht umeine unmittelbare Drittwirkung. Vielmehr ergibt sich die Frage, ob das Beschrän-kungsverbot in seinem Tatbestand wegen wettbewerbsimmanenten Verhaltens oderüber die Rechtfertigbarkeit begrenzt wird (s. oben B V). Es erfolgt also eine Ein-wirkung der Grundrechte auf die Auslegung einer Grundfreiheit. Damit kommt esnicht zu der Pointe, dass die Grundrechte gegenüber den Grundfreiheiten nur wirkenkönnten, wenn sie unmittelbar drittwirkend wären. Gleiches gilt, wenn bei der Prü-fung der Verhältnismäßigkeit einer staatlichen Maßnahme die Vereinbarkeit mitUnionsgrundrechten einbezogen wird.170

Dreistufenlösung

Daher bestätigt sich die Passfähigkeit der vorgeschlagenen Dreistufenlösung: (1.)Feststellung der Beschränkung ohne abschließendes Urteil über die Tatbestands-mäßigkeit, (2.) Vermutung der Rechtmäßigkeit wegen wettbewerbsgenuiner Wahr-nehmung der grundrechtlichen Handlungsfreiheit, (3.) in Anlassfällen (namentlichbei Behinderung der Transaktionen Dritter) Prüfung der verhältnismäßigen Wahr-nehmung mit Begründungslast des Beschränkungsurhebers. Unverhältnismäßig istdie Wahrnehmung von Grundrechten immer bei Gewaltanwendung (Viktualien-fall171) und ansonsten, wenn Eignung, Erforderlichkeit oder Verhältnismäßigkeit

2.

a)

b)

167 Vgl. diese in der GRC angelegte Unterscheidung in Art. 52 Abs. 4 und 5 GRC.168 Vgl. R. Streinz, a.a.O. (Fn. 166), Vor GRCh Rdz. 12.169 S. dazu oben C.-W. Canaris, a.a.O. (Fn. 42); M- Ruffert, a.a.O. (Fn. 42).170 So etwa in EuGH, Rs. C-398/95 (Familiapress), Slg. 1997, I-3689.171 EuGH, Rs. C- 265/95, a.a.O. (Fn. 109).

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des Verhaltens zum Zweck eines sachlichen Grundes nicht überzeugend begründetwerden kann.172

Unmittelbar drittwirkende Selbstläuferschaft der Grundrechte der Union?

Abzuschließen ist mit einem kurzen Ausblick auf die unmittelbar bindende dritt-wirkende Selbstläuferschaft der Grundrechte und Grundsätze der GRC. Diese Frageist im Ansatz bereits beantwortet.

Grundsatz

Art. 51 Abs. 1 GRC steht nach Wortlaut, Entstehung und Konzeption einer derarti-gen Wirkung grundsätzlich entgegen, unbeschadet möglicher Differenzierungser-fordernisse.173 Darüber hinaus ist eine allgemeine Aussage über die unmittelbareAnwendbarkeit selbst gegenüber hoheitlichem Handeln wegen der Varianz derChartabestimmungen nicht möglich.174 Speziell für die Grundsätze in der Chartawird sie im Schrifttum generell ausgeschlossen175 und dazu einleuchtend auf denHandlungsauftrag der Union in Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC verwiesen.176 Dem EuGHist daher zur Vorsicht zu raten, den Chartabestimmungen eine derartige Wirkungdurch Transformation in allgemeine Rechtsgrundsätze über seinen Grundauftrag,das Recht zu wahren (Art. 19 EUV), herzustellen.177

Unionsbürgerliche Grundfreiheiten als Grundrechte

Fraglich ist freilich, ob die grundsätzliche Sperre des Art. 51 Abs. 1 GRC gegen einehorizontale Direktwirkung auch für die unionsbürgerlichen Grundfreiheiten gilt, diein Art. 15 Abs. 2 GRCh aufgenommen sind. Grundsätzlich sind sie für den trans-nationalen Bereich parallel zu den Grundfreiheiten des AEUV auszulegen.178 Indessind Bedürfnis und Legitimation schwerlich erkennbar, im Rahmen der GRC dieklare Adressatengrenze des Art. 51 Abs. 2 GRC zu überspringen.

II.

1.

2.

172 So im Fall EuGH, Rs.C-281/80 (Angonese), Slg. 2000, I-4139.173 Vgl. z.B. H. D. Jarass, a.a.O. (Fn. 28), Art. 51 Rdz. 24 f.; Ch.-H. Chen, a.a.O. (Fn. 28), S. 44 ff.; R. Streinz/W.

Michl, a.a.O. (Fn. 28); Th. Kingreen, a.a.O. (Fn. 28) Rdz. 18; P, M. Huber, a.a.O. (Fn. 28).174 R. Streinz, a.a.O. (Fn. 162) Vor GR Charta Rdz. 12.175 J. Schmidt, Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, 2010, S. 110 ff.176 Ebda., S. 111.177 Bedenklich wäre daher, den allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung im Privatrechts-

verkehr mit Art. 21 Abs. 1 GRC zu begründen; dieser Bezug wurde nicht hergestellt in den Bewertungen dernoch vor Inkrafttreten der GRC sich ereignenden Sachverhalten der kontrovers diskutierten Urteile des EuGH,Rs.C-144/04 (Mangold/Hehn), Slg. 2005, I-9981, Rn. 74 f. und Rs.C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365;kritisch zu diesen Urteilen unter dem Gesichtspunkten des Verfalls der entwickelten Rechtsdogmatik und derUmgehung der in Art. 19 AEUV geregelten Gewaltenteilung Ch.-H. Chen, a.a.O. (Fn. 28), S. 48 ff.; grund-rechtstheoretisch kritisch zur „objektiven Verwertung“ der Grundrechte D. R. Wenger, Die objektive Verwer-tung der Grundrechte. Zum Stand der Diskussion, AöR 130 (2015), S. 618 ff.

178 P.-Chr. Müller-Graff, Das Verhältnis von Grundrechten und Grundfreiheiten im Lichte des Europäischen Ver-fassungsvertrags, in: EuR Beiheft 1/2006, S. 19, 27 f.

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Chartakonforme Auslegung nationalen Privatrechts

Davon unbenommen ist allerdings die Möglichkeit, nationales Privatrecht, das inder Durchführungsverknüpfung des Art. 51 Abs. 1 GRC steht,179 anhand der Chartazu messen oder anzuwenden. Das Bundesarbeitsgericht hat dies jüngst für §§ 138,242 BGB grundsätzlich erwogen, allerdings in casu einer Kündigungsschutzklagedie Durchführungsverknüpfung verneint.180 Aber dies ist ein anderes Thema, dasden Rahmen der vorliegenden Frage weit überschreiten würde.

Zusammenfassung

Im Ergebnis zeigt sich, dass für die Anwendbarkeit der Grundverbote der Beschrän-kung des transnationalen Marktzugangs im Binnenmarkt zuallererst auf die Wir-kung einer Maßnahme abzustellen ist, nicht auf die Urheberschaft. Sie sind ideen-geschichtlich und rechtspositiv marktinstitutionell konzipiert. Daher ist das Ver-halten privater Akteure nicht schon grundsätzlich von der Anwendbarkeit derMarktzugangsverbote ausgenommen, sofern es nicht um einzig der öffentlichenHand zugängliche Beschränkungsformen geht (z.B. Zölle). Die horizontale Direkt-wirkung ist daher konzeptionsstimmig. Dies gilt sowohl für die Jedermanns-Grund-freiheiten als auch für die in der Trägerschaft konditionierten Grundfreiheiten undsowohl für die Faktorfreiheiten wie für die Produktfreiheiten. Die Wettbewerbsre-geln und die Formulierung der ausdrücklichen Rechtfertigungsgründe stehen derhorizontalen Direktwirkung nicht grundsätzlich entgegen.Grundsätzlich erfasst sein können – im Rahmen des Zwecks einer Grundfreiheit –sowohl privatautonome Regelungen als auch faktisches Verhalten Privater, sowohlSchlechterbehandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit als auch nach Staats-angehörigkeit differenzierungsfreie Beschränkungen, sowohl das Verhalten vonKollektivorganisationen als auch dasjenige von Einzelnen. Die Anwendung desSpürbarkeitsgedankens („de minimis non curat praetor“) ist normsystemstimmig,allerdings ist Maßstab die typisiert gedachte Auswirkung des generalisiert gedach-ten sachgegenständlichen Verhaltens auf die transnationale Marktoffenheit im Bin-nenmarkt. Die Schutzpflichtdimension einer Grundfreiheit, die den Mitgliedstaatzum Schutz einer Grundfreiheit auf seinem Hoheitsgebiet verpflichtet (Art. 4Abs. 3 EUV), verdrängt nicht die horizontale Direktwirkung, sondern ergänzt sie.Allerdings ist bei der horizontalen Direktwirkung danach zu differenzieren, ob einVerhalten Ausdruck einer Optionenpräferenz (Priorisierungsentscheidung) ist odernicht. Im ersten Fall handelt es sich um ein wettbewerbsimmanentes und in dergrundrechtlich geschützten Privatautonomie wurzelndes Verhalten eines als An-bieter oder Nachfrager auftretenden Marktteilnehmers. Dieses unterfällt nicht dem

3.

D.

179 Zum Durchführungsbegriff jüngst EuGH, Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson), Urteil v. 26.2.2013, NJW 2013,1415.

180 BAG, NJW 2012, 1613 ff. (im Hinblick auf Art. 30 GRC).

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Beschränkungsverbot einer Grundfreiheit, weil dessen Tatbestand konstituierenderTeil des angestrebten wettbewerbsverfassten Binnenmarktes ist (Art. 3 Abs. 3 S. 1EUV i.V.m. Art. 26 Abs. 2 AEUV und Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt undden Wettbewerb) und das Verbot dementsprechend wettbewerbsteleologisch im-manent auszulegen ist. Es erfasst damit nicht Behinderungen eines Marktteilneh-mers aus Präferenzentscheidungen eines anderen Marktteilnehmers zugunsten derTransaktion mit Dritten. Dies gilt indes nicht im Rahmen der Arbeitnehmerfreizü-gigkeit für Schlechterbehandlungen eines Stellenbewerbers oder Arbeitnehmers ausGründen seiner Staatsangehörigkeit. Sie sind mit dem Binnenmarktrecht der Euro-päischen Union nicht ohne rechtfertigenden Grund vereinbar.Beruhen Erschwernisse des transnationalen Marktzugangs durch privates Verhaltennicht auf wettbewerbsimmanenten Präferenzentscheidungen, sondern auf anderenMarkteinwirkungen, insbesondere auf privatem Kollektivverhalten, das die Präfe-renzfreiheit von transaktionsinteressierten Marktteilnehmern einschränkt, sind siemit den Gewährleistungen der Grundfreiheiten nur dann vereinbar, wenn sie auseinem legitimen sachlichen Grund des privaten Akteurs im Rahmen seiner grund-rechtlich gewährleisteten Privatautonomie gerechtfertigt, mithin geeignet, erfor-derlich und verhältnismäßig, sind.Die unionsrechtlichen und mitgliedstaatlichen Grundrechte kommen in ihrem Ver-hältnis zu den unionsrechtlichen Grundfreiheiten nur vermittelt über die Auslegungder Grundfreiheiten zum Tragen (mittelbare Drittwirkung). Eine unmittelbare Dritt-wirkung der Grundrechte der Grundrechte-Charta wird von Art. 51 Abs. 1 GRCversperrt. Davon unbeschadet ist nationales Privatrecht, das in der Durchführungs-verknüpfung des Art. 51 Abs. 1 GRC steht, chartakonform auszugestalten und aus-zulegen.

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