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Nr. 464/465 Juli/August 2010 € 4,– INTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ Außerdem: Europa, Großbritannien, Ökologie, Kirgisistan, Kasachstan, Pakistan, Thailand … Griechenland Die Bedeutung der griechischen Krise Griechenland im Schraubstock der Rezession und der Zinswucherei

die internationale

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Page 1: die internationale

Nr. 464/465 Juli/August 2010 € 4,–

I N T E R N A T I O N A L E P R E S S E K O R R E S P O N D E N Z

Außerdem: Europa, Großbritannien, Ökologie, Kirgisistan, Kasachstan, Pakistan, Thailand …

Griechenland Die Bedeutung der griechischen Krise

Griechenland im Schraubstock der Rezession und der Zinswucherei

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2 INPREKORR 464/465

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

in der letzten Ausgabe der Inprekorr bzw. der internationale sind uns zwei sachliche Fehler unterlaufen, die nicht unkorrigiert bleiben sollen: Willy Bo-epple starb 1992. Er erinnerte sich nicht 1998, wie auf S. 27 zu lesen, son-dern 1989.Der kurze Beitrag zu Thailand (S. 34) wurde aus Versehen als „Resolution des 16. Weltkongresses der IV. Internationale“ gekennzeichnet. In Wirklich-keit handelt es sich um „Nachrichten von rund um den Erdball“ der IV. Inter-nationale.

Eure Redaktion

Eure großzügigen Spenden erbitten wir wie immer auf das folgende Konto:

Thies Gleiss Sonderkonto; Kto.Nr. 478 106-507Postbank Köln (BLZ 370 100 50)

IMPRESSUM

Inprekorr ist das Organ der IV. Inter-nationale in deutscher Sprache. In-prekorr wird herausgegeben von der deutschen Sektion der IV. Internatio-nale, von RSB und isl. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit GenossInnen aus Österreich und der Schweiz und unter der politischen Verantwortung des Exekutivbüros der IV. Internatio-nale.

Inprekorr erscheint zweimonatlich (6 Doppelhefte im Jahr). Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung des herausge-benden Gremiums wieder.

Konto: Neuer Kurs GmbH, Postbank Frankfurt/M.(BLZ: 500 100 60), KtNr.: 365 84-604

Abonnements: Einzelpreis: € 4,–Jahresabo (6 Doppelhefte): € 20,–Doppelabo (Je 2 Hefte): € 30,–Solidarabo: ab € 30,–Sozialabo: € 12,–Probeabo (3 Doppelhefte): € 10,–Auslandsabo: € 40,–

Website:http://inprekorr.de

Redaktion: Michael Weis (verantw.), Birgit Al-thaler, Daniel Berger, Wilfried Dubois, Thies Gleiss, Jochen Herzog, Paul Kleiser, Oskar Kuhn, Björn Mertens

E-Mail: [email protected]

Satz: Grafikkollektiv Sputnik

Verlag, Verwaltung & Vertrieb:Inprekorr, Hirtenstaller Weg 34,25761 Büsum, E-Mail: [email protected]

Kontaktadressen:RSB, Revolutionär Sozialistischer BundPostfach 10 26 10, 68026 Mannheim

isl, internationale sozialistische linkeRegentenstr. 75–59, D-51063 Köln

SOAL, Sozialistische [email protected]

Sozialistische AlternativePostfach 4070, 4002 Basel

Eigentumsvorbehalt: Die Zeitung bleibt Eigentum des Verlags Neuer Kurs GmbH, bis sie dem/der Gefangenen persönlich ausgehändigt ist. „Zur-Habe-Nahme“ ist keine persön-liche Aushändigung im Sinne des Eigentumsvorbehalts. Wird die Zeit-schrift dem/der Gefangenen nicht persönlich ausgehändigt, ist sie dem Absender unter Angabe der Gründe der Nichtaushändigung umgehend zurückzusenden.

Israel/PalästinaNach dem Angriff auf die Gaza-Flottille dürfen die Verbrechen Israels nicht länger

straflos hingenommen werden, Büro der IV. Internationale ................................................3

GriechenlandDie Bedeutung der griechischen Krise, Pascal Franchet ......................................................4Griechenland im Schraubstock der Rezession und der Zinswucherei, Nikos Tamvaklis ......8Die griechische Schulden krise, Gespräch mit Charles-André Udry ...................................13

EuropaAusterität für ganz Europa, Martine Orange ......................................................................17

GroßbritannienWiderstand gegen die Regierung der Reichen für die Reichen, Socialist Resistance .........19

ÖkologieCochabamba: Einige kritische Bemerkungen zur Schlusserklärung,

Sandra Invernizzi und Daniel Tanuro ..............................................................................22

KirgisistanDer Volksaufstand eröffnet eine neue geschichtliche Periode, Jan Malewski .....................33

KasachstanVorbildlicher Streik der Ölarbeiter, Jan Malewski ..............................................................38

PakistanDie Entwicklung der Arbeiterpartei Pakistans (LPP), Farooq Tariq ...................................40Ein historisch gescheiterter Staat, Pierre Rousset ...............................................................45

ThailandDie alten Eliten können Wahlen nicht mehr gewinnen, Danielle Sabaï .............................46

NachrufHugo González Moscoso (1922–2010), Michael Löwy ......................................................53

EuropaErklärung zur Krise in Europa ............................................................................................56

die internationaleIhre Krise und unser Widerstand, Wolfgang Alles ...............................................................25Besprechung: Klaus Engert – Ökosozialismus – das geht!, Michael Löwy ........................30Türkei: Solidarität mit Doğan Tarkan ..................................................................................32

INHALT

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INPREKORR 464/465 3

ISRAEL/PALÄSTINA

Nach dem Angriff auf die Gaza-Flottille dürfen die Verbrechen Israels nicht länger straflos hingenommen werden

Da auch die Arbeitspartei in der Netanya-hu-Regierung sitzt, ist das gesamte zionis-tische Politestablishment in dieses neu-erliche Verbrechen verstrickt. Der La-bour-Verteidigungsminister Ehud Barak hat erklärt, dass die Regierung die Kon-sequenzen ihres Vorgehens vorsätzlich in Kauf genommen hat. Vorsätzlich heißt, dass sie damit gerechnet hat, dass die an-deren Regierungen weltweit nicht über verbale Proteste hinaus kommen würden: ein paar diplomatische Erklärungen und missbilligende Worte an die israelischen Botschafter – wie gehabt. Diesmal jedoch müssen die Regierungen durch die Wucht der Proteste gezwungen werden, Taten auf ihre Worte folgen zu lassen.

Barrack Obama und Ban Ki-mun ha-ben bereits von einer fälligen Aufklärung gesprochen. Welchen Wert soll eine Auf-klärung haben? Die israelische Regierung gibt unumwunden zu, einen illegalen An-griff in internationalen Gewässern geführt zu haben und hält dies noch für ihr gutes Recht. Die israelische Armee sagt selbst, dass mindestens zehn Aktivisten getötet wurden. Die israelische Militärsprecherin gibt ihrerseits gerade mal vier verletzte Is-raelis an, die das Massaker rechtfertigen sollen. Der Korrespondent von Al Dscha-sira, der auf dem Führungsboot war, be-richtet, dass eine weiße Flagge gehisst wurde und die Israelis trotzdem das Feuer während der Erstürmung eröffnet haben, ohne dass eine Provokation voran gegan-gen war. Dies alles deutet darauf hin, dass wie 2008/9 bewusst unverhältnismäßige Gewalt angewandt wurde und es keines-wegs um „Selbstverteidigung“ ging.

Der Angriff auf die Flottille war de facto nur die konsequente Weiterung aus der Gaza-Blockade, gegen die der Kon-voi protestieren und die er durchbrechen wollte. Keine Regierung der Welt au-ßer der israelischen wird diese Blockade rechtfertigen, die ein eklatanter Fall von rechtswidriger Kollektivbestrafung ge-genüber einer Zivilbevölkerung darstellt.

Und trotzdem hat keine Regierung auch nur einen Finger gerührt, um sie zu been-den. In ihrem Zynismus gehen die israe-lischen Propagandabehörden soweit, den Journalisten ein Nobelrestaurant in Gaza zu empfehlen, um die Auswirkungen ihrer Blockade zu erleben.

Ganz sicher wird sich der Autor dieser Presseerklärung daran erinnern, dass auch im Warschauer Ghetto Nobelrestaurants geöffnet waren, während Juden auf der Straße an Hunger krepierten! Wohl gibt es in Gaza zurzeit keine allgemeine Hun-gersnot. In ihrer selbstherrlichen Willkür ist die israelische Blockade zu genau aus-tariert, um solch verheerende Ausmaße zu erreichen. Sie führt „nur“ zu massiver Mangelernährung, „nur“ zur Traumatisie-rung Zehntausender von Kindern, „nur“ zur Massenarbeitslosigkeit, die 80 % der 1,5 Millionen BewohnerInnen betrifft, „nur“ zur Ohnmacht einer Bevölkerung, die versucht, in den aus den israelischen Angriffen von 2008/9 hinterbliebenen Ru-inen zu überleben, und denen jedwede Mittel zum Wiederaufbau verwehrt wer-den, und „nur“ zum Tod von 28 Palästi-nensern, die auf ihre Ausreisegenehmi-gung für eine medizinische Notfallbe-handlung warteten.

Die Proteste gegen die Angriffe auf die Flottille als Krönung der Blockade sind mehr als gerechtfertigt. Die Mahn-wachen und Kundgebungen vor den Bot-schaften und Konsulaten dürfen nicht ab-reißen sondern müssen darüber hinaus ge-hen und sich an die Regierungen in all un-seren Ländern richten, da die erst die is-raelischen Gräueltaten ermöglicht haben und weiter ermöglichen.

In den USA, die auch unter Obama Is-raels Hauptstütze sind, muss gefordert und erreicht werden, dass die jährlichen Hilfen in Höhe von 3 Mrd. US-Dollar sofort ein-gestellt werden, da dadurch die Verbre-chen der israelischen Regierung finanziert werden.

In den EU-Ländern, die erst vor ein

paar Monaten ihre Beziehungen zu Israel intensiviert haben, geht es darum, dass die Menschenrechtsklausel in den Freihan-delsverträgen zwischen Israel und der EU umgehend umgesetzt werden muss und die Handelsprivilegien aufgehoben wer-den, die für Israel wirtschaftliche Unter-stützung bedeuten.

In den arabischen Ländern, die Be-ziehungen zu Israel unterhalten, muss die empörte Bevölkerung ihre Regierungen zwingen, die Komplizenschaft mit Israel zu beenden, was besonders für Ägypten gilt, das eine für die Gaza-Blockade uner-lässliche Funktion hat.

In Israel, wo es gleichfalls Proteste gibt, geht es um die Stärkung des Wider-stands gegen die rechtsextreme Regie-rung. Überall, wo die Solidaritätsbewe-gung noch nicht stark genug ist, die Re-gierung zum Bruch mit Israel zu zwingen, muss sie die Initiative selbst ergreifen und die BDS-Kampagne1 stärken.

Schließlich muss nach diesem neuer-lichen israelischen Verbrechen der Dis-kussionsprozess über das Scheitern des „Friedensprozesses“ wieder aufgenom-men werden, dessen Ziel die Errichtung eines palästinensischen Ministaates in den 1967 besetzten Gebieten an der Seite eines intakten zionistischen Staates ist. Gegen-wärtig wird die israelische Regierung für ihren Angriff auf den Konvoi in der Art “bestraft“, dass die ohnehin untauglichen indirekten Gespräche mit den palästinen-sischen Autonomiebehörden ausgesetzt werden. Diese Gespräche waren ohne-dies nur gewollte Ablenkung von der is-raelischen Politik der vollendeten Tatsa-chen. Die Friedens- und Solidaritätsbewe-gungen müssen sich jetzt umso mehr um eine Alternative bemühen, die zu einem tatsächlichen Frieden führt. Das heißt, zu einer bedingungslosen Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes, dem Rück-kehrrecht der Flüchtlingsbevölkerung von 1948 (80 % im Gazastreifen), zur Zer-schlagung des zionistischen Staates und zu einer politischen Lösung, die der palä-stinensischen und jüdischen Bevölkerung Israels ermöglicht, gleichberechtigt zu-sammen zu leben.

Büro der IV. Internationale, Paris, 1.6.10

Übersetzung: MiWe

1 BDS – Boykott, Disinvestment, Sanktionen [Anm. d. Red.]

Die ultrarechte Regierung unter Benjamin Netanyahu und Avigdor Lieber-

man hat einmal mehr gezeigt, dass sie noch besser als ihre Vorgänger-

regierungen internationales Recht und Menschenwürde mit den Füßen

zu treten in der Lage ist. Ihr mörderischer Angriff in internationalen Ge-

wässern auf die Free-Gaza-Flotille stellt eine weitere Eskalation der israe-

lischen Aggression gegen das palästinensische Volk dar. Umso entschlos-

sener muss die Reaktion der Solidaritätsbewegung und der Weltöffentlich-

keit ausfallen.

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4 INPREKORR 464/465

GRIECHENLAND

Vieles wurde in den letzten Wochen über die Krise und Griechenland ge-sagt, vieles widerwärtig1 oder verwirrt. Ergebnis ist eine Argumentation. die in alle entwickelten Länder exportier-bar ist. Die Medien haben die offizielle Botschaft immer wieder aufgegriffen, die sich in fünf Punkte gliedert:1. Griechenland hat betrogen, um die

„untragbare“ Staatsverschuldung zu verstecken;

2. Es ist am Rande der Zahlungsunfä-higkeit, wie auch andere Länder der Eurozone;

3. Die Europäische Union ist voller Mitgefühl, kann aber nicht umhin, zu strengen Maßnahmen zu drängen und zu fordern, das Land unter Auf-sicht zu stellen;

4. Griechenland muss Sparmaßnah-men ergreifen, um sein Haushalts-defizit zu verringern;

5. Um die Krise in den entwickelten Ländern zu lösen, sind ähnlich stren-ge Sparmaßnahmen erforderlich.

Diese ideologische Botschaft, die an al-le Völker des Nordens gerichtet ist, soll Punkt für Punkt entschlüsselt werden.

1. GRIECHENLAND HAT BETRO-GEN, UM DIE „UNTRAGBARE“ STAATSVERSCHULDUNG ZU VERSTECKEN

Ja, zweifellos ist der Staat von Korrup-tion und „kleinen Gefälligkeiten un-

1 Die vom Rassismus getränkten „Bonmots“ wie der Titel des Artikels in Le Monde vom 6. Fe-bruar 2010 „Das ‚schlechte’ Griechenland setzt den Euro unter Druck“ [ein Wortspiel im Fran-zösischen, da das „schlechte Griechenland“ wie das „schlechte Fett“ klingt, das man bei gesun-der Ernährung meiden soll] oder das von der ul-traliberalen Zeitung The Economist erfunde-ne Akronym „PIGS“, auf englisch „Schweine“ (Portugal, Irland, Griechenland und Spanien).

ter Freunden“ geplagt. Es scheint heu-te klar, dass die US-Bank Goldman Sachs komplexe Instrumente (Devisen-Swaps) und daraus abgeleitete Pro-dukte geschaffen hat, die es der grie-chischen Regierung ermöglichten, ihre Staatsverschuldung mit Hilfe unsicht-barer Darlehen fiktiv um 2 Milliarden Euro2 zu reduzieren, Das hat es Grie-chenland erlaubt, der Eurozone beizu-treten. Es ist ebenfalls klar, dass die aufeinander folgenden Regierungen seit 2001 ihre Augen vor dieser Reduk-tion der Staatsverschuldung verschlos-sen haben.

Aber Griechenland ist nicht der ein-zige Fall, und die Länder der Eurozo-

2 „Mit der Komplizenschaft von Goldman Sachs hat sie die Darstellung ihrer Konten verbessert; das ist es, was ihnen zur Last gelegt wird. Aber dieser Gewinn war marginal. Die beanstande-ten Transaktionen aus dem Jahre 2001 hatten die griechische Verschuldung um 2,367 Mrd. Euro gesenkt, womit sie von 105,3 auf 103,7 % des BIP in dem betreffenden Zeitraum ge-drückt wurde.“ http://www.irefeurope.org/con-tent/le-masque-grec

ne entfachen einen Sturm der Heuche-lei zu diesem Thema.

Italien hat 1996 Swaps von J. P. Morgan verwendet, um sein Defizit künstlich zu verringern. Später hat Ber-lusconi die Eintrittsgelder für die staat-lichen Museen gegen 10 Mrd. Euro an eine Finanzgesellschaft verkauft, die im Austausch jährlich 1,5 Mrd. Euro in den nächsten 10 Jahren erhält. Frank-reich hat im Jahr 2000 Anleihen aus-gegeben, bei denen die Auszahlung der Zinsen am Ende eines Zeitraums von 14 Jahren erfolgen soll. Im Jahr 2004 haben Goldman Sachs und die Deut-sche Bank ein Finanzierungsinstru-ment für Deutschland namens „Aries Vermögensverwaltung“ geschaffen.

Deutschland würde darüber zu Zin-sen leihen, die deutlich über Marktkon-ditionen liegen, nur um zu vermeiden, dass diese Schulden in öffentlichen Bi-lanzen auftauchen.3

DEN „UNERGRÜNDLICHEN ABGRUND“ IN GRIECHENLAND RELATIVIEREN

Griechenland hätte also ein Defizit von 12,7 % und nicht 6 %, wie von der

3 http://www.lexpansion.com/Services/impri-mer.asp?idc=226849&pg=0

Die Bedeutung der griechischen KriseVom Morgen bis zum Abend wird uns die Botschaft um die Ohren ge-

hauen, erst „die Griechen“ und dann „wir alle“ müssten massiv spa-

ren, um den Staatsbankrott abzuwenden. Unser Autor blickt auf die

Fakten.

Pascal Franchet

Tabelle 1: Stand der Staatsverschuldung in den wichtigsten Ländern

der Eurozone in Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP)

2007 2008 2009* 2010** Zunahme seit 2007

Österreich 59,4 % 62,5 % 70,4 % 75,2 % 26,6 %Belgien 84 % 89,6 % 95,7 % 100,9 % 20,1 %Finnland - 33,4 % 39,7 % 45,7 % 36,8 %Frankreich 63,8 % 68 % 75,2 % 81,5 % 27,7 %Deutschland 65,1 % 65,9 % 73,4 % 78,7 % 20,9 %Griechenland 94,8 % 97,6 % 103,4 % 115 % 21,3 %Irland 25 % 43,26 % 61,2 % 79,7 % 218,8 %Italien 103,5 % 105,8 % 113 % 115 % 12,2 %Niederlande 45,6 % 58,2 % 57 % 63,1 % 38,4 %Portugal 63,5 % 66,4 % 75,4 % 81,5 % 28,3 %Spanien 36,2 % 39,5 % 50,8 % 62,3 % 72,1 %Eurozone 66 % 69,3 % 77,7 % 83,6 % 26,0 %

*Schätzung ; ** Prognose.

Quelle: Eurostat

Anmerkung: Für Finnland ist die Zuwachsrate gegenüber 2008 berechnet

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INPREKORR 464/465 5

GRIECHENLAND

früheren Regierung behauptet, und ei-ne Staatsverschuldung von 115 %, aber wenn man das im Vergleich zu anderen Ländern sieht, gibt es keinen Grund, mit den Wölfen zu heulen. Die Kosten für den Schuldendienst betrugen 14 % des BIP im Jahre 1993, heute sind es 6 %! Der Stand der griechischen Haushalts-bilanz ist sicherlich weit vom Gleich-gewicht entfernt, aber er hat sich weni-ger verschlechtert als in anderen Län-dern des Nordens (siehe Tabelle 1).

WEDER DIE KOMMISSION NOCH EUROSTAT UND NOCH WENI-GER DIE RATING-AGENTUREN HABEN GRIECHENLAND LEKTI-ONEN ZU ERTEILEN!

Seit 2001 konnte die Europäische Kommission die Unzuverlässigkeit der von Griechenland vorgelegten Aufstellungen nicht mehr ignorie-ren. Um das Haushaltsdefizit des grie-chischen Staates zu ermitteln, hät-te sie nur einen Blick auf die Kon-ten der zentralen Verwaltung dieses Landes werfen müssen, oder sich die Vervielfachung der Rüstungsaufträge ansehen müssen; oder die Kosten der Olympischen Spiele 2004 abschätzen und mit den Haushaltsmitteln und den von der griechischen Zentralbank ge-haltenen Reserven vergleichen müs-sen, um zu verstehen, dass die Staats-verschuldung nicht mit den angege-benen (für den Beitritt zur Eurozone geschönten) Zahlen übereinstimmen konnte. Sie konnte es nicht ignorieren, aber sie wollte es auch nicht wirklich thematisieren.

Die Integration Griechenlands in die Eurozone war aus politischen und geostrategischen Fragen notwendig. Die besten Advokaten Griechenlands waren im Jahr 2001 Frankreich (zweit-wichtigster Waffenlieferant Griechen-lands) und Deutschland. Banken der beiden Länder halten heute 80 % der griechischen Schulden.

AUCH EUROSTAT HAT KEINEN GRUND, LEKTIONEN ZU ERTEI-LEN.

Laut Bloomberg war Eurostat über die-sen Vorgang völlig im Bilde. Es ge-schieht auch im Namen einer wohl ar-rangierten Buchführung, dass die EU-Statistikbehörde die den Banken im Rahmen des Rettungsplans ohne Ge-

genleistungen gewährten Milliarden Euro von der laufenden Staatsver-schuldung abtrennt (ESVG-Verord-nung vom Juni 2009). Es ist dieselbe Eurostat, die es erlaubt, die Beträge der von den Staaten ausgegebenen An-leihen („grand emprunt“ [von Sarkozy geplante Sonderanleihe über 35 Mrd. Euro] in Frankreich, griechische und portugiesischen Anleihen) bei der Be-rechnung der Staatsverschuldung außer Acht zu lassen.

Trotzdem werden die Steuerzahle-rinnen und -zahler (jene, die nicht von den Steuersenkungen für die wohlha-benden Klassen profitieren) diese Be-träge auf die eine oder andere Weise begleichen müssen.

Zu den Rating-Agenturen: Wie zu-verlässig sind ihre Bewertungen?

Ihre Glaubwürdigkeit muss mit ver-dammter Vorsicht gesehen werden; noch drei Tage vor dem Konkurs be-werteten sie die verbrieften Subprimes der Lehman Brothers mit „AAA“, der höchstmöglichen Note!

Dieselben „hellseherischen“ Agen-turen entscheiden trotzdem über Regen und Sonnenschein auf den Finanzmär-kten, einschließlich der unregulierten sogenannten OTC (Over The Coun-ter – Über den Ladentisch), auf denen toxische Produkte wie die CDS (Cre-dit Default Swaps - Kreditausfallversi-cherungen) gehandelt werden. Sie sind eng mit den angelsächsischen Banken (darunter insbesondere Goldman Sachs und Citibank) verbunden.

Diese Agenturen arbeiten nicht mit einer Kristallkugel, sondern mit Da-ten, die von den Emittenten einer hier betrachteten Anleihe oder den Ver-marktern einer solchen oder anderer Produkte zur Verfügung gestellt wer-den. In unserem Fall haben sie die Staatsanleihen nur deswegen herabge-stuft, weil sie von der griechischen Re-gierung nach dem Mehrheitswechsel neue Daten erhalten hatten.

2. GRIECHENLAND IST AM RANDE DER ZAHLUNGSUNFÄ-HIGKEIT, WIE AUCH ANDERE LÄNDER DER EUROZONE

Die erste Funktion dieser Nachricht ist: Steigerung der Zinssätze (Risiko-prämien) und damit der Gewinne der Darlehensgeber (also Goldman Sachs und Hedge Fonds). So werden die von Griechenland ausgestellten Schuldver-

schreibungen zu 6,40 % gehandelt, das ist das Doppelte dessen, was ein Gläu-biger eigentlich erwarten könnte. Es ist bemerkenswert, dass diese Anleihe über 5 Milliarden Euro seit ihrer Aus-schreibung dreifach überzeichnet wur-de.4 Heftig dementiert seitens der Fi-nanciers eines Landes, das als „am Rande der Zahlungsunfähigkeit“ be-trachtet wird.

Die herrschende Ideologie hat ei-ne Tendenz, die Situation des Staats-haushalts mit der eines privaten Haus-halts oder eines Unternehmens zu ver-gleichen, was keinen Sinn ergibt. Ein Staat hat, im Gegensatz zu einem pri-vaten Haushalt oder einem Unter-nehmen, immer die Möglichkeit, sei-ne Einnahmen durch Steuern zu erhö-hen. Dies ist, neben einer viel höheren Lebenserwartung, ein großer Unter-schied und Grund dafür, dass dieser Vergleich absurd ist. Der US-Staat exi-stiert seit 221 Jahren und akkumuliert Schulden seit 1837, das sind 173 Jah-re in Folge.5

Der zweite Grund dafür ist Panik-mache, um die öffentliche Meinung vorzubereiten, Sparpolitik und Sozial-abbau zu akzeptieren. Die griechische Regierung hat auch alle Freiheit, eine gründliche Reform des Steuersystems vorzunehmen und Steuervergünsti-gungen und soziale Wohltaten für die Reichen und Kapitalgesellschaften zu beseitigen sowie die Kapitalerträ-ge und Zinsen zu besteuern, also kurz gesagt: die Steuereinnahmen zu erhö-hen und das Haushaltsdefizit zu be-seitigen. Es ist eine Frage politischer Entscheidungen, dass die PASOK (so-zialdemokratische Partei in Griechen-land) dies nicht tun wollte, weil sie mit dem Neoliberalismus im Wesent-lichen übereinstimmt: Die griechische Welt ist eine neoliberale Marktwirt-schaft und muss es bleiben!

Die seit vielen Jahrzehnten von aufeinander folgenden Regierungen durchgeführte Politik hat das Haus-haltsdefizit und die Staatsverschul-dung immer weiter steigen lassen. Der Beitritt zur Eurozone (2001) hat dieses Phänomen nur verstärkt (siehe Tabel-len 2, 3 und 4 unten).

4 AFP-Nachricht vom 4. März 2010

5 Randall Wray: „ Cessons de comparer le bud-get du gouvernement à celui d’un ménage “, http://contreinfo.info/article.php3?id_arti-cle=2976

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6 INPREKORR 464/465

GRIECHENLAND

3. DIE EUROPÄISCHE UNION IST VOLLER MITGEFÜHL, KANN ABER NICHT UMHIN, STRENGE MASSNAHMEN ZU VERLANGEN UND ZU FORDERN, DAS LAND UNTER AUFSICHT ZU STELLEN

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat nicht das Recht, den Staaten Kre-dite zu gewähren!

Während die Europäische Zentral-bank 2008–2009 zur Rettung privater Banken vor dem Bankrott massiv ein-gegriffen hat, ist es ihr nicht gestattet, das Gleiche zu Gunsten staatlicher In-stanzen der Mitgliedstaaten zu tun. Das ist eine Schande.

Es stimmt, dass nach dem Artikel 123 des Vertrags von Lissabon der Eu-ropäischen Zentralbank und den Zen-tralbanken der Mitgliedstaaten „der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln [von Zentralregierungen, regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften … oder öffentlichen Unternehmen der Mitgliedstaaten]“ untersagt ist.

Also, kein „unmittelbarer“ Erwerb (und keine Unterstützung von Staaten), aber dennoch werden Darlehen zu Vor-zugsbedingungen den Banken gewährt, die diese als Sicherheit … für Staats-obligationen (einschließlich derjenigen des griechischen Staats!) deponieren.

Schöne Heuchelei, dass dieser Me-

chanismus durch den Vertrag von Lis-sabon erlaubt ist.

Die Europäische Investitionsbank, deren Amoralität in den Entwicklungs-ländern bekannt ist,6 kann das grie-chische Defizit nicht finanzieren? Auf dem Papier stimmt das. Aber im „wah-ren Leben“ finanziert sie viele fragwür-dige Investitionsvorhaben, die die Staats-verschuldung erhöhen, wie die Olym-pischen Spiele 2004, deren Gesamtko-sten immer noch unbekannt sind (schät-zungsweise zwischen 20 und 30 Milli-arden Euro). [Inzwischen haben sich die europäischen Finanzminister mit dem Euro-Rettungspaket souverän über die-se Regelungen hinweggesetzt.]

4. GRIECHENLAND MUSS SPAR-MASSNAHMEN ERGREIFEN, UM SEIN HAUSHALTSDEFIZIT ZU VERRINGERN

Dies ist das Ziel, das die Verfechter des Wirtschafts- und Finanzkapitalis-mus erreichen wollen! Unter dem Vor-wand einer als „untragbar“ bezeichne-ten Staatsverschuldung verordnet die Regierung im Namen einer Haushalts-konsolidierung ihrer Bevölkerung ei-ne beispiellose Kur von Sparmaßnah-men: Ende jeglicher Konjunkturmaß-nahmen, Einfrieren der Gehälter der

6 Auf der Website der Amis de la terre: http://www.amisdelaterre.org/-Banque-europeenne-d-investissement.html

Staatsbediensteten im Jahr 2010, Sen-kung der Prämien um 10 % und der Zu-lagen um 30 % im öffentlichen Dienst, Senkung der Staatsausgaben um 10 %, davon 100 Mio. Euro weniger für Bil-dung, Verringerung der Ausgaben für Krankenhäuser, Erhöhung des Rente-nalters um 2 Jahre, das damit 63 Jah-re überschreitet, Einstellungsstopp, Nichtverlängerung von Zeitverträgen im Staatsdienst, Anhebung der Steuern auf Kraftstoffe, Tabak, Handys, Erhö-hung der Mehrwertsteuer um 2 Prozent-punkte ... und die EU will immer noch mehr! Sie fordert Strukturreformen, die die gesamte Verwaltung betreffen, die Liberalisierung des Handelsmärkte, die Flexibilisierung der Arbeit, umfas-sende Reformen des Renten- und Ge-sundheitssystems ... Nach vorsichtigen Schätzungen der Deutschen Bank muss sich das griechische Volk auf einen An-stieg der Arbeitslosigkeit um minde-stens 15 % und einen Rückgang des BIP von 7,5 % einstellen.

Doch es gibt andere haushaltsinter-ne Lösungen!

Die nach dem Sparprogramm er-warteten Einsparungen liegen in der Größenordnung von 5 Mrd. Euro. An-dere Entscheidungen mit gleichem Er-gebnis wären möglich! So ist Grie-chenland das EU-Land, dessen Mili-tärausgaben den größten Anteil am na-tionalen BIP erreichen. Sie umfassen 9,642 Milliarden Dollar im Jahr 2006.7 Im Jahre 2008 waren Griechenlands Rüstungsausgaben mit 2,8 % des BIP die höchsten in Europa, und diese Zahl beinhaltet noch nicht einmal alle Mili-tärausgaben.8 Von diesen erheblichen Kosten für den Staatshaushalt profi-tieren vor allem die Rüstungsindustrie Amerikas und Europas.

Griechenland hat auch die welt-weit größte Handelsflotte mit mehr als 4000 Schiffen, die dem griechischen Staat durch Steuervorteile jährlich fast 6 Mrd. Euro Mehrwertsteuer entzieht.

Die Mehrheit der großen Unterneh-men hat ihr Vermögen an Offshore-Ge-sellschaften in Zypern übertragen (und zahlt dort nur einen Steuersatz von 10 %). Die griechisch-orthodoxe Kir-che ist von Steuern befreit, obwohl sie die größte Immobilienbesitzerin des Landes ist.

7 Militärausgaben weltweit www.julg7.com

8 Quelle: Nato, http://www.nato.int/docu/pr/2009/p09-009.pdf

Tabelle 2 : Vergleich der Steuerpolitik Griechenlands und der EU der 27

Steuereinnahmen (in Prozent des BIP)

Gesetzlicher Spitzen-steuersatz auf Einkom-

men

Steuersatz für Unterneh-men

Griechen-land

Durch-schnitt EU

der 27

Griechen-land

Durch-schnitt EU

der 27

Griechen-land

Durch-schnitt EU

der 27 2000 34,6 % 40,6 % 45 % 44,7 % 40 % 31,9 % 2006 31,3 % 39,7 % 40 % 31,9 % 25 % 23,6 % 2007 32,1 % 39,8 % 40 % 37,8 % 25 % 23,5 % Änderung 2007/2000

-2,5 -0,8 -5 -6,9 -15 -8,4

Quelle: Eurostat, 22.06.2009, STAT/09/02

Tabelle 3: Staatssaldo (in Prozent des BIP)

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009Griechenland -3,7 -4,5 -4,8 -5,6 -7,5 -5,2 -2,9 -3,9 -7,7 -12,7Eurozone 0 -1,8 -2,5 -3,5 -2,9 -2,5 -1,3 -0,6 -2 na

Quelle: Eurostat, Abruf am 23. März 2010 (na = nicht angegeben)

Tabelle 4: Staatsverschuldung (in Prozent des BIP)

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009Griechenland 103,4 103,7 101,7 97,4 98,6 100 97,1 95,6 99,2 113,4

Page 7: die internationale

INPREKORR 464/465 7

GRIECHENLAND

Griechische Banken haben aus dem Rettungspaket über 28 Mrd. Euro öf-fentlicher Mittel ohne jede Gegenlei-stung erhalten und spekulieren nun völ-lig ungestraft gegen die Staatsverschul-dung. Es gibt also genug Mittel für ei-ne andere Lösung!

Sie erfordert eine durchgreifen-de Steuerreform, aber die PASOK-Re-gierung hat sich im Dienste der Kapi-talisten dafür entschieden, die Dinge so zu lassen, wie sie sind, und die Ar-men für den Verbleib in der Eurozone bezahlen zu lassen, obwohl sie doch Quelle der Deregulierung und des Ver-lusts der nationalen Souveränität im Namen des „freien und unverfälschten Wettbewerbs[“ ist.

5. UM DIE KRISE IN DEN ENTWI-CKELTEN LÄNDERN ZU LÖSEN, SIND ÄHNLICH STRENGE SPAR-MASSNAHMEN ERFORDERLICH

In allen entwickelten Ländern wird dieselbe Botschaft von Regierungen und Medien abgespielt. Sei es in Portu-gal, wo die Regierung ein umfassendes Programm der Privatisierung von öf-fentlicher Dienstleistungen beschlos-sen hat; sei es in Spanien, das in eine Immobilienkrise verstrickt ist und das eine Arbeitslosenquote von rund 20 % erlebt; sei es in Irland, dessen Haus-haltsdefizit in der Nähe desjenigen von Griechenland liegt; sei es in Italien, das mit 127 % des BIP die EU-weit höchste Staatsverschuldung erreicht; oder sei es in Großbritannien, dessen Defizit jetzt 14.5 % überschreitet.

Die anderen europäischen Länder müssen damit rechnen, durch dieselbe Mühle der Sparprogramme gedreht zu werden. Reformen der Rentensysteme und das Zerschlagen der Systeme für Gesundheit und soziale Sicherheit sind bereits überall in Europa im Gange.

Eines ist sicher: Die öffentlichen Gelder, die die großen Privatbanken zu sehr niedrigen Zinssätzen von der Eu-ropäischen Zentralbank erhalten ha-ben, werden weder bei den privaten Haushalten noch bei den Unterneh-men ankommen. Der Kreditbestand ist 2009 überall in Europa massiv gesun-ken. Dieses Geld wird jetzt wieder in die Spekulation auf das „Hoheitsrisi-ko“, also das der Nichtrückzahlung der Staatsschulden, fließen. Heute Grie-chenland, morgen Portugal, Spanien, Italien und Irland. Und übermorgen

Belgien und Frankreich ... Die Euro-zone ist völlig zersplittert und zeigt ihr wahres Gesicht: Sie ist ein System für die reichsten Volkswirtschaften, errich-tet auf dem Rücken der ärmsten.

VORLÄUFIGE SCHLUSSFOL-GERUNGEN UND SECHS VOR-SCHLÄGE

Die Europäische Union ist politisch bankrott: mit einer gemeinsamen Wäh-rung, aber Steuer- und Sozialkonkur-renz zwischen den Mitgliedstaaten, mit ihrem gemeinsamen Markt, aber oh-ne jeden Mechanismus für den Res-sourcentransfer von Reich zu Arm, und mit ihrem neoliberalen Dogma, das die Völker erdrückt, ist sie nicht in der La-ge, den Menschen eine Antwort auf die Krise zu geben.

Im Gegenzug beginnen die Men-schen die Gegenwehr zu organisieren und sich zu mobilisieren: zwei auf-einander folgende massive General-streiks in Griechenland und Massende-monstrationen in den meisten größe-ren Städten; 93 % der Isländerinnen und Isländer haben die vom Icesave-Gesetz vorgesehene Bezahlung der pri-vaten Schulden verweigert;9 beeindru-ckende Kundgebungen in Portugal; und die Demonstrationen vom 23. März in Frankreich, die den Auftakt einer drit-ten Runde sozialer Proteste bildeten. Der Wind erhebt sich in ganz Europa und trägt die Weigerung von Arbeite-rinnen und Arbeitern, Rentnerinnen, Rentnern und Armen, die Kosten der Krise zu tragen.

Was diesen Mobilisierungen fehlt, ist neben dem Brechen der Isolation der Kämpfe eine Perspektive, die den Zusammenhang zwischen der sozialen und der politischen Antwort schafft.

Überall in Europa müssen soziale Bewegungen Elemente eines Alterna-tivprogramms entwerfen, um auf die Systemkrise zu antworten und sich für die Verteidigung und Ausweitung kol-lektiver Rechte gegen die Wertlogik des Kapitals zu entscheiden.

Die zentrale Frage, die von diesen „Krisen-Ausreden“ der Staatsverschul-dungen im Norden aufgeworfen wird, zielt auf eine andere Verteilung des Reichtums.

9 Siehe Olivier Bonfond, Jérôme Duval, Da-mien Millet : Ouf, les Islandais ont dit non! http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article16684

Dazu müssen zwei Eisen im Feuer gehalten werden: Erhöhung der Löhne zu Lasten der Dividenden und Umset-zung einer umfassenden Steuerreform.

Lohnsteigerungen könnten die Haushalte entschulden und Absatz-möglichkeiten für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen eröffnen.

Nötig ist ferner eine drastische Ver-kürzung der Arbeitszeit bei gleichem Lohn und verbindlichen Neueinstel-lungen. Dies würde es erlauben, gleich-zeitig die Probleme der Arbeitslosigkeit, der Finanzierung der sozialen Sicherheit (durch Erhöhung der Zahl der Beitrags-zahler) und des Mangels an Freizeit der-jenigen, die arbeiten, anzugehen.

Eine harmonisierte Steuerreform auf europäischer Ebene würden es er-lauben, die vielen Steuerschlupflö-cher zu stopfen, eine progressive Steu-er auf alle Einkommen (Einkommens- und Körperschaftssteuer) wieder ein-zuführen, die indirekten Steuern, die vor allem die Ärmsten treffen (Mehr-wert- und Mineralölsteuer), zu reduzie-ren oder abzuschaffen und eine spezi-elle Steuer auf Finanzeinkommen und das Vermögen der Gläubiger zu erhe-ben, ohne die Besteuerung von anderen Kapitalerträgen und Immobilienrenten zu vergessen.

Eine nach unseren Vorstellungen bereinigte Steuerpolitik wird auch die unzähligen Befreiungen der Unterneh-men von Sozialabgaben streichen, die Beiträge der Unternehmer erhöhen und damit die Entwicklung der sozialen Si-cherung für alle und ein angemessenes Niveau der Renten und Pensionen ge-währleisten.

Schließlich hat das Finanzsystem seine soziale Schädlichkeit bewiesen. Die Banken und andere Finanzinsti-tutionen müssen enteignet, in den öf-fentlichen Bereich übertragen und un-ter die Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger gestellt werden.

Es ist auch notwendig, die Staats-schulden von einem Bürgerkomitee auf ihre Legitimität oder Illegitimität (was haben sie finanziert?) prüfen zu lassen.

Wir stellen diese Vorschläge zur Diskussion, um eine Liste von Forde-rungen festzulegen.Pascal Franchet ist stellvertretender Vorsitzen-der von CADTM Frankreich. Online veröffentlicht am 26. März 2010

Übersetzung [und Anmerkungen]: Björn Mertens

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Griechenland im Schraubstock der Rezession und der Zinswucherei

Seit mehreren Monaten ist die ökono-mische Krise auf unvorhergesehen ge-waltsame Weise in die soziale und po-litische Realität Griechenlands einge-drungen. Genau zu einer Zeit, wo die internationalen Regierungskreise und Massenmedien systematisch Hoff-nungen auf eine – und sei es schwache – Wiederbelebung der kapitalistischen Weltwirtschaft im Jahr 2010 verbrei-teten, zeigte „das griechische Drama“ plötzlich, wie anfällig und labil diese in Wirklichkeit bleibt. Noch deutlicher erweist sich die absolute Herrschaft des Finanzkapitals, das die Richtlinien der Politik der Regierungen auf Basis seiner direkten Interessen diktiert, da-durch aber nur den blinden Kurs des Kapitalismus auf eine unkontrollierte Aufblähung der „Blase“ der Staats-verschuldungen und einer allgemei-nen Weltwirtschaftskrise beschleu-nigt. Für die Rettung der Banken mus-sten von den Staatsbudgets in den bei-den vergangenen Jahren unvorstell-bare Summen aufgebracht werden, die insgesamt 25 % des weltweiten BSP, d. h. 14 Billionen Dollar, betrugen. Während die öffentlichen Einnahmen wegen der Rezession einbrachen, stieg die Staatsverschuldung besonders in der kapitalistischen Peripherie. Die entsprechenden Staaten erscheinen den Banken nun als zu unglaubwür-dig, als dass sie Kredite zu niedrigen Zinssätzen erhalten könnten. In einem Kommentar heißt es treffend: „Nach-dem das Finanz- und Kreditsystem seine Balance wiedererlangte, indem es sich die staatlichen Reserven ein-verleibte, wandte es sich um und fiel seinen Retter an.“ Im Fall Griechen-lands verschärfte sich das Problem be-sonders, als im vergangenen Oktober die tatsächliche Höhe der Staatsver-schuldung „enthüllt“ wurde.

Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Eventualität eines Bankrotts eines so kleinen Lands wie Griechenland, das nur 2 % des europäischen BSP re-präsentiert, in dramatischer Weise die Stabilität der Eurozone insgesamt be-droht. Damit erweist sich einerseits der Grad der gegenseitigen Durch-dringung und Abhängigkeit der Wirt-schaft in den Ländern der Eurozone, andererseits auch das Ausmaß ihrer ungleichen ökonomischen Entwick-lung. Die Interessen der herrschenden Klassen der Länder der Eurozone sind zwar vom einheitlichen Markt der EU in derartigem Maß abhängig, dass der Austritt jedes ihrer Mitgliedslän-der und daher sogar eines so kleinen wie Griechenland unmöglich gewor-den ist, da in einem solchen Fall un-vorhersehbare Folgen für die Stabilität der übrigen Staaten zu befürchten wä-ren. Dies gilt besonders für Deutsch-land, das wegen der Größenordnung seiner Wirtschaft, die 27 % des BSP der Eurozone umfasst, aber auch eine herausragende Rolle bei den führen-den, technologisch fortgeschrittenen Großunternehmen und bei der techno-logischen Ausrüstung der EU-Länder insgesamt spielt. Andererseits führt das Nichtvorhandensein eines föde-rierten, aber geeinten bürgerlichen eu-ropäischen Staats, der die öffentlichen Finanzangelegenheiten zentral steuern könnte, dazu, dass sich die innereuro-päischen kapitalistischen Widersprü-che, die sich aus der ungleichen Ent-wicklung ergeben, verschärfen. Diese Zuspitzung der Gegensätze unter den Bedingungen der Krise verursacht ei-nen zusätzlichen Aderlass und die Ab-wertung der schwächeren Volkswirt-schaften. Die Verwirrung und die pa-nikartige Reaktion des „Rette sich, wer kann“ dominiert, wenigstens vor-

läufig, in den Unternehmen und in den Kommandozentralen der europäischen Regierungen. Die ehrgeizigen langfris-tigen europäischen Perspektiven, wie die vollmundigen Erklärungen über die „Vision“ eines geeinten Europa mit einer Art bürgerlich-parlamenta-rischen Institutionen, scheinen sich buchstäblich in Luft aufzulösen. Die Schaffung eines einheitlichen europä-ischen Bundesstaats scheitert an der Struktur der EU selbst, in der keine geeinte Bourgeoisie mit starkem Be-wusstsein ihrer gemeinsamen Interes-sen existiert.

Die durch die Krise verursachte Pa-nik veranlasst die herrschenden Klas-sen der europäischen Länder daher, sich auf ihre eigenen, unmittelbaren Interessen und deren Absicherung zu-rückzuziehen, obwohl ihnen deut-lich bewusst ist, dass die Aufgabe und der Zusammenbruch eines schwachen Kettenglieds fatale Folgen haben und ihre eigene Stabilität bedrohen kön-nen. Was von den europäischen Re-gierungen als einzige „Lösung“ vor-geschlagen wird, ist nichts anderes als ein beispielloser Angriff auf die Ein-kommen der abhängig Beschäftigten und die Errungenschaften des „Sozi-alstaats“. Die Regierungen ignorie-ren die sozialen Konsequenzen und garantieren die Bankenprofite. Brei-te Schichten werden im Namen der „Produktivität“ und der „Konkurrenz-fähigkeit“ der nationalen Wirtschaft in Armut, Verelendung, Arbeitslo-sigkeit und ins soziale Abseits abge-drängt. Die Furcht vor einer allgemei-nen Erhebung der Opfer dieser Poli-tik beginnt bereits, in Europa bedroh-lich umherzugehen. Neben der Ausrü-stung der Repressionsorgane und der entsprechenden Gesetzgebung werden von der bürgerlichen Propaganda sy-stematisch die nationalistischen und rassistischen Massenreflexe geschürt. Die Zentraleuropäer gegen die „faulen Schweine“ des Südens. Die Südeuro-päer gegen die üblen Deutschen, deren DNA nazistische Instinkte enthalten.

Diese Analyse der Hintergründe der griechischen Finanzkrise und der

Haltung der verschiedenen Kräfte zum massiven Sparprogramm er-

schien am 1. Mai 2010 in der griechischen Zeitschrift Spartakos.

Nikos Tamvaklis

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„GRIECHISCHES DRAMA“ ODER EUROPÄISCHE KOMÖDIE

Die angeblich plötzliche Feststel-lung der Brüsseler Bürokratie, wie „unglaubwürdig“ die offiziellen sta-tistischen Daten waren, die bis Ok-tober 2009 über die tatsächliche Hö-he der Defizite (12,7 % des BSP statt 4 %, wie von der Nea-Dimokratia-Re-gierung behauptet) vorgelegt worden waren, in Kombination mit der rela-tiv hohen Staatsverschuldung (123 % des BSP) gaben den Ratingagenturen den Vorwand, die Kreditwürdigkeit des Landes herabzustufen. Zweifellos sind weder die Höhe der Defizite be-deutender als in vielen anderen euro-päischen oder anderen entwickelten Ländern (z. B. England 13,1 %, Spa-nien 11,4 %, Frankreich 8,7 %) noch die Höhe der Staatsverschuldung (z. B. Japan 197 %, Italien 127 %), um von den absoluten zur Debatte stehenden Größen gar nicht zu reden, die im Fall Griechenlands im Vergleich zu den grö-ßeren Ländern unbedeutend sind. Die Ratingagenturen stellen, wie die Fach-leute der bürgerlichen Presse zugeben, nichts anderes als die beauftragten In-strumente des Finanzkapitals selbst, d. h. der auf Profit spekulierenden Wu-cherer, dar. Die Herabstufung der Kre-ditwürdigkeit führte ihrerseits zum An-stieg der Kreditzinsen durch die be-rüchtigten Geld- und Kredit„märkte“. Die Wirtschaft des Landes geriet in den ausweglosen Kreislauf der ständig steigenden Staatsverschuldung und der Zinswucherei, die sie reproduziert.

Um der Sackgasse zu entkom-men, wandte sich die PASOK-Regie-rung an die EU-Institutionen mit der Bitte um Unterstützung. Sie wollte der Verhängung von „Sanierungsmaß-nahmen“ durch die Runde der EU-Führung zuvorkommen, und verkün-dete am 3. März „die erste Serie von Maßnahmen“ eines „Stabilitätspro-gramms“. Damit hoffte sie, die eu-ropäischen Führer gewogen zu stim-men und dazu zu bewegen, der grie-chischen Regierung einen Kredit mit einem „normalen“, nicht übertrieben hohen Zinssatz zu gewähren. Es zeigte sich aber, dass der „Unterstützungsme-chanismus“, der nach Marathon-Ver-handlungen und intensiven verbalen Auseinandersetzungen zustande kam und an dem der IWF beteiligt wurde, keinerlei Schutz vor dem Appetit der

Bankwucherer bot. Die Erläuterungen der Regierungschefs zum „Unterstüt-zungsmechanismus“ in der Telekonfe-renz vom 12. April bestätigten erneut die Herrschaft des Bankenkapitals und seiner neoliberalen Logik. Der Kre-ditzins des „Unterstützungsmechanis-mus“ orientiert sich an dem der „Mär-kte“ und den Abzahlungsbedingungen, die vom IWF aufgrund seiner „Sach-kenntnis“ vorgegeben werden. Darü-ber hinaus bleibt das Funktionieren des Mechanismus unklar, da es an den Ein-wänden der deutschen Regierung hän-gen bleibt. Auf diese Weise fanden der Anstieg und die Differenzen der Wu-cherzinsen auf die jeweilige Staatsver-schuldung, die „spreads“, Eingang in unsere Alltagsrealität. Letztlich sind sie es, die die Höhe unserer Löhne und Renten, die Höhe der Mehrwertsteuer auf unverzichtbare Konsumgüter, die Einkommenssteuersätze, die die zur Verrentung notwendige Lebensarbeits-zeit und die Anzahl der im öffentlichen Dienst Beschäftigten bestimmen.

Es ist sehr zweifelhaft, ob die Lohn- und Rentenkürzungen irgendwelche Auswirkungen auf die Höhe der Bud-getdefizite und besonders der Staats-verschuldung haben werden. Klar ist aber, dass die Zerschlagung der letzten

Bastion der Gewerkschaftsbewegung, die im öffentlichen Dienst und in den DEKO, den staatlichen Unternehmen, gehalten wird, die höchste Priorität der Maßnahmen der EU-Führung und des IWF darstellt. Außerdem wird immer deutlicher, dass diese Maßnahmen als Pilotprojekt für einen allgemeinen An-griff auf die arbeitende Bevölkerung zunächst – in absehbarer Zukunft – in den Ländern Südeuropas dienen.

Die ungeheure Wucht dieses An-griffs fegte auch die letzten Illusionen hinweg, die in all den letzten Jahren der Anwendung neoliberaler Politik in der öffentlichen Meinung Griechenlands gehegt wurden und vorherrschend wa-ren. Es waren die Jahre, die von Be-ginn der 90er an vom Zusammenbruch der benachbarten stalinistischen Re-gime, dem ständigen Rückgang der or-ganisierten Arbeiter/innen-Bewegung, dem schrittweisen Abbau des ohne-hin blutarmen „Sozialstaats“ Griechen-lands in den 80ern und von der ideolo-gischen Vorherrschaft der neoliberalen Mythen gekennzeichnet waren – Auf-fassungen von der Allmacht und den „positiven Auswirkungen“ der Konkur-renz und der zeitlosen Blüte des Unter-nehmertums und der „Privatinitiative“. Das „starke Griechenland“, das unbe-

Generalstreik …

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zweifelbare EU-Mitglied mit seinen hohen Wachstumsraten, mit seinen dy-namischen Investitionsaktivitäten auf dem balkanischen „Binnenmarkt“, mit seinem „nationalen Stolz“ auf die er-folgreiche Austragung der glänzenden Olympischen Spiele von 2004, steht, wie sich plötzlich herausstellt, auf tö-nernen Füßen. Es ist, kurz gesagt, der Schwachpunkt der Eurozone, die er-ste und leichteste Zielscheibe der im Hinterhalt lauernden „Spekulanten“. Gleichzeitig wurde es auch noch über einen langen Zeitraum von der euro-päischen Presse und den Fernsehkom-mentatoren wegen seiner geschönten offiziellen statistischen Daten, der weit verbreiteten Korruption und der Ineffi-zienz seines öffentlichen Dienstes, so-gar wegen „der Faulheit seiner Bevöl-kerung“, die „systematisch über ihre Verhältnisse lebt“, verhöhnt.

EUROPAS POLITISCHES SYS-TEM IM ZEICHEN DER KRISE

Die plötzliche Verschärfung der Krise Griechenlands warf ein Licht nicht nur auf die Strukturschwächen des grie-chischen Kapitalismus, sondern auch auf die Rolle der Politiker und der Par-teien des Landes, aber ebenso des euro-päischen politischen Systems, der Ge-werkschaftsführungen und der Massen-medien. Die „verantwortlichen“ Politi-ker und die Arbeitgeber erlassen einen patriotischen Aufruf zur Rettung der Nation nach dem anderen und werden dabei von den Fanfarenstößen der Mas-senmedien unterstützt, ohne allerdings die Gründe für diese Krise benennen zu können oder auch nur auf die Suche nach ihnen zu gehen. Um schon gar nicht davon zu reden, dass sie es wagen würden, sich der Ausweglosigkeit des Kreislaufs der neoliberalen Politik ehr-lich zu stellen.

Für Angela Merkel scheinen die Wahlergebnisse in Nordrhein-Westfa-len wichtiger zu sein als das Schicksal der europäischen Institutionen und die Perspektive der Einigung Europas. Die Brüsseler Bürokratie und die EU-In-stitutionen stellen nicht ohne Verwun-derung fest, dass ihr „spezifisches Ge-wicht“ und ihre Möglichkeiten ange-sichts des Willens und der Entschei-dungen ihres wirklichen Bosses – der deutschen Bourgeoisie – belanglos sind. Nachdem die herrschende Klasse Deutschlands zehn Jahre lang die Löh-

ne und Renten der abhängig Beschäf-tigten eingefroren hat, fand sie nun die Gelegenheit, deren unterschwel-lige Wut und Verärgerung – wenigstens vorläufig – auf einen sich anbietenden fremden Sündenbock zu lenken, die „faule“ arbeitende Bevölkerung Grie-chenlands, die es nicht verdient, Mit-glied der privilegierten Familie der Eu-rozone zu sein. Die zurückgebliebenen Nichtstuer Südeuropas drohen die Mü-hen und die Opfer der hart arbeitenden Deutschen zu untergraben! Die konser-vative Regierung Merkel weckte damit die schlimmsten Traditionen auslän-derfeindlicher und rassistischer Mas-senmanipulation. Sie verschweigt ge-flissentlich, dass die Überschüsse in der deutschen Leistungsbilanz zum Teil auf den griechischen Defiziten be-ruhen, ebenso, dass die deutschen In-vestitionen in den Ländern der Eurozo-ne wegen des einheitlichen Marktes in hohem Grad die Wirtschaft der übrigen Länder, und besonders die Südeuro-pas, bestimmen. Verschwiegen wird nicht nur, dass die arbeitende Bevölke-rung Griechenlands keine Verantwor-tung für das Missmanagement des grie-chischen Staates trägt, sondern auch, dass die unmittelbaren Interessen des deutschen Kapitals mitverantwortlich für die weit verbreitete Korruption und die Ineffizienz des öffentlichen Sektors sind – wie der Siemens-Bestechungs-skandal, die Daimler-Affäre und die Bestechungsgelder für Rüstungsimpor-te beweisen. Unterschlagen wird natür-lich auch, dass die abhängig Beschäf-tigten Griechenlands nach den Kore-aner/innen zu denen mit der höchsten Wochenarbeitszeit und gleichzeitig zu den am schlechtesten bezahlten in Eu-ropa gehören.

Die deutsche Regierung ist sich si-cher bewusst, dass der Zusammen-bruch eines Landes der Eurozone al-le anderen Länder in den Sog aufein-anderfolgender ökonomischer Krisen hineinziehen kann. Ihre direkten Ver-bindungen zum Finanz- und Kredit-kapital erlauben es ihr aber nicht, ei-ne mittelfristige Strategie währungspo-litischer Politik zu verfolgen, um die-ser Gefahr zu begegnen. Auf diese Wei-se wird ihre beklagenswerte Unfähig-keit angesichts der Sackgasse offenbar. Die einfache Zuflucht, in der sie Heil sucht, d. h. der Entfachung rassistischer und ausländerfeindlicher Hysterie in breiteren Bevölkerungskreisen, ist be-

sonders gefährlich und könnte sich in nicht allzu ferner Zukunft als selbstzer-störerisch erweisen. Die entsprechende griechische Reaktion der Regierung sowie aller parlamentarischer Parteien vom rechtsradikalen LAOS bis zur KP Griechenlands war bislang darauf ab-gestimmt, die üblichen antiimperialis-tischen und patriotischen Reflexe zu fördern. Die unbezahlten deutschen Reparationen für die Zerstörungen und die deutsche Kriegsanleihe während des Zweiten Weltkriegs sowie die Er-innerungen an die Kriegsverbrechen in Distomo und Kalavryta werden wie-der in die Diskussion gebracht. Die of-fenbare Schwäche, die Allianz und die Unterordnung der griechischen Bour-geoisie unter den ökonomischen Impe-rialismus des deutschen Kapitals lassen es aber nicht zu, dass diese Art von Re-aktion die real bestehenden Probleme zur Sprache bringt und über einige auf den Augenblick beschränkte verbale Attacken hinausgeht.

Damit wird klar, dass der Ent-wurf einer unabhängigen internationa-listischen Klassenpolitik für den Wi-derstand und das Überleben der ar-beitenden Menschen absolut erforder-lich ist. Der lohnabhängigen Bevölke-rung Deutschlands kommt wegen ihrer entscheidenden Stellung in der mäch-tigsten europäischen Volkswirtschaft eine Schlüsselrolle für die Entwicklung einer solchen Klassenpolitik zu. Die Lohnabhängigen Griechenlands und der anderen europäischen Länder müs-sen alles dafür tun, diesen Prozess der Bewusstseinsbildung zu unterstützen. Ein Rückzug der griechischen Linken auf die zwecklose patriotische Rheto-rik führt genau in die entgegengesetz-te Richtung.

EINE MARIONETTENREGIE-RUNG DES IWF

Die im griechischen Parlament vertre-tenen Parteien gaben unter dem Druck der Krise ihre Klassenorientierung so-wie ihre Beschränkungen deutlicher als sonst zu erkennen. Die von der Re-gierung am 3. März bekanntgegebenen Maßnahmen bedeuten eine beispiellose Einkommenskürzung für die Lohnab-hängigen und Pensionierten. Die Be-troffenen sind immer noch von der Heftigkeit dieses Angriffs überrascht und werden in den kommenden Mo-naten schrittweise seine Folgen für ihr

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Alltagsleben und ihren Lebensstandard begreifen. Ihre Situation wird sich in-folge verschiedener neuer Maßnahmen des „Stabilitätsprogramms“, etwa der Erhöhung der Mehrwertsteuer auf le-benswichtige Produkte und des Inkraft-tretens des neuen Steuer- und Renten-systems weiter verschlechtern. Diese Einkommenskürzung der Lohnabhän-gigen wird auf bisher unbekannte Wei-se direkt und brutal, zulasten des No-minallohns und gleichzeitig der Kauf-kraft durchgesetzt. Bis zur Einfüh-rung des Euro verursachten die stän-dige „gleitenden“ oder sogar abrupten Abwertungen der Drachme sicher auch Einbußen des Realeinkommens, aber auf indirektere Weise und dank der relativen Beharrlichkeit des Binnen-marktes sowie dadurch, dass die Lohn-empfänger/innen durch den Druck des täglichen Klassenkampfs die Verluste ausgleichen konnten.

Die PASOK-Führung rückte plötz-lich in den Mittelpunkt dieser Entwick-lungen, deren Ausmaße sie nicht vor-hersehen und im Rahmen ihrer po-litischen Gegebenheiten noch weni-ger abwenden konnte. Sie ergriff die-se Maßnahmen am 3. März mit der un-nachahmlichen Begründung, „die an-deren würden sie uns aufzwingen, wenn wir sie nicht selbst ergreifen wür-den.“ Damit gab sie praktisch zu, dass die Regierung die nationale Souverä-nität verloren hat. Eine andere Politik zu entwerfen als die, die der IWF und die EZT diktieren würden, wäre für die PASOK-Führung schlicht unvorstell-bar. Ihre Glaubwürdigkeit stützt sich bisher darauf, dass die breiten Bevöl-kerungsschichten überrascht wurden, sowie auf die ständige Präsentation des Images eines aktiven und nicht kor-rumpierbaren Ministerpräsidenten und auf das Fehlen von glaubwürdigen Al-ternativvorschlägen sowohl der rechten als auch der linken Opposition. Da die Regierung vorwiegend aus von der Par-teibasis abgeschnittenen Technokrat/innen besteht, geht sie zur Anwendung des Maßnahmenkatalogs über, ohne wirklich ein Gefühl dafür zu haben, wie sich eine stumme Wut in der Ge-sellschaft aufstaut. Die Gewerkschafts-bürokratie von GSEE (des privaten Sektors) und ADEDY (des öffentlichen Dienstes), die vom Staat ausgehalten wird und eng mit der Regierung ver-bunden ist, tritt gewöhnlich in der Rol-le des scharfen Kommentatoren der

Regierungspolitik auf oder beschränkt sich darauf, die Trümmer des „Sozi-alstaats“ zu beklagen. Ihre tatsäch-liche Funktion, die bezahlte Vermitt-lung dafür, dass die Maßnahmen mit möglichst wenig sozialen Erschütte-rungen umgesetzt werden, wird in den Augen der Lohnabhängigen immer of-fenbarer. Die zeremoniellen Mobilisie-rungen, die sie bislang in die Wege lei-tete, beweisen ihre völlige Konzeptlo-sigkeit und ihr schwindendes Ansehen. Die Aktionen auf der Straße sind oh-ne Übertreibung vor allem auf den Ein-satz der Basisorganisationen der Ge-werkschaften und der außerparlamen-tarischen Linken zurückzuführen.

Die Massenmedien erzeugen syste-matisch ein Horrorklima vor der Even-tualität des „Staatsbankrotts“ und pro-pagieren unablässig die Notwendig-keit weiterer und noch härterer Maß-nahmen, während die spread steigen. Die neoliberale Einbahnstraße, die ein-zig die Wucherzinse der Banken kurz-fristig garantiert, wird von den Fern-sehkommentatoren wie von Papageien als gegeben und unabänderlich hinge-stellt.

VORBEHALTLOSE UNTERSTÜT-ZUNG DES „STABILITÄTSPRO-GRAMMS“ VON RECHTS

Der rechtsradikale LAOS trat als be-sonders eifriger Unterstützer des Sta-bilitätsprogramms in Erscheinung, ver-langte seine sofortige Anwendung und Erweiterung und warnte vor dem be-

vorstehenden „Staatsbankrott“. Hin-ter der Maske des Populismus trat da-mit sein wahres Gesicht hervor, das des treuen und konsequenten Dieners und eventuellen Wachhunds der herr-schenden Klasse. Die vulgäre Logik und die allgemeine Kritik am „korrup-ten System“, aber gleichzeitig auch die ständige Anprangerung des „gewerk-schaftlichen Zunftwesens“, der Ange-stellten des öffentlichen Dienstes, der Errungenschaften des Sozialstaats, der „unerträglichen Situation mit den vie-len Ausländern“ findet immer mehr Gehör in breiteren kleinbürgerlichen Schichten. LAOS hat sich damit als der gefährlichste Feind der organisierten Arbeiterbewegung profiliert. Das an-tideutsche Klima, das in der Bevölke-rung vorherrschte, ermöglichte es dem LAOS-Vorsitzenden Karatzaferis, eini-ge Propagandalosungen zum Boykott der deutschen Konsumgüter auszuge-ben. Derartige Kampagnen, bei de-nen der Volkszorn etwas Luft ablassen kann, indem die Illusion irgendeiner Form von Widerstand erzeugt wird, ge-fährden in keiner Weise die Profite des Bankensektors.

Die Nea Dimokratia (ND), nun Hauptoppositionspartei der bürger-lichen Rechten, schafft es nicht, sich nach der Wahlniederlage vom ver-gangenen Oktober neu zu formieren, und schliddert immer weiter in eine tie-fe innerparteiliche Krise. Die neue Sa-maras-Führung ist krampfhaft bemüht, wenigstens ansatzweise eine oppositi-onelle Linie vorzubringen. Die Betei-

… und Widerstand in Griechenland

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ligung des IWF am „Rettungsmecha-nismus“ gibt Samaras den Vorwand, sich von der Regierungspolitik teilwei-se zu distanzieren. In Wirklichkeit gibt es keinerlei Differenzen, was die Sub-stanz des Stabilitätsprogramms betrifft. ND bleibt weiter wegen der faktischen Aufgabe der öffentlichen Dienste (Ge-sundheit, Erziehung, Sozialversiche-rungen), des katastrophalen Missma-nagements und der zahlreichen Skan-dale während ihrer Regierungszeit (2004-09) vom Volkszorn belastet. An-dererseits hat Dora Bakoyianni, die bei der Präsidentenwahl von ND nach dem Rücktritt des Ex-Ministerpräsidenten K. Karamanlis den Kürzeren zog, die Partei eines bedeutenden Teils der grie-chischen Bourgeoisie ergriffen und sich für die Beteiligung des IWF ausgespro-chen. Dora B. unterstützt die Garantie der Banken-Wucherzinsen auf „verant-wortungsbewusste“ Weise, wie es sich für eine authentische Repräsentantin des Großkapitals gehört. Die Situation, in der die Samaras-Führung ihren Kurs zu bestimmen versucht, wird dadurch noch komplizierter. Die in der Par-tei ausgebrochene Verwirrung spiegelt anschaulich die allgemeine Situation, die Panik und die Dilemmata der herr-schenden Klasse Griechenlands unter den Bedingungen der Krise wider.

DIE GESPALTENE PSYCHE DER REFORMISTISCHEN LINKEN

Die stalinogene Linke offenbarte ih-re zutiefst reformistische Orientierung sowie die Scheidelinie, die die Kursbe-stimmung der Parteien durchzieht. Di-ese Scheidelinie wird in den mehr oder weniger kurzsichtigen ökonomischen Analysen der linken Professoren und den gewohnten rhetorischen Anklagen

des Neoliberalismus oder sogar des Ka-pitalismus insgesamt durch die linken Berufspolitiker deutlich, aber ganz be-sonders in der Frage des strategischen Vorschlags, die jetzt unausweichlich in den Vordergrund gerückt ist. Auf der einen Seite sind die die rechtsreformi-stischen „europafreundlichen“ Merk-male der SYN-Führung zu bemerken. Der Parteivorsitzende Tsipras scheint zusammen mit dem rechtsgerichteten „Erneuerer“-Flügel und dem größeren Teil des Parteiapparats, d. h. des soge-nannten „linken Flügels“, eher um die Gefahren für die „europäischen Insti-tutionen“ und die Perspektive Grie-chenlands in ihnen besorgt zu sein, die mit dem Eindringen des von Washing-ton kontrollierten IWF in die Eurozo-ne verbunden sind. Das Festhalten an der Idee vorgeblich über den Klassen schwebender demokratischer Institu-tionen der EU zu einem Zeitpunkt, an dem ihr autoritärer und an den Inte-ressen der Herrschenden ausgerichte-ter Charakter in unzweideutiger Weise zu Tage tritt, unterstreicht, wie sehr die rechtsreformistische Linke vor den be-stehenden Machtverhältnissen kapitu-liert hat. Ihr Zuspruch bei breiteren Be-völkerungsschichten geht ständig zu-rück. Ihr einziger Trost besteht darin, dass ihre „Glaubwürdigkeit“ und ihr Status als „verantwortungsbewusste“ politische Kraft von den Massenmedi-en wieder anerkannt werden.

Auf der anderen Seite findet die pa-triotische antieuropäische Haltung der KP Griechenlands (KKE) und eines Teils der linken Strömung des SYN, aber auch eines bedeutenden Teils der antikapitalistischen Linken, die auf die eine oder andere Weise die Chimäre ei-ner nationalen „Volksökonomie“ au-ßerhalb der EU anstreben, in Wirklich-

keit keinen breiteren Widerhall, wenn man von den engeren von den Parteien beeinflussten Kreisen absieht. Die herr-schende Klasse Griechenlands ist ins-gesamt völlig vom einheitlichen Markt der EU und ihrem Banken- und Kredit-system abhängig. Es gibt in ihr keine „produktionsorientierte“ Fraktion, die an einer Ausstiegsstrategie interessiert wäre.

Es versteht sich von selbst, dass ei-ne antikapitalistisch-revolutionäre Ar-beiterregierung, die zur Nationalisie-rung der Banken und zur Arbeiter/in-nen-Kontrolle der Unternehmen über-ginge, nicht nur automatisch von den bürgerlichen EU-Institutionen abge-schnitten wäre, sondern sich in einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod mit ihnen befände. Ihr Überleben würde sich aber in erster Linie auf das politische Bewusstsein, die Kampfbe-reitschaft, die Mobilisierungsfähigkeit und die praktische Solidarität der ar-beitenden Bevölkerung in den übrigen EU-Ländern stützen. Die Lohnabhän-gigen Griechenlands verstehen aus der eigenen Erfahrung des Alltagslebens die wirtschaftliche Verflechtung und Arbeitsteilung in Europa, die das Über-leben einer national isolierten Wirt-schaft problematisch macht. Solange die KKE und die Befürworter eines na-tionalen Auswegs diese neue Realität nicht wahrhaben wollen und ihren na-tionalpatriotischen Schablonen verhaf-tet bleiben, werden sie nur einige ge-gen die EU gerichtete Gewehrsalven in die Luft abfeuern.

Was die Tageskämpfe betrifft, ist die Sackgasse der von der KKE gesteu-erten Gewerkschaftsfront PAME zu beobachten, die sich weigert, ihre Ak-tivitäten mit allen übrigen Streikenden und Protestierenden zu koordinieren und mit ihnen gemeinsam den Kampf zu führen. Diese Politik läuft darauf hi-naus, die Gewerkschaften und die Ar-beiter/innen-Klasse durch die Parteior-ganisationen zu ersetzen bzw. zu „sub-stituieren“, was absolut negative Aus-wirkungen auf die Möglichkeiten einer Antwort und des Widerstands der Ar-beiter/innen-Klasse insgesamt hat. Die antikapitalistischen Organisationen und Formationen, die im Rahmen der SYRIZA-Allianz aktiv sind, versuchen einen kämpferischen Ausweg durch die Gründung örtlicher Komitees gegen das Stabilitätsprogramm zu finden. Di-ese Initiative müsste aber viel breitere

Streikende Beamte

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Die griechische Schulden kriseGespräch mit Charles-André Udry

Dieses Gespräch wurde am 12. März 2010 aufgezeichnet, die Fra-

gen stellte die Redaktion der Zeitschrift Ergatiki Aristera (Zeitschrift

der DEA – Internationale Arbeiterlinke, Mitglied im Bündnis Syriza).

Obwohl das Gespräch schon ein wenig zurückliegt, könnte es an-

gesichts der aktuellen Ereignisse für die LeserInnen von Interesse

sein. (Red.)

In den letzten Jahren sind die Schul-den der öffentlichen Hand in al-len Industriestaaten gestiegen. Wa-rum?Wenn die Medien von Verschuldung sprechen, ist das meistens missver-ständlich. Die öffentlichen Schulden sind nichts anderes als die Bruttover-schuldung der gesamten öffentlichen Verwaltung (Zentralstaat, Lokalver-waltungen, Sozialversicherungen, Bil-dungssysteme etc.). Es handelt sich somit um die Gesamtheit der finanzi-ellen Verpflichtungen, die diese Insti-tutionen ihren Gläubigern im Prinzip mit Zinsen zurückzahlen müssten.

Dieselben öffentlichen Einrich-tungen besitzen aber auch finanzielle wie nicht finanzielle Aktiva, von Ge-bäuden bis hin zum Potenzial des Bil-dungswesens), die ihr Vermögen bil-den. Unter Berücksichtigung dieser Fakten verändert sich das Verhältnis von öffentlicher Verschuldung und Bruttoinlandprodukt (BIP). Die herr-schenden Eliten verweisen nur auf den Passivposten. Die Verschuldung ist immer ein Verhältnis von Verpflich-tungen zu Werten, also Ausdruck des Gesamtvermögens. Dieser Aspekt wird oft übergangen. Das erleichtert es, die öffentliche Verschuldung sozi-al und politisch zu instrumentalisieren und Sparmaßnahmen im Bereich der Löhne und Sozialausgaben (der gesell-schaftlichen Einkommen) durchzuset-zen, wovon Einkommensbezieher, die selbst nicht arbeiten (Rentiers), pro-fitieren. Diese „leben unter anderem von der Verschuldung“ und fordern Maßnahmen, die gewährleisten sollen, dass sie für ihre Obligationen (Schuld-titel) weiterhin Zinsen erhalten. Diese

Situation beschreibt J. M. Keynes tref-fend im letzten Kapitel der Allgemei-nen Theorie, in dem er die „Euthana-sie der Rentiers“ fordert.

Seit Anfang der 1970er-Jahre sind die kumulierten öffentlichen Schulden in allen Ländern der Europäischen Union (EU) massiv gestiegen. Die Fi-nanzlage der öffentlichen Hand hat sich angesichts diverser Wirtschaftsre-zessionen laufend verschlechtert. Die öffentliche Verschuldung hängt al-so eng mit der strukturellen Krise des Kapitalismus seit 1974/75 zusammen. Hinzu kommen jedoch drei Faktoren:Erstens ist in allen OECD-Staaten langfristig eine relative Erhöhung der Ausgaben der öffentlichen Hand fest-zustellen. Darin drückt sich die not-wendige Mitwirkung der öffentlichen Hand an der Aufrechterhaltung der Bedingungen der Kapitalakkumulati-on aus (kollektive Ausrüstungsgüter, öffentlicher Dienst, Bildung …), aber auch an der Erfüllung sozialer Bedürf-nisse, denen die herrschende Klasse gemäß Entwicklung der gesellschaft-lichen Kräfteverhältnisse nachkom-men muss, um ihre Herrschaft zu sta-bilisieren. Und das, ohne eine Steuer-politik durchzusetzen, die in „gefähr-lichen“ Zeiten wie dem Zweiten Welt-krieg quasi zur Enteignung der gesam-ten hohen Einkommen über einer be-stimmten Höhe führte. Diese Tendenz wurde 1973 von James R. O’Connor in seinem Werk „The Fiscal Crisis of the State“ analysiert.Zweitens hängt die Verschärfung der öffentlichen Verschuldung seit den 1980er-Jahren nicht mit einer „unbe-sonnen“ Steigerung der öffentlichen Verschuldung zusammen, sondern mit

Kreise einbeziehen und ist von Anfang an mit dem Makel des kläglichen rech-ten oder linken Reformismus des SYN behaftet.

ANTIKAPITALISTISCHE NEU-FORMIERUNG

Die bedeutendste und hoffnungsvollste Entwicklung ist das Auftreten des Ko-ordinationskomitees der Basisgewerk-schaften unter dem Einfluss der anti-kapitalistisch-revolutionären Linken. Die dynamische Präsenz dieser Initi-ativen bei den Streik- und Protestver-anstaltungen sind erste Anzeichen für die Wiedergeburt der kämpferischen Gewerkschaftsbewegung. Diese Neu-formierung könnte sich als Brücken-kopf für die Organisierung und Mobi-lisierung der großen Masse der nicht-organisierten Lohnabhängigen der Pri-vatunternehmen, der Immigrant/innen, der Bauarbeiter, der in der Landwirt-schaft und der Touristikbranche Be-schäftigten erweisen. Die Gründung lokaler Komitees zur Verhinderung des Stabilitätsprogramms ist eine weitere richtige Orientierung, die noch durch die chronischen Schwächen der Bewe-gung, die kleinliche Rechthaberei, das Misstrauen und die Rivalitäten der ver-schiedenen kleineren Organisationen untereinander, gebremst ist.

Die Herausbildung eines Trägers der antikapitalistischen Linken, der im Zeichen der sich rasch verschärfenden Krise eine entscheidende, vorwärtswei-sende Rolle in den Klassenkämpfen spielen könnte, ist derzeit noch nicht abzusehen. Die Formierung von AN-TARSYA geht im Schildkrötentempo voran, während sich die sozialen und politischen Entwicklungen beschleu-nigen. Die beiden größten Organisati-onen von ANTARSYA zögern, die not-wendigen entscheidenden Schritte im organisatorischen Bereich vorzuneh-men. Dennoch erscheint die Propagie-rung einiger gezielter Übergangsforde-rungen, die die internationalistische Di-mension der Arbeiter/innen-Solidarität und der Koordination der Kämpfe mit den europäischen Lohnabhängigen för-dern und zur Förderung des politischen Bewusstseins beitragen könnten, heute sowohl notwendig als auch erfolgver-sprechend.

Übersetzung aus dem Griechischen: A. Kloke

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einem relativen Rückgang der öffent-lichen Einnahmen.

Gemeint sind Steuersenkungen für die hohen (und sehr hohen) Einkom-men sowie die kapitalistischen Unter-nehmen, die Steuerbefreiung von Fi-nanzoperationen (Banken, Versiche-rungen, Investitionsfonds etc.), die Schaffung von „Steuernischen“, um erhebliche Beträge ins Trockene zu bringen, Maßnahmen zugunsten des „Steuerwettbewerbs“ innerhalb der EU und weltweit wie auch innerhalb der föderativen Staaten (Deutschland, Schweiz, Vereinigte Staaten), deren Länder, Kantone und Bundesstaaten um „Investoren“ (Unternehmen) und die Niederlassung von Personen mit hohem Vermögen buhlen, sowie poli-tische Entscheidungen, die den Unter-nehmen erlauben, ihre „Beteiligung“ an den Sozialversicherungsbeiträgen zu reduzieren, mit dem behaupteten politischen Ziel der Schaffung von Arbeitsplätzen, obwohl weitgehend unumstrittene Studien zeigen, dass In-vestitionen letztlich viel eher von der Nachfrage (also den Auftragsbüchern) abhängen als von „Lohnstützungen“ und der „Senkung der Kapitalbesteu-erung“, ganz zu schweigen von den Wirtschaftsbereichen, die sich jeder Besteuerung entziehen (Untergrundö-konomie) sowie „Steuerparadiesen“.

Die Tatsache, dass die öffentlichen Einnahmen nicht im selben Rhythmus gestiegen sind wie die öffentlichen Ausgaben, ist Ergebnis einer von den Rechten wie den „Linken“ gewollten Regierungspolitik, die darin besteht, die Abschöpfungen unter dem Niveau

zu halten, das für ein gewisses Gleich-gewicht von Ausgaben und Einnah-men nötig und dank des gesellschaft-lichen Reichtums durchaus möglich wäre.Drittens kommt diese Politik direkt gewissen Kapitalistenkreisen zugute und ermöglicht diesen „wundersamer-weise“, sich dem Staat als Gläubiger anzubieten. Denn die Banken und Ver-sicherungen, bei denen sie ihre „Er-sparnisse“ (Gewinne) anlegen, kau-fen staatliche Schuldentitel (Obligati-onen, Staatsanleihen, die wie in Italien teilweise von Steuern befreit sind). Die von diesen „Wirtschaftsakteuren“ nicht gezahlten Steuern – im Grunde genommen eine legale Form der Steu-erhinterziehung – werden zu Finanz-kapital, das Zinsen abwirft. Letzte-re werden durch die Löhne bezahlt. Die Schulden sind folglich ein Mit-tel der Umverteilung des gesellschaft-lichen Reichtums zugunsten der Rei-chen, mit anderen Worten: ein Mittel zur Vertiefung der sozialen Ungleich-heit. Deshalb kommt der Aufrechter-haltung dieser Zuflüsse zu den Gläu-bigern so große Bedeutung bei.

Zudem können mit dieser öffent-lichen Verschuldung nach dem ge-planten Abbau von Investitionen in die Infrastrukturen und den Personalab-bau in diversen Bereichen des öffent-lichen Dienstes wie Gesundheit, Bil-dung, Transportwesen und Post Priva-tisierungen gerechtfertigt werden. Da-mit werden die ausgebeuteten Lohn-abhängigen, die eigentlich kostenlos (oder sehr günstig) in den Genuss ei-ner qualitativen Gesundheitsversor-

gung, kollektiver Einrichtungen und Bildung kommen sollten, noch mehr zur Kasse gebeten. Daher ist es durch-aus gerechtfertigt, diese Verschuldung zurückzuweisen, zumal die Verschul-dung (der Kredit) eine dem Kapital immanente Antwort auf seine langfri-stige Krise ist.

Hat man nicht gesehen, dass sich dieser Prozess seit 2008 beschleu-nigt hat? Und warum?Im Einvernehmen zwischen Regie-rungen und Finanzinvestoren, die ja in Wirklichkeit keine Widersacher sind, wurden im Lauf des Herbstes 2008 ei-nige Banken gerettet (die 28 Milliar-den Euro, die Konstantinos Karaman-lis von der Nea Dimokratia („Neue Demokratie“) einigen Banken zukom-men ließ) und Großunternehmen ge-stützt (Automobilsektor), und zwar vor allem mittels Darlehen in Form von Staatspapieren, die auf dem öf-fentlichen Schuldenmarkt (Obligatio-nenmarkt) aufgelegt wurden. Infolge dieser Darlehen, der rückläufigen Ein-nahmen aufgrund von Einbrüchen in Produktion und Warenabsatz (MWSt) und, was Griechenland betrifft, infol-ge von Steuergeschenken, die dem so-zialpolitischen Bündnis der Regie-rung der Nea Dimokratia seit 2004 zugrundeliegen, stieg die öffentliche Verschuldung in allen EU-Ländern. Von 2007 bis 2010 (Berechnungen und Schätzungen von Eurostat) betrug die Wachstumsrate der Verschuldung in der Eurozone 26,7 % (Frankreich 27,7 %, Niederlande 38,4 %, Portu-gal 28,3 %, Spanien 72,1 %, Irland 218,8 %, Italien 12,2 %, Griechenland 21,3 %).

Was den Anteil der Schulden am BIP betrifft, geht Eurostat für 2010 von folgender Schätzung aus: Fran-kreich 81,5 %, Niederlande 63,1 %, Portugal 81,5 %, Spanien 62,3 % (mit hoher Wahrscheinlichkeit einer wei-teren Verschlechterung für 2011), Ir-land 79,7 %, Italien 116,1 %, Grie-chenland 115 % und die Eurozone 83,6 %.

Wenn Griechenland nun zum Ver-suchsfeld einer Sparpolitik der EU und der Durchsetzung eines „tatsächlich neoliberalen Staates“ wird, dann liegt das nicht am Wachstum seiner Schul-den. Die europäischen Regierungen und die internationalen Finanzinstitu-tionen (Europäische Zentralbank EZB,

Polizei schützt die Banken

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Internationaler Währungsfonds IWF) benützen den Anteil der Schulden am BIP als Instrument für einen Angriff, der sich als soziopolitisches Experi-mentierfeld versteht, bei dem die grie-chischen Unternehmer und die Regie-rung mitmischen. Bekanntlich hängen die Steuereinnahmen Griechenlands aktuell de facto von drei Faktoren ab: der Seebefrachtung, dem Handel mit dem Nahen Osten inkl. der Türkei und dem Tourismus. Die Wirtschaftskrise und die Politik der EZB wirken auf al-le drei Faktoren zwangsläufig dämp-fend. Selbst mit einer nach EU-Krite-rien strengen Regierung wäre das De-fizit explodiert. Das steigende Defizit geht also nicht auf zu hohe Löhne der griechischen Lohnabhängigen oder zu hohe Renten zurück!

Werfen wir einen Blick auf die spezifische Rolle der Banken in der gegenwärtigen Situation. Die Banken sind 2008 gerettet worden und weisen gegenwärtig bedeutende Gewinne aus. Diese diversifizierten Institutionen ha-ben die Staatsanleihen mit dem Geld gekauft, das ihnen die Regierungen zugesprochen haben. Sie haben Li-quiditäten, die sie zu ausgesprochen günstigen Zinssätzen erhalten haben, in spekulative Sparten (Hedge Funds) transferiert, um noch mehr von der öf-fentlichen Verschuldung profitieren zu können, unter anderem mit speku-lativen Finanzinstrumenten wie den CDS (Credit Default Swaps).1 Das Fi-nanzkapital ist also gestärkt aus der Krise hervorgegangen, ohne von ei-ner angeblichen „Regulierung“, von der die Regierungen so viel gespro-chen haben und weiterhin sprechen, gestört zu werden. Dieser Sektor fühlt sich stark genug, um offen gegen die Regierungen und den Euro zu speku-lieren.

Konkret mahnen die Banken ein, die Lohnabhängigen durch eine ri-gide Sparpolitik stärker zu belasten, um den Schuldendienst für die Ge-samtschulden und sogar teilweise die

1 Unter CDS versteht man Finanzverträge, ähn-lich Versicherungsverträgen, mit denen man sich gegen den Konkurs von Darlehensneh-mern schützen kann. Der Käufer von CDS zahlt eine Jahresprämie, der Verkäufer ver-pflichtet sich dafür, den Wertverlust von Akti-va oder die Nichtrückzahlung auszugleichen. Im Gegensatz zu klassischen Versicherungen muss der Verkäufer von CDS nicht schon im Voraus die nötigen Mittel zur Deckung eines möglichen Wertverlusts aufbringen.

Rückzahlung der Kredite selbst zu ge-währleisten.

In erster Linie will die „Finanzwelt“ sicherstellen, dass die akkumulierten Forderungen der europäischen (deut-schen, französischen, englischen und in geringerem Ausmaß schweize-rischen) Banken gegenüber Griechen-land nicht abgewertet werden. Dassel-be Szenario könnte sich demnächst im Bezug auf die Forderungen von Ban-ken und anderen Institutionen (zusam-mengefasst unter der magischen For-mel des Marktes) wiederholen, die ho-he Beteiligungen in Spanien haben.

Die Unternehmer werden die Spar-pläne nutzen, um ihre durch die Re-zession 2008/2009 geschmälerten Profite zu sanieren und dabei alle die Notwendigkeit pochen, „sich dem in-ternationalen Wettbewerb zu stel-len“. Der Lohnabbau im öffentlichen Dienst wird neben der Arbeitslosig-keit als Hebel zur Senkung der Löh-ne und zur Intensivierung und Verlän-gerung der Arbeitszeit derjenigen die-nen, die eine reguläre oder informelle, atypische Stelle innehaben.

Um dieses Ziel zu erreichen, muss ein sozialer Kampf gegen die lohnab-hängige Bevölkerung Griechenlands und Europas geführt werden. Von den Regierungen wird er mehr oder weni-ger klar als Maßnahme im Interesse der nationalen Einheit verkauft, wird aber seinerseits eine neue, harte Re-zession in der EU beschleunigen.

Ist es denkbar, dass ein EU-Mit-gliedstaat im Rahmen einer solchen Schuldenkrise in Konkurs geht?Ein Staat kann im eigentlichen Sinn nicht Konkurs gehen wie ein Unter-nehmen. Ist ein Unternehmen zah-lungsunfähig, wird es aus dem Han-delsregister gestrichen und muss sei-ne Aktiva (Maschinen, Immobilien, Patente) veräußern, um die verschie-denen Geldgeber und die Löhne der Entlassenen (zumindest teilweise) zu bezahlen. Der Vergleich mit einem Staat passt also nicht wirklich.

Man muss sich hier vergegenwärti-gen, welcher Art die Klasse der Geldge-ber (Gläubiger) ist, die sich bereichert haben, da sie kaum Steuern zahlen und die Zinsen der Obligationen und son-stigen Finanzinstrumente, die sie hal-ten, einstreichen; Zinsen, die ihrerseits von den steuerpflichtigen Lohnabhän-gigen gezahlt werden.

Ein Staat könnte das Katastrophen-szenario der Zahlungsunfähigkeit ver-meiden, indem er seine Einnahmen erhöht, mit anderen Worten, indem er Steuern auf die wohlhabendsten Ge-sellschaftsschichten erhebt, die am meisten sparen, was folglich den Kon-sum nicht einschränken würde. Ver-schiedene Studien zeigen, dass das griechische Budgetdefizit durch eine Besteuerung der Reichen, die zu den Gläubigern des Staates zählen, ge-deckt werden könnte. Man erinnere sich daran, dass F. D. Roosevelt 1932 die marginalen Steuern auf hohe Ein-kommen auf 79 Prozent erhöhte (für Griechenland sind 45 % geplant!). Ei-ne Studie der HSBC-Bank (Mathilde Lemoine) zeigt, dass 29 Prozent der letzten Anleihe von 5 Milliarden Euro, die der griechische Staat zum wahn-witzigen Zinsatz von 6,25 Prozent aus-gegeben hat, von Griechen gezeichnet wurde – also von Reichen, die morgen noch reicher sein werden! Ein Ent-scheid zugunsten einer solchen Rei-chensteuer wird im Sinne der Verteidi-gung der Interessen der herrschenden Klasse abgelehnt, was einem umfas-senden Angriff der aktuellen Regie-rung gegen die Mehrheit der Bevöl-kerung gleichkommt, die den gesell-schaftlichen Reichtum des Landes er-zeugt.

Die Behauptung, dass 6,25 Prozent (gegenüber 3,2 % für Obligationen mit 10 Jahren Laufzeit in Deutschland) für die Anleihe wahnwitzig sind, stützt sich auf mehrere Gründe. Erstens wird rein rechnerisch die Finanzierung der Schulden zu einem Zins von 6,25 Pro-zent bei gleichzeitigem Null- oder Negativwachstum zu einem verhee-renden Anstieg der Schulden führen. Der aktuelle griechische Sparplan ent-spräche gemäß der französischen Kon-junkturstelle Office français des con-jonctures économiques (OFCE, Xa-vier Timbeau) mindestens einer Ver-doppelung der Einkommenssteuern in Frankreich. Zweitens wird dieser Zinssatz akzeptiert, um der „Markt-disziplin zu gehorchen“, also den In-vestoren. Diese haben aber die Krise von 2008 weitgehend verursacht. Di-ese Vorgaben zu akzeptieren stellt die Dinge völlig auf den Kopf. Wenn die „Märkte beruhigt sind“, sind die Löh-ne gefährdet! Drittens führt diese Po-litik zur Zerstörung der Produktions-kapazitäten eines Staates zugunsten

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der Zahlung privater Schuldzinsen. Eine grundlegende Lösung könnte

selbst im Rahmen einer halbkeyne-sianischen bürgerlichen Politik wie folgt aussehen: Bei Fälligkeit der grie-chischen (und anderer) Schuldtitel sollten die Banken in der EU gezwun-gen sein, neue Titel zu Zinssätzen mit einer festgelegten Höchstgrenze aus-zugeben. Wenn sich diese Banken re-finanzieren wollen, könnten sie die-se Titel immer noch bei der EZB de-ponieren, was für die „guten Obliga-tionen“ bereits geschieht. Eine solche Option wird nur durch den Hunger der Investorenklasse und ihrer Kom-plizen in der Regierung nach höheren Gewinnen sowie dem politischen Kal-kül, dass die gesellschaftliche und po-litische Toleranzschwelle der (durch die gewerkschaftspolitischen Appa-rate gegängelten) arbeitenden Massen entsprechend hoch ist, verhindert. Da-zu kommt noch das Gewicht der mo-netaristischen Dogmen und die Ver-teidigung spezifischer Interessen der herrschenden Klassen der nördlichen EU-Länder, allen voran des deutschen Imperialismus.

Wie sollten die Linke und die Arbei-terInnenbewegung auf diese Situati-on reagieren?Da selbst eine so moderate Option wie die genannte (keine inakzeptablen Zinssätze und keine zerstörerischen Maßnahmen) klar abgelehnt werden, scheint die Zurückweisung der Schul-den – aus Sicht der griechischen wie

generell der europäischen Arbeite-rInnen nicht nur in Portugal, Spanien und Italien – als sinnvoller Weg.

Die Zurückweisung der Schulden muss sich auf breite gesellschaftliche und politische Mobilisierungen und das entsprechende Kräfteverhältnis stützen und auf gesamteuropäische Ebene aus-gedehnt werden. Denn es geht um ein gesamteuropäisches Problem, wie The Economist, die Bibel der Londoner Ci-ty, seit Januar 2010 zu betonen nicht müde wird.

Die Gläubiger, die so gern auf ihr Risiko verweisen, werden ein-mal dumm dastehen, zumal die Spe-kulanten, die CDS nutzen – also ei-ne Art von Brandversicherung auf ein Haus, das man nicht besitzt, von dem man aber hofft, es werde in Flammen aufgehen, wozu man notfalls nach-hilft – nicht davor zurückschrecken, die Bevölkerungen in den Würgegriff zu nehmen. Ein Staat bleibt ein Staat, selbst wenn er beschließt, sich der Schuldenlast oder eines bedeutenden Teils derselben zu entledigen. Er kann zumindest einige Quartale lang die Zinszahlungen aussetzen und darauf hinweisen, dass er diese auch nicht nachholen wird. Er kann den Nomi-nalwert der Schuldentitel senken, wenn sie fällig werden. Doch sinn-vollerweise sollte mehr gefordert wer-den, denn der Gegenangriff der „Mär-kte“ gegenüber „schlechten Zahlern“ wird gleich scharf ausfallen, unabhän-gig davon, ob die Zurückweisung nun weiterreichend ist oder nicht. Gleich-

zeitig muss Klarheit darüber geschaf-fen werden, woher die Schulden kom-men, wie sie sich zusammensetzen und welche zweifelhaften Operati-onen mit der Verschuldung verbunden sind. Im Grund braucht es eine Volks-anhörung.

Die Zurückweisung der Schulden muss Ressourcen freigeben, deren Höhe mindestens dem laufenden De-fizit entsprechen muss, um belebend zu wirken. Die Gläubiger müssen zur Kasse gebeten werden – indem ver-hindert wird, dass sie den Reichtum, den sie dank ihrer Anteile an den öf-fentlichen Schulden geduldig erwar-ten, abschöpfen können. Die Summe, die sie zahlen müssen, ist nichts an-deres als die Steuern, die sie in den vergangenen 25 Jahren nicht gezahlt und legal hinterzogen haben, indem sie ihre Holdings beispielsweise in Zypern oder in der Schweiz angesie-delt haben, wie etwa die griechischen Reeder. Wie ausgeführt, waren ihnen Regierungen, die sich (zu ihrem Vor-teil) verschulden, lieber als Regie-rungen, von denen sie besteuert wer-den! Die „Ethik“, von der uns die Ver-teidiger des Kapitals die Ohren voll-schwatzen, müsste also auf sie ange-wendet werden.

Diese Zurückweisung der Schul-den müsste natürlich von einer Rei-he anderer Maßnahmen begleitet sein, von der Verstaatlichung der Banken über ein neues Steuersystem bis zur Umstrukturierung der Sozialversiche-rungen und der öffentlichen Dienste.

Hier ist nicht der Ort, um einen solchen Plan auszuführen. Er müsste parallel zu einer umfassenden Umfra-ge über die nicht befriedigten sozialen Bedürfnisse in den mobilisierenden Sektoren ausführlich diskutiert wer-den. Das ist Aufgabe der Lohnabhän-gigen wie MigrantInnen in Griechen-land und der ArbeiterInnen in Europa. Denn die bevorstehende Krise hat eine seit dem Zweiten Weltkrieg beispiel-lose Dimension.

Udry Charles-André ist Ökonom, Mitglied der Bewegung für den Sozialismus (MPS-BFS) und Herausgeber der Editions Page deux.

Aus dem Französischen: Tigrib

Lehrerdemo vor dem Finanzministerium

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EUROPA

Austerität für ganz EuropaMartine Orange

Ein düsterer 1. Mai! Überall in Euro-pa werden die Kundgebungen von einem Thema überschattet: den an-stehenden Sparmaßnahmen und sozi-alen Einschnitten, die der Bevölkerung zugemutet werden sollen. Das Beispiel Griechenlands lässt erahnen, was bald auf ganz Europa zukommen könnte: eine Politik stetigen Sozialabbaus und durchgängiger Austerität.

Nachdem die griechische Regie-rung bereits die Löhne der öffent-lich Beschäftigten eingefroren und ei-nen Einstellungsstopp verfügt hat, die Steuern auf Benzin und Alkohol erhöht hat und sich anschickt, das Rentenalter anzuheben, fordern IWF und EU auf Druck Deutschlands weitere Restrik-tionen. Zusätzlich zu den bereits er-griffenen Maßnahmen sollen das 13. und 14. Monatsgehalt im Öffentlichen Dienst abgeschafft und das Rentenalter von 53 auf 67 Jahre angehoben werden sowie die Mehrwertsteuer und andere indirekte Steuern erhöht und alle öf-fentlichen Ausgaben reduziert werden. Durch diese gewollt drastischen Vor-gaben soll die griechische Regierung gezwungen werden, das Staatsdefizit von 10 % des BIP bis 2012 zu redu-zieren. Damit wird einem Land, des-sen Wirtschaft ohnehin angeschlagen und frei von Inflation ist, eine Rosskur auferlegt.

Beruhigt durch diese knallharten Eingriffe des IWF atmen die Märkte auf. Ihre Erleichterung ist umso grö-ßer, als die europäischen Regierungen eine volle Woche lang durch die Panik auf den Finanzmärkten handlungsun-fähig waren. Um nicht in die gleiche Zwangslage wie Griechenland zu gera-ten, üben sich Alle in vorauseilendem Gehorsam und mimen den IWF, ohne dass dieser eingreifen müsste. Runter von den Defiziten, den Staatsausgaben und den sozialen Rechten! Ein Wett-lauf um die härteste Sparpolitik, um ja nicht in die Schusslinie der Märkte zu geraten und durch Abstufung den Zu-gang zum Kapitalmarkt zu verlieren.

Bereits am Vorabend der Abstufung

Portugals durch die Ratingagentur Standard & Poor’s schloss der „sozia-listische“ Premierminister des Landes, Socrates, mit der größten Oppositions-partei des Landes – der rechtskonser-vativen Sozialdemokratischen Partei unter Pedro Passos Coelho – ein prä-ventives Abkommen, um die Sparmaß-nahmen besser durchsetzen zu kön-nen, mit denen die Investoren ruhig ge-stellt werden sollen. Nach gewohnter Rezeptur will die Regierung bis 2013 die Staatsverschuldung von 9,4 % auf 2,8 % des BIP herunterschrauben. Zu diesem Zweck sollen die öffentlichen Ausgaben derart drastisch gesenkt werden, dass allein darüber die Hälf-te der vorgesehenen Einsparungen er-zielt werden.

Mindestens drei Jahre lang sol-len im Öffentlichen Dienst die Löh-ne strikt eingefroren und keine Neu-einstellungen vorgenommen werden. Die öffentlichen Investitionen sollen von 4,9 % des BIP auf 2,9 % gesenkt werden und der Militärhaushalt um 40 %. Privatisierungen sollen 6 Milli-arden Euro bringen, hiervon 1,5 Mrd. im laufenden Jahr. Die Lohnsteuer soll erhöht werden, wobei die Steuermaß-nahmen insgesamt jedoch nur 15 % des geplanten Volumens ausmachen.

Spanien – auch ein Land auf der Liste der gefährdeten Staaten – hatte bereits vor der griechischen Krise ein Sparprogramm zur Schuldenreduzie-rung angekündigt. Die Regierung will ihre Ausgaben innerhalb von drei Jah-ren um 50 Mrd. € senken. Dafür ist ein Einstellungsstopp im öD verfügt wor-den und eine Rentenreform in Vor-bereitung, nach der das gesetzliche Rentenalter von 65 auf 67 Jahre stei-gen soll. Aber diese Maßnahmen rei-chen in den Augen der „Märkte“ noch nicht aus. Noch weigert sich die „so-zialistische“ Regierung unter José Lu-is Zapatero angesichts einer Arbeits-losenrate von 20 % die Sparpolitik zu verschärfen. Aber der – bislang noch verhaltene – Druck dürfte zunehmen, wenn es bei dieser Weigerung bleibt.

DER EURO – EIN ZWANGSKOR-SETT

Die französische Regierung nimmt die Vorgänge um Griechenland und den Euro zum Vorwand, um die Renten-reform zu legitimieren und voran zu treiben. Das Triple A, nach der Fran-kreichs Kreditwürdigkeit firmiert, könnte rasch in Bedrohnis geraten, wenn das Land auf der Stelle tritt – so wird im Elysée gemunkelt. Premier Francois Fillon hat die Marschrichtung vorgegeben, als er darauf verwies, dass Europa ohne „steuerliche und soziale Harmonisierung“ nicht bestehen kön-ne. Dies kann nur bedeuten, dass die Rente überall und für Alle ab 67 nach deutschem Vorbild zur europäischen Norm geraten ist. Andererseits wird kein Wort über die steuerliche Entla-stung (der Unternehmen), die Steuer-oasen oder gar über das 3 Mrd. schwe-re Steuergeschenk an Hotel- und Re-staurantbesitzer – das sich in den End-preisen so gut wie nicht niederschlägt – verloren. Die Sparmaßnahmen be-treffen offensichtlich nur den Sozial-sektor, statt dass die Einnahmeseite des Staates gestärkt würde.

Somit ist der Sozialabbau zum ge-meinsamen Nenner der Europapolitik geworden. Unter der drückenden Last der Schulden im Gefolge der Krise, der sinkenden Steuereinnahmen und der Rettung des Finanzsektors bleibt den Regierungen keine andere Wahl, wenn sie sich weiterhin – wie in den vergangenen beiden Jahren – weigern, den Finanzsektor auch nur im Gering-sten anzutasten. Dies gilt erst recht, solange die Steuerentlastungen für die Reichsten und Unternehmen, die die Staaten während der letzten 30 Jahre systematisch entkleidet haben, heilige Kühe bleiben.

Wenn all diese Parameter weiterhin Bestand haben, erweist sich der Euro als Zwangskorsett in Zeiten der Kri-se: Die Länder haben keine Möglich-keit, abzuwerten, an der Zinsschraube zu drehen oder sich der Inflation zu be-

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EUROPA

dienen. Ihre einzige verbleibende Waf-fe ist die soziale Umstrukturierung als quasi interne Abwertung – ohne dies freilich so zu nennen.

Dies ist – nach Ansicht einiger Analysten – die Politik, wie sie von Deutschland seit 2002 im Rahmen der von allen politischen Parteien und Ge-werkschaften unterstützten „Agen-da 2010“ erfolgreich betrieben wird. Die deutsche Regierung verweist auf die Erfolge dieser Politik und verlangt fürderhin, dass die Anderen diesel-be Sparpolitik einschlagen sollen. Al-lerdings sind weder die strukturellen noch konjunkturellen Voraussetzungen vergleichbar. Zum einen hat Deutsch-land eine hochqualifizierte Industrie mit hoher Profitabilität und Exportaus-richtung, was auf all die anderen eu-ropäischen Volkswirtschaften nicht zu-trifft. Zum anderen folgte dieser Sozi-alabbau auf die starken Verwerfungen im Zuge der Wiedervereinigung, und er wurde während eines weltweiten wirt-schaftlichen Aufschwungs durchge-führt. Dennoch waren die sozialen Ko-sten sehr hoch. Letztlich hat Deutsch-land doch davon profitiert, weil es das einzige Land war, das eine solche Po-litik betrieben hat. Seine Handelsüber-schüsse wurden durch die Defizite in den restlichen europäischen Ländern, in die 75 % der Exporte flossen, unter-halten. Was würde passieren in Euro-pa und auch in Deutschland, wenn die gesamte europäische Wirtschaft in die Deflation gezogen würde?

Tatsächlich wird diese Politik be-reits seit einem Jahr in Irland, Litauen, Lettland, Rumänien und Ungarn mit oder ohne Zutun des IWF umgesetzt. Im Ergebnis hat bspw. die Regierung in Litauen sich trotz der Krise für die Anbindung der Landeswährung an den Euro entschieden, obwohl es gar nicht der Eurozone angehört. Im Gegenzug wurden die öffentlichen Ausgaben um 30 % gekürzt, desgleichen die Beam-tengehälter und die Renten um 11 %. Die Mehrwertsteuer wurde von 18 % auf 21 % erhöht und der Steuersatz von 15 % auf 20 %.

In der Folge stieg die Arbeitslosig-keit von 10 % auf 14 % und die Wirt-schaft schrumpfte um 15 %. Zwar hat die Wettbewerbsfähigkeit leicht zuge-

nommen, aber die Wirtschaft steckt seit drei Jahren in der Rezession. Schulen, Krankenhäuser kommen aus Geldmangel nicht mehr über die Run-den und mussten teils bereits schlie-ßen. Die Selbstmordrate steigt sprung-haft, desgleichen die Emigration. Für Island gilt das gleiche.

LAVAL NEU AUFGELEGT?

Als Vollmitglied der Eurozone hat sich Irland im April 2009 zu einem beispiel-losen Sparkurs durchgerungen, um der Krise und dem schwindelerregendem Anstieg seiner Verschuldung (12,5 % des BIP) zu trotzen. Auch dort zielten alle Bemühungen zunächst auf die öf-fentlichen Ausgaben. Die Beschäftig-tenzahl wurde gesenkt – ebenso deren Gehälter (- 7,5 %) und die Renten. Die Einkommenssteuer wurde durchgän-gig erhöht: 2 % auf die Mindestlöhne und 8 % auf die Spitzeneinkommen.

Auf der anderen Seite blieb die hei-lige Kuh der Nation selbstverständ-lich außen vor: die Unternehmenssteu-er, durch die zahlreiche multinatio-nale Konzerne geködert werden konn-ten, die ihrerseits quer durch Europa durch Bilanzverschiebungen organi-sierten Steuerhinterziehung betreiben. Die Unternehmenssteuer wurde also bei 12,5 % belassen, was die Fondsma-nager mit dem freudigen Kommentar: „Irland macht es genau richtig!“ quit-tierten. Genau aus diesem Grund fas-sen die Finanzmärkte das Land trotz seiner prekären Finanzlage auch mit Samthandschuhen an.

Trotz aller Sparerlässe hat sich die Lage kaum gebessert. 2009 erlebte das Land eine Rekordrezession von 7,1 % des BIP. Dies dürfte auch im laufenden Jahr noch anhalten, wobei die Experten von einem Minus von wenigstens 1 % ausgehen. Auch dort kam es im Gefol-ge zu massiven Verwerfungen im Sozi-alsektor, einer sprunghaften Zunahme der Arbeitslosigkeit und zu Unmut in der Bevölkerung. Und der Staat muss-te erneut einer vom Konkurs bedrohten Bank zu Hilfe eilen – der Anglo Irish Bank, die wieder rekapitalisiert wer-den muss, nachdem sie 2009 erst ver-staatlicht worden war. Laut Financi-al Times benötigt der irische Banken-

sektor 81 Mrd. €, um seine vorwiegend aus der Immobilienblase stammenden toxischen Papiere los zu werden.

Auch Griechenland droht diese wirtschaftliche Abwärtsspirale. Man-gels Absatzmärkten und Subventionen bricht die Wirtschaft ein, die Staatsein-nahmen brechen weg und die Schul-den wachsen überproportional in un-erträgliche Höhen. Genau davor hat der Wirtschaftswissenschaftler Nou-riel Roubini in der Financial Times vom 30.4.2010 gewarnt: „Durch den Plan A von IWF und EU zur Stützung Griechenlands drohen ein unkontrol-lierter Bankrott und eine Finanzkrise“. Besser wäre es seiner Meinung nach, Griechenland umzuschulden und die Staatshaushalte der peripheren Län-der der EU (Irland, Griechenland, Spa-nien, Portugal und Italien) allmäh-lich anzupassen, flankiert von umfang-reichen Beihilfen seitens EU und IWF, und dann die Zinsen zu senken und die Nachfrage in Deutschland anzukur-beln.

Sein Wort in Gottes Ohr! Momen-tan ist das, was Europa unter dem Dik-tat der Finanzmärkte predigt, nichts anderes als eine Verschärfung des La-val-Plans von 1935 (einer der wenigen ausgeglichenen Haushalte) auf euro-päischer Ebene. Um den Franc nicht weiter abzuwerten und die Goldbin-dung beizubehalten und somit die Ka-pitaleinkünfte zu wahren, verordnete dieser damals eine Senkung der Löh-ne und Renten um 10 %, Steuererhö-hungen und Preissenkungen. Am Ende des Jahres 1935 war der Staatshaushalt ausgeglichen – so wie es heute denen vorschwebt, die ein Defizit qua Verfas-sung verbieten wollen – aber die fran-zösische Wirtschaft war völlig am Bo-den. Die Folgen sind bekannt. Nach Kriegsende bekannte Winston Chur-chill, dass das Ausbleiben von Kon-junkturmaßnahmen infolge der damals herrschenden Finanzdogmata (fixe Währungsverhältnisse in Bezug auf den Goldstandard) einer der schlimm-sten Fehler Europas in den 30er Jah-ren war.

Aus: A l’encontre

Übersetzung: MiWe

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GROSSBRITANNIEN

Widerstand gegen die Regierung der Reichen für die ReichenAnders als eine reine Tory-Regierung ist die konservativ-liberale Ko-

alition das schlimmste anzunehmende Ergebnis der Parlaments-

wahlen, da sie die wirkungsvollste Plattform für Streichungen, Spar-

politik und Arbeitslosigkeit darstellt. Cameron und Clegg machen

uns weis, dass die Koalition „im nationalen Interesse“ gebildet wor-

den ist. Das ist im Klartext ihre eigene Klasse.

Socialist Resistance

Die Fassade der Gleichheit innerhalb der Koalition, die dadurch errichtet wurde, dass Clegg zum Vizepremier-minister gemacht wurde, ist eine Täu-schung durch die Führung der Tories, die fest entschlossen war, auf jede er-denkliche Art und Weise das Heft in der Hand zu halten. Dies ist eine töd-liche Umarmung, die jetzt schon die Liberaldemokraten zerreißt.

Als Gegenleistung für die Insigni-en der Macht haben sich die Liberal-demokraten dazu entschlossen, eine reaktionäre Koalition zu unterstützen und den von den Tories vorbereiteten Angriff auf die Arbeitsplätze, Ren-ten und Leistungen mitzutragen. Die Streichliste und der Abbau der Staats-verschuldung sind die Eckpunkte die-ser gegen die ArbeiterInnenklasse ge-richteten Koalition. Doch während des Wahlkampfes unterstützten die Libe-raldemokraten Browns Ansatz hin-sichtlich der Krise, die in begrenzten staatlichen Anreizen (und quantita-tiven Lockerungen) bestand, um die Nachfrage in der Wirtschaft für ein weiteres Jahr aufrecht zu erhalten. Das war völlig unzureichend und hat Kür-zungen nicht überflüssig gemacht, aber es hat zumindest zeitweise die Krise gedämpft. Die Vorstellung war, dass sich die Wirtschaft nächstes Jahr er-holen würde, und man dann die Arbei-terInnenklassen dazu bringen könnte, die Rechnung zu zahlen.

Allemal macht das einen großen Unterschied aus, der mehr Menschen den Arbeitsplatz erhalten und besse-re Voraussetzungen für den Abwehr-kampf geschaffen hätte. Dies wurde nun auf den Müll geworfen zugunsten der Torypläne, sofort sechs Milliarden

Pfund an öffentlichen Ausgaben abzu-bauen, und das sollte nur der Anfang sein. Dies kann die wirtschaftliche Si-tuation nur noch mehr verschlechtern, und eine handfeste Rezession wird wahrscheinlicher, die noch einmal so teuer wird.

Die europaweite Krise im Hinter-grund der Wahlperiode hätte als War-nung dienen sollen. Die Unruhen in Athen und die so genannte „Anste-ckungsgefahr“ bedrohten Spanien, Portugal und Italien. Zu diesem Ge-misch kam die neuerliche Instabilität im Bankensektor und den Märkten da-zu, sowie die Drohung Sarkozys, dass Frankreich aus der Eurozone austre-ten werde, bis Merkel sich in die 750 Milliarden Euro Rettungsgelder für die einheitliche Währung fügte.

Die Liberaldemokraten kapitu-lierten vor den Tories, wohl wissend, dass es ein alternatives Angebot mit Labour und den nationalistischen Par-teien gab – die so genannte progressive Allianz.

PRINZIPIENLOSE LIBERALE

Dies wäre kein Projekt, zu dessen Wahl wir aufgerufen oder das wir unterstützt hätten. Aber wir sind auch nicht unpar-teiisch in der Frage, ob die Liberalde-mokraten sich mit den Tories zusam-mentun oder gegen sie sind, auch wenn beide Parteien die Interessen der Ar-beiterInnenklassen nicht repräsentie-ren. Caroline Lucas (erste und einzige Parlamentsabgeordnete der Grünen und führendes Mitglied der „Stoppt den Krieg“-Koalition) hat es gut aus-gedrückt, als sie sagte, dass keine der beiden Seiten progressiv war, und dass

sie von Fall zu Fall Maßnahmen unter-stützt hätte, die vorwärts gerichtet wä-ren.

Für die Liberaldemokraten stell-te dies einen spektakulären Verrat an ihren eigenen Prinzipien dar. Das An-gebot von Labour hat eine reale Mög-lichkeit in Aussicht gestellt, das bi-zarre und korrupte britische Wahlsy-stem, das sie so lange unterrepräsen-tiert hatte, durch eine Art von Ver-hältniswahlrecht zu ersetzen. Das ha-ben die Liberaldemokraten berechtig-terweise seit vielen Jahren gefordert. Es würde das skandalöse, antidemo-kratische Mehrheitswahlrecht grund-legend ändern, das Millionen Wäh-ler ihrer Repräsentanz in Parlaments-wahlen beraubt. Natürlich würde dies keine ArbeiterInnendemokratie dar-stellen, aber es ist eine extrem wich-tige demokratische Forderung der Ar-beiterInnenklasse.

Eine Koalition aus Labour und Li-beralen würde eine ineffektivere Aus-gangslage für Kürzungen darstellen, was einer der Gründe ist, warum die Liberaldemokraten dies ausgeschlagen haben. Solch eine Regierung würde unter großen Druck seitens der Medi-en geraten, Einschnitte auf die Tages-ordnung zu setzen. Es stimmt: rechne-risch war es knapp für die Labourop-tion, und sie hätte vielleicht auch kei-ne fünf Jahre gehalten. Aber sie hätte vielleicht lange genug gehalten, um si-cherzustellen, dass die nächste Wahl nicht mehr unter dem Mehrheitswahl-recht stattgefunden hätte.

Wobei die Liberaldemokraten schließlich geendet sind, ist eine Koa-lition, in der alle Asse und alle Schlüs-selministerien in den Händen der To-ries sind. Die Tories haben ihnen ein Referendum über das „Alternative-Vote“-System1 angeboten. Es handelt

1 Bei diesem System haben die WählerInnen die Möglichkeit, eine Gewichtung der zur Wahl ste-henden Kandidaten vorzunehmen. Genaueres siehe z. B. unter http://www.electoral-reform.org.uk/votingsystems/systems2.htm#AV und http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/election_2010/8644480.stm. [Anm. d. Red.]

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sich hierbei nicht um ein Verhältnis-wahlsystem, denn es ist nicht proporti-onal. Und es ist wohl auch nicht besser als das Mehrheitswahlrecht, denn es hat keinen Effekt auf die von den fest ein-gewachsenen Tory- oder Labour-Mehr-heiten dominierten Wahlkreise, die den Hauptfaktor bei den Verzerrungen im Mehrheitswahlrecht darstellen.

Eins haben die Liberaldemokraten den Tories abgerungen: eine baldige Gesetzgebung für eine befristete Legis-laturperiode. Dies würde bedeuten, dass die nächste Parlamentswahl für den 7. Mai 2015 geplant ist.

Das ist an sich eine sehr wichtige Maßnahme zur Wahlrechtsreform, ob-wohl eine fünfjährige Amtszeit für ei-ne Regierung zu lang ist. Unter diesen Umständen aber illustriert die dahinter stehende Absicht den Zynismus der Li-beraldemokraten. Sie wollten sicher ge-hen, dass die Tories sie nicht dafür be-nutzen, an die Macht zu kommen, ein-zig und allein, um sie wieder auszuspu-cken, wenn sie davon ausgehen können, dass sie allein die Mehrheit erreichen könnten. Ein weiteres Beispiel für das verzweifelte Bemühen der Liberalde-mokraten, an der Macht zu sein, ist der ungeheuerliche Vorschlag, den Parla-mentsmodus so zu ändern, dass 55 Pro-zent der Stimmen erforderlich sind, um einen Misstrauensantrag gegen die Re-gierung durchzubringen. Ob diese Si-cherheitsmaßnahmen eine stabile Re-gierung über fünf Jahre bei einer wirt-schaftlichen Notlage und Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse garantieren können, ist eine andere Sache.

Es gibt ein paar etwas progressivere Maßnahmen in der Vereinbarung zwi-schen den Parteien: die Abschaffung des Personalausweises, die Verschie-bung der Erbschaftssteuerermäßigung sowie die Anhebung der Kapitalertrags-steuer. Der Rest der Koalitionsvereinba-rung ist größtenteils Tory-Politik. Die Trident-Rakete, der einzige Punkt, bei dem die Liberaldemokraten mit der eta-blierten Politik nicht mitziehen, bleibt. Es gibt eine ungenaue Zusage, die Steu-erfreigrenze anzuheben. Aber es ist klar, dass das auf die lange Bank geschoben werden wird. Es ist außerdem klar, dass eine kräftige Anhebung der regressiven2 Mehrwertsteuer in Aussicht steht.

2 Regressive Steuern sind solche, die bei stei-gendem Einkommen weniger ins Gewicht fallen, also prozentual sinken. Das ist bei der Mehrwertsteuer der Fall. [Anm. d. Red.]

BEIHILFE FÜR DIE RASSISTEN

Auf dem Gebiet der Immigration wur-de der Vorschlag der Liberaldemo-kraten für eine Legalisierung illegaler Einwanderung nach zehn Jahren zu-gunsten des reaktionären Toryplans, von einer Begrenzung der Einwande-rung von außerhalb der EU, verwor-fen. Eine der widerlichsten Beson-derheiten des Wahlkampfes waren die wiederholten rassistischen Angriffe sowohl der Tories als auch von La-bour auf den Legalisierungsvorschlag. Hinter diesem Angriff stand die ban-krotte Einstellung aller drei großen Parteien, die sie unfähig machte, mit der extremen Rechten während des Wahlkampfes fertig zu werden, au-ßer dass sie mit ihr darin wetteifer-ten, wie viele MigrantInnen man da-ran hindern könne, ins Land zu kom-men, und wie viele man rauswerfen könnte.

Das macht sie direkt für die An-näherungsversuche der British Na-tional Party (BNP) und der Uni-ted Kingdom Independence Party (UKIP) während des Wahlkampfes verantwortlich. Der Grund, warum sowohl die BNP wie auch die UKIP landesweit besorgniserregende Er-gebnisse erhielten, war, dass die großen Parteien darauf beharrten, mit ihnen zu konkurrieren, anstatt sich gegen sie zu wenden.

Der Krieg und der Umweltschutz waren randständige Themen während des Wahlkampfes, und mit der Koa-litionsvereinbarung hat sich nichts geändert. Auch in Fragen der Kern-kraft sind die Liberaldemokraten ein-geknickt. Die Politik der Tories mit Kernkraftwerken der neuen Genera-tion ist Politik der Koalition gewor-den. Die Liberaldemokraten haben al-lerdings das Recht, sich bei einer Ab-stimmung zu dem Thema der Stimme zu enthalten. Die Koalitionsverein-barung richtet sich gegen eine dritte Landebahn für Heathrow und andere Londoner Flughäfen – aber zu Boris Johnsons Plänen eines neuen Flugha-fens an der Themsemündung sagt sie nichts.

Der umstrittenste Punkt der Koa-litionsregierung ist die EU. Genauer gesagt geht es um den EU-skeptischen Außenminister William Hague, der in der Regierung neben immer schon EU-befürwortenden liberaldemokra-

tischen Ministern sitzt. Trotz der Ver-einbarung, in der aktuellen Amtszeit weder in die Eurozone einzutreten noch ein Referendum zu irgendeiner Übertragung von Machtbefugnissen an die EU durchzuführen, ist es un-wahrscheinlich, selbst bei den Tories bei diesem Thema den Deckel drauf zu halten.

Die Koalition wird auf beiden Sei-ten stark kontrovers gesehen. Der rechte Flügel betrachtet sie als ei-nen Ausverkauf, wie es auch die brei-te Basis der Liberaldemokraten sieht. Das bedeutet, dass die Koalition unter massiven Druck geraten wird, wenn die Entscheidungen über die Kür-zungen anstehen. Besonders, da kei-ne der beiden Parteien ein Mandat der Wählerschaft für die geplanten Kür-zungen hat.

Labour weist jetzt schon darauf hin, dass es unwahrscheinlich sein wird, die Kürzungen generell abzu-lehnen, sie aber ggf. gegen einzelne Details Einwände erheben werden. Sie erklären, dass sie eine „verant-wortungsvolle Opposition“ sein wol-len. Dies wäre eine skandalöse Kapi-tulation vor dem Konzept des „nati-onalen Interesses“, mit dem die kon-servativ-liberaldemokratische Koa-lition und die Medien hausieren ge-hen. Aber es steht im Einklang mit der Art, wie sie regiert und den Wahl-kampf im Interesse der Wirtschaft ge-führt haben.

Das Abschneiden der Linken in den Wahlen war eine Katastrophe. Es stimmt, dass die zwei großen po-sitiven Ergebnisse der Wahl die Nie-derlage von Nick Griffin in Barking und die Wahl von Caroline Lucas in Brighton waren. Wir gratulieren al-len Beteiligten an den beiden Kampa-gnen. Der Erfolg der Gewerkschaften und der Socialist Coalition (TUSC) war schwach. Er hatte keine landes-weite Auswirkung auf die Wahl, und es ist unwahrscheinlich, dass sich nach der Wahl etwas daraus entwi-ckeln wird.

RESPECT schnitt viel besser ab als andere Teile der Linken, verlor aber seinen Sitz im Parlament und die meisten Ratsmitglieder auf regi-onaler Ebene (Councillors). Es wird nötig sein, sich umzugruppieren und den strategischen Ansatz neu zu über-denken.

Die Notwendigkeit einer schlag-

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GROSSBRITANNIEN

kräftigen Partei links von Labour bleibt ein entscheidendes Element des Widerstandes. Eine Lehre aus der Wahl 2010 ist, dass die Linke ihre Be-mühungen, eine vereinigte und plu-ralistische Partei der Linken zu grün-den, verdoppeln sollte.

Das Echo der Gewerkschaften auf di-ese Situation wird dadurch besonders wichtig. Angesichts der Kürzungen sind die meisten Gewerkschaften größtenteils passiv geblieben. Das muss sich schleunigst ändern. Die Ge-werkschaften müssen folgendes for-dern:

die Lücken im Haushalt, die durch –die Bankenkrise entstanden sind, müssen durch die Streichung des Trident-Projekts geschlossen wer-den;der Krieg in Afghanistan muss be- –endet werden;Abzug der Truppen aus dem Irak –undkräftige Steueranhebungen bei den –großen Wirtschaftsunternehmen, Banken und den Reichen. Minde-stens aber sollte die Körperschafts-steuer auf das Maß unter Thatcher wieder angehoben werden. Und als zentrale Forderung: die –Förderung einer Million grüner Ar-beitsplätze.

Wir müssen uns darum bemühen, ei-ne Massenkampagne in den Gewerk-schaften und der ArbeiterInnenbewe-gung aufzubauen, um eine schnel-le Einführung einer fortschrittlichen Wahlrechtsreform, basierend auf dem Verhältniswahlrecht, zu erreichen. Die Arbeiterbewegung muss sich außer-dem gegen den gefährlichen Rechts-ruck in Richtung auf eine rassistische und gegen AusländerInnen gerichtete Politik zusammentun. Die Jahre, die die Gewerkschaften widerspruchs-los Blair und Brown hinterher gelau-fen sind, haben uns an den äußersten Rand einer Tory-Regierung gebracht. Allein der Widerstand der Arbeite-rInnenklasse und die Gründung einer wirkungsvollen Vereinigung gegen die Kürzungen kann die Arbeiterklas-se vor neuen, massiven und zerstöre-rischen Angriffen schützen.

Unser Aufruf enthält folgende Forde-rungen:

Örtliche Kampagnen gegen die –Kürzungen, um die öffentlichen Dienstleistungen zu verteidigen.Örtliche und landesweite Proteste –an dem Tag, an dem der Nothaus-halt verabschiedet wird. Die landesweiten Gewerkschaften –und der Trade Union Congress (Dachverband, vergleichbar mit dem DGB; A. d. Ü.) müssen zu lan-desweiten Demonstrationen aufru-fen, um die öffentlichen Dienstlei-stungen zu verteidigen.

Dies ist der Leitartikel der Socialist Resi-stance, Ausgabe Nr. 60. Er wurde durch das Nationale Komitee der Socialist Resistance am 16. Mai 2010 verabschiedet. Socialist Resistance wurde 2002 von bri-tischen MarxistInnen gegründet, die den Neuansatz, der von der Scottish Socialist Party, der Socialist Alliance und RESPECT ausstrahlte, unterstützten. Im Juli 2009 wur-den ihre UnterstützerInnen zur britischen Sektion der IV. Internationalen.

Übersetzung: Saskia Schumann

IV. Internationale im Internet

englisch: www.internationalviewpoint.org/

französisch: http://orta.dynalias.org/inprecor/home

spanisch: http://puntodevistainternacional.org

deutsch: www.inprekorr.de/

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ÖKOLOGIE

Cochabamba: Einige kritische Bemerkungen zur SchlusserklärungSandra Invernizzi und Daniel Tanuro

Das Gipfeltreffen der Völker zum Kli-ma und den Rechten von Mutter Er-de, das vom 20. bis 22. April auf Ein-ladung von Präsident Evo Morales in Cochabamba (Bolivien) stattfand, war ein riesiger Erfolg. Dreißigtausend Teilnehmerinnen und Teilnehmer dis-kutierten mehrere Tage lang die unter-schiedlichen Facetten der Klimakrise und verabschiedeten eine Reihe von sehr interessanten Dokumenten, die eine konsequent antikapitalistische Färbung trugen. Die Abschlusserklä-rung des Gipfels, die diese Arbeit zu-sammenfasst, ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer Zusammenführung der sozialen und ökologischen Kämp-fe in antiproduktivistischer und in-ternationalistischer Perspektive. Als Ökosozialisten können wir das nur be-grüßen. Gleichzeitig erscheint es uns notwendig, eine solidarische Debat-te über einige Unzulänglichkeiten im Text zu eröffnen, die auf einer künf-tigen Zusammenkunft dieser Art über-wunden werden sollten.

Im Kielwasser der Äußerungen von Evo Morales und Hugo Chávez beim UN-Gipfel im Dezember in Kopenha-gen benannte die Abschlusserklärung der Konferenz deutlich die Verantwor-tung des Kapitalismus für den derzei-tigen Klimawandel. Der Text kritisiert die Regierungen, die den Klimawandel einfach als eine Frage der Tempera-tur erörtern, als ob das Problem gelöst werden könnte, ohne das dafür verant-wortliche sozioökonomische System in Frage zu stellen. Er betont die völ-lige Unvereinbarkeit zwischen einem Modell, das auf der Logik des Wettbe-werbs, also unbegrenzten Wachstums, basiert, auf der einen Seite, und der zwingenden Notwendigkeit, die Gren-zen der Ökosysteme und ihre Rhyth-men anzuerkennen, auf der anderen Seite: „Das kapitalistische System hat uns die Logik des Wettbewerbs, (…)

und des unbegrenzten Wachstums auf-gezwungen. Dieses System von Pro-duktion und Konsum strebt nach gren-zenlosem Profit, trennt den Menschen von der Natur und etabliert eine Logik der Herrschaft über sie; alles wird zur Ware: Wasser, Erde, das menschliche Genom, gewachsene Kulturen, biolo-gische Vielfalt, Gerechtigkeit, Ethik, Rechte der Völker, ja selbst das Leben und der Tod.“

Nach dem Anprangern der Ver-wandlung natürlicher Ressourcen und menschlicher Wesen in Waren, stellt die Erklärung die imperialis-tische Kolonialisierung an den Pran-ger und kommt dann zu dem logischen Schluss, dass es „unverantwortlich wäre, die Daseinsvorsorge (cuidado), den Schutz der menschlichen Spezi-es und unserer Mutter Erde den Hän-den des Marktes zu überlassen.“ Diese strategische Position wird dann in ei-ner Reihe von konkreten Forderungen, die ökologische und soziale Fragen verbinden, übersetzt: gegen den Koh-lenstoffmarkt, den REDD-Mechanis-mus1, Biokraftstoffe, Gentechnik, Pa-tente auf Leben und die Freihandels-abkommen; für einen globalen Anpas-sungsfonds und einen Fonds für sau-bere Technologien, für die Anerken-nung eines Grundrechts der Menschen auf Wasser und der Rechte der indi-genen Völker sowie die Unterstützung der bäuerlichen Landwirtschaft, …

Sie demaskiert den Zynismus der Regierungen, die keinerlei Vorsorge treffen, wo doch 100 Millionen Men-schen in den kommenden Jahrzehnten „Klimaflüchtlinge“ werden könnten; sie verlangt ein Ende der restriktiven

1 Das Programm der Vereinten Nationen zur Re-duzierung der Emissionen aus Entwaldung und Waldschädigung in Entwicklungsländern (REDD-UN) zielt darauf ab, diese Zahl durch die Zuordnung eines monetären Werts der Wäl-der auf Basis ihrer Fähigkeit, Kohlendioxid zu speichern, zu reduzieren.

und repressiven Einwanderungspo-litik der westlichen Länder und for-dert, dass die für das Militär vorgese-henen Mittel in den Klimaschutz in-vestiert werden. Sie kritisiert auch die flexiblen Mechanismen, die un-ter dem Deckmantel des Technolo-gietransfers in Wirklichkeit den Groß-unternehmen des Nordens erlauben, mit der Verschmutzung fortzufahren und gleichzeitig Superprofite auf dem Kohlenstoffmarkt zu machen. Ange-sichts dieser neuen Form kolonialer Ausbeutung unterstreicht die Erklä-rung, dass „Wissen universell ist und nie Gegenstand privaten Eigentums und Gebrauchs sein kann“, mit der Folge, dass sie zur gemeinsamen Nut-zung und Entwicklung von Technolo-gien im Dienste eines „guten Lebens“2 auffordert.

Schließlich schlägt der Text kon-kret die Einrichtung eines souveränen und von den Menschen in der Welt ge-steuerten internationalen Rechtsrah-mens vor, um der Übernutzung von Ressourcen, ökologischer Verantwor-tungslosigkeit und unmenschlicher Behandlung von Migranten ein Ende zu setzten.

Auch wenn diese antikapitali-stischen Positionen bemerkenswert sind, sind doch einige Unzulänglich-keiten zu beklagen. Das auffälligste ist, dass die Oligarchien von Öl, Gas und Kohle sowie die großen multina-tionalen Unternehmen im Energie-sektor nicht angeklagt oder benannt werden, wo doch ihre Verantwor-tung für den Klimawandel herausra-gend ist. Der Text benennt die schäd-liche Rolle der Agrarindustrie für die Verschlechterung des Klimas, aber

2 Gutes Leben bzw. gut leben (etwa in der Be-deutung von auskömmlichem Zusammenle-ben) ist ein zentrales Prinzip in der Weltan-schauung der indigenen Völker des Andenrau-mes [nach Wikipedia] – d. Üb.

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ÖKOLOGIE

das Wort „Öl“ erscheint nur ein ein-ziges Mal in der Erklärung, und dies nur im Zusammenhang mit der Nicht-ausbeutung von Lagerstätten in Wald-gebieten, im Namen des Schutzes der Wälder und der Rechte der indigenen Völker (korrekte und berechtigte, aber völlig unzureichende Forderung). Die Worte „Kohle“ und „Erdgas“ werden nicht erwähnt. Der Begriff „erneuer-bare Energien“ fehlt ebenfalls. Hin-zu kommt, dass das Dokument we-der eine Ablehnung der Atomenergie enthält, noch sich mit möglichen Ri-siken der geologischen Speicherung von CO

2 befasst … Insgesamt können

wir uns des Eindrucks nicht erweh-ren, dass die Erklärung zum Kampf gegen die kapitalistischen Lobbys der Energie und damit verbundener Branchen (Automobil, Petrochemie, Schiffs- und Flugzeugbau, Verkehr, …) schweigt, obwohl es sich doch offensichtlich um die Schlüsselfrage im Rahmen einer antikapitalistischen Strategie zur Klimastabilisierung han-delt.

Erwähnenswert ist auch der er-staunliche Kontrast zwischen dieser Lücke und der Radikalität des von der Erklärung empfohlenen Reduk-tionsziels für Treibhausgase. Ohne die Frage der Wahl der Energiequel-len auch nur zu berühren, wird vorge-schlagen, sich auf ein Modell zu ver-pflichten, das weit über das radikalste IPCC-Szenario hinausgeht: 300 ppm CO

2-Äquivalent, um die Tempera-

turerhöhung auf 1°C gegenüber vor-industriellen Zeiten zu begrenzen. Um ein solches Stabilisierungsniveau zu erreichen, ist eine Reihe von Schrit-ten unumgänglich, die vor allem den Energiesektor und die Frage der Res-sourcen betreffen:

die Verpflichtung, kurzfristig aus den fossilen Brennstoffen auszu-steigen;die Notwendigkeit, den Ersatz fos-siler durch erneuerbare Energie-quellen zu planen;die Notwendigkeit, Produktion und Transport von Gütern weltweit zu reduzieren, damit diese Ersetzung in der Praxis möglich wird;all dies unter Berücksichtigung der Belastung, die die Befriedigung der legitimen Bedürfnisse der drei Mil-liarden Menschen, denen es am Al-

lernotwendigsten fehlt, bedeuten kann.Um dieses Problem auf humane Weise zu lösen, ist es notwendig und unerlässlich, Energie zu einem Gemeingut zu machen, so dass die Investitionen entsprechend den Be-dürfnissen und unabhängig von den Kosten genutzt werden können, oh-ne soziale Zerstörung;Schließlich muss die Unterstellung der Energie unter öffentliche Ver-waltung mit einer Umverteilung des Reichtums gekoppelt werden, um die für die Energiewende un-verzichtbaren Ressourcen zu mobi-lisieren.

Zu alledem sagt die Erklärung nichts. Ohne solche drastischen Maßnahmen wird es einfach unmöglich sein, das Klima auf bestmöglichem Niveau zu stabilisieren, ganz zu schweigen von der Erfüllung der legitimen Rechte des Südens auf eine um die Bedürf-nisse der Bevölkerung zentrierte Ent-wicklung.

Man kann verstehen, dass das ul-traradikale Ziel von 300 ppm CO

2-

Äquivalent verfolgt wird, um die Un-gerechtigkeit des Klimawandels für die Menschen, die keine Verantwor-tung für den Schlamassel tragen, zu minimieren. Aber es stimmt leider, dass die Grenze von 1°C Erwärmung nicht mehr gehalten werden kann: Die Temperatur ist seit 1850 um 0,8°C ge-stiegen; ein zusätzlicher Anstieg von 0,6°C ist bereits „in der Pipeline“ (nur durch die thermische Trägheit der Ozeane verzögert) und jedes Jahr steigt der CO

2-Gehalt in der Luft um

weitere 2–3 ppm … Tatsächlich wird sich sogar ein Anstieg von 2°C wahr-scheinlich nicht mehr vermeiden las-sen. Die Konzentration von Treibh-ausgasen (alle Gase kombiniert) in der Atmosphäre beträgt derzeit mehr als 460 ppm CO

2-Äquivalent. Das ra-

dikalste der im 4. IPCC-Bericht er-wähnten Stabilisierungsszenarien ba-siert auf einer Konzentration zwischen 445 und 490 ppm im Jahre 2050, was einem Anstieg der Temperatur um 2° bis 2,4°C und des Meeresspiegels um 0,4 bis 1,4 m (im Gleichgewicht) ent-spricht. Man könnte vielleicht eines Tages wieder auf 300 ppm und eine Temperaturdifferenz von 1°C gegen-

über vorindustriellen Zeiten kommen, wie es die Erklärung verlangt, aber si-cherlich nicht im Laufe dieses Jahr-hunderts: Das wird eine sehr langfri-stige Anstrengung erfordern.

Dieses Problem ist mit der Lasten-verteilung zwischen den entwickelten Ländern und dem Rest der Welt ver-bunden. Bekanntlich legt die Klima-rahmenkonvention der Vereinten Na-tionen fest, dass die gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung für die Erwärmung berücksichtigt wer-den muss. Die Einhaltung dieses Prin-zips ist für die Länder des Südens of-fensichtlich entscheidend, aber es gibt folgenden Widerspruch: je drastischer das Stabilisierungsziel ist, desto not-wendiger wird es, die Entwicklungs-länder an den Bemühungen zu beteili-gen. So impliziert das radikalste Sze-nario des IPCC, dass die Industrielän-der ihre Emissionen um 80–95% bis 2050 verringern (25–40% bis 2020), was sozusagen einer Frist von vierzig Jahren entspricht, um aus den fossilen Brennstoffen auszusteigen und den Energieendverbrauch um die Hälfte zu reduzieren. Wegen des Vorsorge-prinzips ist es nur logisch und gerecht, vom Norden eine Reduzierung um mindes tens 40% bis zum Jahr 2020 und 95% bis 2050 ohne Kauf von Emissi-onsgutschriften zu verlangen. Aber zwei Anmerkungen sind erforderlich: 1) In diesem Szenario sind die An-strengungen des Südens nicht zu ver-nachlässigen, da sich deren Emissi-onen um 15–30% gegenüber dem Re-ferenzszenario ändern sollen. 2) Um ein so hohes Ziel zu erreichen, müs-sen die Länder des Nordens zu gefähr-lichen und sozial fragwürdigen Tech-nologien wie sauberer Kohle, Bio-kraftstoffen und Atomkraft greifen … ohne Gewissheit, dass es reichen wür-de.

Es ist daher eine Form von Irrea-lismus, wenn die Erklärung fordert, dass der Norden nicht nur über das ra-dikalste IPCC-Szenario hinausgehen soll, sondern er auch als einziger ei-nen Beitrag leisten soll. Eine genaue Zahl wird genannt: 50% Reduzierung bis zum Jahr 2017 in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Wenn wir auch die Empörung der Erklärung über die Regierungen dieser Länder verstehen und teilen, können wir zur

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ÖKOLOGIE

Übertreibung dieses Szenarios trotz-dem nicht schweigen. Damit dies um-setzbar wird, wäre der Sieg einer anti-produktivistischen sozialistischen Re-volution schon morgen gleichzeitig in allen entwickelten kapitalistischen Ländern (und darüber hinaus!) erfor-derlich. Die Wahrscheinlichkeit für solch ein Ereignis ist leider sehr ge-ring, und so stellt sich die Frage, wie man gegenüber der Arbeiterklasse im Norden argumentieren soll, die sich gerade ihrer entscheidenden Verant-wortung für die Rettung des Klimas bewusst wird.

Auf diese Frage gibt die Erklärung keine überzeugende Antwort. Der Grund dafür ist, dass eine Dichotomie zwischen dem ausbeutenden Norden und dem ausgebeuteten Süden gebildet und so die Dringlichkeit einer Vereini-gung der Kämpfe der Ausgebeuteten in den „entwickelten Ländern“ und den „Entwicklungsländern“ ignoriert wird. Im Falle des Südens tendiert die Art und Weise, wie die Erklärung den Grundsatz der gemeinsamen, aber dif-ferenzierten Verantwortung zu konkre-tisieren vorschlägt, dazu, auf die not-wendige Kritik von Strategien produk-tivistischer Entwicklung bestimmter herrschender Klassen wie derjenigen in Brasilien, China … oder beispielswei-se in Venezuela, einem der wichtigsten Ölproduzenten, zu verzichten. Ein der-artiges „Dritte-Welt-zentriertes“ He-rangehen an die Frage läuft Gefahr, ei-ne Ablehnung seitens der Ausgebeu-teten im Norden zu provozieren, die um ihre Arbeitsplätze fürchten oder ih-ren Arbeitsplatz durch die Wirtschafts-krise bereits verloren haben. Aber der Kampf für das Klima wird keine Fort-schritte machen, wenn nicht die Aus-gebeuteten aller Länder gemeinsam kämpfen.

Anstatt ein unrealistisches Ziel von 50% Reduzierung bis zum Jahr 2017 zu lancieren, könnte diese Einheit eher begünstigt werden, wenn man fest-stellt, dass die Entwicklungsländer be-reits heute fast das Maximum dessen leisten, was zur Stabilisierung des Kli-mas erforderlich ist, während die Län-der des Nordens weniger als die Hälfte der ihnen zugewiesen Anstrengungen erbringen. Laut IPCC sollten die Ent-wicklungsländer praktisch Maßnah-men ergreifen, um sicherzustellen,

dass ihre Emissionen im Jahr 2020 15–30% unter den „business-as-usual“-Projektionen bleiben. Nun ergibt sich aber aus den 120 Klimaplänen, die dem UNFCCC-Sekretariat im Rahmen der Vereinbarung von Kopenhagen be-kannt gegebenen wurden, dass das En-gagement des Südens einer mittleren Abweichung von 25% (also fast dem Maximum) entspricht. Im Gegensatz dazu entsprechen die von den Indus-trieländern bekannt gegebenen Kli-mapläne einer Emissionsreduzierung von kaum 15% gegenüber 1990, wäh-rend das IPCC für sie eine Bandbrei-te von 25–40% erwartet. Wir sind also nicht in einer Situation, in der der Sü-den fordert, auch weiterhin keine Bei-träge zu leisten, wie die Erklärung ver-standen werden könnte. Wir sind viel-mehr in einer Situation, wo der Süden mehr als korrekt seinen Teil der Bemü-hungen leistet und der Norden nichts tut, obwohl er doch historisch verant-wortlich ist! Diese Feststellung bietet eine solide Basis, um die Forderung nach einer drastischen Reduzierung der Emissionen der entwickelten ka-pitalistischen Länder zu rechtfertigen. Obendrein nimmt dies allen Demago-gen den Wind aus den Segeln, die die Krisenopfer im Norden aufhetzen und die Menschen im Süden als Sünden-bock präsentieren wollen.

Einige Progressive, die den all-gemeinen Ansatz des Gipfels unter-stützten, haben Vorbehalte gegen einen Ansatz zur Klimagerechtigkeit, der auf den Rechten der Mutter Erde basiert, ausgedrückt. Liest man die Erklärung, so ist es doch klar, dass diese Auffas-sung von Mutter Erde als Quelle al-len Lebens und ihr Recht, im Gleich-gewicht zu leben, einen sehr interes-santen neuen Ansatz für „das Recht, in einer gesunden Umwelt zu leben“ bie-tet. Ohne notwendigerweise den spiri-tuellen oder mystischen Vorstellungen der indigenen Völker in Lateinameri-ka bei ihrer Beziehung zu Pachama-ma nahe zu stehen, müssen wir doch feststellen, dass, jenseits unterschied-licher kultureller Referenzen, die kla-re Positionierung der Erklärung gegen die weltweite Politik der Kommodifi-zierung und Plünderung der Natur es völlig unterschiedlichen Kulturen er-möglicht, sich zu einem gemeinsamen Ziel zusammenzuschließen: die Logik

des Profits und der Ausbeutung abzu-lehnen, die das Recht der Völker, un-ter stabilen klimatischen Verhältnis-sen zu leben, bedroht. Angesichts der ökologischen Krise ist es unbestreit-bar, dass die kosmologische Vision der indigenen Völker, die auf der Idee ba-siert, dass Materie und Energie ständig in der Natur als Ganzer zirkulieren, ei-nen wertvollen Beitrag leistet, dessen Wert angemessen gewürdigt werden muss.

Aber so wertvoll sie auch sein mag, kann diese dynamische Vision der Be-ziehungen zwischen der Menschheit und der übrigen Natur präzise Forde-rungen wie die bedingungslose Enteig-nung der Monopole, vor allem im En-ergiesektor, nicht ersetzen. Ohne die-se Enteignung bleibt der Respekt für Rhythmen und Zyklen der Biosphäre tatsächlich ein Hirngespinst – aus dem einfachen Grund, dass es nicht mög-lich ist, eine Politik der Energiewen-de und des radikalen und weltweit ge-rechten Umbaus der Produktion um-zusetzen. Aus dieser Sicht ist der Text in der Tat eine Kreuzung zwischen ei-ner radikalen, revolutionären Ableh-nung des kapitalistischen System auf der einen Seite, und einer weniger ein-deutigen Positionierung, die auf den ersten Blick keine „Änderung des der-zeitigen kapitalistischen Systems her-beiführen“ will, auf der anderen.

Die Weltkonferenz der Völker ist, wir wiederholen es, ein bemerkens-werter Fortschritt hin zu einer Kli-mastrategie, die diesen Namen ver-dient, das heißt einer antikapitali-stischen Strategie. Alle Ausgebeuteten und Unterdrückten der Welt schulden dem bolivianischen Volk Dank, das die Initiative zu diesem Ereignis ge-meinsam mit seinem gewählten Prä-sidenten ergriffen hat. Sie sind beson-ders den indigenen Völkern zu Dank verpflichtet, die eine führende Rolle dabei spielen zu zeigen, dass eine an-dere Beziehung zwischen Mensch und Natur möglich und notwendig ist. Im Zuge dieser außerordentlich positiven Bilanz möchten wir gerne zu einer konstruktiven Debatte beitragen.

Dieser Artikel wurde auf der Website von La Gauche (Belgien) veröffentlicht (14. Mai 2010)

Übersetzung: Björn Mertens

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1. EINIGE VORBEMER-KUNGEN

Als wir im Herbst 1994 in Mannheim den Revolutio-när Sozialistischen Bund / IV. Internationale (RSB) grün-deten, wollten wir nicht nur dem politischen und organi-satorischen Niedergang des revolutionären Sozialismus in der Bundesrepublik Einhalt gebieten.

Die radikale Linke war da-mals entweder mit sich selbst und dem Versuch beschäftigt, die Bedeutung der deutschen „Wiedervereinigung“ zu be-greifen, oder sie orientierte sich auf den „neuen Hoff-nungsträger“ PDS, der aus der alten SED hervorgegan-gen war.

Wir setzten schon zu die-ser Zeit auf einen anderen Weg. An eine kurzfristige Veränderung der Kräftever-hältnisse zugunsten der arbei-tenden Klasse glaubten wir nicht. Dazu hatten wir uns zu intensiv mit der Entwicklung der Weltlage beschäftigt.

In der „Programmatische[n] [Gründungs-]Erklärung des Revolutionär Sozialistischen Bundes“ gingen wir von ei-ner neuen Aktualität der so-zialen Frage aus: „Weltweit wächst die soziale Ungleich-heit … Eine nähere Betrach-tung der Widersprüche des Kapitalismus … lässt bedroh-liche Entwicklungstendenzen erkennen. Die Angriffe der bürgerlichen Politik auf die Existenzbedingungen, die po-litischen Rechte und sozialen Errungenschaften der arbei-tenden Klasse sind bisher oh-

ne einheitliche Gegenwehr geblieben … Deshalb kritisie-ren wir die ‚Realpolitik’, die Illusionen in den Parlamenta-rismus und jede Art von Stell-vertreterpolitik schürt. Des-halb liegt der Schwerpunkt unserer Aktivitäten in den au-ßerparlamentarischen Kämp-fen. Nur hier kann die Kraft entstehen, die in der Lage ist, wirksame Gegenwehr zu or-ganisieren. Warten wir nicht auf bessere Zeiten!“

Leider haben sich diese Sätze bis heute mehr bestä-tigt, als es uns lieb war und ist.

2. DIE AKTUELLE KRISE DES KAPITALISMUS

Unter der Überschrift „Falsches Wunder“ berichtete die Wirtschaftszeitung Han-delsblatt schon in ihrer Aus-gabe vom 8. / 9. März 2002: „Die vielgelobte US-Wirt-schaft ist lange nicht so stark wie ihr Ruf … das vielgeprie-sene und naiv bestaunte ame-rikanische Wirtschaftswun-der [hat] nie stattgefunden. Es war ein Medienereignis – sonst nichts.“

Die Erklärung hierfür lau-tet derselben Quelle zufolge: „Die amerikanischen Wachs-tumsraten der 90er Jahre wa-ren schon in ihrer offiziellen Version keineswegs größer als in früheren Perioden … Dazu kommt aber, dass sie durch zwei Effekte künstlich erhöht wurden: durch die Fi-nanzblase und – noch gra-vierender – durch den stati-stischen Effekt des sogenann-ten ,Hedonic Price Indexing’

… Es gab nie ein Produktivi-tätswunder, außer in dem klei-nen Segment der Computer-herstellung … Die amerika-nischen Gewinne waren kei-ne Folge realer Wirtschafts-leistung, sondern kreativer Buchhaltung – zum Schluss erreichte diese die Grenzen der Bilanzfälschung … Nicht nur, dass keine echten Ge-winne erzielt wurden, die Un-ternehmen haben auch keine echten Investitionen getätigt. Nur daraus hätten echte Pro-duktivitätssteigerungen ent-stehen können … Die Bör-senhausse war nie auf echte Wertschöpfung gestützt, son-dern auf Desinformation durch die Wallstreet-Industrie und die exorbitante Verschul-dung aller amerikanischen Wirtschaftssegmente … Für jeden Dollar zusätzliches So-zialprodukt waren rund drei Dollar zusätzlicher Schulden erforderlich … Es gab auch nie das vielgepriesene ameri-kanische Wirtschaftswunder. Die öffentliche Verschuldung … ist heute höher als zu je-dem früheren Zeitpunkt.“

Mit anderen Worten: US-Präsident George W. Bushs „Krieg gegen den Terror“ war auch der Versuch, einer dra-matischen weiteren Verschär-fung der finanziellen und wirt-schaftlichen Krisentendenzen der USA zu entfliehen. Heu-te wissen wir, dass dies nicht geklappt hat.

Der internationale Kapita-lismus ist durch das Privatei-gentum an den Produktions-mitteln gekennzeichnet. Aus-beutung und Entfremdung sind zwei zentrale Resultate

dieses auf Profitmaximie-rung ausgerichteten Systems, in dem selbst die menschliche Arbeitskraft eine Ware dar-stellt.

Dieser Sachverhalt ist mit dem Begriff der „Globalisie-rung“ lange verschleiert wor-den.

Er ist seit etlichen Jah-ren zum wichtigsten Schlag-wort in der gesellschaftspo-litischen Diskussion gewor-den. In der veröffentlichten Meinung herrscht die Vor-stellung: Bei der „Globali-sierung“ seien „Sachzwän-ge“ am Werk, denen sich nie-mand entziehen könne. Ge-sellschaftliches Handeln sei vorrangig darauf auszurich-ten, dass die jeweilige Nati-on in einem internationalen „Standortwettbewerb“ mit-halten könne. Die weltweite wirtschaftliche Konkurrenz sei zu verstehen als Wettlauf um ein möglichst niedriges Lohnniveau, um die Absen-kung sozialer Leistungen und um die Deregulierung des Ar-beitsmarktes. In Zeiten der Globalisierung könnten nur die Volkswirtschaften und Unternehmen Erfolg haben, die mit möglichst geringen „sozialen Kosten“ agieren.

Es liegt auf der Hand, dass durch die beharrliche Umset-zung dieser Logik die Arbei-terInnenklasse und ihre Or-ganisationen unter massiven Druck geraten sind.

Das bisherige Resultat der Durchsetzung eines kapitali-stischen Weltmarktes ist nicht „Wohlstand für alle“, sondern eine extreme soziale Polari-sierung.

Ihre Krise und unser Widerstand

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Die Auswirkungen lassen sich an wenigen Beispielen ver-deutlichen:

Die Hälfte der Weltbevöl- –kerung hat derzeit mit we-niger als zwei Dollar pro Tag auszukommen. Die drei reichsten Män- –ner der Welt verfügen über ein Vermögen, das größer ist als das Bruttoinlands-produkt der 50 ärmsten Staaten der Welt. Einige hundert Multimilliardäre in aller Welt besitzen mehr Geld als die Hälfte der ge-samten Menschheit.40 % der Weltbevölkerung –vegetieren in dieser Län-dergruppe, deren Anteil am Welthandel unter 3 % liegt. Die in der OECD zu-sammengeschlossenen rei-chen Volkswirtschaften re-präsentieren nur 15 % der Weltbevölkerung, aber et-wa 80 % der globalen Wertschöpfung.Die Zahl der hungernden –Menschen hat nach UN-Angaben einen neuen Höchststand erreicht. Je-der sechste der 6,8 Milli-arden Menschen leidet an Hunger. Alle vier Jahre sterben in –der „Dritten Welt“ etwa 60 Millionen Kinder an Hun-ger und heilbaren Krank-heiten. Das heißt alle vier Jahre wird ein Weltkrieg gegen Kinder geführt.Mittlerweile rund eine –Milliarde Menschen gilt als erwerbslos oder unter-beschäftigt.

Zudem werden die natür-lichen Lebensgrundlagen aus Profitgründen nach wie vor weltweit rücksichtslos zer-stört. Der von BP verursach-te katastrophale Öl-Unfall im Golf von Mexiko ist nur das aktuellste Beispiel einer schi-er endlosen Kette. Dem ge-fährlichen Klimawandel wird nicht konsequent entgegenge-wirkt.

Auch wenn die Bundesre-publik ein sehr reiches Land ist, so sind selbst hier – be-schleunigt nach dem Mauer-

fall und nun durch die Krise – soziale Spaltungen spürbar vertieft worden.

Wachsende Arbeitslosig-keit und Armut verursachen massive Unsicherheit und treiben die Entsolidarisierung in der arbeitenden Klasse vo-ran. Immer mehr Menschen erkranken dadurch physisch und psychisch. Die Krise ver-schlechtert die Arbeitsbedin-gungen derjenigen, die noch einen Arbeitsplatz haben. Löhne und Ansprüche auf So-zialleistungen werden für die große Mehrheit nach unten gedrückt.

In der Bundesrepublik sind die Reallöhne auf das Niveau von 1980 gesenkt worden. Die Zahl der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse wird auf über 11 Millionen geschätzt. Offiziell sind durch statistische Tricks zwar „nur“ rund 3,3 Millionen Arbeitslo-se registriert, aber die reale Zahl liegt bei mehr als 6 Mil-lionen.

3. WO BLEIBT DER WI-DERSTAND?

Einige Freunde des Kapitalis-mus hatten sich schon vor Be-ginn der Krise verstärkt Sor-gen über die Entwicklung dieses Systems gemacht.

Zum Beispiel ließ sich der ehemalige Generalsekretär der CDU, Heiner Geißler, in Die Zeit vom 11. November 2004 mit den Worten zitieren: „Die Gier zerfrisst den Herr-schern die Gehirne.”

Geißler meint dennoch, dass der Kapitalismus alter-nativlos ist. Das wundert uns nicht. Auch Ex-Bundesprä-sident Horst Köhler (eben-falls CDU) kritisierte lan-ge vor seinem Rücktritt, dass das „Monster“ der Finanzwelt noch nicht gezähmt sei.

Abgesehen davon, dass Monster nicht zu zähmen sind, sondern überwältigt werden müssen:

Wie kommt es, dass gera-de in Deutschland sich viel zu wenige über eine mensch-liche Alternative zu einem Sy-

stem Gedanken machen, das die Welt mit Krieg, Unterdrü-ckung, Ausbeutung und Um-weltzerstörung überzieht?

Um diese Frage ansatzwei-se beantworten zu können, müssen wir einen Blick zu-rückwerfen.

Ab einem gewissen Rei-fegrad der bürgerlichen Ge-sellschaft wurden neue revo-lutionäre Prozesse möglich.

Dies zeigte sich auf der materiellen Ebene in der Ent-wicklung der Produktivkräf-te. Sie wird unvereinbar mit dem Privateigentum an Pro-duktionsmitteln und der ka-pitalistischen Produktions-weise. Wachsende Kapital-konzentration und Staatsin-tervention, sei es zur Regulie-rung oder zur Deregulierung des Marktes, verschärfen den Widerspruch zwischen einer zunehmend vergesellschaf-teten Produktion und der pri-vaten Aneignung.

Auf der sozialen Ebene bildete sich eine Klasse he-raus, die sich objektiv mehr und mehr die Fähigkeiten an-eignete, um – wie Karl Marx das nannte – die Rolle des „Totengräbers“ des kapitali-stischen Systems spielen zu können.

Zum entscheidenden sub-jektiven Faktor kann die ak-tive ArbeiterInnenklasse, um die es hier geht und die in Deutschland derzeit rund 40 Millionen Menschen zählt, allerdings nur durch die Er-fahrungen der Klassenkämpfe werden. Diese sind eine not-wendige Bedingung für das Entstehen von politischem Klassenbewusstsein und da-durch möglicher Klassenso-lidarität.

Die russische Oktoberre-volution 1917 galt als welt-weit gehörtes Signal für den Aufbruch in eine neue Zeit ohne Krieg, Unterdrückung und Ausbeutung.

Nach der deutschen No-vemberrevolution 1918 un-terdrückten Mehrheitssozial-demokratie, Reichswehr und Freikorps blutig die radikale Emanzipationsbewegung von

unten. Zehntausende revolu-tionärer ArbeiterInnen wur-den im Namen der bürger-lichen Demokratie ermordet und die entstandenen Ansät-ze einer Rätedemokratie zer-schlagen.

Das endgültige Scheitern des internationalen revolu-tionären Ansturms im Jahr 1923 ebnete sowohl der sta-linistischen Konterrevolution in der Sowjetunion als auch dem Faschismus in Deutsch-land den Weg.

1933 konnten die Nazis die gespaltene ArbeiterInnen-bewegung hierzulande zer-trümmen und damit auch ein radikales, antikapitalistisches Massenbewusstsein vernich-ten.

Diese bedeutendsten Nie-derlagen der Linken weltweit wirken bis heute nach, und selbst die großen politischen Aufbrüche von 1967/68 und erst recht die von 1989/90 ha-ben diese tiefe Wunden nicht zu heilen vermocht.

Schlimmer noch: Mit dem Siegeszug des neoliberalen Kapitalismus nach dem Mi-litärputsch von 1973 gegen Chiles Volksfrontregierung unter Salvador Allende konn-te die eingangs erwähnte bei-spiellose und rücksichtslose Umverteilung von unten nach oben durchgesetzt werden.

Mit dem „Washington Consens“, dem „Lissabon-Prozess“ und der „Agenda 2010“ hat er verschiedene Codenamen erhalten. Er wur-de deshalb so „erfolgreich“ umgesetzt, weil er nicht nur als „alternativlos“ dargestellt werden konnte, sondern weil auch glaubwürdige antikapi-talistische Alternativen auf parteipolitischer, gewerk-schaftlicher und erst recht auf gesellschaftlicher Ebene fehl-ten.

Mittlerweile hat zwar die Krise die Legitimität des ne-oliberalen Kapitalismus er-schüttert und eine system-kritische Diskussion wieder-belebt. Aber eine organisier-te, verallgemeinerte und ent-schlossene Gegenwehr von

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unten gegen Arbeitsplatzver-nichtung, gegen von oben er-fundene „Sparzwänge“, ge-gen als „Reformpolitik“ ge-tarnten Sozialabbau, gegen Privatisierung, Flexibilisie-rung und Deregulierung gibt es trotz der Krise in der Bun-desrepublik derzeit nicht.

Natürlich gibt es das bun-desweite Bündnis „Wir zah-len nicht für Eure Krise!“ und die von ihm initiierten Prote-staktionen in diesem und im letzten Jahr. Sicherlich fanden 2009 größere Gewerkschafts-demonstrationen in Berlin und Frankfurt / Main statt. Es gab und gibt die Bewegung Bildungsstreik. Es fanden und finden einige wenige gewerk-schaftliche Streiks etwa im Öffentlichen Dienst und bei den Gebäudereinigern statt. Es gab und gibt zahlreiche einzelne betriebliche Ausei-nandersetzungen (bis hin zu Betriebsbesetzungen). Es gibt auch die wiedererstarkte An-ti-AKW-Bewegung, um nur ein weiteres Beispiel ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu nennen.

Aber es fehlt ein breiter Massenprotest gegen die Kri-senfolgen und erst recht ge-gen die Krisenursachen.

In den sozialdemokra-tisch kontrollierten Gewerk-schaftsapparaten setzt man derzeit noch auf die „Ver-nunft“ der CDU-Mehrheit in der schwarz-gelben Koaliti-on und auf ein informelles „Bündnis für Arbeit“ mit dem Kapital.

Statt auf ein „Bündnis“ mit den Herrschenden setzen wir jedoch auf die Schaffung ei-ner breiten sozialen und poli-tischen Protestbewegung, aus der sich der erforderliche Wi-derstand entwickeln kann. Wir treten deshalb für den Aufbau einer außerparlamentarischen Opposition gegen die Abwäl-zung der Krisenlasten auf die breite Mehrheit ein.

Wir wenden uns dabei auch gegen eine „Leistungsideolo-gie“, die auf einem menschen-verachtenden und ausgren-

zenden Verhalten der Besit-zenden basiert. Gesellschaft-licher Egoismus und Entso-lidarisierung bilden gleich-zeitig den Nährboden für die Akzeptanz faschistischer und rassistischer Hetze.

Mit Neonazi-Sprüchen à la Thilo Sarazin (SPD-Mitglied und Bundesbanker) wird der Rassismus immer wie-der hoffähig gemacht. Trotz der Wahlschlappe der Neona-zis werden tagtäglich Schwä-chere Opfer brutaler rechter oder staatlicher Gewalt.

4. UNSERE PERSPEKTI-VEN

Ein radikaler Bruch mit der herrschenden Logik der Pro-fitmaximierung ist die Vo-raussetzung für das Entste-hen einer gesellschaftlichen Alternative, die existenzsi-chernde Arbeit und Einkom-men für alle garantiert, einer Alternative, deren Hauptziel die Schaffung menschenwür-diger Lebensbedingungen für alle und der Schutz der natür-lichen Umwelt ist.

Wenn wir die Geschich-te als Geschichte von Klas-senkämpfen verstehen, dann stellt sich die Frage, wie wir und unsere Klasse gegenüber der scheinbar unendlichen Abfolge von Angriffen durch die Herrschenden bestehen können.

Strategie heißt nach Carl von Clausewitz die Kunst, eine lange andauernde Aus-einandersetzung, d. h. einen Krieg, siegreich führen zu können. Taktik ist der Stra-tegie untergeordnet. Sie ent-scheidet über Sieg und Nie-derlage in einem einzelnen Gefecht, einer Schlacht.

Wir sind überzeugt, dass eine Strategie von Über-gangsforderungen erforder-lich ist, um den Kapitalismus überwinden zu können.

Dieser Strategie muss er-stens ergänzt werden um ein nicht-manipulatives Verhält-nis zu Partei(en) und Selbst-organisationsformen / Bewe-gungen der arbeitenden Klas-

se, zweitens um das bedin-gungslose Eintreten für De-mokratie in der ArbeiterIn-nenbewegung und in ihren Organisationen und drittens um das Eintreten für Aktions-einheiten.

Die Vermittlung zwischen dem Programm, das alle ent-scheidenden Lehren der ver-gangenen Kämpfe und ihre theoretischen Verallgemeine-rungen zusammenfasst, und dem Massenbewusstsein, das sich auf unmittelbare Probleme orientiert, kann nur sehr begrenzt mit Hilfe schriftstellerischer Pädagogik erfolgen. Diese Vermittlung benötigt eine spezifische Ak-tionsform.

Wladimir I. Lenins „gro-ßer strategischer Plan“, der darin besteht, die revolutio-näre Partei in ein Instrument zur Vereinigung und Förde-rung aller nicht objektiv re-aktionären Protest- und Re-bellionsbewegungen gegen das herrschende System um-zuwandeln, wurde später von ihm um das Konzept der Übergangsforderungen er-weitert.

Die IV. Internationale hat dieses Erbe verteidigt und weiterentwickelt.

Ein methodischer Bezugs-punkt für die Strategie der Übergangsforderungen ist

vor allem das Übergangspro-gramm, das auf dem Grün-dungskongress der IV. Inter-nationale 1938 angenommen worden ist. Es betont die not-wendige Verteidigung selbst „der bescheidensten materiel-len Interessen oder demokra-tischen Rechte der Arbeiter-klasse“.

Aber es fordert, unmiss-verständlich die Trennung zwischen Minimal- und Ma-ximalprogramm zu überwin-den. Das revolutionäre Pro-gramm müsse um ein System von Übergangsforderungen errichtet werden, die aus den täglichen Lebensbedingungen und dem täglichen Bewusst-sein breiter Schichten der ar-beitenden Klasse abgeleitet sind und unablässig auf den einen Schluss hin führen: die Machteroberung durch das Proletariat.

Anders ausgedrückt: Der Kern eines Übergangspro-gramms ist ein System von Forderungen, die miteinander so verbunden sind, dass sie den Klassenkampf vorantrei-ben und auf eine höhere Ebe-ne führen können.

Ein Übergangsprogramm beansprucht also, ein poli-tisches Aktionsprogramm zur Mobilisierung der Massen zu sein, das an ihrem jeweiligen Bewusstsein anknüpft und

Zentrale des Finanzkapitals

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über das Lernen aus den ei-genen Kampferfahrungen ei-ne Brücke zur Einsicht in die Notwendigkeit des radikalen Bruchs mit dem Kapitalismus zu schlagen versucht – zu der Einsicht, dass die Befreiung der ArbeiterInnenklasse nur das Werk der ArbeiterInnen-klasse selber sein kann.

Zwei Hauptelemente las-sen sich aus dem Übergangs-programm der IV. Internatio-nale herausschälen:

Erstens die Voraussetzung, dass die kapitalistische Ge-sellschaft im historischen Maßstab ihre Stabilität verlo-ren hat, und dass der Kampf um die Machteroberung die Hauptaufgabe dieser Epoche ist. (Was natürlich nicht zu je-dem Zeitpunkt und in jedem Land gilt.)

Zweitens entsprechend der jeweiligen nationalen und in-ternationalen Verhältnisse ei-ne Reihe von Forderungen zu entwickeln, die miteinander verbunden sind und in die-ser Verbindung das Ziel ha-ben, das politische Klassen-bewusstsein durch eine radi-kale gesellschaftliche Praxis auf das höchstmögliche Ni-veau zu heben.

Während der Wert je-der einzelnen Forderung be-stimmt wird durch ihre Über-einstimmung mit der inne-ren Entwicklung der Mas-senbewegung, ist der wich-tigste Punkt des Programms die Forderung nach einer „Arbeiterregierung“ (bezie-hungsweise einer „Arbeiter- und Bauernregierung“). „Ar-beiterregierung“ meint nichts anderes als eine Übergangs-regierung, die den organisa-torischen Bedingungen und dem Massenbewusstsein in einer bestimmten Situation entspricht. Ein Programm oh-ne die Perspektive einer Re-gierung der arbeitenden Klas-sen, die radikale antikapita-listische Maßnahmen durch-führt, ist kein Übergangspro-gramm.

Wenn es möglich ist, allein in Deutschland einen Schutz-

schirm für die Finanzwelt in Höhe von mittlerweile über 600 Milliarden Euro aufzu-spannen, warum sollte es dann nicht möglich sein, ei-nen sozialen Schutzschirm für die arbeitende Klasse zu entfalten?

Er könnte unter dem Mot-to „Die Reichen und Krisen-profiteure sollen zahlen!“ fol-gende fünf Hauptthemen ab-decken:

1. Gegen Arbeitsplatzvernich-tung fordern wir ein Verbot von Entlassungen.

2. Gegen Arbeitslosigkeit for-dern wir die 30-Stunden-woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich und die gesetzliche Begren-zung der Höchstarbeitszeit auf 35 Wochenstunden.

3. Statt Studien- und Ausbil-dungsgebühren fordern wir freie (Aus-)Bildung für alle.

4. Gegen Armut fordern wir die Streichung von Hartz IV und der Zumutbar-keitsregelungen sowie die Einführung eines ausrei-chenden Mindesteinkom-mens (derzeit 1500 Euro pro Monat) und eines ge-setzlichen Mindeststun-denlohns von 12 Euro.

5. Gegen die zunehmende steuerliche Entlastung der Reichen fordern wir ei-ne Erhöhung des Spitzen-satzes der Einkommen-steuer von derzeit 42 % zunächst auf die bis 1989 gültigen 56 %. Zudem muss umgehend die Ver-mögensteuer (zunächst 1 % ab einem Vermögen von 500.000 und mehr Euro) wiedereingeführt werden. Diese beiden Maßnahmen würden mehr Geld pro Jahr in die Staatskassen spülen als das sogenannte Sparpa-ket der Bundesregierung, das vor allem die Ärmsten der Armen trifft.

Das ist noch lange kein Übergangsprogramm, son-dern der Kern eines Verteidi-

gungsprogramms mit Sofort-forderungen. In Zusammen-hang mit dem Entstehen ei-ner Widerstandsbewegung müssen wir es im Sinne einer Strategie von Übergangsfor-derungen weiterentwickeln.

Die neue Bundesregierung ist in einer schwierigen Lage. Sie muss nicht nur größere An-griffe denn je durchführen, um die Kosten der Krise bezahlen zu lassen. Sie muss auch den Lohnabhängigen und Erwerbs-losen weismachen, dass nicht die Bosse und BankerInnen – sondern sie selbst – für die Kri-se verantwortlich sind. Das ist der Grund, warum Angela Mer-kel und andere tönen: „Wir ha-ben jahrelang über unsere Ver-hältnisse gelebt.“

Die schwarz-gelbe Koa-lition muss diesen sozialen Krieg derzeit weitgehend oh-ne die SPD führen, die ver-stärkt seit 1998 als Partne-rin der Gewerkschaften für deren Zurückhaltung sorgte und damit die Durchsetzung der „Agenda 2010“ und des Marktradikalismus ermög-lichte. Diese Situation kann breite Mobilisierungen der Gewerkschaften ermöglichen und Bewegungen zum Bei-spiel gegen die Atompolitik oder den Afghanistan-Krieg stärken.

Die politische und gewerk-schaftliche Linke im Allge-meinen und der RSB und die revolutionäre Linke im be-sonderen müssen diese Mobi-lisierungen aktiv vorbereiten und aufbauen.

Wir sollten in diesem Zu-sammenhang drei zentrale Fragen aufwerfen:

1. Wie kann die Diktatur des Kapitals über die Mensch-heit beendet werden, wie soll die Katastrophe ge-stoppt, wie soll die welt-weite Barbarei verhindert werden?

2. Wie kann eine glaubwür-dige Alternative zum Ka-pitalismus in Grundzügen sichtbar werden?

3. Wie kann eine Strategie von

Übergangsforderungen in die Tat umgesetzt werden?

Der Sieg in dieser langan-dauernden Auseinanderset-zung ist keineswegs sicher. Es wird ein langer und schwie-riger Weg bleiben. Aber es ist möglich und nötig, den Kampf anzunehmen.

Wie er ausgeht, das hängt auch von jedem und jeder Einzelnen von uns ab. Und es hängt davon ab, ob es gelingt, das revolutionäre Projekt ei-ner antikapitalistischen Par-tei praktisch zu entwickeln. Einer Partei, die nicht nur in den sozialen Bewegungen, sondern auch in der arbeiten-den Klasse verankert ist.

5. SCHLUSSFOLGE-RUNGEN

Percy Barnevik, einer der er-loschenen Superstars am glo-balen Managementhimmel der 90er Jahre, hat die Stra-tegie der Herrschenden in einem Interview mit der Süd-deutschen Zeitung vom 18. Dezember 1997 klar formu-liert: „Karl Marx sagte: Pro-letarier aller Länder, vereini-gt Euch! Heute bei offenen Grenzen, sollte man sagen: Proletarier aller Länder kon-kurriert miteinander.“

Dies belegt wie sehr füh-rende Vertreter des Großka-pitals auf eine Zersplitterung, Entsolidarisierung und Ato-misierung der arbeitenden Klasse setzen. Die Gefahr, dass sie damit weiterhin Er-folg haben, ist real.

Es gibt nur eine Chance, dagegen anzugehen und die sozialen und ökologischen Probleme zu lösen:

Wir müssen einen be- –wussten politischen Kampf gegen die Ideologie des Kapitalismus nicht nur in seiner neoliberalen Aus-prägung führen.Wir müssen über die ein- –zelnen Bereiche und Be-triebe hinaus die Einheit all derer schaffen, die von

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Arbeitslosigkeit, Armut und Ausgrenzung betrof-fen und bedroht sind.Wir müssen international –handeln, um die derzeitige katastrophale Entwicklung zu stoppen und eine An-gleichung der Lebensver-hältnisse nach oben durch-zusetzen.

Deshalb propagieren wir den europaweiten Generalstreik gegen die innerhalb der EU abgestimmte Politik, die Kri-senlasten auf die große Mehr-heit abzuwälzen und gleich-zeitig die Banken und die Pro-fiteure der Krise noch mehr zu bereichern.

Dass dies kein unerfüll-barer Traum ist, zeigen die Kämpfe der letzten Jahre: an-gefangen bei den General-streiks in Frankreich, Grie-chenland und Guadeloupe bis hin zu den Massenprotesten in Honduras – um nur drei Beispiele zu nennen.

Wir sollten also geduldig auf die organisierte gemein-same Aktion statt auf die zu Vereinzelung und Resigna-tion führende individuelle Kontemplation setzen.

Wir sollten deshalb neben dem Aufbau einer außerpar-lamentarischen Opposition die Schaffung einer antikapi-talistischen Partei, einer Par-tei des radikalen Bruchs mit dem Kapitalismus, im Auge behalten.

Wir sollten zudem für ei-ne Solidarität ohne Grenzen kämpfen.

Und wir sollten nicht zu-letzt die gesellschaftliche Al-ternative zur kapitalistischen Barbarei neu entdecken und neu entwickeln.

In einer Gesellschaft, wie wir sie wollen, ist kein Platz für eine „Gier der Herr-schenden“. Denn in ihr wer-den die entscheidenden Pro-duktiv- und Finanzkapitalien

vergesellschaftet. In dieser Gesellschaft wird keine Min-derheit über die Mehrheit der Menschen regieren.

Wir wollen eine direkte De-mokratie auf allen Ebenen. In den Betrieben, in denen noch heute selbstherrliche Ma-nager oder Eigentümer ein-same Entscheidungen fällen. In der Politik, wo es dann kei-ne hochbezahlten Berufspoli-tikerInnen mehr geben wird. In der Öffentlichkeit, in der (Aus-)Bildung, in den Städ-ten und Gemeinden, wo sich niemand mehr bürokratischen Entscheidungen im Interesse kleiner Machtzirkel beugen muss. In den Medien, die al-len offen stehen werden.

Eine solche Gesellschaft ist auch ein radikaler Gegen-entwurf zu den früheren stali-nistischen Diktaturen in Ost-europa. Schon allein deshalb, weil ein Mehrparteiensystem und die jederzeitige Abwähl-barkeit von Funktionsträge-rInnen eine sozialistische De-mokratie mit einklagbaren Menschenrechten kennzeich-nen.

Statt Massenarbeitslosig-keit und wachsenden Elends wird es Arbeit, (Aus-)Bil-dung und Wohnungen für al-le geben. Eine radikale Ver-kürzung der Wochenarbeits-zeit auf 20 Stunden wird nicht nur Millionen Arbeits-plätze schaffen, sondern den Menschen die Zeit zu gesell-schaftlichem und politischem Engagement im weitesten Sinne des Wortes geben.

Der sinnlosen Verschwen-dung und Zerstörung von Er-fahrungen, Wissen und Kul-tur durch den Kapitalismus, in dem sich alles um die Pro-fitsteigerung dreht, könnte ein Ende bereitet werden. Die Wirtschaft würde auf die Er-zeugung naturverträglicher Produkte und Prozesse umge-stellt. Dadurch könnten nicht nur enorme Kosten gespart

werden, sondern die drohende Umweltkatastrophe gestoppt werden.

Mit einem Gewinn an Le-bensqualität und ohne Einbu-ßen am Lebensstandard lie-ße sich für die große Mehr-heit der Menschheit eine bes-sere und gerechtere Gesell-schaft aufbauen. Wir meinen, dass nur eine solche sozialis-tische Alternative die grund-legenden Probleme des Ka-pitalismus überwinden und der Erde eine Überlebensper-spektive geben kann.

Wenn Ihr jetzt meint, dass das sich ja gut anhöre, aber doch nur eine Utopie sei, dann will ich in Anlehnung an eine Formulierung unseres 95-jäh-rigen Genossen Jakob Mo-neta gerne verraten: Es gibt nur eine Utopie – nämlich zu glauben, alles könne so blei-ben wie es ist. Oder wie es die von ihm gerne zitierte ka-nadische Marxistin Ellen M. Wood lange vor der aktuellen Krise ausdrückte: „Die Lehre, die wir aus der … wirtschaft-lichen und politischen La-ge ziehen müssen, lautet: Ein

wirklich menschlicher, sozi-aler, demokratischer und ge-rechter Kapitalismus ist weit-aus irrealer, sehr viel uto-pischer als der Sozialismus.“

Deshalb engagieren wir uns nicht nur im RSB und in der IV. Internationale, son-dern in den Protestbewe-gungen, im Bildungsbereich, in den Betrieben und in den Gewerkschaften für die Stär-kung des Widerstands ge-gen die Logik der Profitma-ximierung und für eine besse-re Welt!

In diesem Sinne: „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!“

wa (25. Juni 2010)

Dieser Aufsatz beruht auf der überarbeiteten Fassung eines Re-ferates, das der Autor auf dem Herbstseminar des RSB am 16. Oktober 2009 gehalten hat.

Demo in London (Juni 2009)

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Der Verfasser dieser exzel-lenten Schrift ist Arzt, aktives Mitglied der IV. Internationa-le in Deutsch land und einer der Koordinatoren des Inter-nationalen Ökosozialistischen Netzwerks. Sein kleines Buch ist eine wertvolle Einfüh-rung in den Ökosozialismus, es versteht sich als Beitrag zur Debatte und nicht als ein „schlüsselfertig“ zu überneh-mendes Modell.

Das erste Kapitel mit der Überschrift „Haben wir noch eine Chance?“ zieht eine ka-tastrophale Bi lanz der Situa-tion, die durch 200 Jahre In-dustriekapitalismus herbei-geführt worden ist: Der Glo-bus und seine Atmosphäre sind dermaßen stark vergiftet, dass die Gefahr droht, dass er für menschliche Wesen un-bewohnbar wird. Anhäufung von Abfällen, Zerstörung der Biodiversität, Erschöpfung der Ressourcen, Klimawan-del – dies sind einige Aspekte dieser Verschlechterungen der Lebensbedingun gen. Die Veränderung des Klimas (dies ist zweifellos die größte Be-drohung – und der Autor hät-te ihr einen zentraleren Platz einräumen sollen), die durch die fossilen Brennstoffe ver-ursacht worden ist, ist eine di-rekte Konsequenz aus der Lo-gik des kapitalistischen Sy-stems, das auf dem Streben nach dem größtmöglichen Profit, auf schärfster Kon-kurrenz und unbegrenztem Wachstum beruht. Das Schei-tern der Klimakonferenz in Kopenhagen belegt, dass die herrschenden Klassen – in de-nen die „fossile Oli garchie“ der Erdöl-, Autobahn- und

Automobilfirmen großes Ge-wicht hat –nicht fähig sind, das Problem anzugehen.

Das folgende Kapitel mit der Überschrift „Eine neue Welt?“, in dem die utopischen Projekte von Moses bis in un-sere Tage durchgegangen werden, hat für die Stoßrich-tung des Buchs insoweit die geringste Bedeutung, als die ökologische Dimension bei den meisten Skizzen einer ge-rechteren Ge sellschaft prak-tisch ganz fehlt. Weitaus inte-ressanter ist das Kapitel, das dem Thema „Marx, Engels und die Ökologie“ gewidmet ist. Während er anerkennt, dass die beiden Begründer des modernen Sozialismus Kinder ihrer Epoche waren und sich wenig mit Ökologie befasst haben, arbeitet Klaus Engert ihre Kritiken an dem ausbeuterischen und zerstö-rerischen Verhältnis zur Na-tur heraus, das dem Kapitalis-mus innewohnt. Ihr Ziel war das „Reich der Freiheit“, und folglich steht der Marxismus nicht im Widerspruch zu ei-ner ökologischen Sichtwei-se, die sich dem Produkti-vismus und dem Konsumis-mus entgegen stellt. Dieser Widerspruch ist jedoch unü-bersehbar, wenn es um die – global negative – Bilanz des vorgeblich „realen Sozialis-mus“ geht, dessen Ziel da-rin bestand, die fortgeschrit-tenen ka pitalistischen Län-der in Bezug auf die Produk-tionszahlen „einzuholen und zu überholen“. Ein frappie-rendes Beispiel für das ökolo-gische Desaster in der UdSSR ist die Verwandlung des Aral-sees in eine chemische Kloa-

ke: vergiftet durch Pestizide und Düngemittel und auf ein Viertel seiner Fläche redu-ziert.

Natürlich sieht die ökolo-gische Bilanz des „realen Ka-pitalismus“ ganz gleich aus, wenn nicht noch schlimmer – insbesondere deswegen, weil er in den nächsten Jahrzehnten einen nicht mehr umkehrba-ren Prozess des Klimawan-dels auszulösen droht, der auf-grund der Überschwemmung von immens großen Flächen und der Desertifikation [fort-schreitenden Wüstenbildung] von weiteren Flächen einen größeren Teil der Erde unbe-wohnbar machen wird. Die-se Bedrohung, die auf längere Sicht die Le bensbedingungen der menschlichen Gattung auf dem Planeten unterhöh-len kann, ist nicht Resultat von „Wildwuchs“ des Kapi-talismus, sondern ergibt sich aus dem Charakter des Sy-stems als solchem. Ein „ge-zähmter“, „nachhaltiger“ Ka-pitalismus, ein Kapitalismus ohne Wachstum ist eine reine Illusion.

Eines der originellsten Ka-pitel des Buchs ist die Ana-lyse der Beschleunigung al-ler Lebensbereiche, die dem Kapitalismus innewohnt. Der Imperativ der Schnel-ligkeit dehnt sich vom Pro-zess der Zirku lation des Ka-pitals auf die Produktion, auf den Transport, auf die Kom-munikation und auf sämtliche Sphären des gesellschaft-lichen Lebens aus, wobei die Folgen für die Ökologie auf der Hand liegen: Ein Hinweis auf die Bedeutung des indivi-duellen Automobils und des

Straßentransports der Waren für die Emissionen von Treib-hausgasen dürfte reichen.

Die einzige folgerichtige Alternative in Anbetracht dieser immer stärker beun-ruhigenden Lage der ökolo-gischen Zustände ist der Öko-sozialismus oder, wie der dis-sidente ostdeutsche Kommu-nist Wolf gang Harich (der von 1956 bis 1964 in der DDR im Gefängnis saß) schrieb, ein „Kommunismus ohne Wachstum“.1 Oder aber, wenn man so will, eine egalitäre Gesellschaft, die das respek-tiert, was der Philosoph Hans Jonas (1903–1993) den „öko-logischen Imperativ“ genannt hat: „Handle so, dass die Wir-kungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Per-manenz echten menschlichen Lebens auf Erden“.2

Wie Klaus Engert schreibt, sind die wesentlichen Bedin-gungen für die Herstellung ei-ner sozial und ökologisch ge-rechten Ordnung:

Beseitigung der Werbung –und eine Neudefinierung der echten gesellschaft-lichen Bedürfnisse nach ei-ner rationalen öffentlichen Diskussion in der gesamt-en Gesellschaft;Kontrolle und öffentliches –Eigentum an den Produkti-

1 Vgl. Kommunismus ohne Wachs-tum? Babeuf und der „Club of Rome“. Sechs Interviews mit Frei-mut Duve und Briefe an ihn, Rein-bek bei Hamburg: Rowohlt, 1975. Zu Wolfgang Harich (1923–1995) siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Harich.

2 Das Prinzip Verantwortung. Ver-such einer Ethik für die technolo-gische Zivilisation, Frankfurt/M.: Insel, 1979, S. 36.

Besprechung: Ökosozialismus – das geht!Michael Löwy

Klaus Engert: Ökosozialismus – das geht! Köln: Neuer ISP Verlag, 2010, (isp-pocket 68). 142 S., ISBN 978-89900-068-9, € 12,80.

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onsmitteln und deren Neu-organisierung anhand von Kriterien wie Gleichheit, gesellschaftliche Nützlich-keit der Güter und „ökolo-gischer Imperativ“;Verkürzung der Arbeits- –zeit um die Hälfte, mittels Abschaffung der zahllosen nutzlosen und parasitä ren Tätigkeiten, und allgemei-ne „Entschleunigung“ des gesellschaftlichen Lebens;gerechte und ökologisch –rationale Aufteilung der Ressourcen auf lokaler, regionaler und planetarer Ebene über Planung und direkten Austausch zwi-schen ProduzentInnen und KonsumentInnen.Eine partizipatorische De- –mokratie, die „von un-ten nach oben“ verlaufen und die dezentralisiert sein wird, wird nach dem Aus-spruch von Saint-Simon, den Friedrich Engels auf-gegriffen hat, „die Über-führung der politischen Re-gierung über Menschen in eine Verwaltung von Din-gen und eine Leitung von Produktionsprozessen“3 möglich machen. (In Klam-mern sei hier angemerkt, dass ich in Bezug auf die-se Formulierung ziemlich skeptisch bin: Mir scheint, Politik – verstanden als de-mokratisches Um gehen mit den gesellschaftlichen Beziehungen, den Bedürf-nissen und der Produktion – ist eine perma nente Di-mension des menschlichen Lebens in der Gesellschaft: anthropos zoon politikon [„der Mensch ist ein Ge-meinschaftswesen“], wie Aristoteles es so treffend ausgedrückt hat.)

Klaus Engert greift eine Idee auf, die von einem der Vor-läufer des Ökosozialismus, dem deutschen Marxisten Os-

3 „Die Entwicklung des Sozialis-mus von der Utopie zur Wissen-schaft“ (1880), in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, Berlin: Dietz Verlag, 1962, S. 195.

sip K. Flechtheim, stammt; der nahm an, eine ökosozia-listische Gesellschaft könne sich von den Werten und Ver-haltensweisen der vorindu-striellen Gemeinschaften lei-ten lassen; Klaus bringt die-sen Ansatz mit den gegen-wärtigen indigenen Bewe-gungen in Bolivien und Ecua-dor in Verbindung, die der bürgerlichen Zivilisation den Begriff des „buen vivir“ oder „vivir bien“4 in Harmonie mit der Umwelt entgegen stellen.

Die unterschiedlichen Ver-suche, aus der Logik des Kapitalismus „auszustei-gen“, die Initiativen der ge-nossenschaftlichen oder so-lidarischen Ökonomie und die mannigfaltigen Nischen eines nicht-kapitalistischen Lebens sind als Laborato-rien einer künftigen Gesell-schaft von Interesse, sie rei-chen jedoch nicht aus, um das System in Gefahr zu brin-gen. Es gilt, für eine radika-le Gesellschaftsverände rung, für eine Revolution zu kämp-fen. Walter Benjamin hat die Revolution so definiert: Sie sei nicht die Lokomotive der Geschichte, sondern die Menschheit, die die Notbrem-se zieht. Der Zug des Kapi-talismus, fügt Klaus Engert hinzu, fährt immer schneller auf den Abgrund des ökolo-gischen Desasters zu. Es gibt aber eine Notbremse – man muss sie nur betätigen!

Aus dem Französischen übersetzt,

bearbeitet und mit Anmerkungen

versehen von Wilfried Dubois.

Bestellungen über: http://www.neu-

erispverlag.de/ oder den gut sor-

tierten Buchhandel

4 Wörtlich: des guten Lebens oder gut Lebens; die Bedeutung geht im indigenen Sprachgebrauch darüber hinaus; für die Ausdrük-ke auf Quechua und Aymara und die Formulierungen als Staatszie-le in den neuen Verfassungen von Ecuador und Bolivien siehe K. Engert, S. 130/131.

Klaus Engert

Ökosozialismus

– das geht

isp-pocket 68

142 S., € 12,80

2010, ISBN 978-

3-89900-068-9

Spätestens seit dem Bericht des Club of Rome Ende der sechziger Jahre und den Klimavoraussagen von James Hansen Ende der siebziger Jahre hätte jeder, der das wollte, wissen können, dass ein grundlegender Wandel in der Umweltpolitik notwendig ist. Geschehen ist so gut wie nichts. Aber das ist kein Zufall. Für eine kapitalistische Industriegesellschaft ist Nachhaltigkeit Gift. Das Konkur-renzprinzip, auf dem diese Gesellschaftsform beruht, hat die zwangsläufige Konsequenz, dass der belohnt wird, der auf die ökologischen Folgen seiner Produktion die wenigste Rücksicht nimmt. Zudem beruht die kapitali-stische Produktionsweise auf immer währendem Wachs-tum. Und was diese Welt am wenigsten vertragen kann, ist (noch) mehr quantitatives Wachstum. Die hilflosen Versuche der Herrschenden, den Kapitalismus aufrecht-zuerhalten und gleichzeitig Umweltzerstörung im Allge-meinen und den Klimawandel im Besonderen aufhalten zu wollen, sind der Versuch der Quadratur des Kreises: Beides zusammen ist nicht zu haben.Die Länder des sogenannten „Realsozialismus“ können ebenfalls kein Vorbild sein. Die Umweltzerstörung dort stand der der kapitalistischen Welt in nichts nach.Wir brauchen also eine Alternative. Wir nennen diese Alternative Ökosozialismus. Natürlich ist es nicht mög-lich, einen detaillierten, ausgearbeiteten Plan für eine Zukunftsgesellschaft zu entwerfen. Eine solche Gesell-schaft wird sich in einem längeren Prozess herausbilden und für manche der späteren Lösungen dürfte unsere heutige Phantasie nicht ausreichen. Aber es ist möglich, die Grundzüge darzustellen, nach denen ein Gemeinwe-sen funktionieren muss, das gleichzeitig die Bedürfnisse der Menschen erfüllt, die natürlichen Lebensgrundlagen schützt und gleiche Lebens- und überlebensvorausset-zungen für die Menschheit schafft.

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Solidarität mit Doğan Tarkan

Doğan Tarkan ist einer der führenden Genossen und Gründungsmitglied der DSIP (Revolutionäre Sozialistische Arbeiter Partei). Er ist einer der weni-gen revolutionären Sozialisten in der Türkei, die seit den 60er Jahren unun-terbrochen aktiv für eine sozialistische Gesellschaft kämpfen. In den 70er Jah-ren brachte er mit einigen Aktivisten ei-ne Zeitung heraus mit dem Ziel, die Ar-beiterklasse zu erreichen. 1977 war er ein führender Genosse der Revoluti-onären Massenorganisation Kurtuluş. Nach dem Militärputsch 1980 flüch-tete er in den Libanon, beteiligte sich am Widerstand an der Seite der El Fa-tah gegen die israelische Armee und ge-gen die faschistischen libanesischen Or-ganisationen. 1983 erhielt er in England politisches Asyl und blieb bis 1991 dort. Von dort aus gründete er die Monatszei-tung Sosyalist Işçi, die über lange Zeit in der Türkei illegal verbreitet wurde und heute wöchentlich und legal erscheint. 1997 wurde die DSIP gegründet, Doğan Tarkan war dabei maßgeblich beteiligt, und seitdem gehört er zur Leitung der Partei. Er ist einer der Mitbegründer der Gruppe „Globaler Frieden“, der „Glo-balen Aktionsgruppe“ und von „Sagt Nein zum Rassismus“. Seine Artikel und Analysen erscheinen regelmäßig in der Tageszeitung Taraf und in andere linken Tageszeitungen. Doğan ist weit über die DSIP hinaus bekannt, mit sei-

nen Reden und Schriften hat er sich po-litischen Respekt weit über die Grenzen der DSIP hinaus erkämpft.

Im April 2010 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand und er muss-te zweimal operiert werden. Inzwischen ist er aus dem Krankenhaus entlassen, und es geht ihm einigermaßen gut.

Politische Bekannte und Freunde in der Türkei haben einen Teil der lei-der sehr teuren Rechnungen der Opera-tionen, des Krankenhauses und der The-rapien übernommen, aber sie sind lei-der nicht in der Lage, die Rechnungen komplett zu bezahlen. Deshalb haben sie sich an uns gewendet und uns gebe-ten, Doğan zu unterstützen.Da die Rechnungen rasch bezahlt

werden müssen, sind wir in Vorkas-

se getreten und haben an Doğan bzw.

seine politischen Freunde 1000. €

überwiesen.

Bitte beteiligt Euch im Rahmen Eu-

rer jeweiligen Möglichkeiten an dem

Solidaritätsfonds.

Spendet auf das Konto von

Volkhard Mosler , Frankfurter Spar-

kasse von 1822. Kto-Nr. 12020114397,

BLZ 50050201 (Stichwort „Dogan“)

Wer weitere Informationen haben möchte, kann sich an Mustafa wenden. Tel: 0177/ 602 86 88

Mit solidarischen GrüßenMustafa Korkmaz, Volkhard Mosler

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KIRGISISTAN

Der Volksaufstand eröffnet eine neue geschichtliche PeriodeJan Malewski

In Bischkek, der Hauptstadt Kirgisi-stans, haben am 7. April 2010 Tau-sende von DemonstrantInnen dem Ge-wehrfeuer der Repressionskräfte ge-trotzt und mit einem erfolgreichen Angriff das „Weiße Haus“, den Sitz der zentralen Autoritäten und des Prä-sidenten, erobert. Die Manifestanten und Manifestantinnen haben sich ur-sprünglich versammelt, um gegen die Verhaftung von Oppositionellen zu protestieren und wurden dabei durch die Repressionskräfte attackiert. Sie antworteten mit Steinwürfen, haben Einheiten der Polizei angegriffen, die auf sie schossen, haben die Polizisten entwaffnet, deren sie habhaft werden konnten, haben Lastwagen und Pan-zerfahrzeuge der Polizei erobert, sich des Fernsehens bemächtigt und poli-tische Häftlinge befreit. Sie haben im Sturm mehrere Verwaltungsgebäude und schlussendlich den Sitz und die Villa des Präsidenten Kurmanbek Ba-kiyev eingenommen und diesen zur Flucht gezwungen. Der Volksaufstand hat das Regime gestürzt. Dabei gab es allein in der Hauptstadt 83 Tote und über 1500 Verletzte, vor allem durch Gewehrkugeln.

EIN WACKELIGES REGIME

Im Gegensatz zu den benachbarten post-sowjetischen Republiken, wo der Kreml im Laufe der achtziger Jahre einen erneuerten, gestärkten und für die kapitalistische Restauration vorbe-reiteten, zentralen bürokratischen Ap-parat aufgebaut hatte, machte die kir-gisische Bürokratie den Sprung in das kapitalistische System in innerer Zer-strittenheit. Trotz all ihrer reellen Pri-vilegien war es ihr nicht erlaubt, pri-vates Kapital zu bilden. Es waren so-mit die staatlichen Funktionen, mit denen die Mechanismen der Privati-sierung und die staatlichen Finanzen kontrolliert wurden, die einen bevor-zugten Weg zu einer schnellen, primi-

tiven Akkumulation von Kapital dar-stellten. Dies gilt vor allem in einem wenig industrialisierten Land mit nur wenigen Direktoren von Unterneh-men, die von diesen als erste hätten privat angeeignet werden können.

Die Geschichte des seit dem 31. August 1991 unabhängigen Kirgisi-stans ist geprägt durch Kämpfe in-nerhalb der neuen bürokratischen Eli-te. Diese ist weitgehend aus derjeni-gen Schicht hervorgegangen, die sich bereits 1990 an der Spitze des Staates befunden hatte. Die lohnabhängige Bevölkerung, die die große Verliere-rin der privaten Aneignung der öf-fentlichen Güter ist, greift mit ihren Kämpfen immer wieder störend in das Spiel der Herrschenden ein.

Von Juni bis August 1990 haben Volksaufstände in Osch und Uzgen den Weg für die Demokratische Bewegung Kirgisistans bereitet, die vor allem aus Intellektuellen und mittleren Büro-kraten bestand. Diese Volksaufstände wurden durch eine gestiegene Arbeits-losigkeit (22,8 % der einheimischen Bevölkerung) und eine Wohnungsnot ausgelöst, die sich in einen ethnischen Konflikt zwischen Kasachen und Us-beken verwandelten, und die durch ein Eingreifen der sowjetischen Armee unterdrückt wurden. Diese Oppositi-on forderte die Absetzung von Absa-met Masaliyev, einem alten Mitglied des Politbüros der KPdSU und Präsi-denten des Obersten Sowjets der Re-publik. Im Oktober 1990 erwies sich der Oberste Sowjet als außerstande, den Präsidenten der Republik – ein im Zuge der Regimereform geschaffener neuer Posten – aus den beiden aus der traditionellen Nomenklatura stam-menden Kandidaten zu wählen: Masa-liyev und den ersten kirgisischen Mi-nister, Apas Jumagulov.

Mit Askar Akayev wurde ein au-ßenstehender Kandidat gewählt, der nicht offiziell kandidiert hatte, der zwar Parteimitglied war, aber nicht zu

der obersten Nomenklatura gehörte. Er war Präsident der kirgisischen Aka-demie der Wissenschaften und galt als ein Liberaler; er wurde im Dezember 1991 in einer allgemein anerkannten Wahl zum Präsidenten des unabhän-gigen Kirgisistans gewählt. Beim Auf-bau seiner Verwaltung zog er in erster Linie seine intellektuellen Freunde he-ran und destabilisierte so die traditio-nellen bürokratischen Eliten.

Ein Teil der liberalen Intellektu-ellen gab seine Illusionen bald auf, als Akayev sein Regime zu einer au-toritären Präsidialherrschaft ausbaute. Indem er Privatisierungen1 begünsti-gte, ließ er für sich und seine Günst-linge durch das von ihm kontrollierte Parlament Spezialprivilegien bewilli-gen. Die „demokratische“ Opposition war ideologisch desorientiert und ge-spalten und deshalb nicht in der Lage, sich durchzusetzen. Im Jahr 1992 hat sich die größte Oppositionspartei, Erk (Freiheit), in Erkin (Konservative) und Ata-Meken (Vaterland, die der Sozia-listischen Internationale beigetreten ist) gespalten, während die alte bü-rokratische Elite die kommunistische Partei wieder aufleben ließ. Die Mittel im Staatshaushalt gingen nach der Pri-vatisierung zurück, deshalb vermin-derte sich für die Mitglieder der Eli-te die Möglichkeit zur privaten Ak-kumulation und die politischen Span-nungen nahmen zu. Mitte der 1990er Jahre wuchs die soziale Unzufrieden-heit, denn die Verarmung der Bevölke-rung verschärfte sich.2

Akayev gelang es jedoch im Jahr 2000, sich erneut wählen zu lassen –

1 Er rief aus: „Obwohl ich Kommunist bin, bin ich grundsätzlich für das Privateigentum. Ich glaube, dass auf dem Gebiet der Wirtschafts-wissenschaften nicht Karl Marx, sondern Adam Smith die Revolution vollendet hat.“ (Christi-an Science Monitor vom 10. Januar 1991)

2 Vgl. Glenn E. Curtis: Kirghizistan, A Country Study. In: Lydia M. Buyers (Ed.), Central Asia in Focus. Political and Economic Issues, Nova Publishers, New York 2003.

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KIRGISISTAN

in gefälschten Wahlen. Im März 2002 ließ er in Jalal-Abad in eine Men-schenmenge schießen, die gegen die Verhaftung eines Abgeordneten pro-testierte, im Mai hat die Polizei ei-ne ähnliche Demonstration in Bisch-kek brutal aufgelöst. Es begann sich eine Volksbewegung herauszubilden, die breiter war als die traditionelle po-litische Opposition und seine Abdan-kung forderte. Da sein Mandat im Jahr 2005 auslaufen sollte, begann Aka-yev, eine dynastische Nachfolge vor-zubereiten, und ließ seinen Sohn Ai-dar und seine Tochter Bermet3 in das Parlament wählen. Aber er hatte seine Kräfte überschätzt. Eine Woche nach den Parlamentswahlen vom 18. März 2005 kam es zu großen Demonstra-tionen, zuerst in Jalal-Abad, dann in Osch, in Toktogul, in Pulgon und zum Schluss in der Hauptstadt Bischkek. Die Bevölkerung besetzte die Verwal-tungsgebäude und sperrte die regio-nalen Machthaber ein. Der Oppositi-on gelang es, sich um Rosa Otunba-yeva, eine ehemalige Ministerin, und um Karmanbek Bakiyev, einen ehe-maligen Präsidenten, zu vereinen. Am 24. März bemächtigten sich die Op-positionellen des Regierungssitzes und der Fernsehstation, und Präsident Akayev floh. Die Polizeikräfte lösten sich auf oder schlossen sich der Op-position an. Der Premierminister trat zurück, die Wahlen vom März wur-den annulliert, Kurmanbek Bakiyev wurde zum Premierminister und Inte-rimspräsidenten ernannt und dann in den Wahlen vom Juli 2005 zum Prä-sidenten gewählt. Die „Tulpenrevolu-tion“, in deren Verlauf die Opposition von der materiellen Hilfe des Westens profitierte, hatte gesiegt.

Bakiyev folgte schnell dem Bei-

3 Nachdem Bermet Akayeva eine diplomatische Karriere begonnen hatte, wurde sie 2000 Ma-nagerin der familieneigenen Unternehmen. 2005, nach der „Tulpenrevolution“, wurde sie in nachträglich wegen Wahlfälschung annul-lierten Wahlen als Abgeordnete gewählt. Die Kandidatur von Rosa Otunbayeva, der ehema-ligen Außenministerin und Vizepremiermini-sterin (um 1992, dann (1994–1997), dann Di-plomatin (2002–2004 an der Spitze der UNO-Mission in Georgien), Gründerin der Oppositi-onspartei Ata-Jurt, wurde im selben Wahlkreis aufgrund eines Gesetzes für ungültig erklärt, gemäß dem die Kandidaten und Kandidatin-ne in den fünf den Wahlen vorhergehenden Jahren auf dem nationalen Territorium wohn-haft gewesen sein müssen. 2007 hat es Bermet Akayeva dann geschafft, in das nationale Par-lament zurückzukehren!

spiel seines Vorgängers und schob die-jenigen beiseite, die ihn auf den Schild gehoben hatten. Er festigte sein Re-gime im Süden des Landes (im Gebiet um Jalal-Abad und um Osch) mit Hil-fe eines Klientelismus unter Anwen-dung von Günstlingswirtschaft und Korruption. Er sicherte sich die Kon-trolle der Medien und begann, die Op-positionellen einzuschüchtern: Nach 2007 wurden viele von ihnen durch Unbekannte überfallen, während an-dere unter ungeklärten Umständen er-mordet aufgefunden wurden. Im Juli 2009 manipulierte Bakiyev die Prä-sidentenwahlen und erklärte sich mit einem Stimmenanteil von 78 % zum Sieger, während er aufgrund der tat-sächlichen Resultate, die nach sei-nem Sturz im Büro seines Bruders, des Chefs der nationalen Sicherheit, gefunden wurden, nur auf den dritten Platz gekommen wäre. Der Sozialde-mokrat Almazbek Atambaev wäre mit 52 % Wahlsieger gewesen.4 Nach die-sen Wahlen festigte er sein Regime noch mehr um seine Günstlinge und beförderte seinen Sohn Maksim an die Spitze des Amtes für Entwick-lung, Investition und Innovation, das die Finanzen des Landes kontrolliert.5 Sein Bruder Zhanybek leitete bereits die Sicherheitsdienste. Das Regime hat alle Wirtschaftssektoren priva-tisiert. Die jahrelange Dürre kam zu den durch den Clan des Präsidenten vollzogenen Plünderungen des Reich-tums dieses armen und durch die Preissteigerungen auf Rohmaterialien hart getroffenen Landes6 hinzu und machte die Lebensbedingungen uner-träglich: tägliche Unterbrechungen in der Stromversorgung, Mangel an flie-ßendem Wasser, Anstieg der Lebens-mittelpreise. Im Januar setzte das Re-gime eine drastische Preiserhöhung

4 Siehe David Gauzère, Qui sont les nou-veaux maîtres du Kirghizistan ?, http://www.rue89.com/2010/04/11/au-kirghizstan-le-nou-veau-pourvoir-sinstalle-et-cherche-des-souti-ens-147012

5 Siehe David Gauzère, Révolution au Kirghi-zistan, 24 heures dans un pays qui bascule, http://www.rue89.com/2010/04/08/revolution-au-kirghizstan-24-heures-dans-un-pays-qui-bascule-146672 ; Gemäß Rayshan Jeenbekov, Vizepräsident der Partei Ata-Meken in einem Interview mit Richard Solash, Korrespondent von RFE/RL, kontrollierte Maksim Bakiyev mehr als 80 % der kirgisischen Wirtschaft.

6 Gemäß dem IWF lag 2009 das Pro-Kopf-Ein-kommen in Kirgisistan um die 2227 Dollar (ungefähr 1640 Euro), auf dem 138sten Platz der 181 aufgeführten Länder.

auf Dienstleistungen durch7 und kün-digte auf Juli eine zweite Runde der Preissteigerungen an. Bakiyev hat-te vorher die Energiefirmen zu einem sehr niedrigen Preis an Unternehmen verkauft, die durch seine Freunde kontrolliert wurden.8

WEGE DES AUFSTANDS

Der Anstieg der sozialen Spannungen war seit dem Eintreffen der Januar-Rechnungen erkennbar: „Während sie früher 20 bis 30 % ihres Lohnes für deren Begleichung ausgegeben ha-ben, werden sie nun um die 80 % aus-geben, um die Dienstleistungen zu be-zahlen“, erklärte im Februar ein Ana-lyst aus Bischkek.9 Am 24. Februar ha-ben mehrere Hundert Personen in Na-ryn, im Zentrum des Landes, gegen die Erhöhung der Energiepreise demons-triert. Die regionalen Autoritäten haben ihnen versprochen, ihre Forderungen zu übermitteln. Am 10. März haben erneut mehrere Tausend in Naryn demons-triert und haben nun die Absetzung des Sohnes des Präsidenten gefordert. Am 17. März gab es in Bischkek breite Pro-teste der Oppositionellen … Am 31. März ließ das Regime auf die Publizie-rung eines Gedichtes eines kirgisischen Poeten hin durch das Gericht von Bisch-kek „eine allzu unabhängige Zeitung“, Forum, verbieten: Die Formulierung „In Zeiten der Krise muss sich jeder Sohn seines Vaterlandes in einen Blitz ver-wandeln“ wurde als „Anstiftung zur Or-ganisierung eines Staatsstreiches“ ange-sehen.10

Im März versuchte Bakiyev, seine Truppen zu mobilisieren, und hat in al-ter kirgisischer Tradition eine Versamm-lung von Adligen, „Kurultai“ einberu-fen. Doch die Idee wurde von den Par-teien der Opposition und den sozialen Bewegungen aufgenommen, die eben-

7 Die Heizkosten haben um 400 % zugenommen (wobei die winterliche Temperatur 20 °C unter Null ist), die Kosten für Elektrizität um 170 % und jene für Warmwasser um mehr als 100 %.

8 h t t p : / / w w w . i s n . e t h z . c h / i s n / C u r -r e n t - A f f a i r s / S e c u r i t y - W a t c h /Detail/?ots591=4888caa0-b3db-1461-98b9-e20e7b9c13d4&lng=en&id=114855

9 Mars Sarlev. Zitiert von Liat Asman, Kyrgyz-stan: Utility price hike squeezes citizens, http://www.eurasianet. org/departments/insightb/ar-ticles/eav020810.shtml

10 Tribune de Genève vom 2. April 2010, http://www.tdg.ch/depeches/monde/kirghizstan-journal-interdit-saisie-equipements-portail-vi-deo

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KIRGISISTAN

falls „Kurultai“ organisierten, die viel stärker besucht waren und vor allem zu embryonalen Formen der Selbstorga-nisation wurden. Das Regime reagierte mit einem Verbot dieser „illegalen Ver-sammlungen“ und einer Vervielfachung der Verhaftungen. Aber die Wirkung war das Gegenteil von dem, was das Re-gime erwartete hatte: ein Schneeball der breiten Massenmobilisierungen.

Am 6. April haben in Talas mehre-re Tausend Aktivistinnen und Aktivisten der Polizei getrotzt und das Verwal-tungsgebäude der regionalen Verwal-tung gestürmt, Barrikaden gebaut und mit Molotow-Cocktails verteidigt, den Flughafen besetzt und die Landepisten blockiert. Sie haben gegen die Verhaf-tung des Führers der Partei Ata-Me-ken (Vaterland), Bolotbek Scherniya-zov, protestiert, der für den 7. April ei-ne nationale Versammlung der selbstor-ganisierten „Kurultai“ vorbereitete, Die Aufständischen von Talas haben zudem einen „Volksgouverneur“ eingesetzt.

Sie wandten sich mit Flugblättern an die Repressionskräfte: „Heute be-nutzt euch die Regierung für ihre eige-nen Ziele. Sie zwingt euch zu gesetzes-widrigen Handlungen, sie lässt euch die Aktivistinnen und Aktivisten der Op-position und die protestierenden Men-schen angreifen. Entscheidet selbst. Wir vertrauen auf eure Intelligenz und auf eure Würde. Denkt an eure Eltern, an eure Brüder und Schwestern, an eure Nachbarn und Freunde, die die Schan-de ertragen müssen, um zu leben. Ver-gesst nicht, dass eure Kinder und Enkel älter werden und auf ihre Eltern stolz sein wollen. Die Autoritäten erinnern euch an euren Eid und an eure Ver-pflichtung, die Ordnung zu schützen. Aber der heilige Eid ist ein Symbol der Treue gegenüber dem Vaterland und nicht gegenüber der Familie Ba-kiyev. Ihr habt den Eid geleistet, das Gesetz und die Ordnung zu schützen, im Dienste des Volkes zu stehen! Wir hoffen, dass ihr diesen Eid respektiert. Es kommt der Tag, an dem die herr-schende Familie verschwinden muss und jeder zur Verantwortung gezogen wird. Nieder mit Bakiyev! Genug von seiner Vetternwirtschaft. Die Macht muss dem Volk gehören!“11

Am 7. April strömten die Prote-stierenden in die Hauptstadt Bischkek

11 Zitiert von der Webseite des sozialistischen Widerstandes von Kasachstan: http://socialis-mkz.info/news/2010-04-06-500

und haben das Regime Bakiyev ge-stürzt.12 Die Repressionskräfte haben das Feuer eröffnet, wurden aber durch die Volksmenge überrannt. Die Op-positionsparteien haben ein zentrales Exekutivkomitee des „Volks-Kurul-tai von Kirgisistan“ geschaffen, das in seinem ersten Beschluss folgendes an-kündigte: „Um die öffentliche Sicher-heit und die Achtung des Gesetzes zu garantieren, die Plünderungen zu ver-hindern und die Rückkehr des öffent-lichen Lebens zu sichern, hat das zen-trale Exekutivkomitee des Volks-Ku-rultai beschlossen, eine Volksmiliz aufzubauen, Madylbekov Turat zum Kommandanten der Stadt Bischkek zu ernennen, alle Ordnungskräfte und das gesamte militärische Personal dem Kommandanten von Bischkek zu unterstellen und alle Mittel des Innen-ministeriums dem Kommandanten der Stadt Bischkek zu übertragen.“13 Son-

12 Ich kann nur empfehlen, die Videos diese Volks-aufstandes anzusehen; sie sind eindrücklicher als lange Abhandlungen: http://www.socialis-mkz.info/news/2010-04-07-504; http://www.socialismkz.info/news/2010-04-07-505; http://www.socialismkz.info/news/2010-04-07-507

13 http://www.socialismkz.info/news/2010-04-07-507

derabteilungen aus 40 bis 50 Volksmi-lizionären, die aus der aufständischen Jugend hervorgegangen sind, haben die Stadt durchkämmt.

Die an die Polizisten und die Sol-daten gerichteten Aufrufe haben ih-re Wirkung gezeitigt, sobald klar war, dass diese zwischen zwei Mächten wählen konnten: derjenigen von Ba-kiyev, die zusammenbrach, und derje-nigen der Aufständischen, die sich he-rauszubilden begann. Allmählich ha-ben sich die Beamten mehrheitlich für das Lager des Volkes entschieden.

Das Regime von Bakiyev stürzte. Dieser ist in den Süden des Landes geflohen. Er hat mit wenig Erfolg in seinem Geburtsort Jalal-Abad Ver-sammlungen zu seiner Unterstützung organisiert – laut anwesenden Jour-nalisten hat nur ein Drittel der Ver-sammelten (zwischen einigen Hun-dert und einigen Tausend) ihm zuge-klatscht; die anderen zogen es vor, zu-rückhaltend zu bleiben. In Jalal-Abad verließ die Mehrheit der Bewohne-rInnen bei seiner Ankunft, aus Angst vor Zusammenstößen oder aus Feind-schaft, die Straßen. In Osch wurde ei-ne von Bakiyev organisierte Versamm-

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KIRGISISTAN

lung von mehreren Tausend Personen durch Schüsse gestört, und er ist dabei zur Flucht gezwungen worden. Sei-ne Günstlinge verlassen ihn: Die Ab-geordneten seiner Partei Ak-Zhol, die im am 8. April durch die Sieger aufge-lösten Parlament über 75 der 90 Sitze verfügte, haben seine Amtsenthebung verlangt. Der gestürzte Präsident hat auch versucht, eine militärische Inter-vention der UNO-Blauhelme oder der kasachischen und der usbekischen Ar-mee zu erreichen, vorläufig ohne Er-folg. Er hat versucht, die Bedingungen für seinen Rücktritt auszuhandeln, und schlussendlich hat er am 16. April mit Hilfe der kasachischen Regierung das Land verlassen.

DIE PROVISORISCHE REGIE-RUNG

Rosa Otunbayeva hat im Namen des „Volks-Kurultai“ die Leitung einer provisorischen Regierung übernom-men und eine neue Verfassung, die Rückkehr zum Parlamentarismus, ein neues Wahlgesetz und Wahlen inner-halb der nächsten sechs Monate ange-kündigt. Nachdem sie festgestellt hat, dass Bakiyev die Staatskassen geleert und die Vermögen auf private Banken transferiert hatte, hat die provisorische Regierung, um die Kapitalflucht zu verhindern, die Kontrolle von sechs privaten Banken übernommen und die Wechselstuben geschlossen. Auch die Renationalisierung der durch Bakiyev privatisierten Vermögen und von Un-ternehmen in strategischen Branchen steht zur Debatte. Rosa Otunbayeva

hat eingestanden, dass die neue Regie-rung nur 22 Millionen Dollar in den Staatskassen vorgefunden hat. Sie hat trotzdem versprochen, dass sie die Ta-rife für die Dienstleistungen der Ge-meinden senken will.

Die provisorische Regierung wur-de aus drei politischen Parteien ge-bildet – der sozialdemokratischen Partei Kirgisistans14, der sozialis-tischen Partei Ata-Meken, der Partei Ak-Schumkar – zusammengefasst in der Vereinigten Volksbewegung, wie auch durch mehrere Nichtregierungs-organisationen, Gewerkschaften und unabhängige Verbände. Seit der Bil-dung der provisorischen Regierung haben jedoch diejenigen, die das „Weiße Haus“ erobert hatten, ihre Unzufriedenheit geäußert: Sie haben einen Drittel der Regierungssitze ver-langt, jedoch ohne Erfolg.

Die wichtigsten Minister der pro-visorischen Regierung sind keine Un-bekannten. Alle hatten bereits Posten als Minister, Parlamentarier oder als hohe Staatsbeamte inne gehabt. Rosa Otunbayeva war sowjetische Diplo-matin, dann Premierministerin und Außenministerin von Akayev und von Bakiyev und Botschafterin dieser bei-den Präsidenten. Sie ist gegenwärtig in der Führung der SDPK und gilt als unbestechlich und ist offenbar nicht verstrickt in die Fraktionskämpfe der

14 Die SDPK ist im Wesentlichen aus Unterneh-mern zusammengesetzt und wurde im Okto-ber 1993 gegründet, aber erst im Dezember 1994 anerkannt. Sie hat eine wichtige Rolle in der „Tulpenrevolution“ von 2005 gespielt. Sie wird seit 1999 von Almazbek Atambayev ge-leitet.

Opposition. All dies verhalf ihr zu ih-rem Posten an der Spitze der proviso-rischen Regierung.15 Ihr erster Stell-vertreter, der Wirtschaftsminister Al-mazbek Atambayev, Führer der SD-PK, war unter Bakiyev 2005 bis 2006 Minister, dann Oppositioneller, 2007 Premierminister und dann in den Prä-sidentenwahlen von 2009 sein Geg-ner. Der General Ismail Isakov, der an die Spitze der Armee und der Po-lizei getreten ist, war unter Bakiyev Verteidigungsminister und Chef des Sicherheitsrates und wurde von die-sem im Januar 2010 zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem er sich im Oktober 2009 der Opposition an-geschlossen hatte. Der Finanzmini-ster Temir Sariev war 2009 Präsident-schaftskandidat der Ak-Schumkar Partei. Der Justizminister Azimbek Beknazarov ist Generalstaatsanwalt gewesen. Der charismatische Führer der sozialistischen Ata-Meken-Par-tei, Omurbek Tekebaev, ist nun mit der Verfassungsreform beauftragt. Er ist Führer der gegen das Akayev Re-gime gerichteten Opposition gewesen und hat 1995 und 2000 bei den Präsi-dentschaftswahlen kandidiert. Er ist 2005 am Vorabend der „Tulpenrevo-lution“ Parlamentspräsident gewesen und half Bakiyev, bevor er mit ihm 2006 gebrochen hat. Und Abdygany Erkebaev, der Gründer und erste Prä-sident der SDPK, ist Parlamentsprä-sident und dann Führer des durch die Opposition 2008 gegründeten Schat-tenkabinetts gewesen.

Solange die ArbeiterInnen selbst über keine eigene politische Orga-nisation und damit kein eigenes po-litisches Projekt verfügen, ergreifen in jedem Volksaufstand die existie-renden politischen Gruppen die Füh-rung; die heute in Kirgisistan vorhan-denen politischen Parteien wurden durch die Eliten aufgebaut, nachdem sie von der Macht verdrängt worden waren. Sie verfügen zumindest im Norden des Landes über eine gewisse Unterstützung im Volk, auch wenn di-ese nicht uneingeschränkt ist. In einer Reportage von Al Jazeera wurden vor kurzem die Obdachlosen von Bisch-

15 http://www.alertnet.org/thenews/news-desk/LDE63C09Q.htm et http://www.isn.ethz.ch/isn/Current-Affairs/Security-Watch/Detail/?ots591=4888caa0-b3db-1461-98b9-e20e7b9c13d4&lng=en&id= 114855

Aufstand in Kirgisistan

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KIRGISISTAN

kek gezeigt, wie sie Grundstücke ab-steckten, um sich Häuser bauen zu können. „Wir haben uns erhoben, um über eine Wohnung verfügen zu kön-nen“, erklären sie, während sie Steine in der Form ihrer Initialen anordnen, um zu zeigen, dass das Grundstück besetzt ist. Einer der von der provi-sorischen Regierung losgeschickten „Milizionäre“ kommentiert: „Das Grundstück gehört nicht ihnen, das hat keine Bedeutung.“ Aber er wollte oder wagte es nicht, die Grenzsteine zu entfernen … Es kam ebenfalls zu Konflikten, als Otunbayeva durchbli-cken ließ, dass sie bereit sei, Bakiyev ausreisen zu lassen, sobald er seinen Rücktritt als Präsident unterbreiten würde. Sofort wurden Forderungen laut, ihn für seine Verbrechen vor Ge-richt zu bringen. Schlussendlich hat die provisorische Regierung ange-kündigt, dass sie nicht mit einem Ver-brecher verhandeln würde, und dass dieser verhaftet und sobald als mög-lich abgeurteilt werde. Am 11. April hat Rosa Otunbayeva gegenüber der Agentur Reuters gesagt: „Offen ge-sagt, wir haben Mühe, diejenigen zu-rückzuhalten die mit den Gewehren [auf die Festung von Bakiyev im Sü-den des Landes] losgehen wollen.“

Der Vizepräsident der Ata-Me-ken Partei, Rayshan Jeenbekov, hat die Lage der neuen Regierung so dar-gestellt: „Wenn wir die sozioökono-mischen Probleme innerhalb von ein bis zwei Monaten lösen, dann wird sich diese Regierung stabilisieren und wird wahrscheinlich länger über-dauern. Aber wenn es uns nicht ge-lingt, die sozioökonomischen Pro-bleme zu lösen, wenn wir nicht in der Lage sind, die Schuldigen des autori-tären Regimes Bakiyev zu bestrafen, dann werden wir vor einem großen Problem stehen.“16 Die Parteien, die die Führung des Aufstands übernom-men und die provisorische Regierung gebildet haben, hatten ein demokra-tisches Projekt – den Parlamentaris-mus, die Ablehnung der Autokratie … – aber kein Programm für eine sozi-ale Umgestaltung, die eine Verbesse-rung des Lebens der großen Mehrheit

16 Interview mit Radio Free Europe – Radio Li-berty vom 9. April 2010 : http://www.rferl.org/content/Interview_Kyrgyz_Opposition_Lea-der_Says_Criminal_Authoritarian_Regime_Ousted/2007941.html

der Bevölkerung erlauben würde, ja, nicht einmal eine Vorstellung, die es gestatten würde, sich in diesem Sinne auszurichten. Die Bilanz des Zusam-menbruchs der UdSSR macht solche Vorstellungen schwierig. Die Formen der Selbstorganisation, die im März aufzutauchen begannen – die „Volks-Kurultai“ – wurden schnell in den auf-ständischen Kampf gelenkt, ihre ak-tivsten Mitglieder haben zu den Waf-fen gegriffen und die Diskussionen um das Gesellschaftsprojekt haben sich nicht entwickelt. Die Leute wur-den allein gelassen mit ihren Proble-men, sich zu ernähren, sich zu klei-den, zu wohnen, und die Formen des kollektiven Handelns auf diesem Ge-biet hatten Mühe, sich zu entwickeln. Die Schwäche der industriellen Ent-wicklung des Landes ist der Selbst-organisation an den Arbeitsplätzen überhaupt nicht förderlich.

Schlussendlich ist Kirgisistan ei-ne strategische Militärbasis in Zen-tralasien. Davon zeugen die vor-handenen russischen und amerika-nischen Basen auf seinem Territo-rium wie auch der latente Konflikt zwischen den beiden Mächten. Di-ese Basen waren nicht im Zentrum der Anliegen der Aufständischen. Die russische und die amerikanische Re-gierung, die durch die Explosion des Volkszorns überrascht wurden, trach-ten vor allem nach der Wiederherstel-lung des sozialen Friedens in Kirgisi-stan. Zu diesem Zweck sind sie be-reit, der provisorischen Regierung fi-nanziell zu helfen. Aber diese Hilfe

zielt nicht allein auf die Sicherung ihrer Militärbasen; diese ist vielmehr abhängig von der Fähigkeit des neu-en Regimes, die Bevölkerung zu kon-trollieren und das Gesellschaftsmo-dell zu bewahren, dessen Scheitern seit 1991 nicht mehr bewiesen wer-den muss.

Der kirgisische Volksaufstand ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass die Unterdrückten fähig sind, eine Autokratie zu stürzen. Er hat eine Tü-re eingeschlagen, die die gesellschaft-liche Umwälzung blockiert hatte. Er hat das Privateigentum an den Pro-duktionsmitteln geschwächt, indem er die momentan größten Gauner auf die Anklagebank brachte – die Fami-lie Bakiyev. Das ist sowohl gewaltig wie auch ungenügend. Damit die po-litische Revolution in eine Revoluti-on der sozialen Umwälzungen über-gehen kann, in eine emanzipatorische Volksrevolution, ist es notwendig, dass die Bevölkerung ihre eigenen Formen der Selbstorganisation schaf-fen, ein Programm finden und sich mit einer Strategie versehen kann.

In Kirgisistan wurde eine neue Seite der Geschichte geöffnet. Die folgenden müssen noch geschrieben werden!

Jan Malewski ist Herausgeber von Inprecor, Mitglied der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) in Frankreich und Mitglied des Exe-kutivbüros der Vierten Internationale.

Übersetzung: Willi Eberle

Aufstand in Kirgisistan

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KASACHSTAN

Vorbildlicher Streik der ÖlarbeiterJan Malewski

In Zhanaozen, im Westen Kasachstans, streikten dieses Jahr zehntausend Öl-arbeiter vom 4. bis 19. März und blo-ckierten die Öllieferungen der Firma OzenMunaiGaz. Die Stadt wurde von einem Kordon aus Repressionskräf-ten umstellt. Am 10. März erklärte das Gericht den Streik für illegal. Die Mit-glieder des Steikkomitees wurden in der Presse als „Extremisten“ bezeich-net und vor Gericht geladen. Journa-listen, die über die Bewegung berich-ten wollten, wurden bedroht … Doch die von der lokalen Bevölkerung unter-stützten Streikenden − die Stadt Zhana-ozen zählt mehr als 100 000 Einwohne-rInnen − blieben standhaft: Sie wähl-ten ein Streikkomitee, hielten regelmä-ßig große Hauptversammlungen ab und brachten die Gewerkschaft wieder in ih-re Hand, indem sie den korrupten Füh-rer entließen und durch einen der ihren, Nazurbay Saktaganov, ersetzten, dies in Verbindung mit der unabhängigen re-gionalen Gewerkschaft Mangistau. Am 19. März, nach einer Verhandlungsnacht mit einer gemischten Delegation aus Regierungs- und Rechtsvertretern so-wie der Direktion des Ölkonzerns Kaz-MunaiGaz, erreichten die Streikenden die Aufhebung der neuen Lohnberech-nungsmethode (die die Betriebsleitung einführen wollte, indem sie die Ange-stellten unter Kündigungsandrohung zwang, einen Zusatz zum Tarifvertrag zu unterzeichnen; was schließlich zum Streik führte), einen Lohnzuschlag für gefährliche Arbeiten und die Zusiche-rung der lokalen Behörden, dass die Streikenden nicht belangt würden. Die neue Gewerkschaftsvertretung muss nun die Verhandlungen über einen neu-en Tarifvertrag weiterführen. Der Direk-tor von OzenMunaiGaz, Bagitkali Bise-ken, den die Streikenden am 16. März zum Rücktritt gezwungen hatten, wur-de durch Kiykbay Eshmanov ersetzt. Ebenso hatte man den Streikenden ver-sprochen, Kenzhebek Ibrashev zu erset-zen, den Generaldirektor des Unterneh-mens KazMunaiGaz Exploration Pro-duction, dessen Tochter die Firma der

Streikenden ist.1 Doch schon bei ihrer ersten Zusammenkunft, am 30. März, beschloss die Direktion der Gesell-schaft, sich über dieses Versprechen hin-wegzusetzen.2 Und die Hauptforderung der Streikenden − Verstaatlichung un-ter Kontrolle der Arbeiterschaft − wur-de nicht berücksichtigt.

Der Konflikt zwischen den Arbeite-rInnen im westlichen Kasachstan und dem Ölkonzern ist nicht neu. Die Lei-tung von KazMunaiGaz verfolgt seit Gründung des Konzerns eine Politik der persönlichen Bereicherung und Aus-beutung der Arbeitskräfte: Die „Verwal-tungskosten“ der Konzerngesellschaften sind exponentiell gestiegen (bei Kaz-MunaiGaz Exploration Production be-liefen sie sich im Jahr 2006 auf 540 Mil-lionen Dollar, 2007 waren es aber be-reits 720 Millionen …). Die Löhne der Arbeiter stagnieren (2009 betrug der mittlere Monatslohn eines Arbeiters 550 Euro), während jene der Führungskräf-te steigen (mittlerer Monatslohn im Jahr 2009: 2650 Euro) und jene der Manager in die Millionen gehen.3 Die Direktion

1 Die Ölindustrie in Kasachstan ist seit 2002 wie eine russische Matrjoschka (ineinander schachtelbare Holzpuppe) aufgebaut: ein staat-licher Konzern, KazMunaiGaz, zurzeit unter Leitung von Timur Kulibayev (Schwiegersohn von Kasachstans Präsident Nursultan Nazar-bayev und sein möglicher Nachfolger), ver-eint in sich die ganze Produktion, Weiterver-arbeitung und den Transport von Gas und Öl; er verfügt über zahlreiche Tochterfirmen, dar-unter auch börsennotierte Aktiengesellschaften oder Joint Ventures mit den großen Ölgesell-schaften der Welt. KazMunaiGaz Exploration Production ist eine dieser Tochterfirmen und OzenMunaiGaz ist wiederum deren Tochter. Der kasachische Präsident Nursultan Nazar-bayev konnte gemäß Sergei Guriev und An-drei Rachinsky, („The Evolution of Personal Wealth in the Former Soviet Union and Central and Eastern Europe“ − Oktober 2006) von die-sen Strukturen profitieren: Er hat mindestens eine Milliarde Dollar auf ausländische Bank-konten transferiert …

2 ht tp: / /www.investegate .co.uk/Art ic le .aspx?id=201003310739294886J

3 „Die gesamte Jahresentschädigung“ einiger Mitglieder der Führung von KazMunaiGaz Exploration Production betrug 2008 zwischen 10,7 Millionen Dollar (Murat Kurbanbayev, Mitglied der Geschäftsleitung und Technischer Leiter) und 30,4 Millionen Dollar (Askar Balz-hanov, Präsident der Geschäftsleitung). Die

versucht, die Gewerkschafter zu beste-chen oder sie auszuschalten: So wurde Mukhtar Umbetov, Führer der unabhän-gigen regionalen Gewerkschaft, 2009 von Unbekannten verletzt, sein Assi-stent wurde erschossen. Der Zustand der Stadt Zhanaozen, die in den Jahren 1960−1970 gebaut wurde, um die Ölar-beiter aufzunehmen, verschlechtert sich zunehmend − für den Bau von Aktau Ci-ty, einer nahe gelegenen Luxusstadt für die reichen InvestorInnen, konnten hin-gegen 38 Milliarden Dollar aufgetrieben werden.

Schon im Oktober 2009 waren die Arbeiter von Zhanaozen in den Streik getreten, weil sie ihre Gehaltszulagen nicht erhalten hatten. Diese wurden dann umgehend ausbezahlt, und es kam zu Verhandlungen über die Löhne und andere Forderungen, insbesondere über Wechsel im Direktorium und bei den lo-kalen Behörden. Im Dezember löste die Polizei eine Arbeiterversammlung bru-tal auf, die sich für die Fortsetzung der Verhandlungen einsetzte.

ERSTAATLICHUNG UNTER KON-TROLLE DER ARBEITER!

Bei all diesen Mobilisierungen wurden die Lohnverhandlungen mit der For-derung verknüpft, Direktoren abzuset-zen und die Firma unter Kontrolle der Arbeiter zu verstaatlichen. Der Haupt-grund dafür ist nicht im Einfluss „extre-mistischer“ Politaktivisten zu suchen, wie die hörige Presse glauben machen will − auch wenn die Gruppe Socialist Resistanc4 mit der Bewegung solida-risch ist. Entscheidender ist, dass sich in Kasachstan aus dem bürokratischen

ausbezahlten Dividenden beliefen sich im Jahr 2009 auf 346,4 Millionen Dollar. http://inve-sting.businessweek.com/research/stocks/pri-vate/snapshot.asp?privcapId=28645142

4 Socialist Resistance (SotsSopr) ist eine trotzki-stische Organisation, die mit dem Komitee für eine Arbeiterinternationale (CWI/KAI) ver-bunden ist. Sie spielte eine wichtige Rolle in der Bekanntmachung der Bewegung, insbe-sondere mithilfe ihre Webseite (in russischer Sprache, diente als wichtige Quelle für den vorliegenden Artikel): http://socialismkz.info/

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KASACHSTAN

Staatsapparat und den Unternehmen ei-ne neue Bourgeoisie bildet, die eine ur-sprüngliche Kapitalakkumulation an-strebt, indem sie die Mehrheit der Be-völkerung legal (die Gesetze wurden zu diesem Zweck angepasst) oder illegal beraubt. Die Arbeiter wollen dies nicht länger akzeptieren. Mukhtar Umbetov, ein unabhängiger Gewerkschafter, er-läuterte dies letzten Oktober folgender-maßen: „Im Zuge der Privatisierungen der 90er-Jahre wurde unsere zuvor staat-liche Firma in KazMunaiGaz Explorati-on Production eingegliedert. Dieses Un-ternehmen ist nur seinem Namen nach staatlich. Tatsächlich befinden sich 36 Prozent seiner Aktien im Besitz von Pri-vatpersonen, von denen viele im Aus-land wohnen. Außerdem wird die Be-triebspolitik von Direktoren und Leitern bestimmt, die sich weder um die Arbei-ter noch um die Produktion kümmern. Die Betriebsgewinne werden von Ge-sellschaften des Monsters [KazMunai-Gaz] oder von der Region abgeschöpft, während sich das Leben der Ölarbeiter offensichtlich verschlechtert.“5 Die Ge-winne aus der Ölindustrie verschwinden in der Buchhaltung einer anderen, vom Konzern kontrollierten Firma: KazMu-naiGaz Trade House, die für Raffinie-rung und Transport zuständig ist. Wenn das Geld nicht unverblümter abgezweigt wird: Im März konnten die Streikenden offenlegen, dass die Firma gebrauchte Arbeitsmittel gekauft, diese aber zum Preis von Neuwaren bezahlt und auch als solche verbucht hatte …

Mukhtar Umbetov fährt fort: „Wir fordern einen direkten Einbezug in die Produktionsleitung, die Gewährung von Prämien und die Kontrolle über al-le Betriebsmittel. Was uns betrifft, so sind wir daran interessiert, die Produk-tion aufrechtzuerhalten und weiterzu-entwickeln. Der Abbau von Arbeitsplät-zen muss gebremst werden. Wir verlan-gen Lohnerhöhungen und wollen, dass das Unternehmen die Entwicklung von Stadt und Region mit Zuschüssen un-terstützt. Im Grunde genommen bedeu-tet dies die Verstaatlichung … aber un-ter direkter Kontrolle der Arbeiter. (…) Die Forderung nach Verstaatlichung und Kontrolle durch die Arbeiterkol-lektive hat in den Herzen der Arbeiter dieses Landes ein Echo gefunden.“6 Der Beweis: Beim Streik vom März pochten

5 Zitiert in: http://socialismkz.info/

6 ebda.

die Arbeiter darauf, Mukhtar Umbetov als ihren Vertreter in die Verhandlungen zu schicken. „Das ist der Einzige, dem wir vertrauen“, erklärten sie.

Der Generaldirektor von KazMu-naiGaz Exploration Production bestä-tigte diese Äußerungen in einem Inter-view in der „Kazakhstanskaya Pravda“ vom 11. März auf seine Art: „Heute for-dern die Teilnehmenden unter anderem die Rückkehr der Tochterfirma zur Be-triebsverfassung von OzenMunaiGaz aus dem Jahr 1997, einen Wechsel in der Direktion der Tochterfirma und die Auswechslung des Gewerkschaftsver-treters. All dies erinnert beunruhigend an die Zeit der Perestroika von Gor-batschow, als zahlreiche Betriebe infol-ge eines unzureichenden Verständnisses der Demokratie und der Macht von Ar-beiterkollektiven durch die Streiklethar-gie regelrecht gelähmt waren. (…) Die Arbeiter sind unter den Einfluss ver-antwortungsloser Personen geraten, die die sozialen Spannungen in Zhanaozen immer wieder verschärfen. (…) In Tat und Wahrheit wollen sie eine Umwäl-zung der ganzen Wirtschaftspolitik un-seres Staates, eine Abkehr von der Ent-wicklung, die seit etwa zwanzig Jahren

im Gang ist. Die Forderung nach Ver-staatlichung ist absurd, denn dieses Un-ternehmen wird vom Staat streng kon-trolliert: 63 Prozent der Aktien befinden sich in der Hand des Staatsbetriebs Kaz-MunaiGaz [der Konzern]. Und wie stel-len sie sich einen solchen Prozess vor? Zu welchem Preis soll man die Aktio-näre entschädigen, zu denen auch die kasachischen Rentenfonds7 und somit rund 30 000 Arbeiter zählen?“8 Hiermit wird verständlich, dass die Streikenden diesen Generaldirektor loswerden wol-len … und wieso das Unternehmen dieses Versprechen nicht gehalten hat!

Jan Malewski, Redakteur der französischspra-chigen Inprecor, ist Mitglied des Exekutivbüros der Vierten Internationale.

Übersetzung: Alena Wehrli

7 Das kasachische Rentensystem erlitt 1998 eine Gegenreform, ähnlich dem „Modell Chile“. Die Arbeiter müssen ihre Beiträge nun in Ren-tenfonds zahlen, die dieses Geld an der Börse anlegen … Eine weitere Art der ursprünglichen Akkumulation von Kapital zugunsten der neu-en Bourgeoisie Kasachstans.

8 Zitiert in: http://socialismkz.info/

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PAKISTAN

Die Entwicklung der Arbeiterpartei Pakistans (LPP)Farooq Tariq

In einer sich ständig wandelnden poli-tischen Situation wurde die politische Orientierung der Arbeiterpartei Paki-stans (LPP, Labour Party Pakistan) seit ihrer Gründung schon mehrfach auf die Probe gestellt. Vom ersten Tag an stan-den wir in Opposition zur Militärdikta-tur des Generals Musharraf. Wir kämp-fen gleichzeitig gegen den US-Imperia-lismus und gegen den religiösen Fana-tismus, während einige meinen, das eine gegen das andere unterstützen zu müs-sen.

Fast alle derzeitigen Führungsper-sönlichkeiten der LPP, die weiblichen eingeschlossen, waren unter dem Re-gime Musharrafs inhaftiert, weil sie sich in den Kämpfen für demokratische Rechte und die Rechte der Arbeiter und Bauern engagierten. Die LPP hat es aber geschafft, ihren politischen Platz zu be-haupten, und es vermieden, in den Un-tergrund getrieben zu werden.

UNABHÄNGIGKEIT DER SOZI-ALEN BEWEGUNGEN

Anders als die traditionellen linken Par-teien, die von ihnen selbst kontrollierte Organisationen aufgebaut haben, hat sich die LPP von Anfang an das Ziel gesetzt, die Entwicklung von unabhän-gigen sozialen Bewegungen sowie von ebensolchen Arbeiter- und Bauern-Or-ganisationen, zu unterstützen. Es gibt folgerichtig keine von der LPP abhän-gigen Gewerkschaften. Im Gegenteil: Wir haben die Entwicklung der 1998 ge-gründeten nationalen Gewerkschaftsfö-deration (NTUF – National Trade Uni-on Federation) unterstützt, und wir ha-ben uns auch seit ihren Anfängen 1994 am Aufbau der Arbeitervereinigung Pa-kistans (PWC – Pakistan Workers’ Con-federation) beteiligt.

Die LPP hat auch keine ihr unter-geordnete Bauernorganisation. Sie un-terstützt die Bauernbewegung Anjaman Mozareen Punjab auf Militärgüterrn, und sie trug 2003 mit dazu bei, dass sich

22 Bauernorganisationen auf einer ge-meinsamen Plattform zum Koordinati-onskomitee der Bauern Pakistans (PP-CC) zusammenschlossen.

Seit 2000 hat die LPP den Aufbau der Organisation Arbeiterinnenhilfe (WWHL, Women’s Workers Helpline) unterstützt, die die erste Organisation ist, der sich viele Arbeiterinnen ange-schlossen haben.

Ebenso hat die LPP 2003 den Auf-bau einer Jugendorganisation, der Front fortschrittlicher Jugend (PYF, Progres-sive Youth Front), unterstützt, die einen wirklichen Durchbruch bei der Jugend erzielt hat. Im Jahr 2000 hat sich die LPP darauf konzentriert, bei der Grün-dung der nationalen Studentenföderati-on (NSF – National Student Federati-on) zu helfen, und wir unterstützen auch weiterhin die Entwicklung dieser Strö-mung, die sich traditionell links veror-tet, damit sie zu einer großen studen-tischen Organisation wird.

Diese durchgängige Orientierung, die Unabhängigkeit sozialer Bewe-gungen zu unterstützen und zu entwi-ckeln, ist ein charakteristisches Merk-mal der LPP. Im Verlauf von Diskus-sionen, die 1992 in der Kampfgruppe – der Vorgängerorganisation der LPP – geführt wurden, haben wir beschlos-sen, uns am Aufbau sozialer Bewe-gungen zu beteiligen und sogar die In-itiative zur Gründung unabhängiger so-zialer Organisationen zu ergreifen und sie zu konsolidieren. Wir haben Schu-len für arbeitende Kinder gegründet und dieses Netzwerk mit Hilfe der schwe-dischen Lehrergewerkschaft weiter ent-wickelt. Weitere schwedische Gewerk-schaften und fortschrittliche Organisati-onen haben uns geholfen, noch mehre-re andere Projekte auf den Weg zu brin-gen. Das beinhaltete die Organisierung neuer Gewerkschaften; unter anderem durch die Gründung eines Zentrums ge-werkschaftlicher Ressourcen, das Vide-odokumentationen über Gewerkschafts-arbeit erstellte, sowie Kampagnen für

Frieden und Demokratie. Diese Arbeit wurde durch die Stiftung für Bildung koordiniert, die inzwischen zur Arbei-terbildungsstifung (LEF – Labour Ed-ucation Foundation) geworden ist. Seit 2000 ist die LEF eine unabhängige sozi-ale Organisation und spielt eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der pakista-nischen Gewerkschaftsbewegung.

ÜBER DIE URSPRÜNGE DER LPP

Blicken wir zurück: Seit seiner Grün-dung 1992 hat sich die Kampfgruppe dem gemeinsamen Aktionskomitee für die Rechte des Volkes von Lahore (JAC – Joint Action Committee) angeschlos-sen, und diese Zusammenarbeit wurde auch nach der Gründung der LPP fort-gesetzt. Und obwohl die LPP Mitte der 90er Jahre vielen Angriffen von Lin-ken ausgesetzt war, die sie als „Partei der Nichtregierungsorganisationen“ be-zeichneten, haben wir uns dieser Ausei-nandersetzung verweigert in der Hoff-nung, dass unsere Praxis die beste Ant-wort sein würde.

Die LPP-Strategie des Aufbaus von Netzwerken und Bündnissen beinhal-tete auch das Bemühen um die Einheit der pakistanischen Linken. 1997 wa-ren wir Teil des Bündnisses Awami It-tehad, dann von Awami Jahoori Teh-reek (2006), und zur Zeit beteiligen wir uns am Koordinationskomitee der fort-schrittlichen Parteien.

Die AktivistInnen der LPP beteili-gten auch gemeinsam mit anderen lin-ken Gruppen und sozialen Bewegungen am Aufbau weiterer Stützpunkte, wie dem Komitee gegen den Krieg (1991) oder der Allianz gegen die Privatisie-rungen (2005). Seit 1996 organisieren wir jedes Jahr das Festival Faiz Ahmad Faiz Amn Mela. Der revolutionäre Dich-ter Faiz Ahmad Faiz hat Millionen Men-schen des indischen Subkontinents und der ganzen Welt inspiriert. Er ist einer der am meisten respektierten Dichter

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PAKISTAN

in Urdu1 und hat sein ganzes Leben der Linken und der Bewegung für den Frie-den verschrieben.

Wir denken, dass es wichtig ist, zu lernen, zusammen zu arbeiten in einem Land, in dem diejenigen zahlreich sind, die aktiv gegen jegliche sozialistische Perspektive sind, und wo sich einige so-gar weigern zuzuhören. Es ist wichtig, gleichzeitig prinzipienfest und taktisch flexibel zu sein. Das bedeutet, dass wir unsere Positionen vertreten, selbst wenn andere damit nicht einverstanden sind, aber gleichzeitig daran arbeiten, gute Beziehungen zu erhalten.

POLITISCHEN RAUM WIEDER GEWINNEN

24 Stunden nach dem Auftritt der LPP auf Facebook am 19. Januar 2010, haben wir Antworten von mehr als 200 Freun-den und Freundinnen erhalten, und un-sere Seite zieht täglich mehr Menschen an.

2004 hat die LPP ein E-Mail-Netz auf Yahoo aufgebaut, das sich Pakista-nische sozialistische Nachrichten (SPN) nennt. Mit mehr als 5400 Mitgliedern ist es das größte elektronische Netzwerk Pakistans für Informationen und poli-tische Debatten und ein Referenzpunkt für fortschrittliche Kräfte nicht nur Pa-kistans sondern auch auf internationa-ler Ebene.

2002 war die Website der LPP die am meisten aufgerufene politische Site Pakistans. Wenn ihr auch das Aufkom-men anderer politischer Websites die-sen ersten Platz genommen hat, so wird sie nach wie vor von vielen aufgerufen, da sie eine gute Informationsquelle über die Gewerkschaftsbewegung, die Bau-ernbewegung und fortschrittliche Posi-tionen ist.

Seit 1997 geben die AktivistInnen der LPP ein Magazin in Urdu, Mazdoor Jeddojuhd, heraus, das zuerst monat-lich erschien und jetzt wöchentlich er-scheint. Es hat eine Druckausgabe, die durch Abonnements finanziert wird. Seine elektronische Ausgabe wird weit-hin in Pakistan und weltweit gelesen.

Die LPP ist stolz auf ihr demokra-tisches internes Leben. Wir haben al-le unsere Kongresse in geeigneten Mo-menten gehalten. Unser 5. Kongress fand vom 27. bis zum 29. Januar 2010

1 Amtssprache in Pakistan. Früher Hindusta-ni genannt; in arabischer Schrift geschrieben. [Anm. d. Red.]

statt. Zum ersten Mal gab es zum Ab-schluss eine große Kundgebung. Zwei Bewegungen von Arbeitern und Bau-ern haben mit uns dieses Ereignis orga-nisiert, in der Hoffnung, es zur größten Versammlung der linken Kräfte in der Provinz Pandschab zu machen.

Diese Ereignisse fanden zu einer Zeit statt, als die großen Parteien der Reichen die arbeitende Bevölkerung Pa-kistans im Stich gelassen haben. Sie ha-ben sie der Ausbeutung durch den so-genannten freien Markt und der impe-rialistischen Aggression überlassen. Die Preise steigen, während die Einkommen stagnieren.

Die rechten religiösen Parteien un-terstützen uneingeschränkt die gewalt-tätigen Aktionen der religiösen Fanati-ker, die mit einem angeblichen „Kampf gegen den Imperialismus“ gerecht-fertigt werden. Die täglichen Angriffe durch die US-amerikanischen Drohnen erlauben diesen Fanatikern, ihr Tun po-litisch zu rechtfertigen. Der Raum für eine fortschrittliche Politik wird einge-engt durch den Konflikt zwischen den rechten Parteien im Dienste der Rei-chen und den religiösen Fundamenta-listen. Der Kongress der LPP und die Massenkundgebung von ArbeiterInnen und Bauern sind ein Versuch, den ver-lorenen Raum zurückzugewinnen. Es handelt sich um einen Anfang. Das ist unsere Antwort auf das Anwachsen des religiösen Fundamentalismus. Die Mas-senmobilisierungen der Arbeiterklasse werden ihre Stimme verstärken und ihr helfen, die Rechte herauszufordern. Die LPP steckt ihre materiellen Mittel in die Finanzierung solcher Ereignisse, aber sie verfügt nicht über große Ressourcen. Um die notwendigen Ausgaben für die soziale Mobilisierung bestreiten zu kön-nen, haben wir eine Sammlung in Höhe

von fast einer Million Rupien (8500 Eu-ro) durchgeführt, eine Sammlung über 3 Millionen Rupien (25.600 Euro) ist noch im Gang2.

DIE BEDEUTUNG DER INTERNA-TIONALEN SOLIDARITÄT

Die LPP schätzt ihre Beteiligung an internationalen und regionalen Bewe-gungen und Bündnissen als essentiell ein. Sie beteiligt sich an der Antigloba-lisierungsbewegung, und sie hat in Pa-kistan mitgeholfen, internationale anti-imperialistische Bewegungen und De-monstrationen aufzubauen. Unsere Mit-glieder haben sich an allen Weltsozial-foren seit demjenigen in Mumbai 2004 beteiligt. Wir haben uns an der Orga-nisierung des pakistanischen Sozial-forums und des Weltsozialforums 2006 in Karatschi beteiligt.

Während ihres ersten Jahres war die LPP Mitglied im Komitee für eine inter-nationale Arbeiterinternationale (CWI-CIO), aus dem sie ausgetreten ist. Seit-dem arbeitet sie eng mit verschiedenen Tendenzen, Gruppen und internationa-len Bewegungen zusammen. Dazu ge-hören die Demokratische Sozialistische Partei Australiens (DSP), die Sozialis-tische Partei Schottlands, die IV. Inter-nationale, sowie die LIT und die UIT in Lateinamerika. Zusammen mit anderen Organisationen und AktivistInnen, die aus der CWI-CIO ausgetreten sind, hat sie ein sozialistisches Diskussionsforum

2 Die pakistanischen Genossinnen und Genos-sen können unter folgender Bankverbindung finanziell unterstützt werden: Labour Edu-cation Foundation, Bank Alfalaf LTD., LDA PLAZA Branch, Kashmir Road, Lahore, Pa-kistan, compte n° 01801876, Swift: ALFHPK-KALDA. Bitte die Unterstützung bekannt ge-ben an <[email protected]> oder tele-fonisch: 0300 8411845.

Farooq Tariq

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PAKISTAN

aufgebaut. Wir haben darüber hinaus Verbindungen zu schwedischen Ge-werkschaften geknüpft und später auch zu den Parteiorganisationen der schwe-dischen sozialdemokratischen Partei in Göteborg und Kalmar. Seit 2004 ist die LPP permanenter Beobachter bei den Versammlungen der Leitung der IV. In-ternationale.

DER EINFLUSS DER LINKEN WÄCHST

Der zwei Tage dauernde 5. Kongress der LPP hat dazu beigetragen, den revolu-tionären Prozess in Pakistan voranzu-treiben. Er hat Genossinnen und Genos-sen verschiedener Traditionen und Ten-denzen vereinigt, um über den Aufbau einer vom Einfluss der Kapitalisten und Feudalisten unabhängigen Arbeitermas-senpartei zu debattieren. Das war ein Ausdruck des Mutes und des wachsen-den Einflusses der neuen Linken in Pa-kistan.

Mehr als 140 Delegierte und eini-ge Beobachter, die die 7263 Mitglieder der LPP repräsentierten, haben die poli-tischen und organisatorischen Seiten der Partei untersucht. Zum ersten Mal wa-ren Sind, der Pandschab, Belutschistan, Gilgit-Baltistan, Siraiki Waseeb Pakh-tunkhwa3 und Kaschmir repräsentiert. Da waren Führer und Führerinnen von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Arbeiter- und Bauernbewegungen ver-treten, die begierig waren, voneinander zu lernen und ihre künftige Orientierung zu diskutieren.

Die Genossinnen und Genossen sind bei Nacht gereist, um im Zentrum für den Frieden und die Harmonie von Fai-salabad anzukommen, das von einer so-zialen Organisation geführt wird und das Abhalten eines Kongresses ermög-lichte. Bei der Anreise wurde ein Dele-gierter aus Belutschistan bei einem Ei-senbahnunfall verletzt und musste ins Krankenhaus.

Drei Genossen haben den Kongress geleitet, der mit 2 Schweigeminuten im Gedenken an die 7 Genossinnen und Ge-nossen, die seit dem 4. Kongress nicht mehr unter uns weilen, begann. Es han-delt sich um die folgenden Genossinnen und Genossen: Abdullah Qureshi (ge-tötet am 9. Dezember 2007 bei einem Selbstmord-Attentat in Swat), Jilal Shah

3 Pakhtun ist eine Variante von Paschtun. Pakh-tunkhwa ist der neue Name für die Nord-West-Provinz Pakistans. [Anm. d. Red.]

(gestorben 2008), Master Khudad (getö-tet im Oktober 2009 bei einem Selbst-mord-Attentat in Peshawar), Reha-na Kausar, Najma Khanum und Abdul Salam Salam (getötet bei einem Auto-unfall im Dezember 2009). Die Dele-gierten nahmen Solidaritätsbotschaften der IV. Internationale, der japanischen LCR, der kubanischen KP, der franzö-sischen NPA, der US-amerikanischen ISO, der Kommunistischen Partei Indi-ens (M-L), des Unabhängigenn Juristen-verbandes Groß-Britanniens, der austra-lischen RSP, des Konsumentenaktions-komitees Pakistans, der Gruppe Solida-rität mit den Völkern Südost-Asiens aus Toronto, der Aktion Aid International, des Internationalen Arbeiternetzwerks (Workers’ International Network), der SAAPE und der OCI aus Griechenland entgegen. Dokumentenentwürfe zur na-tionalen und internationalen Orientie-rung der LPP – nicht weniger als 120 Seiten – wurden vorgestellt.

Die Diskussion zur Weltlage wur-de durch einen Bericht von Farooq Ta-riq eingeleitet. Er erläuterte die Ursa-chen der internationalen Krise des Ka-pitalismus, der ökologischen Katastro-phe und der imperialistischen Beset-zung Iraks und Afghanistans. Er legte besonderen Nachdruck auf den Nieder-gang des Reformismus und den Auf-stieg des islamischen Fundamenta-lismus. Gibt es einen Ausweg? Wel-che Kräfte können den Planeten ret-ten und das neue Gesicht der Konter-revolution herausfordern? Wo in Afrika und Lateinamerika gibt es Herausforde-rungen der imperialistischen Globali-sierung? Er stellte den Stand des Klas-senkampfes und seine Perspektiven dar und betonte dabei besonders die Rolle der Frauen und die Notwendigkeit, die internationalen Beziehungen als unver-zichtbares Element zur Vorbereitung der künftigen Revolution zu stärken. In der folgenden Diskussion hat ein gutes Dut-zend Delegierte den Bericht vertieft. Pi-erre Rousset (NPA, Frankreich) und Si-mon Butler (Sozialistische Allianz, Aus-tralien) sprachen zur Krise und zum Kli-mawandel. Arif Afghani von der Revo-lutionären Arbeiterorganisation Afgha-nistans (ALRO) betonte die Verschlech-terung der sozialen und ökonomischen Bedingungen für die afghanischen Mas-sen. Der Generalsekretär der KP Indiens (M-L) Dipankar Bhattacharya konn-te nicht kommen und richtete eine Bot-schaft an den Kongress, in dem er insbe-

sondere schrieb: „Für die Linke sowohl Indiens als auch Pakistans ist es zwin-gend, Widerstand gegen die imperialis-tischen Pläne zu leisten und ohne Unter-lass für den Frieden, die Zusammenar-beit und die Freundschaft zwischen bei-den zu arbeiten. Die KPI(ML) und die LPP haben eine Vorgeschichte gemein-samer Initiativen und gegenseitigen Austauschs in der Verfolgung dieser Ziele und wir sind sicher, dass wir in der kommenden Zeit in der Lage sein wer-den, unsere kameradschaftlichen Bezie-hungen zu vertiefen und die Pläne un-serer pro-imperialistischen Regierungen zu vereiteln.“

DIE PERSPEKTIVEN DER LPP

Die Debatte über die Perspektiven der LPP wurde von Farooq Ahmed einge-leitet. Er hob die Gemeinsamkeiten der Politik der aktuellen Zivilregierung und des Militärregimes des Generals Pervez Musharraf hervor und betonte die Tat-sache, dass der Aufstieg des religiösen Fundamentalismus eine direkte Bedro-hung der Organisationen der Arbeiter-klasse darstellt. Die imperialistische Aggression Washingtons und die täg-lichen Angriffe mit Drohnen stärken die Anziehungskraft des religiösen Funda-mentalismus auf die Masse der Bevöl-kerung. Farooq Ahmed machte auch geltend, dass die aktuelle Zivilregie-rung viel Lärm um einen möglichen Mi-litärputsch mit dem Ziel macht, von ih-rer Politik gegen die Bevölkerung ab-zulenken. Aber selbst wenn es in naher Zukunft wenig wahrscheinlich ist, dass sich die Herrschaftsmethode ändert, be-steht die beste Verteidigung der Zivilre-gierung in einer Politik zur Hebung des Lebensniveaus der Massen. Mehr als 30 Genossinnen und Genossen beteiligten sich an der Debatte, stellten verschie-dene Aspekte der politischen und öko-nomischen Situation Pakistans dar und vertieften so die Analyse. Die nationale Frage, der Anstieg des religiösen Fun-damentalismus, die ökonomischen Ab-sichten des Imperialismus und die Ver-schlechterung der Lebensbedingungen der Massen wurden analysiert.

Der Genosse Nisar Shah machte die Einleitung zur Debatte über die orga-nisatorischen Perspektiven der LPP. Er betonte das bedeutende Wachstum der Partei seit dem vorherigen Kongress im Jahr 2007. Zum ersten Mal ist die LPP überall in Pakistan vertreten und zwar

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PAKISTAN

auch in Belutschistan, Gilgit-Baltistan und in den Stammesgebieten des Nord-westens. Das bedeutendste Wachstum fand in Pakhtunkhwa statt, wo die LPP zurzeit mehr als zweitausend Mitglieder hat. Er betonte die Notwendigkeit, Stu-dienzirkel und Bildungsstätten zu ent-wickeln, um die Integration der neuen Mitglieder zu gewährleisten.

Zweitens betonte er die Rolle der LPP bei der Entwicklung der Arbeiterbe-wegung und der sozialen Bewegungen, die im Zusammenhang mit dem Wachs-tum der Partei steht. Eine große Rolle spielen dabei die Förderung der Solida-rität zwischen den Regionen und auf in-ternationaler Ebene und die aktive Be-teiligung an anti-imperialistischen Mo-bilisierungen.

Vor Beginn der allgemeinen Diskus-sion ergänzten die LPP-Sekretäre von Sind, Belutschistan, Pakhtunkhwa, Pan-dschab und Siraiki Waseeb den allge-meinen Bericht mit Berichten über die Situation in diesen Provinzen. Der An-trag, den Namen des Führungsgremi-ums von Nationalkomitee in Föderalko-mitee zu ändern, wurde einstimmig an-genommen. Ein anderer Antrag, in dem vorgeschlagen wurde, die Anzahl der Sitzungen des Föderalkomitees von drei auf zwei im Jahr zu verringern, wurde abgelehnt. Die 31 Mitglieder des Föde-ralkomitees – darunter 9 Frauen – wur-den in geheimer Abstimmung gewählt (es gab 37 Kandidaturen). Das Föderal-komitee hat seine erste Sitzung durch-geführt und aus seiner Mitte das föde-rale Exekutivkomitee gewählt, das die laufenden Geschäfte der Partei führt. Nisar Shah wurde zum zweiten Mal zum Generalsekretär gewählt, Farooq Tariq zum Sprecher, Buhshali Thal-lo zum Sekretär für Bildung und Kul-tur, Nisar Lighari zum Sekretär für Ju-gend, Nasir Mansoor zum Sekretär für Arbeit, Mehr Abdul Sattar zum Sekretär für Bauernschaft. Die Wahl der Sekretä-rin für Frauenarbeit wurde auf die näch-ste Versammlung vertagt.

HISTORISCHE KUNDGEBUNG DER ARBEITER UND BAUERN

Am 29. Januar fand in Faisalabad, der drittgrößten pakistanischen Stadt, eine internationale Kundgebung der Arbei-ter und Bauern statt. Sie wurde gemein-sam mit der Qaumi Arbeiterbewegung (LQM) und der Anjaman Mozareen Pundjab (einer Mietervereinigung) or-

ganisiert. Bei ihnen handelt es sich um die aktivsten Arbeiter- und Bauernorga-nisationen im Distrikt Pandschab, de-ren Aktivität die Phantasie von Tausen-den von Menschen beflügelt hat. Die führenden Persönlichkeiten der beiden Bewegungen haben davor als Delegier-te am Kongress der LPP teilgenommen. Das war das erste Mal, dass die beiden Bewegungen gemeinsam handelten. Ei-nige andere soziale Organisationen, wie die Partnerschaft Südost-Asien (SAP), das Institut für Forschung und Ausbil-dung Pakistans (PILAR), Patan Taraqi-yati Tanzeem, die Hilfsorganisation für Arbeiterinnen (WWHL) haben ebenfalls Frauen mobilisiert, und es wurden mehr als 1000 Teilnehmerinnen gezählt. Bäu-erinnen der militärischen Güter Okara und die Arbeiterinnen verschiedener Fa-briken waren anwesend.

Die Aktivisten des LQM haben Tag und Nacht gearbeitet, um alle Straßen zu schmücken. Normalerweise können nur die reichen Parteien genügend Mit-tel aufbringen, die Stadt derart herauszu-putzen, aber dieses Mal hat es militante Entschlossenheit geschafft, die Bot-schaft der neuen Arbeiter- und Bauern-bewegung sichtbar zu machen. Die Ban-ner, Plakate und die mit Kreide auf die Mauern geschriebenen Parolen waren überall zu sehen. Die berühmte Flanier-

meile von Dhavi Ghat säumte ein Meer roter Fahnen. Die vielen Stände linker Verlage erinnerten an die 60er Jahre. Während der zwei Wochen vor der Kon-ferenz war die Stadt mit den roten Fah-nen von LPP und LQM geschmückt.

Die massive Ankunft von Bauern aus diversen Distrikten - unter anderem aus Lahore, Okara, Depalpur, Renala Khurd und dem Militärgut von Kumala – war beeindruckend. Nachdem sie das ganze Land durchquert hatten, sind mehr als 3000 Bauern in ihrer traditionellen Klei-dung mit Dhool Damaka Trommeln in einem Aufmarsch angekommen.

EINE HERAUSFORDERUNG

Es war eine wirkliche Herausforderung, eine derart massive Kundgebung ange-sichts von täglichen Selbstmordatten-taten und Bombenexplosionen durchzu-führen. Für die unterdrückten Klassen war es auch ein Symbol dafür, dass sie sich vereinen und auf ihre eigene Füh-rung verlassen konnten. Abgesehen von religiösen Zusammenkünften war es lange her, dass sich Arbeiter und Bauern derart im Pandschab versammelt hat-ten. Am Ende der Kundgebung hat mir ein junger Arbeiter aus Faisalabad ge-sagt: „Ich bin gekommen, um mir anzu-sehen, wie eine Kundgebung von Arbei-

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PAKISTAN

tern und Bauern aussieht. Jetzt habe ich die Telefonnummer von Maina Abdul Qayum, dem Führer der LQM. Ich wer-de die Arbeiter in meiner Fabrik orga-nisieren.“ Bis zu diesem Zeitpunkt gab es keine Gewerkschaft in dieser Textil-fabrik …

Dennoch fand die Kundgebung in einer gespannten Atmosphäre statt, und nur Aktivisten und Aktivistinnen wagten teilzunehmen. Die örtlichen Be-hörden hatten sich auf Attentate vorbe-reitet und Sicherheitsschleusen, Ambu-lanzen und Feuerwehrfahrzeuge um den Ort der Kundgebung stationiert. Zehn-tausend Menschen haben teilgenom-men; wir hatten das Dreifache erwartet. Aber viele örtliche SympathisantInnen befürchteten Attentate, und haben es nicht gewagt zu kommen.

Die zentralen Anliegen der Kundge-bung waren die Ausgabe von Sozialver-sicherungskarten an alle Industriearbei-ter und die Garantie auf Landbesitz für die Bauernschaft der militärischen Gü-ter. Der Inhalt der Parolen betraf Soli-darität und Revolution: „Arbeiter aller Länder, vereinigt Euch!“, „Der Schmerz des einen ist der Schmerz aller!“, „Es lebe die Solidarität der Arbeiterklasse!“, „Die, die arbeiten, müssen säen dür-fen!“, „Asien ist rot!“, „Noch ein An-lauf, um die Mauern zum Einsturz zu bringen!“, „Der Sozialismus ist die ein-zige Antwort!“, „Unser Weg ist die Re-volution!“, „ Unsere Strategie ist der Kampf!“, „Land oder Tod!“, „Gewerk-schaftsrechte sind Menschenrechte!“, „Gebt uns Sozialversicherungskarten!“, „Nieder mit dem Kapitalismus und dem Neo-Feudalismus!“, „Nein zu IWF und Weltbank!“, „Nein zu den Drohnenan-griffen und zum religiösen Fundamen-talismus!“, „Für ein friedliches und demokratisches Pakistan!“, „Gleiche Rechte für die Frauen!“, „Nein zu dis-kriminierenden Gesetzen!“, „Schluss mit der Gewalt, gebt dem Frieden eine Chance!“.

BEGINN PROLETARISCHER IDENTITÄT

„Das ist ein Neuanfang und wird nicht das letzte Ereignis dieser Art sein, wir lehnen die politischen und ökono-mischen Entscheidungen dieser Regie-rung, die vom US-amerikanischen Im-perialismus diktiert wurden, ab.“ Die-ser Auszug aus einem Beitrag reflek-tierte das Gefühl aller: man war betei-

ligt am historischen Beginn der Politik der Arbeiterklasse Pakistans. Die Red-ner und Rednerinnen stellten fest, dass Washington dem pakistanischen Volk nichts geben will und dass die Poli-tik von Weltwirtschaftsfond und Welt-bank die Arbeiterklasse täglich mehr verarmen lässt. Sie weisen die Diktate dieser Organisationen zurück und for-dern, dass die Regierung die Privatisie-rungen stoppt und die Subventionen für die Landwirtschaft garantiert. Sie for-dern des Weiteren das Ende aller diskri-minierenden Gesetze, alle Bürger sollen vor dem Gesetz und der Verfassung die gleichen Rechte haben.

Abschließend wurde festgestellt, dass die Auseinandersetzungen zwi-schen der pakistanischen Volkspartei (PPP)4 und muslimischen Liga Nawaz5 nicht die Probleme beträfen, die die Ar-beiterklasse beschäftigen, sondern nur die Art der Machtteilung und der Siche-rung ihrer priveligierten Position. Die Redner und Rednerinnen betonten die Notwendigkeit einer Politik, die unab-hängig ist von diesen Parteien der Rei-chen. Für sie erschien eine Allianz zwi-schen Arbeitern und Bauern eine prak-tische Alternative. Sie empfahlen der Regierung, sich um Armut, Inflation, Arbeitslosigkeit und politische Krise zu kümmern.

4 Die Volkspartei Pakistans (PPP) wurde 1967 von Zulfikar Ali Bhutto, dem Spross einer rei-chen Großgrundbesitzerfamilie, gegründet und bis zu seiner Hinrichtung 1979 geführt. Seine Tochter Benazir Bhutto folgte ihm an die Spit-ze der Partei und führte sie bis zu ihrer Ermor-dung 2007. Ihr Sohn Bilawal Bhutto Zardari und ihr Ehemann Asif Ali Zardari haben sie als Ko-Präsidenten der Partei ersetzt. Im Febru-ar 2008 erhielt die PPP 124 Sitze in der Na-tionalversammlung, hat eine Koalitionsregie-rung mit der Moslemliga Nawaz (91 Sitze) ge-bildet und im August 2008 den General Mus-harraf gezwungen, den Posten des Präsiden-ten der Islamischen Republik Pakistan aufzu-geben. An seiner Stelle wurde Asif Ali Zarda-ri (PPP) im September 2008 gewählt. Bei der PPP, die Mitglied der Sozialistischen Interna-tionale ist, handelt es sich um eine klientelisti-sche Partei mit einer Politik zugunsten der Feu-dalen und des Großbürgertums Pakistans.

5 Die Moslemliga Nawaz ist eine Partei der kon-servativen islamistischen Rechten, die aus der Moslemliga hervorging. Sie war die traditio-nelle islamische Partei Indiens unter britischer Herrschaft, kämpfte für einen islamischen Staat und war ursächlich an der Gründung Pa-kistans 1947 beteiligt. Sie trägt den Namen ih-res ersten Führers Nawaz Sharif, der von 1990 – 1993 und von 1997 – 1999 Premierminister war. Er war von 2000 bis 2007 im Exil in Sau-di-Arabien, um einer Verurteilung wegen Kor-ruption zu entgehen. Seit 2002 wird die Partei, die zur Zeit in einer Koalition mit der PPP ist, von seinem Bruder Shahbaz Sharif geführt.

Pierre Rousset für die NPA Fran-kreichs wies darauf hin, dass die fran-zösischen Arbeiterinnen und Arbeiter das Recht auf Sozialversicherung nach jahrelangen Kämpfen errangen. Aber nichts ist für ewig, betonte er und ver-wies darauf, dass die Welthandelsorga-nisation (WHO) versucht, die Arbeiter und Arbeiterinnen Europas ihrer erwor-benen Rechte zu berauben. Die interna-tionale Solidarität der Arbeiter und Ar-beiterinnen ist die konkrete Antwort da-rauf und sie gilt es zu entwickeln. Si-mon Butler von der Sozialistischen Alli-anz Australiens für seinen Teil wies da-rauf hin, dass Australien und Pakistan beim Cricket konkurrieren können, aber dass sich die Arbeiter und Arbeiterinnen der beiden Länder vereinen müssen, um gemeinsam gegen Armut und Arbeitslo-sigkeit zu kämpfen.

Alle Beteiligten zogen eine sehr po-sitive Bilanz dieser Kundgebung, die zeigt, wie Einheit die Kräfteverhält-nisse verbessern kann. „Trotz aller Dro-hungen bezüglich der Sicherheit haben wir es geschafft. Die Polizei hat ver-sucht, das Ganze nach innen zu verle-gen, aber wir haben unsere Planung re-alisiert, und wir haben es gut gemacht“, sagte mir Rana Tahir, einer der Füh-rer der LQM. „Das war wie ein Feier-tag für die Arbeiterschaft Faisalabads. Wir freuen uns alle über das Ergebnis. Das ist der Beginn einer Politik der Ar-beiterklasse in dieser Stadt. Es ist nur 6 Jahre her, dass die LQM hier gemacht hat, was die großen Parteien nicht tun. Diesen Platz zu füllen war eine Heraus-forderung und wir haben sie gemeistert. Wir fühlen, dass die Kraft der Arbei-terklasse die Gesellschaft ändern kann. Wenn wir das tun können, was wir ge-tan haben, dann können wir noch mehr tun, um die Arbeiter und Arbeiterinnen zu unterstützen. Jetzt muss uns die Ad-ministration zuhören und uns ernst neh-men“, stellte er zum Ende der Kundge-bung fest.

Farooq Tariq ist der Sprecher der Labour Par-ty Pakistan (LPP, Arbeiterpartei Pakistans). Bei dem Text handelt es sich um die Zusammenstel-lung dreier seiner Artikel in Englisch. Die Ori-ginale befinden sich auf den Websites von Euro-pe solidaire sans frontières (www.Europe-soli-daire) und der LPP (www.laborpakistan.org).

Übersetzung aus dem Französischen: W. Weitz.

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PAKISTAN

Ein historisch gescheiterter Staat

Zur Legitimierung ihrer Forderung nach Teilung des britischen Empires in Indien verkündeten die Befürworter eines eigenständigen Pakistans gleich nach der Unabhängigkeit die Theorie der „zwei Nationen“, die mit zwei Re-ligionen gleichgesetzt wurden – dem Islam und dem Hinduismus. Die Tei-lung fand um den Preis grauenhafter Massaker und gigantischer Umsied-lungen statt. Der neue indische Staat lehnte die religiöse Logik ab, defi-nierte sich als laizistisch und um-fasste weiter eine bedeutsame mosle-mische Minderheit. Im Gegensatz da-zu suchte der pakistanische Staat – ein künstliches geographisches Gebilde – in der religiösen Identität den Zement für seine Einheit. Dieses Projekt ist ra-dikal gescheitert.1

Das erste historische Scheitern ist in dem Krieg von 1971 zum Aus-druck gekommen. Ursprünglich be-stand Pakistan aus den beiden Tei-len West- und Ostpakistan, die durch die gesamte Breite Indiens voneinan-der getrennt waren. Der Staat wurde von den Eliten aus der Provinz Pan-

1 Diese Entwicklungen hat Tariq Ali seit 40 Jah-ren in seinen Artikeln in new left review und in seinen Büchern aus einer antistalinisti-schen marxistischen Perspektive analysiert. Siehe insbesondere: Pakistan: Military Rule or People’s Power, London: Jonathan Cape, 1970; „Revolutionary Perspectives for Pakistan“, in: new left review, London, Nr. 63, September/Ok-tober 1970; Can Pakistan Survive? The Death of a State, Harmondsworth (usw.): Penguin Books, 1983 (2. Ausg.: London: Verso, 1988); Pakistan. Ein Staat zwischen Diktatur und Kor-ruption, aus dem Englischen von Michael Bay-er, Kreuzlingen u. München: Diederichs, 2008. Siehe auch verschiedene Kapitel in: Street Fighting Years. Autobiographie eines ’68ers, aus dem Englischen von Monika Claus-Fei-kert, Köln: Neuer ISP Verlag, 1998.

dschab im Westen kontrolliert, die jegliche Machtteilung ablehnten. Da-durch wurde die Revolte der Bengalen im Osten ausgelöst. In einem blutigen Konflikt brach das Land auseinander, es entstanden das gegenwärtige Paki-stan und Bangladesh.

Das zweite historische Scheitern hat mit den Konsequenzen aus der Is-lamisierung zu tun. Der pakistanische Staat war zunächst moslemisch und ist dann Zug um Zug islamistisch ge-worden, indem die Gesetzgebung da-nach ausgerichtet wurde, was die re-ligiösen Autoritäten verlangten, ge-mäß der Scharia. Die Minderheiten, vor allem die christliche Minderheit, leben in großer Unsicherheit, und die weltlich Lebenden stehen unter immer größerem Druck. Innerhalb des Be-reichs derjenigen, die sich als Mos-lems verstehen, hat die Islamisierung einen wahren Religionskrieg ausge-löst, bei dem bewaffnete sunnitische und schiitische Sekten einander ge-genüber stehen und durch den die Zu-nahme fundamentalistischer Intole-ranz genährt wird. All dies wird durch Saudi-Arabien und das Wahhabiten-tum2 befördert.

Das dritte historische Scheitern besteht in folgendem: Der Aufruf zur Einheit der Moslems hat nicht zu ei-ner Verminderung der nationalen und religiösen Spannungen geführt. Paki-stan ist ein Puzzle, in dem die Eliten aus dem Pandschab eine Vormacht-

2 Wahhabiten – AnhängerInnen der Wahhabiya, einer konservativen und dogmatischen Rich-tung des sunnitischen Islams, die in Saudi-Ara-bien Staatsreligion und am weitesten verbrei-tet ist. Für weitere Einzelheiten siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Wahhabiten.

stellung in Verwaltung und Armee ein-nehmen. Keine einzige Fraktion der herrschenden Klassen hat ein gemein-sames föderales Projekt für den pasch-tunischen Nordwesten, Belutschistan, den Sind, den Pandschab entwickelt … Das Land ist und bleibt ein Pulver-fass.

Das vierte historische Scheitern ist mit dem Afghanistan-Krieg verknüpft. Mehrere Jahrzehnte lang ist Indien die Rolle des Erbfeinds zugekommen, wo-bei die ungelöste Kaschmir-Frage von Nutzen gewesen ist. Inzwischen be-findet die „heiße“ Grenze sich [nicht mehr zwischen Indien und Pakistan, sondern] im Westen, wo frühere Ver-bündete sich einander gegenüber ste-hen (die Taliban sind eine Kreatur des pakistanischen Geheimdiensts). Wie-der kämpfen Moslems gegen Mos-lems. So sehr der Konflikt mit Indien dem pakistanischen Staat unter natio-nalistischen Vorzeichen eine Legitimi-tät verschafft hat, so sehr untergräbt der Afghanistan-Krieg ihn nun.

Die Gleichsetzung von „Nation“ und „Religion“ ist ein Faktor der Spal-tung und nicht der Einigung gewesen. So tritt der pakistanische Staat heute als ein schwaches Kettenglied in Er-scheinung, während er bei den geopo-litischen Spannungen, die sich einen Raum von Mittelasien bis in den Vor-deren Orient und nach Südasien er-strecken, einen zentralen Ort besetzt. Der US-Imperialismus trägt mittels seiner Intervention in Afghanistan und seiner Annäherung an Indien selbst zur Destabilisierung von Pakistan bei. In einem Teil der Welt, der von dem nuklearen Gegeneinander von Indien und Pakistan geprägt ist, spielen die Vereinigten Staaten die Rolle des Zau-berlehrlings.

Dieser Artikel ist in Tout est à nous! (der Wo-chenzeitung der NPA), Nr. 44, 25. Februar 2010, erschienen.

Übersetzt, bearbeitet und mit Anmer-kungen versehen von Friedrich Dorn.

Der Afghanistan-Krieg hat den Staat Pakistan instabil werden las-

sen und enthüllt, wie brüchig er ist.

Pakistan wird durch den Afghanistan-Krieg auf den Prüfstand ge-

stellt. Wird es das überleben? Allein diese Frage macht deutlich,

dass die gegenwärtige Krise nicht aktualitätsgebunden ist. Die

Grundlagen des 1947 gebildeten Staats Pakistan erweisen sich als

nicht tragfähig.

Pierre Rousset

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THAILAND

Am 19 Mai befahl die thailändische Regierung, das Lager der Rothemden im Viertel R. zu stürmen. Die Bilanz

ist mit – offiziell – 81 Toten und ca. 2000 Verletzten die blutigste seit Ende der absoluten Monarchie 1932.

Bestärkt wurde die Regierung in ihrem Vorgehen durch die Position der Vertreterin des UNHCR, Navi Pil-

lay, die in einem Kommuniqué erklärte: „Um weitere Opfer zu vermeiden, appelliere ich an die Demons-

tranten, nachzugeben und an die Sicherheitskräfte, gemäß den Regierungsvorgaben mit äußerster Zurück-

haltung vorzugehen.“ Auf dem internationalen Parkett herrschte Schweigen. Thailand ist nicht China, Iran

oder Venezuela. Die Massaker an den Bauern und Arbeitern in den Straßen Bangkoks rufen weniger Empö-

rung hervor als die Massaker an den Demonstranten auf dem Tian Anmen. Obama verlor kein Wort über die

politische Krise oder auch nur über die zivilen Opfer. Hingegen empörte sich die US-Regierung über die Ro-

themden, weil sie „Privateigentum beschädigt“ hätten. Thailand ist für die USA weiterhin strategisch bedeut-

sam, da sie ihren Einfluss in der Region durch China bedroht sehen.

Die Heftigkeit der Repression und die Unverhältnismäßigkeit der Mittel zeigen, wie sehr das Establish-

ment über diese Bewegung erschrocken war, die politisch Stellung bezogen hat in einem Land, in dem es

als Verbrechen gilt, Republikaner oder Kommunist zu sein. Die Herrschenden mögen eine Schlacht gewon-

nen haben, aber noch nicht den Krieg. Die Geschichte wird über sie hinweggehen. Wie sagt das thailän-

dische Sprichwort? „Wer dem Tiger entkommt, den frisst das Krokodil“.

D. Sabaï

Die alten Eliten können Wahlen nicht mehr gewinnenDie Forderung der Rothemden, einen Waffenstillstand und Bedingungen für Neuwahlen auszuhandeln, hat

terem Himmel. Eine Sichtweise, dieses Land, in dem „alle in Harmonie mitei-nander leben und es keinen Klassen-kampf gibt, sondern das Volk hinter sei-nem verehrten Souverän vereint ist“, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun.

Jahrzehntelang wurde das thailän-dische Volk von autoritären Regimen oder von Diktaturen und einem in ihren Diensten stehenden König unterjocht. Den thailändischen Eliten ist es je-doch nicht gelungen, regelmäßige Erhe-bungen gegen die etablierte Ordnung zu verhindern. So kam es 1973, 1976 und 1992 zu Aufständen, die alle in einem Blutbad unterdrückt wurden.

Seit 2005 befindet sich das Land er-

neut in einer tiefen politischen Krise. Sie ist länger als die vorausgegangenen und ihr Ausgang kann nicht, wie in der Ver-gangenheit, die Erstickung der Bestre-bungen des thailändischen Volkes sein. Der Wirtschaftsboom der Jahre 1986-1996 hat unumkehrbare Veränderungen der Gesellschaft mit sich gebracht, vor allem die Herausbildung einer 7 Milli-onen Menschen starken Arbeiterklasse sowie politische Strukturreformen. An-ders als bei früheren Krisen sind sich die einfachen Thai – Bauern, städtische Arbeiter, die Mittelschichten Bangkoks, die am wenigsten Begüterten – ihres po-litischen Gewichts bewusst worden und haben angefangen, Forderungen zu stel-

len.

DIE 90ER JAHRE: ERUPTION DER ZIVILGESELLSCHAFT

Der aktuelle Konflikt wurzelt tief in der thailändischen Gesellschaft. Die ökono-mischen und politischen Umwälzungen der 90er Jahre haben ein Gleichgewicht zerstört, das in den 30er Jahren mit dem Ende der absoluten Monarchie errich-tet worden war. Nach dem Militärputsch 1991 und der Repression 1992 trat die Zivilgesellschaft auf die politische Büh-ne, die bislang nur sehr wenigen gesell-schaftlichen Kräfte vorbehalten gewe-sen war.

Nach einem mehrjährigen Prozess und einer öffentlichen Befragung wur-de 1997 die 16.Verfassung, die sog. „Verfassung des Volkes“, verabschiedet. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes werden seitdem beide Kammern mit allgemeinem Stimmrecht gewählt. Exekutive und Legislative sind getrennt. Die Verfassung enthält Klauseln für den Kampf gegen die Korruption und für die Verteidigung der Menschenrechte.

Wenngleich sie reale demokratische Fortschritte ermöglicht, enthält sie je-doch auch zahlreiche Einschränkungen. Um Parlamentsabgeordneter zu werden,

die Regierung Abhisit Vejjajiva mit dem Einsatz von Panzern gegen un-

bewaffnete Männer, Frauen und Kinder beantwortet. Bislang sind 81 To-

te und 2000 Verletzte zu beklagen, allesamt Zivilisten. Zunächst zuge-

standene Neuwahlen werden immer weiter hinausgeschoben und da-

mit die Befürchtungen der Demonstranten bestätigt, dass sie nur hin-

gehalten werden sollten.Die thailändische Gesellschaft befindet sich

in einer tiefen sozialen und politischen Krise, die viel mit den Verän-

derungen seit den 90er Jahren zu tun hat. Den nachfolgenden Hinter-

grundartikel entnehmen wir der Webseite http://daniellesabai.word-

press.com.

Danielle Sabaï

Die politische Krise, die Thailand erfasst hat, kam nicht wie ein Blitzschlag aus hei-

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THAILAND

muss man einen Universitätsabschluss haben - ein Zeichen für die Verachtung, die die Eliten von jeher dem Volk ent-gegenbringen, und ein gutes Mittel zur Wahrung ihrer Privilegien. Das System der Parteilisten wird von den kleineren politischen Organisationen kritisiert, für die es schwieriger ist, zu Abgeordneten zu kommen. Das Wahlrecht stärkt das Zwei-Parteien-System, um eine größe-re politische Stabilität zu sichern: Von 1995 bis 1997 hatte Thailand vier Re-gierungen! Aus demselben Grund wur-de auch die Rolle des Ministerpräsi-denten gestärkt. Diesen Umstand konn-te tatsächlich auch Thaksin zur Stärkung seiner eigenen Macht nutzen, als er Mi-nisterpräsident war.

Die Repression von 1992 führte da-zu, dass über die Notwendigkeit von Transparenz in der Politik sowie über die Rolle und den Platz des Militärs in der Gesellschaft nachgedacht wurde. Viele Jahre musste die Armee in den Kasernen bleiben. Aber in Wirklichkeit hat sie nie auf die Machtausübung ver-zichtet, und die zivilen Regierungen ha-ben ihre Privilegien nie in Frage gestellt. Die Armee bleibt eine mächtige poli-tische Institution, die ihre Macht hinter den Kulissen ausübt.

DIE ARMEE

In der ersten Hälfte der 90er Jahre gab es auch ein starkes Wirtschaftswachs-tum und eine beschleunigte Industri-alisierung. Hunderttausende junger Menschen, insbesondere Frauen, ver-ließen die ländlichen Regionen, um in und um Bangkok in Manufakturen und im Dienstleistungssektor zu arbeiten. Die Löhne waren niedrig und die Le-bensbedingungen schwierig, aber im-mer noch besser, als das Land zu bestel-len. Die Arbeit in Bangkok bietet nicht nur eine Möglichkeit, Geld zu verdie-nen und den auf dem Land zurückge-lassenen Eltern oder Kindern damit zu helfen. Die Migration junger Menschen in die Hauptstadt ist auch ein Indiz für die Veränderungen in der thailändischen Gesellschaft: Sie bietet die Möglichkeit, „Thansamai“ zu sein, Zugang zu haben zu einer anderen, „modernen“ Lebens-weise und sich von den als rückstän-dig und bedrückend empfundenen Tra-ditionen zu befreien. Wie überall wol-len auch die ThailänderInnen eine Le-bensweise, die sie im Fernsehen sehen, und von den Früchten des Wirtschafts-

wachstums profitieren.Der Wirtschaftsboom endete jäh mit

dem Ausbruch der großen Finanzkri-se von 1997, die zunächst Thailand er-fasste und sich dann auf eine Reihe asi-atischer Länder ausbreitete. Zahlreiche Unternehmen gingen pleite. Diejenigen, die mit staatlich geschützten Dienstlei-stungen in Verbindung standen, schnit-ten in der Krise am besten ab. Das galt auch für die Unternehmen von Thaksin Shinawatra, ein Milliardär, der sein Ver-mögen mit Lizenzen und Konzessionen im Telekommunikationsektor machte, die er von verschiedenen Regierungen und dem Militär in den 90er Jahren er-halten hatte. Die krisenbedingte poli-tische und ökonomische Instabilität ver-stärkte seine Absicht, in die Politik zu gehen. Der politische Rückzug der Ar-mee hinterließ einen politischen Frei-raum. In der Geschäftswelt machte sich die Vorstellung breit, die Armee solle in einer zunehmend komplexen und glo-balisierten Welt nicht mehr die öffent-lichen Angelegenheiten lenken.

THAKSIN

1998 gründete Thaksin seine eigene Partei, die Thai Rak Thai (TRT – Thais lieben Thais), mit einem Teil seines ge-waltigen Vermögens, das er aus der Kri-se gerettet hatte. 2001 wurde er auf der Grundlage eines politischen Programms gewählt, das zahlreiche, manchmal wi-dersprüchliche soziale Forderungen en-thielt. Nach seiner Wahl machte er ei-ne Politik, die das Leben von Millio-

nen einfacher Leute beträchtlich verbes-serte. Er schuf ein Gesundheitssystem, das faktisch unentgeltlich war, half ver-schuldeten Bauern mit einem mehrjäh-rigen Schuldenmoratorium und schuf ein System von Mikrokrediten, mit dem Entwicklungsprojekte auf dem Lan-de gefördert werden sollten. Allerdings handelte sich bei Thaksin um einen mil-lionenschweren Unternehmer, dessen Politik in erster Linie seinen eigenen In-teressen diente. Korruption, autoritäres Verhalten, Vetternwirtschaft florierten, als er Ministerpräsident war.

Doch zum ersten Mal hatte ein thai-ländischer Politiker Interesse am Schick-sal von Millionen seiner Bürger bekun-det. Seine Politik reihte sich deutlich in eine klassische populistische Traditi-on ein: Befriedigung der Forderungen von Bauern und Arbeitern, um sich eine Wählerbasis und die für ein florierendes Geschäft notwendige Stabilität zu si-chern; zugleich aber auch Knebelung der Arbeiterbewegung durch Gesetze, die die gewerkschaftlichen Aktivitäten einschränkten, und ein Wahlsystem, das das Aufkommen linker Parteien blo-ckierte, indem es die städtischen Arbei-ter zwang, ihre Stimme in ihrer länd-lichen Ursprungsregion abzugeben.

Der Krieg gegen Drogen, den Thak-sin zu Beginn seiner ersten Amtszeit führte, kostete Tausende Tote und will-kürliche Verhaftungen. Thaksin hat auch den Krieg gegen die malaiische Minder-heit im äußersten Süden Thailands wie-deraufgenommen. Trotz der staatlichen Gewalttaten, die Thaksin dennoch nut-

David gegen Goliath

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zen konnte, um seine Legitimität zu stär-ken, haben ihn die sozialen Seiten sei-ner Politik ungemein populär gemacht. Er wurde dadurch der einzige thailän-dische Politiker, der unmittelbar eine zweite Amtszeit erreichte. 2005 wurde er mit großer Mehrheit wiedergewählt.

DIE THAILÄNDISCHE DEMOKRA-TIE

Die Grundlagen für eine neue politische Krise waren nun gegeben. Als Thaksin an die Macht kam, war Thailand fast 70 Jahre lang von einer Elite regiert wor-den, die über Geld und Macht verfügte: das Militär, die Spitze der Bürokratie, die Monarchie und einige große Indus-triefamilien. Allen gemeinsam war ei-ne tiefe Verachtung für das Volk, das sie als unkultiviert und für die Demokra-tie nicht reif betrachteten. Über zwanzig Staatsstreiche seit dem Ende der absolu-ten Monarchie 1932 zeugen davon.

Alle sind für die Demokratie, aber für eine „thailändische Demokratie“, die angeblich der Geschichte, den Wer-ten und der Kultur Thailands angemes-sener ist. Denn im Gegensatz zu den westlichen Werten würden die „asia-tischen Werte“ den Respekt für ande-re, den Sinn für die Gemeinschaft, die Akzeptanz von Hierarchien und den Vorrang der Gruppe vor dem Individu-um betonen. Tatsächlich dient dies alles der Rechtfertigung eines Systems groß-er Ungleichheit und zutiefst antidemo-kratischer Gesetze, die einigen wenigen Privilegierten erlauben, sich zu berei-chern und an der Macht zu bleiben.

Im Zentrum dieser ideologischen Konstruktion spielt der König eine zen-trale Rolle. Als „Vater“ der Nation, die er verkörpert, besucht er regelmäßig seine „Kinder“ und hört sich ihre Pro-bleme an, um sie dann „angemessen“ zu interpretieren. Die Monarchie steht im Zentrum zahlreicher Wohltätigkeits-aktionen und Entwicklungsprojekte auf dem Land. Die „Ökonomie der Selbst-genügsamkeit“, eine jüngst vom König entwickelte ökonomische „Theorie“, il-lustriert die paternalistischen Mecha-nismen und die Bewahrung der sozi-alen Hierarchien sehr gut: „Die Genüg-samkeit hat drei Hauptprinzipien: Mä-ßigung, Weisheit oder Scharfsinn sowie die Notwendigkeit, gegen die aus den inneren oder äußeren Veränderungen entstehenden Risiken die Selbstgenüg-samkeit zu setzen.

„Die Botschaft ist klar: Bauern und Arme sollen mit dem auskommen, was sie haben. Wenn die Armen arm sind, so weil sie keine Lösung gefunden haben, die den Ressourcen angepasst ist, über die sie verfügen. Ausnahmegesetze wie das Gesetz zur inneren Sicherheit und die Gesetze gegen Majestätsbeleidigung wurden eingeführt, um jeden Protest zu ersticken.

Das politische Spiel ist vollständig jedes Inhalts beraubt. Politische Bin-dungen sind vor allem Geschäfts- und Klientelbeziehungen: Stimmenkauf in großem Maßstab und Kungeleien zwi-schen Geschäftswelt und Politik. In den 90er Jahren kamen die meisten Parla-mentsabgeordneten aus der Wirtschaft. Die verschiedenen politischen Parteien repräsentieren keine alternativen Kon-zepte, sondern werden gegründet, um an Koalitionsregierungen teilzunehmen, wodurch sie sich bessere Chancen für ihre Geschäfte erhoffen – als Ertrag für ihre Investitionen; denn es kostet sehr viel Geld, sich eine Wählerbasis zu ver-schaffen.

BEDROHUNG DER TRADITIO-NELLEN ORDNUNG

Der Wirtschaftsaufschwung der Jah-re 1986-1996 hatte eine Verbesserung der Lebensbedingungen und damit ei-ne Minderung der sozialen Spannungen bewirkt. Mit der Krise von 1997 änderte sich das. In der Region Bangkok wur-den Hunderttausende Fabrikarbeiter entlassen, viele von ihnen kehrten ohne Sold auf das Land zurück. Die von Asi-ens herrschenden Eliten (vor allem Ma-hathir in Malaysia und Lee Kwan Yew in Singapur) entwickelte Idee, Wirt-schaftswachstum habe Vorrang vor De-mokratie, wurde ernstlich erschüttert. Die Thaksin-Ära machte der Bevölke-rung bewusst, dass Wahlen auch für die weniger Begüterten vorteilhaft sein kön-nen. Es war möglich, eine gerechtere Wirtschaftspolitik durchzuführen.

Thaksin profitierte vollständig vom System. Während seiner ersten Amts-zeit begünstigte er „freundlich geson-nene“ Unternehmen und stellte „lo-yale“ Personen an die Spitze der Armee. Das traditionelle Establishment fühl-te sich bedroht: Ihm entgingen die saf-tigsten Verträge, die günstigsten Gele-genheiten. Der Staatsrat des Königs ver-lor die Kontrolle über die Ernennungen an der Spitze der Armee, das Haupt-

instrument zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Die Demokratische Partei – die mit dem Establishment verbundene Oppositionspartei – war nicht in der La-ge, bei Wahlen mit der TRT zu konkur-rieren. Fast zehn Jahre lang gewann sie keine Wahl mehr. Der König selbst fühl-te sich bedroht, denn Thaksins Popula-rität konkurrierte direkt mit der des Kö-nigs. Die traditionelle Ordnung war in Frage gestellt.

Das Establishment versuchte mit al-len Mitteln, Thaksin loszuwerden. Ei-ne Gelegenheit kam im Januar 2006, als Thaksin beschloss, sein Unternehmen Shin Corp an Temasek zu verkaufen, ein staatliches Unternehmen in Singapur. Royalistische Kräfte um Sondhi Lim-tongkul lancierten eine nationalistische Kampagne für den Rücktritt des Mini-sterpräsidenten. Es gelang ihnen, die da-mals zahlreichen Kämpfe gegen die Pri-vatisierung der öffentlichen Elektrizi-tätsgesellschaft EGAT, gegen das Frei-handelsabkommen mit den USA, ge-gen die Dezentralisierung im Bildungs-sektor usw. miteinander zu verknüpfen. Doch trotz zahlreicher Demonstrationen gegen Thaksin und einer öffentlichen Intervention des Königs siegte er erneut bei den Wahlen vom April 2006.

Das war zu viel. Die Armee be-schloss die militärische Option, zwei-fellos mit Zustimmung des „Palastes“. Am 19.September 2006 fand während eines Auslandsaufenthalts Thaksins ein – diesmal unblutiger – Putsch statt. Sei-ne vorgeblichen Ziele waren der Kampf gegen die Korruption und die Notwen-digkeit, die „Einheit des Landes“ wie-derherzustellen, die monatelang durch ständige Demonstrationen zerstört wor-den war. Das Establishment, die roya-listischen Kräfte, aber auch ein groß-er Teil der Intelligenz und der Mittel-schichten feierten den Sturz des „kor-rupten“ Thaksin.

Im Jahr nach dem Putsch wurde al-les getan, um Thaksins Machtinstru-mente zu zerstören: Die TRT wurde auf-gelöst, 111 Abgeordnete der Partei wur-den für die folgenden fünf Jahre für un-wählbar erklärt. Teile von Thaksins Ver-mögen wurden eingefroren (fast 2 Mil-liarden Dollar). Eine neue Verfassung wurde nach dem Diktat des Militärs ge-schrieben. Doch trotz der Verhängung des Kriegsrechts in Thaksins Bastionen im Norden und Nordosten des Landes konnte das Militär einen Sieg der „Par-tei der Volksmacht“ (PPP), der Erbin der

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TRT, bei den Wahlen vom 23.Dezember 2007 nicht verhindern.

Die neue Regierung Samak Sunda-ravej änderte erneut die Verfassung, um ihre Auflösung durch die Gerichte, de-ren Macht durch die von den Militärs er-lassene Verfassung beträchtlich gestärkt worden war, zu vereiteln. Im Mai 2008 begann die „Allianz des Volkes für die Demokratie“ (die Gelbhemden) einen erbarmungslosen Kampf für die Ab-setzung von Premierminister Samak. Von Mai bis Dezember 2008 führte die „Volksallianz für Demokratie“ (PAD) einen Kampf für den Rücktritt von Pre-mierminister Samak.

Die Gelbhemden sind jedoch keines-falls die progressive Kraft, die ihr Name nahelegt. Die Bewegung wird von Son-dhi Limtongkul geführt, einem Presse-magnaten und früheren Geschäftspart-ner Thaksins, der durch die Krise von 1997 ruiniert wurde. Er steht in Verbin-dung mit einer ganzen Reihe unzufrie-dener Elemente: Royalisten, die sich ökonomisch wie politisch durch Thak-sins Kreise bedroht fühlten; Militärs, die nicht akzeptierten, dass ihre Kon-trolle über die Gesellschaft seit 1992 re-duziert wurde; Mitglieder der Demokra-tischen Partei, der traditionellen, nun an den Rand gedrängten Verbündeten der Königsfamilie und der Armee; hoch-rangige Richter; Intellektuelle und An-gehörige der Mittelschichten, die von der Korruption und den Skandalen ge-nug haben; Mönche, die zu reaktio-nären buddhistischen Sekten gehören. Alle unterstützten den Militärputsch. Zu den wichtigsten Anführern gehören Chamlong Srimuang, Phanlop Phinma-nee und Praosong Soonsiri – drei Vete-ranen des Krieges gegen den kommu-nistischen Aufstand der 70er und 80er Jahre. Alle haben eine Abneigung ge-gen das Volk, das sie als zu ungebildet betrachten, um wählen und am poli-tischen Geschäft teilnehmen zu können. Sie sind gegen die Demokratie und en-gagierten sich dafür, dass die neue Ver-fassung ein elitäres System errichtete, wonach nur 30 Prozent der Parlaments-sitze durch die Bevölkerung direkt ge-wählt werden. Sie betrachteten die von der Mehrheit demokratisch gewählte Regierung Samak als illegitim. Bei ver-schiedenen Gelegenheiten erhielten die Gelbhemden die Unterstützung der be-sonders reaktionären Königin Sirikit.

Ab Mai 2008 mobilisierten die Gelb-hemden wieder, unterstützt von der De-

mokratischen Partei und Abhisit. Meh-rere Wochen lang belagerten sie den Sitz des Premierministers. Im Septem-ber wurde die Regierung Samak per Ge-richtsbeschluss aufgelöst. Samak, ein Gourmet, wurde verurteilt, weil er für seine Teilnahme an Fernsehkochshows bezahlt worden war! Eine neue Regie-rung wurde um Somchai Wongsawat gebildet, der ein Schwager Thaksins ist. Der Kampf erreichte seinen Höhepunkt mit der Belagerung der beiden Bangko-ker Flughäfen Ende November 2008, wobei Tausende von Fluggästen an der Weiterreise gehindert wurden. Die be-reits durch die Weltwirtschaftskrise an-geschlagene Ökonomie wurde so wei-ter untergraben. Am 2. Dezember 2008 wurde die PPP vom Verfassungsgericht wegen Wahlbetrugs aufgelöst. Am 15. Dezember wurde nach einer von der Ar-mee organisierten Veränderung der Al-lianzen im Parlament Abhisit Vejjajiva von den Abgeordneten zum 27. Premi-erminister gewählt.

Ein Militärputsch und zwei Gerichts-beschlüsse haben drei Regierungen ge-stürzt, deren demokratische Legitimati-on außer Zweifel stand. Für die meisten Thailänder erschien es zunehmend klar, dass dies ein abgekartetes Spiel war

und die Richter im Dienste der Reichen standen. Bis heute sind die Anführer der PAD, die die beiden Flughäfen blockiert hatten, nicht vor Gericht gebracht wor-den. Die Landbevölkerung wählt die Regierungen, und die Eliten Bangkoks stürzen sie, wenn sie ihnen nicht passen! Diese Realität zeigt auch, wie räum-liche und Klassendifferenzierungen in Thailand deckungsgleich sind. Die Eli-ten und die Reichen leben in Bangkok, die Armen kommen aus der Provinz. In Bangkok werden Bauern mit dem äu-ßerst verächtlichen Ausdruck baan nok (Außenhaus) belegt. Auf dem Lande zu leben bedeutet, als rückschrittlich, un-gebildet, unzivilisiert und naiv betrach-tet zu werden.

WER SIND DIE ROTHEMDEN?

Angesichts der mit der Einsetzung der Regierung Abhisit eröffneten Situati-on wurde Anfang 2009 die „Vereinigte Front für Demokratie und gegen Dik-tatur“ (UDD), die Bewegung der Ro-themden, gegründet. Diese politische und soziale Bewegung entstand ur-sprünglich durch die Vereinigung der Verteidiger Thaksins mit den Pro-De-mokratie-Kräften, die nach dem Putsch

Rothemden auf dem Rückzug

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entstanden waren.Diese Allianz mobilisierte eine Mas-

senbasis, die sich hauptsächlich aus Bauern, Dorfbewohnern und städtischen Werktätigen, insbesondere aus dem Nor-den und Nordosten des Landes, zusam-mensetzte und die genug hatten von der Doppelzüngigkeit der Justiz, dem Feh-len von Demokratie und der Bewahrung krasser Ungleichheiten trotz einer re-alen Modernisierung des Landes.

Obwohl er teilweise auf eigene Rech-nung Thaksins politische Reformen an-gewandt hat, erscheint Abhisit als das, was er ist, als Vertreter der traditionellen Eliten. Die Einheit der Bewegung wurde um die Forderung nach demokratischen Neuwahlen und dem Rücktritt von Pre-mierminister Abhisit hergestellt.

Thaksins Reichtum hat weitgehend zur Entwicklung des Kampfes beige-tragen, zumindest am Anfang. Doch die Bewegung der Rothemden hat sich seit ihrer Entstehung stark verändert. Wenn-gleich Thaksin ein „Held“ für viele Ro-themden bleibt, die ihm die Verbesse-rung ihrer Lebensbedingungen zuschrei-ben, stehen die Forderungen jetzt auf ei-ner anderen Ebene. Thaksins Ziele und die der Führer der UDD sind zumin-dest divergierend. Die Anführer der Ro-themden beanspruchen, Verfechter sozi-aler Gerechtigkeit und der Demokratie zu sein – Themen, die mit Thaksin nicht völlig kompatibel sind.

Außerdem sind Thaksins Chancen, an die Macht zurückzukehren, gering, und sein Hauptziel besteht wohl mehr darin, die von der Justiz im März be-schlagnahmten 1,4 Milliarden Dollar wiederzubekommen. Tatsächlich hat sich Thaksin von der Bewegung zurück-gezogen, und Chang Noi, ein bekannter thailändischer Journalist sagt: „Thaksin konnte wohl nicht wollen, diesen Tiger zu reiten, jetzt wo er weiß, wie groß und wild er ist.“

Die UDD war von Anfang an eine breite und vielfältige Bewegung. Die Einheit um die Forderung nach Abhisits Rücktritt und nach sofortigen Wahlen kann die unterschiedlichen politischen Auffassungen und Ziele der führenden Persönlichkeiten nicht verbergen. Eine ganze Reihe von ihnen wie Suprachai Danwattananusorn („Sae-Dan“), Jaran Dithapichai, Weng Tojirakarn und Vi-poothalaeng Pattanaphumthai sind ehe-malige Kommunisten. Andere wie Ja-tuporn Promphan sind Parlamentsabge-ordnete der Puea-Thai-Partei, ein Erbe

der Thai Rak Thai (TRT) und der PPP. Die meisten sind Royalisten oder stellen die konstitutionelle Monarchie jeden-falls nicht öffentlich in Frage.

Das Gesetze, das „Majestätsbeleidi-gung“ (lèse majesté) verbietet, verbietet jede Debatte über die Monarchie. Das „Verbrechen“ kann mit 3 bis 15 Jahren Gefängnis bestraft werden. Das behin-dert die Redefreiheit, und mehrere Per-sönlichkeiten der Rothemden wie Gi-les Ji Ungpakorn und Jakaprob Penkair mussten ins Exil gehen, um Gefängnis-strafen zu entgehen.

Schließlich traten im August 2009, nach Monaten heftiger Diskussionen, unter den Führern der Bewegung Dif-ferenzen an die Öffentlichkeit. Jaka-prob Penkair und „Sae-Dan“ verließen sie, um ihre eigene Gruppe, „Rotes Si-am“, zu bilden. Bei der Spaltung ging es um die von den Hauptanführern [der UDD] befürwortete Taktik, eine Petiti-on zu organisieren, die um eine Begna-digung Thaksins durch den König er-sucht. Dies ist eine Schlüsselfrage: Der Appell an den König wirft die Frage der Stellung der Monarchie und ihrer ge-wünschten und möglichen Entwicklung auf. Die Kritiker argumentierten, dass diese Petition dem König die Macht zu-gesteht, auf undemokratische Weise in den Kampf der Rothemden einzugrei-fen, und Illusionen in die Absichten der Monarchie verstärkt.

Andererseits kämpfen die drei Füh-rer der Gruppe Kwam Jing Wannee (Die Wahrheit heute), Jatuporn Promphan, Weera Musikapong und Nattawut Sai-kua, für kleinere Reformen im Rahmen der aktuellen Monarchie. Jatuporn äu-ßerte sich gegenüber der Zeitung The Nation deutlich: „Wir wollen Demo-kratie unter dem König als Staatsober-haupt. Deshalb beschränken sich unse-re Aktivitäten darauf, den Präsidenten des Kronrats, Prem Tinsulanonda, oder Personen niedrigeren Rangs anzugrei-fen, um einen Kampf zu verhindern, der über die konstitutionelle Monarchie hi-nausgeht.“

Die Führer von „Rotes Siam“, die radikaler sind, glauben, dass die Mo-narchie reformiert werden sollte. Doch auch sie stellen den aktuellen Rahmen der konstitutionellen Monarchie nicht in Frage.

An der Basis sind die Rothemden nicht die gefährlichen „Terroristen“ und Verschwörer gegen die Monarchie, wie sie von der Regierung dargestellt wer-

den. Sie sind gewöhnliche Leute. Von der Wiege an das Produkt systema-tischer Gehirnwäsche, haben sie haupt-sächlich religiöse, nationalistische und royalistische Sympathien. Dadurch un-terscheidet sich diese politische Bewe-gung von den früheren Revolten von 1973, 1976 und 1992.

Zum ersten Mal sind es die einfachen Leute aus den Provinzen, die Bauern, die Arbeiter, die Armen und auch die är-meren Mittelschichten Bangkoks, die sich mobilisieren. Die Basis der Bewe-gung erstreckt sich auf einen Teil der Mittelschichten, die sich der hohen Ko-sten bewusst wurden, die der Putsch in ökonomischer wie politischer Hinsicht darstellt, und nun eine Bewegung unter-stützen, die die Demokratie wiederer-richten will. Viele Bewohner Bangkoks sind gekommen, um ihre Unterstützung für die Rothemden zu zeigen oder sich ihnen anzuschließen.

Die UDD hat die Besonderheit die-ser Revolte verdeutlicht, indem sie ver-altete Begriffe der thailändischen Spra-che wie phrai (Leibeigener) und amart (Edelleute) aktualisierte. Diese Begriffe illustrieren die Unterdrückung und die Ungerechtigkeiten, deren Opfer diejeni-gen sind, die „nichts haben“ – im Ge-gensatz zu den Privilegierten. Es han-delt sich um einen Klassenkampf, ei-ne Revolte der Elenden gegen die eta-blierte Ordnung. Die Bewegung hat die Maschinerie dieses zutiefst ungleichen Systems bloßgelegt, in dessen Zentrum die Monarchie steht.

ENDE DER HERRSCHAFT

Befindet sich die Monarchie noch im Zentrum des Systems? Die Frage ist le-gitim. Die politische Krise hat die Insti-tution ernsthaft destabilisiert. Die syste-matischen Bezugnahmen auf die Mo-narchie durch die Royalisten selbst – zuerst durch die Armee zur Legitimie-rung des Putsches, dann durch die Gelb-hemden zur Legitimierung ihrer Mobili-sierungen gegen die „Pro-Thaksin“-Re-gierungen – haben geholfen, das jahr-zehntelang ausgearbeitete Bild des „Pa-lastes“ als Garant der nationalen Ein-heit und Schlichter im Streit der Par-teien zu demontieren. Die Zweifel sind von den Rothemden gesät worden, und zukünftig wird es für das Establishment schwieriger werden, unter Berufung auf die Monarchie seine Herrschaft über die Gesellschaft zu bewahren.

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Die Krise hat auch enthüllt, dass die Monarchie nicht mehr wie in der Ver-gangenheit auf die Ereignisse einwir-ken kann, um Proteste zu ersticken. Der König liegt im Sterben und befindet sich seit September 2009 im Krankenhaus. Es stellt sich die Frage der Nachfolge, was innerhalb der Eliten eine weitere politische Krise ergeben hat. Die Legi-timität der Monarchie beruht zu einem großen Teil auf das fast gottgleiche Bild des aktuellen Königs. Doch dem desi-gnierten Thronerben, Prinz Vajiralong-korn, fehlen die „Qualitäten“ seines Va-ters Bhumibol („der Gesegnete“). Er ist politisch schwach, wegen seiner de-kadenten Moral berüchtigt und bei der Mehrheit der Bevölkerung verhasst. Über sein Privatleben zirkulieren ob-szöne Geschichten auf den Webseiten, bevor sie zensiert werden. Er ist außer-dem mit Thaksin verbunden, der in der Vergangenheit seinen Lebensstil sub-ventioniert hatte.

Finanziell steht viel auf dem Spiel. Das Magazin Forbes schätzte 2009, dass die thailändische Monarchie mit einem Reinvermögen von 30 Milliarden Dol-lar die reichste der Welt ist. Ihre indus-triellen und Finanzinvestitionen in allen Sektoren der thailändischen Ökonomie sind kolossal. Der reibungslose Ablauf der Geschäfte hängt verständlicherwei-se von der Bewahrung der etablierten Ordnung ab. Da Vajiralongkorn weder über Charisma noch Legitimität verfügt, wird er keine politische Autorität haben. Die Prinzessin Sirindhorn könnte, da sie sehr geschätzt wird, eine solche Rol-le spielen, aber dies erlaubt das Gesetz nur, wenn der Thronerbe stirbt. Die in-ternen Kämpfe um die Nachfolge sind intensiv. Alle Prätendenten haben Bünd-nisse mit Teilen der Armee und der Po-lizei gebildet, was zum Teil die sich bis vor kurzem äußernde Unentschlossen-heit der Regierung erklärt.

Am anderen Ende der sozialen Stu-fenleiter sind wir weit entfernt vom Le-ben in Glanz und Gloria. Ein aktueller Bericht des UNDP (United Nations De-velopment Program) über Thailand be-sagt, dass dort die Ungleichheit in den letzten Jahren weiter gewachsen ist. Das UNDP vergleicht den Anteil der an Ein-kommen reichsten 5 Prozent mit dem der ärmsten 5 Prozent. Die Ergebnisse sind entlarvend: In relativ egalitären Ge-sellschaften wie Japan oder Skandinavi-en beträgt das Verhältnis etwa 3 bis 4, d. h. die reichsten 5 Prozent sind drei-

bis viermal reicher als die ärmsten 5 Prozent. Im restlichen Europa und in Nordamerika beträgt das Verhältnis et-wa 5 bis 8, unter Thailands Nachbarn 9 bis 11. Thailand liegt im Bereich 13 bis 15. Diese Ungleichheit wird von der Be-völkerung zunehmend abgelehnt.

WELCHER AUSWEG AUS DER KRISE?

Während diese Zeilen geschrieben wur-den, organisierte das Militär drei Tage lang eine gewaltsame Unterdrückung der Rothemden. Laut zahlreichen Zeu-genaussagen ausländischer Journalisten und von Bewohnern der Hauptstadt feu-erte die Armee mit scharfer Munition auf Demonstranten. Mehrere Zivilper-sonen wurden von Heckenschützen ge-tötet.

Die Konfrontation begann am 13. Mai, nachdem der Sicherheitschef des Lagers Rachaprasong, Sae Deng, durch die Kugel eines Heckenschützen schwer verletzt wurde. Die Regierung wies die Verantwortung für diesen Mordver-such zurück, aber es scheint klar, dass nur ein Scharfschütze eine solche Prä-zision aufweisen kann, um den Journa-listen der International Herald Tribune nicht zu treffen, dem Sae Deng gerade ein Interview gab, als auf ihn geschos-sen wurde. Es gab bereits über fünfzig Tote, und wahrscheinlich wird die wirk-liche Anzahl niemals bekannt werden, weil laut der Asian Human Rights Com-mission die Armee zahlreiche Leichen beseitigt hat.

Die Regierung Abhisit hatte in der vergangenen Woche den Rothemden ein Angebot gemacht. Die nationale und in-ternationale Presse spekulierte über ein mögliches Abkommen, das beide Sei-ten befriedigen würde. Abhisit schlug einen Fünf-Punkte-Plan vor, dessen Hauptpunkt die Abhaltung von Wahlen am 14. November war. Für die Führer der Rothemden war es schwierig, diesen Plan rundheraus abzulehnen. Aber Ab-hisit bot keinerlei Garantien an. Er wei-gerte sich, ein Datum für die Auflösung des Parlaments festzusetzen und den Vorwurf des Terrorismus und der Ver-schwörung gegen die Monarchie fallen-zulassen.

Unter diesen Umständen weiger-ten sich die Rothemden, das Viertel, das sie seit sechs Wochen besetzt hielten, zu verlassen, während sich gleichzeitig äu-ßerten, dass sie den Plan akzeptierten

und über seine Verwirklichung verhan-deln wollten. Wenngleich es schwierig ist, zu diesem Thema Informationen zu erhalten, scheint es, dass in der UDD ernste Differenzen darüber bestanden, welche Position gegenüber Abhisits Vor-schlägen einzunehmen war. Zu Wochen-beginn verlangten die Führer der Ro-themden, Vizepremierminister Suthep Thaugsuban wegen der Zusammenstö-ße vom 10. April, die zu etwa zwanzig Toten geführt hatten, anzuklagen. Die-se Forderung benutzte die Regierung als Rechtfertigung dafür, dass sie ihren Vor-schlag, im November Neuwahlen abzu-halten, zurückzog, sowie als Rechtfer-tigung für die am 13. Mai einsetzende Repression.

Die Situation ist sehr komplex und unbeständig, sodass es schwer fällt, ih-re Entwicklung in den kommenden Ta-gen und Wochen vorauszusagen. Un-mittelbar kann man sich jedes Szenario vorstellen. Die Repression könnte vorü-bergehend die Demonstrationen der Ro-themden stoppen. Die Armee könnte auch auf bedeutenden Widerstand sto-ßen, sogar auf eine Entwicklung der Mobilisierungen in den Provinzen. In diesem Fall ist ein Rücktritt der Regie-rung mit der Aussicht auf Neuwahlen wahrscheinlich. Aber es ist auch mög-lich, dass ein Teil der Armee die Lage zum Vorwand für einen neuen Putsch nehmen kann. Ein offener Kampf zwi-schen verschiedenen Fraktionen der Ar-mee ist in einem solchen Fall nicht aus-geschlossen.

Die aktuelle Sackgasse beim Kon-flikt kommt leider nicht überraschend: War Abhisits Plan zur Beendigung der Krise aufrichtig? Der Vorschlag gibt zu zahlreichen Zweifeln Anlass. Als Thak-sin im April 2006 nach massiven Mo-bilisierungen gegen ihn versuchte sein Mandat zu erneuern, boykottierten Ab-hisit und die Demokratische Partei die Wahlen. Wollte Abhisit wirklich, dass am 14. November Wahlen stattfinden? Von der Presse verbreitete Informati-onen zeigen ihn als einen der Hardliner in der Regierung, der lieber Repression als Verhandlungen wollte. Auch andere Minister wollten keine Wahlen, da sie sich sicher waren, diese zu verlieren.

Auch das Datum für die Wahlen, der 14. November, stellte ein Problem dar. Das Interesse an einer sofortigen Auflö-sung des Parlaments besteht über seinen symbolischen Wert hinaus darin, dass es den Siegern erlauben würde, am 1. Ok-

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Internationales revolutionäres Jugendlager

tober, zur Zeit der jährlichen Reorga-nisation des Armeekommandos, an der Regierung zu sein. Abhisits Vorschlag hätte ihm erlaubt, Zeit zu gewinnen und in diesem strategischen Augenblick noch auf seiner Position zu sein.

Grundlegender ist, dass für die Or-ganisierung von Wahlen Garantien nö-tig sind, damit sie gerecht und demokra-tisch ablaufen und ihr Resultat von al-len respektiert wird. Die Gelbhemden verheimlichten jedoch nicht die Tatsa-che, dass sie die vorgeschlagenen Wahl-en ablehnten. Die Eliten sind zu Zuge-ständnissen nicht bereit. Außerdem ist eine demokratische Entwicklung nicht wahrscheinlich, während die Armee und die Monarchie gemeinsam keine Oppo-sition gegen ihre Allmacht akzeptieren werden. Es lässt sich so annehmen, dass ein erneuter Wahlsieg der Rothemden zu Demonstrationen der Gelbhemden für den Sturz der neugewählten Regie-

rung führen würde. Das demokratische Spiel scheint gegenwärtig vollständig blockiert zu sein.

Zweifellos am wichtigsten ist je-doch, dass das Scheitern dieses Ver-suchs, aus der Krise herauszukommen, die Tatsache enthüllt, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr glaubt, dass Wahlen allein der Krise ein Ende setzen können. Ein gründlicherer politischer Wandel ist nötig.

Das Problem ist, dass eine jahrzehn-telange Repression bedeutet, dass es heute keine in der Arbeiterbewegung wurzelnden politischen Parteien gibt, die fähig sind, Kandidaten an die Macht zu bringen und eine fortschrittliche poli-tische Lösung der Krise anzubieten. Die verschiedenen diktatorischen Regime haben zahlreiche Führer der alten Arbei-terparteien – Sozialdemokraten wie ma-oistisch orientierte Kommunisten –, der Gewerkschaften und der Bauernverbän-

de ermordet. Davon hat sich die Arbei-terbewegung noch immer nicht erholt. Deshalb nimmt die Opposition die un-erwartete Form der Rothemden an: ei-ne politische Bewegung – weder eine Partei noch eine Vereinigung –, die he-terogen und von Widersprüchen geprägt ist, deren Wesen aber in der organischen Verbindung mit dem Volk besteht. Wir sollten den Mut dieser Zehntausende von Arbeitern, Arbeiterinnen und Bau-ern begrüßen, die wochenlang die Ge-schäftsviertel Bangkoks besetzt haben und die jetzt den Attacken der Armee ausgesetzt sind. Sie verdienen unsere Unterstützung.

16. Mai 2010Danielle Sabaï ist Südostasienkorrespondentin für International Viewpoint.

Übersetzung: HGM

Vom 24. bis 30. Juli wird in Italien, genauer gesagt in der Nähe von Pe-rugia (Umbrien), das 27. internationa-le Jugend-Sommercamp stattfinden, das von der Vierten Internationale organisiert wird.

Es nehmen vorwiegend Aktive aus Europa teil, es kommen aber auch einige aus anderen Ländern; in den vergangenen Jahren waren Jugend-liche oder junge Erwachsene unter anderem aus Algerien, Mali, Mexiko, Palästina, den Philippinen, den USA, Venezuela dabei.

Es sind Mitglieder und Sympathi-santInnen von Organisationen der Vierten oder von Organisationen, die – wie die französische Neue Antikapitalistische Partei (NPA) oder

Sinistra Critica in Italien oder der Blo-co de Esquerda in Portugal oder die Scottish Socialist Party (SSP) – ihr nicht angehören, aber solidarisch mit ihr zusammenarbeiten und in denen Mitglieder der Vierten mitarbeiten. Es kommen ungefähr gleich viele Mitglieder und Nichtmitglieder, die sich für die Aktivitäten und Debatten interessieren oder einfach neugierig sind.

Jeden Tag gibt es Diskussionen, Schulungskurse, Arbeitsgruppen, Feste und viele Gelegenheiten zum Kennenlernen und zu informellen Gesprächen mit jungen Antikapitali-stInnen aus zahlreichen Ländern in zahlreichen Sprachen.

Auf diesem Camp wird versucht,

die kritischen und revolutionären Ideen in die Praxis umzusetzen: Kampf gegen die sexistischen, rassistischen und schwulenfeind-lichen Vorurteile – und Umverteilung des Reichtums (Camp-interne Bons tragen dazu bei, die ungleichen Ver-hältnisse in den Herkunftsländern zu bekämpfen).

Weitere Informationen (u. a. ein vorläufiges Programm) sind auf fol-genden Webseiten zu finden: http://sommercamp.mobi/ http://www.internationalcamp.org/

Oder indem man oder frau schreibt an: [email protected]

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Mit dem Tod von Hugo González Moscoso, dem historischen Leitungs-mitglied der POR (Partido Obrero Revo-lucionario – Revolutionäre Arbeiterpar-tei) der bolivianischen Sektion der IV. Internationale, hat die revolutionäre Lin-ke in Lateinamerika eine ihrer fesseln-dsten Personen verloren. Wenige andere Menschen auf dem Kontinent haben mit so großer Konsequenz wie er den Kampf für den Sozialismus und den unnachgie-bigen Kampf gegen Oligarchie, Imperi-alismus und Kapital verkörpert. Er war frei von Sektierertum und Dogmatis-mus, stets bereit zur Einheit mit anderen Kämpfern und Kämpferinnen, mit ande-ren antiimperialistischen Kräften und ist doch nie von dem revolutionären Pro-gramm abgerückt, hat sich nie darauf ein-gelassen, dass den herrschenden Klassen auch nur das geringste Zugeständnis ge-macht wird. Weder Niederlagen noch die Haftanstalten noch die Rückschläge der Bewegung haben seine hartnäckige Ver-bundenheit mit der Sache der Unterdrü-ckten antasten können. Wie der Argenti-nier Guillermo Almeyra (Redakteur der mexikanischen Zeitung La Jornada), der ihn seit den 1950er Jahren kannte, ge-schrieben hat: „Hugo González Mosco-so war sein ganzes Leben lang ein un-erschütterlicher, konsequenter, ehrlicher politischer Aktivist, der von der Jugend an stets seine antikapitalistischen, anti-bürokratischen, freiheitlichen Ideen in Taten umzusetzen suchte“.1

Ich bin Hugo González 1969 auf dem 9. Weltkongress der IV. Internati-onale zum ersten Mal begegnet. Er war sehr groß, trug dicke Brillengläser, war wortkarg und konnte sehr herzlich sein.

1 Guillermo Almeyra, „La muerte de Hugo Gon-zález Moscoso, histórico líder revoluciona-rio boliviano“ (15.01.2010), in: La Jornada, 16. Januar 2010. http://www.lajornadaquin-cenal.com.ar/2010/01/16/hugo-gonzalez-mo-scoso-historico-lider-revolucionario-bolivia-no/; http://bolivia.indymedia.org/node/47043 (Anm. d. Übers.).

Ich hatte einige Jahre danach Gelegen-heit, ihn während der kurzen Exilzeit, die er in Europa verbrachte, wieder zu sehen und ihn ein wenig über sein po-litisches Leben erzählen zu lassen: eine beeindruckende Abfolge von Kämpfen, von Illegalität, von Gefängnissen, von Folter und Exil – immer war er bereit, neu anzufangen, den von den Diktaturen und permanenten Staatsstreichen unter-brochenen Faden wieder aufzunehmen.

Als er der POR beitrat, war er noch Oberschüler. Nach seinem Jurastudi-um arbeitete er in La Paz als Arbeits-rechtler und wurde er bald zu einem der wichtigsten Leitungsmitglieder der Par-tei zusammen mit Guillermo Lora2, dem Verfasser der berühmten „Thesen von Pulacayo“3, die von der bolivianischen

2 Guillermo Lora ist wahrscheinlich 1922 gebo-ren und am 17. Mai 2009 in La Paz im Alter von etwa 87 Jahren gestorben (weil er keine Geburts-urkunde erhielt, ist sein Alter nicht ganz klar). Über ihn siehe http://en.wikipedia.org/wiki/Guillermo_Lora (kurz, unvollständig, etwas fehlerhaft, aber weit besser als die spanisch-sprachige Version: http://es.wikipedia.org/wiki/Guillermo_Lora); Wladek Flakin, „Nach-ruf: Guillermo Lora“ http://www.trend.info-partisan.net/trd0609/t410609.html; Gusta-vo Saavedra, „Incineran el cuerpo de Guil-lermo Lora, líder de trotskismo en Boli-via“, http://grupoapoyo.org/basn/node/5585. Siehe auch: Robert J. Alexander, „Trotskyism in Bolivia“, in: ders., International Trotskyism, 1929-1985. A Documented Analysis, Durham u. London: Duke University Press, 1991, (Hoover Institution Publications, Bd. 119), S. 117–131. Livio Maitan hat Guillermo Lora als „eine zum Verzweifeln egozentrische Persönlichkeit von einer seltenen intellektuellen Überheblichkeit“ charakterisiert (Per una storia della IV inter-nazionale. La testimonianza di un comunista controcorrente, Roma: Edizioni Alegre, 2006, S. 271). (Anm. d. Übers.)

3 Die „Tesis de Pulacayo“ ist im November 1946 von einem außerordentlichen Kongress der Federación Sindical de Trabajadores Mi-neros de Bolivia (FSTMB – Gewerkschafts-verband der Bergarbeiter Boliviens) beschlos-sen worden, der in dem Bergwerk in Pulaca-yo stattfand. Dieses Dokument ist von Guiller-mo Lora (Delegierter der bekannten Mine Si-glo XX), seiner eigenen Aussage nach alleine, anderen zufolge zusammen mit Fernando Bra-vo, einem anderen jungen POR-Aktivisten, ge-

Bergarbeitergewerkschaft 1946 angenom-men wurden und in denen die Perspek-tive der permanenten Revolution enthal-ten ist. Seine erste Feuertaufe fand 1949 statt: ein Generalstreik, der von der POR unterstützt und von dem oligarchischen Regime – „la Rosca“, wie man die Alli-anz aus den Besitzern der Zinnminen und den Latifundisten in Bolivien genannt hat – im Blut erstickt worden ist. Die wich-tigsten Streikführer, darunter Hugo Gon-zález Moscoso (im Folgenden: HGM), wurden verhaftet, gefoltert, in einem La-ger interniert, schließlich aufgrund eines kollektiven Hungerstreiks nach Chile ab-geschoben. Nachdem er im August 1951 am 3. Weltkongress der Vierten Internati-onale4 teilgenommen hatte, reiste er ille-gal wieder nach Bolivien ein, um an der Reorganisation der POR mitzuarbeiten.

Im April 1952 brach die bolivianische Revolution aus, die mit der jahrhunderte-

schrieben worden (vgl. Guillermo Lora, A Hi-story of the Bolivian Labour Movement 1848-1971, hrsg. von Laurence Whitehead, aus dem Spanischen übersetzt von Christine White-head, Cambridge, London, New York, Mel-bourne: Cambridge University Press, 1977, (Cambridge Latin American Studies, Bd. 27), S. 245–251). Vollständig abgedruckt in: Guil-lermo Lora [Hrsg.], Documentos políticos de Bolivia, La Paz u. Cochabamba: Editorial „Los Amigos del Libro“, 1970, (Enciclopedia boli-viana, hrsg. von Héctor Cossio Salinas u. Wer-ner Guttentag T., Bd. 21), S. 361–390; auf Deutsch: „Die These von Pulacayo (Hauptthe-se der Bergarbeiterföderation von Bolivien)“, in: G. Lora, Bolivien 1971, a.a.O., S. 225–253. Pulacayo ist auf der Andenhöhe gelegener „cantón“ im Departamento Potosí im Süden des Landes (Anm. d. Übers.).

4 Von dem Weltkongress wurde am 25. August nach der Arbeit einer Lateinamerika-Kommis-sion, über deren Ergebnisse Michel Pablo be-richtete, eine Resolution über Charakter und Resolution der lateinamerikanischen Länder angenommen; siehe Rodolphe Prager (Hrsg.), Menace de la troisième guerre mondiale et tournant politique (1950-1952), Montreuil: Editions La Brèche-PEC, 1989, (Les congrès de la IVe Internationale. Manifestes, thèses, ré-solutions, Bd. 4), S. 127, 279–294, Aussagen zu Problemen und Aufgaben der bolivianischen Sektion in der Resolution: S. 290/291(Anm. d. Übers.).

Hugo González Moscoso (1922–2010)Ein Veteran der revolutionären Arbeiterbewegung in Bolivien ist gestorben

Michael Löwy

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alten Macht der „Rosca“ Schluss machte. Hugo González stand in den ersten Rei-hen der Erhebung und nahm mit seinen Genossen an der Einnahme des Arsenals der Armee und an Straßenkämpfen teil. Kurz darauf wurde er in die Leitung des Gewerkschaftsverbands COB (Central Obrera Boliviana) gewählt, für den er ein Programm5 verfasste, in dem zur Bil-dung einer Arbeiter- und Bauernregie-rung und einer sozialistischen Revoluti-on aufgerufen wurde – eines der bedeu-tendsten Dokumente in der Geschichte der Arbeiterbewegung Lateinamerikas! Bedauerlicherweise konnte die Revoluti-on von Paz Estenssoros Movimiento Na-cional Revolucionario (MNR, Nationale Revolutionäre Bewegung) mit Beschlag belegt werden, die sich jedoch unter dem Druck der Bauern und der Bergarbeiter – die mit Dynamitstangen bewaffnet wa-ren – gezwungen sah, mit einer Agrarre-form zu beginnen und die Bergwerke zu verstaatlichen.

In den folgenden Jahren, in der Zeit 1953 bis 1956, machte die POR eine schwere Krise durch, die ihre Spaltung und eine empfindliche Schwächung zur Folge hatte. Im Juni 1953 nahm der X. Kongress der POR die von Guiller-mo Lora vorgelegten Thesen an, in de-nen die folgende Orientierung vertreten wird: „Wir sind weit davon entfernt, die Losung des Sturzes des Regimes von Paz Estenssoro auszugeben, wir unterstützen ihn, damit er Widerstand gegen die Of-fensive der Rosca leistet, und wir rufen das internationale Proletariat auf, die bo-livianische Revolution und ihre Über-gangsregierung bedingungslos zu vertei-digen. […] Der Ruf ,Nieder mit der Re-gierung‘ ist keine unmittelbare Aufgabe, es ist vielmehr von ihr zu verlangen, dass sie die grundlegenden Forderungen der Revolution erfüllt.“ In dem Dokument wird auch eine Vorherrschaft des lin-ken Flügels in der MNR für möglich ge-halten: „Nur unter diesen Bedingungen kann man die Möglichkeit einer Koali-tionsregierung von POR und MNR ins Auge fassen, die auf eine gewisse Weise

5 Zu dem Entwurf für ein Grundsatzprogramm von Ende 1952, der unter der Überschrift „Die ideologische Position der bolivianischen Ar-beiterklasse“ in Rebelión, dem Organ der COB, veröffentlicht wurde, siehe: Robert J. Alexan-der, Trotskyism in Latin America, Stanford, Ca-lifornia: Hoover Institution Press, 1973, (Hoo-ver Institution Publications, Bd. 119), S. 134; Guillermo Lora, A History of the Bolivian La-bour Movement 1848-1971, a.a.O., S. 282/283 (Anm. d. Übers.).

die Verwirklichung der Formel ,Arbei-ter- und Bauernregierung‘ wäre, welche wiederum eine Etappe des Übergangs zur Diktatur des Proletariats wäre.“6 In Folge dieser Thesen bildeten sich in der POR zwei Fraktionen: Die „Fracción Ob-rera Leninista“ (Leninistische Arbeiter-fraktion), die von Lora und dem Gewerk-schafter Edwin Moller geführt wurde und für diese Linie eintrat, und die „Fracci-ón Proletaria Internacionalista“ (Inter-nationalistische Proletarische Fraktion) von Hugo González und Fernando Bra-vo, die diesen Kurs ablehnte und für ei-nen Bruch mit dem MNR und sich für die Bildung einer Doppelmacht, ausge-hend von der COB, einsetzte. 1954 ent-schloss sich ein Teil der FOL (ohne Lo-ra) mit Edwin Moller an der Spitze, mit der POR zu brechen und der MNR beizu-treten. Die Tendenz von Hugo González wurde zur Mehrheit und erhielt die Unter-stützung des Internationalen Sekretariats der IV. Internationale, doch Lora akzep-tierte seine Niederlage nicht, nach einem gewissen Zögern provozierte er eine Spal-tung und bildete um die Zeitung Masas herum seine eigene POR.7 Da sie von die-sen Austritten und den Fraktionskämpfen geschwächt war, erhielt die POR 1956 bei den Wahlen nur 2239 Stimmen. Zu die-sen internen Problemen kam die Repres-sion der Regierung, kamen Verhaftungen

6 Zitiert nach: Guillermo Lora, Bolivie: de la naissance du POR à l’Assemblée Popu-laire, [hrsg. von François u. Catherine Ches-nais], Paris: EDI, 1972, S. 35–43 [in der deutschen Teilausgabe dieses Sammelbands nicht enthalten: Lora, Guillermo: Bolivien 1971. Der erste Sowjet Lateinamerikas, [aus dem Spanischen oder Französischen über-setzt], Berlin: Verlag Neuer Kurs, 1973]. Vgl. zu dieser Krise das Buch des englischen lin-ken Historikers James Dunkerley, Rebelli-on in the Veins. Political Struggle in Bolivia 1952-l982, London: Verso, 1984 [S. 77–79]. [Ausführlicher: R. J. Alexander, „Trotskyism in Bolivia“, a.a.O.]

7 Die POR-Masas arbeitete in den 1960er Jah-ren mit der französischen „lambertistischen“ PCI (ab Anfang 1967: OCI) zusammen und gehörte von deren Gründung 1972 (nach dem Bruch zwischen „Healyisten“ und „Lamber-tisten“) bis Ende 1979 zu dem („lambertisti-schen“) „Comité pour la reconstruction de la Quatrième Internationale“ (CORQI, eng-lisch: Organizing Committee for the Recon-struction of the Fourth International, OCRFI, siehe http://en.wikipedia.org/wiki/Internatio-nal_Committee_of_the_Fourth_International). Zur POR bzw. POR-Masas siehe auch http://en.wikipedia.org/wiki/Revolutionary_Wor-kers‘_Party_(Bolivia) – mit einer ganz ande-ren (und unglaubwürdigen) Darstellung der Fraktionsbildung 1954 und definitiven Spal-tung 1956, als sie bei James Dunkerley zu fin-den ist. (Anm. d. Übers.)

und Verfolgungen hinzu; so wurde HGM zusammen mit anderen Mitgliedern der Leitung in das Gefängnis San Pedro in La Paz geworfen.

Trotz allem gelang es der POR (Com-bate) – so lautete ihre Bezeichnung nun – fortzubestehen, und sie versuchte, Wider-stand gegen die Militärdiktatur von Ge-neral René Barrientos, die 1964 errich-tet wurde, zu organisieren. Im Mai 1967 nach ersten spektakulären Aktionen der von Che Guevara geleitete Guerilla ver-fasste Hugo González einen Aufruf zur Unterstützung dieser Bewegung, der Text wurde von der POR (Combate) be-schlossen: „Die Sache der Guerilleros ist die Sache aller Bolivianer. Die Guerillas sind der bewaffnete Arm des Volkes, das sich denen entgegen stellen muss, die das Volk zum Hungern zwingen, den Mör-dern (…), denen, die das Vaterland ver-kaufen und der imperialistischen Hab-gier ausliefern.“ Zugleich wurde zur Aus-dehnung des Kampf auf einen Massen-front aufgerufen: „Es ist notwendig, die Unterstützung des Volks zu organisieren und koordinieren. Die beste Hilfe besteht in der Entwicklung des Kampfs der Mas-sen in den Städten, der Bergleute, der Ar-beiter, der Bauern, der Universitätsange-hörigen für ihre jeweiligen Forderungen. (…) Alle Revolutionäre müssen sich ver-einigen und eine starke Front der Linken bilden.“8

8 Ich habe dieses Dokument in die von mir her-ausgegebene Anthologie zum Marxismus in Lateinamerika aufgenommen (Le marxisme en Amérique Latine de 1909 à nos jours, Pa-ris: François Maspero, 1980, S. 394–402). [Dem Text hat Michael Löwy den folgenden Vorspann vorangestellt: „Als die von Che Gue-vara ausgelöste Guerilla in Bolivien zu agieren begann, hat die P.O.R. (Revolutionäre Arbeiter-partei) im Mai 1967 eine Solidaritätserklärung mit den Guerilleros veröffentlicht, die von ih-rem wichtigsten Leitungsmitglied Hugo Gon-zalez Moscoso verfasst worden war. Die P.O.R. war übrigens die einzige Organisation, die die Kämpfenden in Ñancahuazú offen unterstützt hat. Diese Unterstützung wurde jedoch nicht einfach in einem Anschließen an die Guerilla verstanden; das Dokument der bolivianischen trotzkistischen Partei betont, wie wichtig die Entwicklung des städtischen Massenkampfs, die Mobilisierung der Bergarbeitergewerkschaf-ten, die Organisierung von Arbeitermilizen sind. Kurz nach der Veröffentlichung dieses Do-kuments wurden Gonzalez Moscoso und die übrigen Leitungsmitglieder der P.O.R. verhaftet, und die Aktivitäten der Par-tei wurden dadurch zeitweise lahm gelegt.“ Auf Spanisch: „El POR boliviano y la guerril-la del Che“, in: Michael Löwy, [Hrsg.], El mar-xismo in América Latina. Antología, desde 1909 hasta nuestros días, 2. spanischsprachige Ausg., Santiago de Chile: LOM Ediciones, 2007, (Coll-eción Ciencias Humanas), S. 462–468.]

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Nach dem Tod von Che im Oktober 1967 bildete sich eine Allianz aus POR und ELN9, die von Inti Peredo, einem der Überlebenden der Guerilla von 1966/67, geleitet wurde. HGM reiste Anfang 1968 nach Kuba, um diese Übereinkunft zu be-siegeln und die militärische Ausbildung eines Kontingents von POR-Mitgliedern zu organisieren; es gelang der Militärdik-tatur im Laufe der Jahre 1968 bis 1970 je-doch, diesen neuen Ansatz zu besiegen. 1970/71 bildete sich unter der Regierung von Juan José Torres, einem progressiven Militär, die „Asamblea Popular“ (Volks-versammlung), an der Hugo González ak-tiv mitarbeitete; es entstand eine Situation der Doppelmacht, der mit dem blutigen Militärputsch von General Hugo Banzer im August 1971 ein Ende gesetzt wurde.

HGM und seine bolivianischen Ge-nossen gingen nach Chile ins Exil und er-hielten dort von der Regierung unter Prä-sident Salvador Allende politisches Asyl; sie beteiligten sich an der Bildung einer Revolutionären Antiimperialistischen Front, deren Ziel es war, in das Land zu-rückzugehen und die Militärdiktatur zu verjagen. Der Militärputsch von Pino-chet und seinen Komplizen verhinder-te, dass aus diesem Vorhaben etwas wur-de. HGM war gezwungen, erneut ins Exil zu gehen, dieses Mal nach Belgien, wo er einige Jahre lang, von 1973 bis 1976, an der Tagesarbeit der Leitung der IV. In-ternationale teilnahm. Voller Ungeduld, nach Lateinamerika zurückzukehren, rei-ste er 1976 nach Peru, um 1978 von dort – einmal mehr! – illegal nach Bolivien einzureisen und zur Reorganisation der POR beizutragen. Die neue Diktatur der

9 Das bolivianische Heer für Nationale Befreiung (Ejército de Liberación Nacional, ELN) ent-stand Ende 1966 und bestand aus bolivianischen und kubanischen Kämpfern unter Führung von Ernesto Che Guevara; die Bezeichnung wurde zum ersten Mal Ende März 1967 verwendet. Aus der mittlerweile sehr umfangreichen inter-nationalen Literatur über den „foco“ und die Entwicklung der ELN in Bolivien sei hier ge-nannt: Robert F. Lambert, Die Guerilla in La-teinamerika. Theorie und Praxis eines revolutio-nären Modells, 2. Ausg., München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1972, (dtv, Bd. 4116), S. 164–185; Gaby Weber (Hrsg.), Die Gue-rilla zieht Bilanz. Lateinamerikanische Gue-rilla-Führer sprechen über Fehler, Strategien und Konzeptionen – Gespräche, aufgezeichnet in Argentinien, Bolivien, Chile und Uruguay, Gießen: Focus Verlag, 1989, S. 263–322 (Ein-leitung der Herausgeberin und fünf Gespräche mit – zum Teil ehemaligen – ELN-Mitgliedern). Vgl. auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Ejérci-to_de_Liberación_Nacional_(Bolivien); http://es.wikipedia.org/wiki/Guerrilla_de_Ñanca-huazú (Anm. d. Übers.)

Drogenmafia um General García Meza10 steckte ihn in Cochabamba ins Gefängnis und ließ ihn mit Handschellen und einer Kapuze über dem Kopf nach La Paz brin-gen, dort wurde er gefoltert. Sein Gesund-heitszustand war ganz schlecht, und we-gen einer internationalen Kampagne sah sich das Regime gezwungen, ihn auszu-weisen. Er erhielt in Schweden Asyl.

Sobald es in Bolivien wieder ein Min-destmaß an Demokratie gab, kehrte Hu-go González in sein Land zurück. Seit den 1990er Jahren lebte er in Cochabam-ba, half der Bauernbewegung in der Re-gion und unterstützte die Initiativen eines jungen örtlichen Bauernführers, Evo Mo-rales. Nach dessen Wahlsieg vom De-zember 2005 sprach er sich für eine kri-tische Unterstützung aus und zugleich für eine Vertiefung des Prozesses der Verän-derungen in Bolivien. In einem Gespräch mit Ernesto J. Hidalgo erklärte er im April 2009: „Ich definiere die Regierung von Evo Morales als Ausdruck der indí-genas11 und der sozialen Bewegungen; es

10 Nachdem die Banzer-Diktatur im Juli 1978 ge-stürzt worden war, putschte im Juli 1980 eine Junta unter Führung von Luis García Meza, der sich damals in einem Interview mit einer chi-lenischen Zeitschrift positiv auf General Pi-nochet bezog (vgl. J. Dunkerley, Rebellion in the Veins, Kapitel „In Search of Democracy, 1978-80“ und „The Delinquent Dictatorship“, S. 249–344).

11 indígenas – in Lateinamerika Sammelbezeich-

ist eine nationalistische, demokratische, anti-neoliberale und anti-imperialistische Regierung.“12 HGM hat dazu aufgerufen, bei dem Referendum vom Januar 2009 über die neue Verfassung mit Ja zu stim-men, und betont, wie sehr die Einheit der Ausgebeuteten in der Stadt und auf dem Land notwendig ist, um Maßnahmen des Übergangs zur Revolution, zum Sozialis-mus durchzusetzen.

Trotz seines Alters und seines sich verschlechternden Gesundheitszustands hat HGM nie aufgehört zu kämpfen, zu denken, zu schreiben – stets vom Stand-punkt der Selbstemanzipation der arbei-tenden Menschen aus. Noch in den letz-ten Ausgaben von Combate, der Zeitung der POR, sind Artikel von ihm enthalten. Nur der Tod konnte ihn veranlassen, seine scharfe und kraftvolle Feder aus der Hand zu geben.

¡Compañero Hugo González Mosco-so, hasta la victoria, siempre!

Aus dem Französischen übersetzt und bearbeitet von Friedrich Dorn.

nung für alle Nachkommen der vorkolumbi-schen Bevölkerung (Anm. d. Übers.).

12 „Murió el revolucionario Hugo González Mo-scoso“ (Interview von Ernesto Joaniquina Hi-dalgo mit Hugo González Moscoso), http://bolivia.indymedia.org/node/47038 (Anm. d. Übers.).

Hugo González Moscoso

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Erklärung zur Krise in Europa1. Die Weltwirtschaftskrise ist nicht vorüber. Riesige Sum-

men wurden in das Finanzsystem ge pumpt – 14.000 Mrd. Dollar für die Rettungsmaßnahmen in den USA, Großbri-tannien und der Euro zone, 1.400 Mrd. Dollar neue An-leihen in China im vergangenen Jahr – um die Weltwirt-schaft wieder zu stabilisieren. Dennoch ist fraglich, ob di-ese Anstrengungen ausreichen werden, die Wirtschaft wie-der auf festen Boden zu stellen. Das Wachstum in den In-dustrienationen ist noch immer sehr schwach, und die Ar-beitslosigkeit nimmt sogar zu. Schon herrscht wieder die Furcht, dass sich eine neue Fi nanzblase entwickelt – dies-mal von China aus. Die anhaltende Dauer der Krise – der schwersten seit der Weltwirtschaftskrise – ist symptoma-tisch dafür, dass sie in der Natur des Kapitalismus an sich be gründet liegt.

2. Nachdem bereits Arbeitsplätze in großem Umfang ab-gebaut worden sind, konzentriert sich die Krise in Euro-pa jetzt auf den öffentlichen Dienst und die sozialen Si-cherungssysteme. Eben die Fi nanzsektoren, die nur mit-hilfe der Rettungspläne überlebt haben, stehen jetzt Ge-wehr bei Fuß gegen eine weitere öffentliche Verschuldung, die ja durch diese Pläne erst verschärft worden ist. Sie for-dern stattdessen massive Senkungen der öffentlichen Aus-gaben. Sie betreiben damit Klassenkampf von oben, indem sie versuchen, die Kosten der Krise nicht von deren Ver-ursachern bezahlen zu lassen – nämlich vorzugsweise den Banken – sondern sie den Lohnabhängigen aufzubürden – nicht nur den im öffentlichen Dienst beschäftigten, son-dern all denen, die diese öffentlichen Dienste in Anspruch neh men. Das Beharren auf Sparpolitik und „Reform“ des öffentlichen Diensts belegen eindeutig, dass der Neolibe-ralismus, der durch die Krise abgewirtschaftet zu haben schien, nach wie vor die Politik domi niert.

3. Griechenland steht gegenwärtig im Zentrum des Gesche-hens. Wie in einigen anderen europäi schen Ländern ist dort die Wirtschaft besonders anfällig, was teils auf die wäh-rend der Expansions phase angehäuften Schulden zurück geht, teils daran liegt, dass sie nur schwer gegen Deutsch-land, den Riesen der Eurozone, konkurrieren können. Un-ter dem Druck der Finanzmärkte, der EU-Kommission und der deutschen Regierung ist die Regierung von Georgios Papandreou von ihren Wahlversprechen abgerückt und hat Haushaltskürzungen bis zu 4 % des BIP angekündigt.

4. Glücklicherweise kann in Griechenland der soziale Wider-stand auf eine reiche Tradition seit den 70er Jahren zurück-blicken. Im Gefolge der Jugendrevolte im Dezember 2008 hat die griechische Arbeiterbewegung auf die Sparmaß-nahmen der Regierung mit einer Welle von Streiks und Demonst rationen reagiert. In diesem Zusammenhang be-grüßen wir auch das beispielhafte Referendum in Is land, in dem die Bevölkerung es abgelehnt hat, die von den Banken verursachten Schulden zurückzu zahlen.

5. Die griechischen Lohnabhängigen brauchen die Solidarität der revolutionären, gewerkschaftli chen und antikapitali-stischen Kräfte aller Länder. Griechenland ist lediglich das erste Land, das von den Finanzmärkten aufs Korn genom-men wurde. In deren Visier stehen noch viele andere und Portu gal und Spanien an vorderer Stelle.

6. Wir brauchen ein Programm von Maßnahmen, die die Überwindung der Wirtschaftskrise er mög lichen und die

darauf gründen, dass die sozialen Bedürfnisse Vorrang vor den Profiten haben und eine demokratische Kontrolle über den Markt durchgesetzt werden muss. Wir müssen für eine antika pitalistische Antwort auf die Krise kämpfen: unser Leben, unsere Gesundheit und unsere Arbeits plätze sind mehr wert als deren Profite.a) Alle Kürzungen der öffentlichen Haushalte müssen ge-

stoppt und rückgängig gemacht werden: Weg mit der Renten„reform“; Gesundheit und Bildung sind nicht verkäuflich;

b) garantiertes Recht auf einen Arbeitsplatz und ein öf-fentliches Investitionsprogramm in umwelt fördernde Arbeitsplätze: öffentliches Verkehrswesen, erneuerbare Energien und Sanierung der pri vaten und öffentlichen Gebäude zur Energieeinsparung;

c) Schaffung eines einheitlichen und öffentlichen Ban-ken- und Finanzwesens unter Kon trolle der Bevölke-rung;

d) ImmigrantInnen und Flüchtlinge dürfen nicht Sünden-bock der Krise sein: Legalisie rung für Alle;

e) Nein zum Militärhaushalt: Rückzug der westlichen Truppen aus Afghanistan und dem Irak, drastische Sen-kung der Militärausgaben und Auflösung der NATO.

7. Wir sind entschlossen, in ganz Europa Solidaritätsakti-onen gegen die Kürzungen der Sozial haus halte und die ka-pitalistischen Angriffe zu organisieren. Ein Sieg der grie-chischen Lohnab hängi gen wird den sozialen Widerstand in allen Ländern stärken.

Griechenland: Aristeri Anasynthesi, Aristeri Antikapitalistiki Syspirosi,

Organosi Kommuniston Diethniston Elladas–Spartakos, Sosialistiko Er-

gatiko Komma, Synaspismos Rizospastikis Aristeras;

Portugal: Bloco de Esquerda;

Belgien: Ligue Communiste Révolutionnaire / Socialistische Arbeiders-

partij;

Britannien: Socialist Resistance, Socialist Workers Party;

Deutschland: internationale sozialistische linke, marx21, Revolutionär

Sozialistischer Bund;

Dänemark: Socialistisk Arbejderparti;

Euskadi: Ezker Gogoa;

Frankreich: Nouveau Parti Anticapitaliste;

Irland: People Before Profit Alliance, Socialist Workers Party;

Italien: Sinistra Critica;

Kroatien: Radnička borba;

Niederlande: Internationale Socialisten, Grenzeloos;

Österreich: Linkswende;

Polen: Polska Partia Pracy, Pracownicza Demokracja;

Russland: Wperjod;

Schottland: Scottish Socialist Party;

Schweden: Internationella Socialister, Socialistiska Partiet;

Schweiz: Gauche anticapitaliste, Mouvement pour le socialisme/Bewe-

gung für Sozialismus, solidaritéS;

Serbien: marks21;

Spanischer Staat: En lucha/En lluita, Izquierda Anticapitalista, Partido

Obrero Revolucionario;

Tschechische Republik: Socialistická Solidarita;

Türkei: Devrimci Sosyalist İşçi Partisi, Özgürlük ve Dayanışma Partisi;

Zypern: Ergatiki Dimokratia, Yeni Kıbrıs Partisi.

Übersetztung: MiWe