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Die Nacht der Schläfer

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Nr. 349

Die Nacht der Schläfer

Chaos in der Senke der Verlorenen Seelen

von Horst Hoffmann

Pthor, das Stück von Atlantis, dessen zum Angriff bereitstehende Horden Terra überfallen sollten, hat sich dank Atlans Eingreifen wieder in die unbekannten Dimen­sionen zurückgezogen, aus denen der Kontinent des Schreckens urplötzlich materia­lisiert war.

Atlan und Razamon, die die Bedrohung von Terra nahmen, gelang es allerdings nicht, Pthor vor dem Start zu verlassen. Der ungebetene Besucher ging wieder auf eine Reise, von der niemand ahnt, wo sie eines Tages enden soll. Doch nicht für lan­ge! Denn der überraschende Zusammenstoß im Nichts führte dazu, daß der »Dimensionsfahrstuhl« Pthor sich nicht länger im Hyperraum halten konnte, sondern zur Rückkehr in das normale Raum-Zeit-Kontinuum gezwungen wurde.

Und so geschieht es, daß Pthor auf dem Planeten der Brangeln niedergeht, nach­dem der Kontinent eine Bahn der Vernichtung über die »Ebene der Krieger« gezo­gen hat.

Natürlich ist dieses Ereignis nicht unbemerkt geblieben. Sperco, der Tyrann der Galaxis Wolcion, schickt seine Diener aus, die die Fremden ausschalten sollen. Dar­auf widmet sich Atlan sofort dem Gegner. Um ihn näher kennenzulernen und seine Möglichkeiten auszuloten, hat sich der Arkonide zu den Spercoiden begeben.

Auf Pthor ist man indessen auch nicht untätig. Das gilt besonders für Razamon und Kolphyr. In ihrem Bemühen, das Rätsel der Senke der verlorenen Seelen zu lö­sen, kommt es zu der NACHT DER SCHLÄFER …

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Die Hautpersonen des Romans:Razamon und Kolphyr - Der Pthorer und der Bera in der Senke der verlorenen Seelen.Sirkat - Hüter der Glaspaläste.Herrohn - Sirkats Gegenspieler.Tersten - Sirkats Vertrauter.Cyr - Ein Daale erwacht.

1.

Der Torc hielt mit quietschenden Brem­sen wenige Meter vor dem Glaspalast. Sirkat sprang heraus. Zwei seiner Leute folgten ihm, während der Fahrer als Wache zurück­blieb.

Sirkat sah weitere Torcs, die rings um den Palast abgestellt waren. Etwa zwei Dutzend Technos riegelten das Gebäude nach allen Seiten hin ab. Als die Posten am Eingang Sirkat erkannten, machten sie den Weg frei.

»Wo ist Tersten?« fragte der Techno-Füh­rer einen der Männer.

»Ich führe dich zu ihm, Herr.« Sirkat gab seinen Begleitern ein Zeichen.

Zusammen drangen sie in den riesigen Glas­palast ein. Sirkat registrierte befriedigt, daß sich im Kontrollraum nur loyale Technos befanden. Tersten wußte, was auf dem Spiel stand. Wenn Herrohn und seine verblende­ten Anhänger von der Katastrophe erfuhren, würden sie alles versuchen, diesen Trumpf gegen Sirkat auszuspielen.

»Tersten!« rief Sirkat, als er seinen Ver­trauten erreichte. Er nahm den Mann beisei­te. »Wißt ihr schon etwas? Kann es sich um Sabotage handeln?«

»Kaum, Sirkat«, sagte Tersten. »In einer der Konservierungsnischen ist

ein Riß entstanden, der vom Verpflegungs­personal viel zu spät entdeckt wurde. Heute morgen platzte ein Teil der transparenten Wand zum Gang auf. Das Wiederer­weckungssystem wurde automatisch akti­viert, aber keiner unserer Leute war sofort zur Stelle, um den Vorgang zu kontrollie­ren.«

»Können wir uns auf sie verlassen?« Tersten nickte.

»Völlig, Sirkat. Ich kenne Sirrow, Hogryn und Menten, seitdem ich diesen Abschnitt der Senke kontrolliere.«

»Lebt das konservierte Wesen noch?« wollte Sirkat wissen.

»Es lebt, aber …« »Wieso sprichst du nicht aus, Tersten?« Die Stirn des Technos legte sich in Falten.

Terstens pechschwarze Augen blickten Sir­kat finster an.

»Es handelt sich um einen der vier kon­servierten Daalen.«

Sirkat zuckte heftig zusammen. »Was sagst du da?« flüsterte er er­

schreckt. »Du hast recht gehört«, sagte Tersten. Er

sah sich um und winkte einen der drei Wachhabenden herbei. Kurz darauf hatte er eine Folie in der Hand und reichte sie Sirkat.

»Ich weiß in etwa über diese Wesen Be­scheid«, murmelte der Techno-Führer. »Etwas Schlimmeres hätte uns kaum passie­ren können. Ausgerechnet ein Daale …«

»Klassifizierung in der Gruppe 5«, sagte Tersten. »Sie müssen für die Herren der FE­STUNG von ungeheurer Wichtigkeit gewe­sen sein. Außerdem fallen die Daalen unter die Gruppe der gefährlichsten Schläfer. Ein Ausbruch dieser Wesen wäre eine Katastro­phe.«

Sirkat sah auf. »Was willst du damit sagen?« »Du weißt, daß ich deine Ansichten tei­

le«, sagte Tersten schnell. »Trotzdem müs­sen wir uns der Gefahr bewußt sein, die wir mit einem Rettungsversuch heraufbeschwö­ren.«

»Wir haben dafür zu sorgen, daß alle kon­servierten Intelligenzen ihrer Bestimmung zugeführt werden«, knurrte Sirkat. »Der Daale muß am Leben bleiben.«

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Sirkat war sich der Problematik seiner Entscheidung bewußt.

Herrohn und seine Anhänger warteten nur darauf, daß Sirkat einen Fehler machte. Wenn der Daale gerettet werden konnte und der Kontrolle durch die Technos entglitt, würde Herrohn leichtes Spiel haben, die Be­wohner der Senke gegen Sirkat aufzuwie­geln.

Herrohn war der Wortführer jener, die seit dem Sturz der Herren der FESTUNG dafür plädierten, die in den Konservierungskam­mern gefangenen Wesen sich selbst zu über­lassen und in den Weiten Pthors nach neuen Zielen zu suchen.

Von Tag zu Tag wuchs die Zahl seiner Anhänger.

Ein entscheidender Fehlschlag für Sirkat, und die Technos würden Herrohns verräte­rischen Parolen folgen und die Senke verlas­sen.

»Ich werde die Rettungsaktionen für den Daalen persönlich leiten«, verkündete Sir­kat. »Tersten, du sorgst dafür, daß draußen alles ruhig bleibt.«

Der Techno nickte seinem Herrn zu und verschwand im Ausgang des Glaspalasts.

Sirkat sah sich um und fand Sirrow, der für diesen Palast verantwortlich war. Zusam­men mit ihm überwachte er die Funktionen der Lebenserhaltungssysteme für den Daa­len.

Der Techno bedeutete Sirrow, sich einen Augenblick allein um die Kontrollen zu kümmern. Dann schritt er durch die Öffnung in der Trennwand in den etwa anderthalb Meter breiten Gang, zu dessen beiden Seiten die Nischen mit den Gefangenen lagen.

Lange Zeit stand er vor der Tiefschlaf­kammer, in der sich der unkontrolliert wie­dererwachte Daale befand. Sirkats Blicke glitten über den birnenförmigen Körper des Fremden, an dessen Oberseite sich ein Kranz von Organen befand, deren Funktion selbst von den Herren der FESTUNG nur zum Teil erkannt worden war.

Klassifizierung Gruppe 5! Sirkat war sich bewußt, daß er vor einer

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leise tickenden Bombe stand. Niemand wuß­te wirklich, wozu ein Daale fähig war.

Sirkat aber dachte nicht daran, zu kapitu­lieren. Er hatte seine Ideale, und er war ent­schlossen, seinen Auftrag zu erfüllen.

* Die Senke der verlorenen Seelen:

Eine riesige, sanft zu ihrem Zentrum hin abfallende Ebene nördlich des Regenflusses, ziemlich genau zwischen dem Dämmersee und dem Taamberg, 110 Kilometer lang und 70 Kilometer breit.

Ein durch künstliche Bewässerung urbar gemachtes Gebiet, das einst zur Wüste Fylln gehörte. Es gab kleinere Wälder, Busch- und Graslandschaften. Das Klima war warm und trocken.

Die Senke der verlorenen Seelen war ein einziges Reservoir an gefangenen Intelligen­zen aller möglichen Welten, die der Dimen­sionsfahrstuhl während seiner langen Reise durchs Universum heimgesucht hatte. Diese Wesen ruhten in 3012 Glaspalästen, die un­regelmäßig über die Ebene verteilt waren, rechteckigen Gebäuden sechzig mal zwanzig Meter groß und zwanzig Meter hoch. Alle Paläste bestanden aus glasähnlichem Materi­al, das von Metallstreben durchzogen und stabilisiert wurde.

Ursprünglich hatten 12 000 Technos die Senke bevölkert. Sirkat war ihr unbestritte­ner Führer, bis die Nachricht vom Ende der Herren der FESTUNG kam.

Die neuen Herrscher von Pthor waren die vier Odinssöhne. Sirkat hatte ihnen im Na­men der Technos der Senke seine Ergeben­heit versichert.

Doch mit der Zeit begann sich unter sei­nen Anhängern Unzufriedenheit zu regen. Herrohn propagierte den vollständigen Rückzug aller Technos aus der Senke. Mit dem Sturz der ehemaligen Herren hatte die Arbeit in den Glaskästen für viele den Sinn verloren.

Sirkat kämpfte gegen Herrohns verräte­rische Ideen. Ein Rückzug aus der Senke

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würde den Tod von 200 000 Schläfern be­deuten, die ohne ständige Wartung und Pfle­ge nicht lebensfähig waren.

Die Mehrheit der Technos stand hinter Sirkat, bis sich die schrecklichen Katastro­phen ereigneten: die Überschwemmung und der Absturz Pthors über einer unbekannten Welt.

Es kam zu schweren Beschädigungen an Glaspalästen und technischen Einrichtungen. Mehr als fünfzig Schläfer starben. Viertau­send Technos flohen Hals über Kopf aus der Senke, so daß nur noch achttausend Männer zur Wartung der Paläste zur Verfügung stan­den.

Die Lage wurde chaotisch. Herrohn ge­wann an Zulauf. Hunderte von Sirkats Män­ner waren nötig, um die Verwüstungen zu beheben. Sie arbeiteten Tag und Nacht.

Herrohns Anhängerschaft wuchs, so daß der Tag nicht mehr fern schien, an dem Sir­kat mit seinen letzten Getreuen allein war – unfähig, die Schläfer am Leben zu erhalten.

Mitten in diese verzweifelte Situation hin­ein platzte die Nachricht vom Defekt an der Tiefschlafkammer des Daalen.

Einen kurzen Augenblick spielte Sirkat mit dem Gedanken, die Lebenserhaltungssy­steme für den Daalen einfach abzuschalten. Auf diese Weise wären alle Probleme aus der Welt geschaffen – bis zur nächsten Kata­strophe.

»Nein«, knurrte Sirkat. Er dachte daran, wie er Heinzkoor und Gryp, den beiden ehe­maligen Herrschern der Senke, gegenüber­gestanden hatte. In aussichtsloser Situation hatten die Herren der FESTUNG zu seinen Gunsten eingegriffen und damit deutlich ge­macht, daß Sirkat der wahre Führer der Technos war.

Sirkat kehrte in den Kontrollraum zurück. Sofort fiel ihm auf, daß sich etwas verändert hatte. Sirkats Leute hatten ihre Waggus in den Händen. Nur Sirrow stand am Kontroll­pult.

Vier Technos standen im Eingang des Pa­lasts. Der rote Streifen, der diagonal über das Brustteil der Lederkombination verlief,

kennzeichnete sie als Herrohns Männer. »Wo ist Tersten?« fragte Sirkat einen sei­

ner Getreuen. »Das kann ich dir sagen«, dröhnte eine

Stimme vom Kontrollpult her. Sirkat fuhr herum.

Herrohn stand dicht hinter Sirrow, die Lähmwaffe auf den Rücken des Technos ge­richtet. Sirkat begriff augenblicklich, daß Herrohns vier Anhänger nur der Ablenkung gedient hatten. Während sich alle Augen auf sie richteten, war der Verräter durch einen Nebeneingang in den Palast eingedrungen.

»Tersten liegt betäubt in seinem Torc«, sagte Herrohn grinsend. »Er war unvernünf­tig – du verstehst.« Der junge Techno-Füh­rer ballte die Hände zu Fäusten.

»Ich werde verhindern, daß du zur Gefahr für die Senke wirst«, sagte Herrohn unge­rührt. »Lange genug haben wir dich und dei­ne Leute gewähren lassen. Der Daale wird …«

Herrohn gewahrte Sirrows Bewegung im Ansatz. Er sprang zurück und gab einen Schuß auf den Techno ab, der sich auf ihn stürzen wollte. Sirrow brach gelähmt zusam­men.

Bevor Sirkat es verhindern konnte, riß Herrohn eine schwere Metallstange aus dem Futteral über seinem Waffenrock und schlug mit Wucht auf das Kontrollpult ein. Mehr als die Hälfte der bunten Kontrollichter erlo­schen auf der Stelle. Nach dem zweiten Hieb fuhren kleine Blitze quer durch den Raum. Sirkat warf sich zu Boden. Rauch breitete sich aus.

»Das kostet dich den Kopf, Herrohn!« schrie Sirkat. Er richtete sich vorsichtig auf und versuchte, in dem Qualm etwas zu er­kennen.

Am Ausgang fauchten Schüsse. Sirkat rannte vorwärts. Auch er hatte nun die Wag­gu in der Hand. Allmählich lichtete sich der Rauch. Sirkat stolperte über bewußtlose Technos.

Er erreichte das Freie. Zwei von Herrohns Männern lagen paralysiert am Boden. Sirkat sah gerade noch, wie ein Torc mit großer

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Geschwindigkeit am benachbarten Glaspa­last vorbeiraste, auf das Zentrum der Senke zu.

»Das wird er bezahlen«, fluchte der Tech­no-Führer.

*

Langsam kehrte das Bewußtsein zurück. Aus einem endlos scheinenden violetten Ne­bel tauchten erste Erinnerungsfetzen auf.

Das Bewußtsein begriff, daß es lebte, und daß es Teil eines Körpers war.

Eindrücke: eine sterile, kalte Umgebung, aus der Lebensströme in den Körper flossen. Die Sinne begannen, bewußt Einzelheiten aufzunehmen. Noch unkontrolliert schickte das Bewußtsein seine Fühler aus.

Nach dem Bewußtsein erwachte der Kör­per. Die Identifizierung erfolgte.

Der Name war Cyr. Ein weiterer Begriff tauchte in den Erinnerungen auf: Daalos.

Cyr war ein Daale, einer der 96 Transfor­mierten, die sein Volk bisher hervorgebracht hatte.

Die farbigen Nebel lichteten sich. Der Körper begann Energien aufzubauen.

Die Lebensfunktionen des Organismus setz­ten ein. Gleichzeitig aber strömten die Ener­gien des Systems, an das Cyr angeschlossen war, in ihn hinein. Einen Augenblick lang drohte es zu einer Überladung zu kommen, wenn Cyr nicht im letzten Moment ein Neu­tralisationsfeld hätte errichten können.

Genau genommen, existierte Cyr schon in diesem Stadium der Konsolidierung nicht mehr in der Raum-Zeit-Ebene jener Wesen, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befan­den.

Einer der Fremden näherte sich dem Daa­len und betrachtete ihn lange. Cyr zeigte nicht, daß er erwacht war. Erst als der Frem­de verschwunden war, begann Cyrs Körper leicht zu pulsieren.

Cyr registrierte, daß sich die von außen kommenden Ströme veränderten. Ihre Inten­sität ließ nun schnell nach. Dennoch löste der Daale das Neutralisationsfeld nicht auf.

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Jetzt erinnerte er sich an die Ereignisse vor dem Schwinden des Bewußtseins. Un­endlicher Schmerz durchfuhr das Wesen, als es daran zurückdachte, wie das furchtbare Land auf Daalos materialisiert war. Fast alle Daalen waren von den Fremden umgebracht worden. Nur die 96 Transformierten hatten sich abschirmen können.

Die drei Gefährten! Sie mußten sich in der Nähe befinden!

Cyr schickte seine mentalen Fühler durch das Neutralisationsfeld. Tatsächlich fand er die Gefährten, aber sie befanden sich in ei­nem todesähnlichen Zustand.

Cyrs Sinne signalisierten Gefahr, die von den Fremden ausging. Er registrierte Schwingungen, die so von Haß erfüllt wa­ren, daß der Daale am ganzen Körper zu be­ben begann.

Das hypersensible Wesen veränderte die Struktur des Neutralisationsfelds. Wenig später verschwammen die Konturen seines Körpers.

Cyr hatte nur den Wunsch, heimzukehren zu den Gefährten, irgendwo zwischen den Dimensionen.

Sein in reine Energie umgewandelter Kör­per schickte sich an, diese Welt, die nicht die seine war, zu verlassen. Aber schon, als er sich noch zu orientieren versuchte, prallte Cyr mit einem energetischen Feld zusam­men. Für den Bruchteil einer Sekunde ver­banden sich die beiden unterschiedlichen Sphären. Diese kurze Zeit genügte, um Cyr zu verändern.

Das, was am nördlichen Rand der Senke materialisierte, hatte so gut wie nichts mehr mit jenem Wesen gemein, das jahrhunderte­lang in der Tiefschlafkammer der Technos gefangengehalten wurde.

2.

Tersten erwachte aus der Paralyse. Mit ei­niger Mühe stieg er aus dem Torc, in den ihn Herrohns Leute geworfen hatten.

Er fand Sirkat im Gang zwischen den Schlafnischen.

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»Sirkat, ich … Ich wurde überrumpelt. Die verdammten Kerle hatten sich als Loya­le getarnt. Ich konnte nichts machen.«

Sirkat winkte ab, ohne den Vertrauten an­zusehen. Sein Blick war starr auf die leere Nische gerichtet.

»Der Daale!« entfuhr es Tersten. »Hast du ihn tatsächlich entkonservieren können?«

»Er ist weg«, knurrte Sirkat. Sirkat berichtete knapp über die Gescheh­

nisse im Kontrollraum. »Aber das ist unmöglich«, meinte Ter­

sten. »Es ist ein Wunder, daß er die unkon­trollierte Entkonservierung überlebte. Er er­wachte, und sein Körper begann zwangsläu­fig, eigene Energien zu entwickeln. Es hätte zu einer Überladung kommen müssen, da niemand dafür sorgte, daß die Zufuhr künst­licher Lebensströme entsprechend gedrosselt wurde.«

»Das weiß ich auch«, entgegnete Sirkat. »Aber er ist verschwunden, Tersten.«

»Vielleicht verfügt dieses Wesen über Fä­higkeiten, die uns unvorstellbar sind«, mein­te Tersten.

»Mit Sicherheit«, stimmte Sirkat zu. »Die Daalen waren den Herren der FESTUNG selbst ein Rätsel. Die Informationsfolie gibt nur wenig Auskunft über sie. Man hat uns nur das mitgeteilt, was zur Lebenserhaltung der Daalen nötig war. Wir wissen nicht ein­mal, wie die Welt beschaffen war, von der sie stammen.«

»Wir sollten bei den Odinssöhnen um Rat nachfragen«, schlug Tersten vor.

Sirkat schüttelte den Kopf. »Wir müssen selbst mit der Situation fer­

tig werden.« »Ich hoffe, du weißt, was du tust«, mur­

melte Tersten. Sirkat zeigte keine Reaktion. Er erinnerte

sich noch allzugut an die Verwüstungen, die die drei Argots angerichtet hatten, die Sirkat aus dem Tiefschlaf befreit hatte, um Gryp und Heinzkoor vor den Technos bloßzustel­len.

Der Daale konnte zu einer großen Gefahr werden, wenn er sich noch im Bereich der

Senke befand. Aber Sirkat versuchte sich einzureden, daß das Wesen aufgrund seiner unbekannten Fähigkeiten vielleicht einen Weg nach draußen gefunden hatte. Mögli­cherweise war es auch längst tot.

Aber das Unbehagen blieb. Auch Sirkat konnte sich nicht an den Ge­

danken gewöhnen, daß nun die Odinssöhne Pthor regierten. Solange er zurückdenken konnte, herrschte die FESTUNG über den Dimensionsfahrstuhl.

Die Schläfer spielten eine bedeutende Rolle in den Plänen jener Macht, die Pthor auf die Reise geschickt hatte. Sirkat hatte keine Ahnung, welcher Art der Auftrag des Dimensionsfahrstuhls war, aber er weigerte sich zu akzeptieren, daß Pthors Odyssee rei­ner Selbstzweck war.

Sirkat verscheuchte die Gedanken. »Ich sah, wie Herrohn mit zwei seiner

Anhänger in Richtung Zentrum ver­schwand«, sagte der junge Techno. »Wahrscheinlich wird er versuchen, den Stamm gegen mich aufzuwiegeln. Es ge­nügt, wenn wir fünf Wachen hier zurücklas­sen. Du kommst mit mir, Tersten. Wir wer­den den Verräter bloßstellen.«

»Es wird nicht einfach sein, Sirkat«, gab Tersten zu bedenken.

Sirkat winkte ab. Die beiden Technos ver­ließen den Gang und gaben den Männern im Kontrollraum ihre Anweisungen.

Minuten später saßen sie in ihrem Torc. Der Boden war immer noch aufgeweicht. Einige große Tümpel zwischen den Glaspa­lästen zeugten von der Flutkatastrophe, die über ganz Pthor hereingebrochen war. Die Technos hatten tagelang arbeiten müssen, um Abflüsse für die Wassermassen zu schaf­fen.

Je näher Sirkat und Tersten der Mitte der Senke kamen, desto mehr Technos begegne­ten ihnen. Einige grüßten respektvoll, als sie ihren Anführer erkannten, andere zeigten of­fen ihre Verachtung.

»Jetzt wird mir einiges klar«, brummte Sirkat. »Herrohn hat sich das fein ausge­dacht. Wahrscheinlich hat er schon zu einer

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Kundgebung aufgerufen, als er vom Erwa­chen des Daalen hörte. Dann erst kam er zum Glaspalast, um unsere Arbeit zu sabo­tieren.«

»Was sollen wir tun, Sirkat? Herrohn ver­fügt über bessere Mittel, als wir annahmen. Wenn er nicht eine starke Organisation auf­gebaut hätte, hätten wir von seiner Absicht gehört.«

»Das macht mir im Augenblick weniger Sorgen«, knurrte Sirkat. »Wir haben ohne­hin zuwenig Personal, um die Schläfer am Leben zu erhalten. Wenn die Männer jetzt noch die ihnen zugewiesenen Paläste verlas­sen, werden viele Schläfer sterben. Herrohn weiß das natürlich.«

»Wir sollten eine schlagkräftige Truppe zusammenstellen und den Zentralplatz stür­men«, schlug Tersten vor.

Sirkat schüttelte grimmig den Kopf. »Genau das will er erreichen. Wenn wir

unsere Leute zusammenziehen, wird es noch mehr verlassene Glaspaläste geben. Du weißt so gut wie ich, daß die meisten Schlä­fer nach drei, höchstenfalls aber fünf Stun­den ohne Aufsicht und Steuerung der Le­benserhaltungssysteme sterben. Wenn die Technos aber keine Aufgabe mehr haben, hindert sie nichts mehr daran, die Senke zu verlassen.«

»Und was willst du tun?« »Das, womit Herrohn am wenigsten rech­

net. Ich werde allein auf dem Platz erschei­nen, während du Verbindung mit allen Glas­palästen aufnimmst und erklärst, was sich bei den Daalen ereignet hat. Alle Loyalen sollen ab sofort ständig ihre Waffen bei sich tragen.«

»Das ist Wahnsinn, Sirkat! Herrohns fa­natische Anhänger werden dich umbrin­gen!«

Sirkats Gesichtszüge verzogen sich zu ei­nem Lächeln.

»Das werden wir sehen.« Der Torc hielt neben einem Glaspalast,

der über eine besonders leistungsfähige Rundrufanlage verfügte. Tersten stieg aus. Die Besorgnis um den Freund war ihm an

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den Augen abzulesen. »Mach dir keine Gedanken, Tersten«, ver­

suchte Sirkat ihn zu beruhigen. »Auch ich habe eine Überraschung für Herrohn.«

Tersten sah Sirkat forschend an. Dann verschwand er im Eingang des Gebäudes.

Der Techno-Führer beschleunigte den Torc. Nach etwa drei Kilometern Fahrt än­derte er die Richtung.

Sirkat hatte den Daalen fast schon verges­sen. Er hatte sich damit abzufinden, daß ein weiterer Schläfer abgeschrieben werden mußte.

So ahnten weder er noch Tersten, was vom Norden her langsam in die Senke ein­drang. Tersten erfuhr von den drei Wachha­benden im Glaspalast zwar, daß vor wenigen Stunden eine rätselhafte Leuchterscheinung am Himmel beobachtet worden war – genau in Höhe des um Pthor liegenden Prall­schirms. Aber er kam nicht auf den Gedan­ken, diese mit dem Verschwinden des Daa­len in Verbindung zu bringen.

Tersten faßte einen Spruch ab und ließ ihn über die Rundrufanlage, an die alle Glaspa­läste angeschlossen waren, immer wieder ausstrahlen.

Alle Technos der Senke blickten gebannt zum Zentrum, wo sich in den nächsten Stun­den die Zukunft des ganzen Stammes ent­scheiden mußte.

*

Sirkat erreichte seinen Glaspalast. Er er­widerte die Grüße des Personals und betrat eines seiner beiden Privatgemächer.

Sirkat hatte nach dem Machtwechsel dar­auf verzichtet, sich in Gryps oder Heinzko­ors ehemaligen Residenzen einzurichten. Er hatte seinen Palast mit allem ausgestattet, das zur Erfüllung seiner Funktion als Koor­dinator der Technos in den anderen Glaspa­lästen notwendig war.

Von hier aus konnte Sirkat jederzeit mit der FESTUNG in Verbindung treten, aber bisher hatten die Odinssöhne sich kaum um die Senke gekümmert.

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Sirkat ließ sich in einen Sessel fallen und betrachtete einen Moment lang die luxuriöse Inneneinrichtung des Raumes. Leise Musik erklang, die sich Sirkats aufgewühlter Ge­mütsverfassung anpaßte. Der Techno ließ die Klänge eine Weile auf sich einwirken, bis er merkte, daß sie begannen, ihn einzu­lullen. Sirkat stand auf und schaltete die An­lage aus.

Er durfte sich nicht beruhigen. Viel zu lange, das war ihm heute klargeworden, hat­te er Herrohns Machenschaften toleriert.

Sirkat ging zu einer prunkvoll verzierten Truhe. Er zog einen kleinen Stab aus einer Tasche des Waffenrocks. Nach kurzem Zö­gern schob er ihn in eine Öffnung der Truhe. Der Deckel sprang auf.

Sirkat schob eine Reihe von Gegenstän­den und Kleidungsstücken beiseite, bis er gefunden hatte, wonach er suchte.

Der Techno betrachtete die kurze, schwe­re Waffe lange. Sie glich entfernt einer Waggu, jedoch endete der Lauf nicht trich­terförmig, und an der rechten Seite, über dem Handgriff, befand sich ein runder, blau­er Knopf.

Noch einmal wurde Sirkat unsicher. Die Waffe war sein kostbarster Schatz. Niemand wußte von ihrer Existenz. Sirkat hatte sie in einem Wandversteck gefunden, als er Heinz­koors Residenz nach dem Tod der beiden Alten durchsuchte.

Oft hatte er sich gefragt, weshalb Heinz­koor sie nicht benutzt hatte, um seinen Riva­len Gryp auszuschalten. Ebenso rätselhaft war, wie der Alte in den Besitz der Waffe gelangt war. Soviel Sirkat bekannt war, gab es kein Volk auf Pthor, das solche Waffen besaß. Andererseits hatte er davon gehört, daß der Schirm, der Pthor umgab, verhinder­te, daß neue Gefangene irgendwelche Uten­silien mit auf den Dimensionsfahrstuhl brin­gen konnten.

Sirkat verscheuchte die Gedanken. Sie führten zu nichts. Sein Problem hieß Her­rohn.

Der junge Techno schloß die Truhe und versiegelte sie wieder mit dem Impulsgeber­

stab. Dann steckte er die Waffe ein und ver­ließ seinen Palast.

Sirkat bestieg den Torc. In etwa einer hal­ben Stunde würde er das Zentrum erreicht haben. Während er beschleunigte, legte er sich seinen Plan zurecht.

Sirkat war ein Fanatiker – ebenso wie Herrohn. Er würde ebensowenig davor zu­rückschrecken, Herrohn und dessen engste Vertraute aus dem Weg zu räumen, wie er es beim Kampf gegen Heinzkoor und Gryp ge­tan hatte.

Die Aufgabe der Technos in der Senke stand über allem! Wer sich Sirkat bei der Ausführung dieser ihm von der FESTUNG übertragenen Aufgabe widersetzte, mußte beseitigt werden.

* Dreißig Kilometer nördlich des Zentrums:

Jelgat und Mers befanden sich außerhalb ihres Palasts. Largt hatte im Kontrollraum Dienst und überwachte die Lebensfunktio­nen der konservierten Gorps. Jergat und Mers suchten im angrenzenden kleinen Wald ein wenig Entspannung von der oft stupiden Arbeit im Glaspalast. Sie machten mit den Waggus »Jagd« auf die kleinen Tie­re, die sich im Unterholz herumtrieben. Es war ein beliebter Zeitvertreib der Technos, die gerade dienstfrei hatten.

Die Technos hatten von den Unruhen im Zentrum der Senke gehört, aber die Streitig­keiten zwischen Sirkat und Herrohn berühr­ten sie wenig.

Largt saß gelangweilt vor den Instrumen­ten. Ab und zu mußte er Unregelmäßigkei­ten im Versorgungssystem der Schlafkam­mern korrigieren. Sonst war nicht viel zu tun.

Terstens Rundruf tönte aus dem Lautspre­cher des Funkempfängers. Largt achtete nicht mehr darauf. Er hatte ihn mindestens zehnmal gehört. Largts Sympathien gehör­ten Sirkat, aber er glaubte nicht daran, daß Herrohn ihn ernsthaft in Bedrängnis bringen konnte, und so sah Largt keinen Anlaß, sich

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an den angekündigten Auseinandersetzun­gen im Zentrum zu beteiligen. Außerdem hatte Tersten ausdrücklich verboten, die Glaspaläste zu verlassen.

Die mit Jelgat und Mers abgesprochene Zeit verstrich, ohne daß die beiden zurück­kehrten. Noch sah Largt keinen Grund zur Besorgnis. Es kam oft vor, daß man sich im Eifer der Jagd verspätete.

Erst als Jelgat und Mers auch nach Ablauf der doppelten Frist nicht zurück waren, wur­de Largt unruhig.

Der Techno vergewisserte sich, daß die Lebenserhaltungssysteme der Tiefschlaf­kammern zufriedenstellend arbeiteten. Dann verließ er den Glaspalast. Er rief einige Male nach Jelgat und Mers, doch er erhielt keine Antwort.

Zögernd trat er weiter ins Freie hinaus. Ein ungewisses Gefühl beschlich den Tech­no, als er den Rand des Waldes erreichte.

Und dann kam die Angst. Plötzlich hatte Largt es sehr eilig, in den Palast zurückzu­kommen.

Er erreichte den rettenden Eingang nicht mehr.

*

Sirkat parkte den Torc einige hundert Me­ter vor dem Zentralplatz. Die Technos er­kannten ihn und bildeten eine Gasse. Sirkat schätzte die Zahl der Versammelten auf mehr als 3000. Befriedigt registrierte er, daß seine Anhänger Terstens Aufruf offensicht­lich gefolgt und in den Palästen geblieben waren.

Dennoch würden viele hundert Schläfer sterben, wenn es ihm nicht gelang, dafür zu sorgen, daß die Abtrünnigen schnellstens den Dienst wiederaufnahmen.

Herrohn stand auf einem Podest und sprach zu seinen Anhängern. Er trug eine prunkvolle zweiteilige Lederrüstung mit vie­len Verzierungen und dem roten Streifen über der Brust. Die Stimme des Verräters dröhnte aus mehreren rings um den Platz aufgestellten Lautsprechern. Sirkat kannte

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Herrohns Phrasen. Er gab sich keine Mühe, seine Abscheu zu verbergen.

Herrohn verstummte, als er Sirkat erkann­te. Er gab den Technos, die offenbar seine Leibwache bildeten, ein Zeichen. Sie ließen Sirkat ungehindert passieren, bis er neben Herrohn auf dem Podest stand.

»Du weißt, daß ein Wort von mir genügt, und sie werden dich in Stücke reißen«, zischte Herrohn, wobei er eine Hand über das Mikrophon hielt.

»Das werden wir sehen«, knurrte Sirkat. Er riß dem Verräter das Mikro aus der Hand und redete beschwörend auf die Technos ein. Nach jeder Pause brausten die Zuhörer auf und beschimpften Sirkat als Despoten, die die Technos daran hindern wollte, in den unbekannten Weiten Pthors ihr Glück zu machen.

Als Sirkat schließlich Herrohns Sabotage­akt im Palast der Daalen schilderte, stürmten die Technos unter wilden Verwünschungen vor, um das Podest zu stürmen.

Herrohn ergriff das Wort und heizte die aufgebrachte Stimmung weiter an. Es war nun klar, daß er darauf hinzielte, Sirkat lyn­chen zu lassen.

Als die ersten Fanatiker heran waren, riß Sirkat die Waffe aus der Tasche des Rockes. Er hatte sie einige Male heimlich am Rand der Senke ausprobiert und kannte ihre ver­heerende Wirkung.

»Zurück!« schrie der junge Techno. Eini­ge der aufgepeitschten Männer blieben ste­hen, nur drei lachten höhnisch und schwan­gen sich auf das Podest.

Sirkat zögerte keinen Augenblick. Sein Finger fand den blauen Knopf. Sekunden­bruchteile später vergingen die drei Angrei­fer in einem unheimlichen, grünen Leuch­ten.

Die Versammelten schrien entsetzt auf und wichen in heller Panik zurück. Herrohn starrte Sirkat ungläubig an, als der Techno-Führer die Waffe auf ihn richtete.

»Das wirst du nicht wagen«, sagte der Verräter gedehnt. Er trat bis an den Rand der Plattform zurück.

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»Doch, Herrohn. Du stellst eine Gefahr für die Senke dar, solange du lebst. Unser Auftrag …«

Sirkat verstummte, als er die Alarmsirene hörte. Im nächsten Moment hörte er Ter­stens Stimme aus den Lautsprechern:

»An Sirkat und alle Technos, die sich jetzt im Zentrum der Senke befinden«, hallte es über den Platz. »Abschnitt Nord-22-8 mel­det den Ausfall dreier Glaspaläste. Das Per­sonal ist nicht über Funk zu erreichen. Die Routinemeldungen sind überfällig. Außer­dem nähert sich ein noch nicht identifizierter Flugkörper aus Richtung FESTUNG. Ich bitte Sirkat, sofort Verbindung zu mir aufzu­nehmen.«

Lähmendes Schweigen hatte sich unter den Versammelten ausgebreitet. Es dauerte eine Weile, bis Sirkat begriff, was Tersten da mitgeteilt hatte.

Es war schon einige Male vorgekommen, daß die Routinemeldung irgendeines Palasts ausgeblieben war. Aber gleich drei auf ein­mal!

Noch dazu im gleichen Sektor, an der Grenze zur Wüste Fylln!

Sirkat kniff die Augen zusammen und sah Herrohn mißtrauisch an. Immer noch war die Waffe auf den Verräter gerichtet, der sich nicht vom Fleck rührte.

»Das ist dein Werk, Herrohn. Du hast die Situation ausgenutzt, um Sabotagetrupps an den Rand der Senke zu schicken.«

Herrohn schüttelte betroffen den Kopf. »Ich schwöre dir, Sirkat, ich weiß von

nichts. Wozu hätte ich es nötig gehabt, mei­ne Leute Sabotage verüben zu lassen, jetzt, wo ich dich bloßgestellt habe?«

»Bloßgestellt«, knurrte Sirkat. »Hast du immer noch nicht gemerkt, daß du verloren hast?«

Aber er hat recht! durchfuhr es den Tech­no-Führer. Herrohn hatte hier, im Zentrum, die Entscheidung erzwingen wollen. Dazu brauchte er all seine Männer, denn er hatte damit rechnen müssen, daß Sirkat mit seinen Anhängern erschien, um zu kämpfen.

Aber was war dann für den Ausfall der

Paläste verantwortlich? Sirkat spürte, wie er unsicher wurde, aber

es gelang ihm, es vor den Technos zu ver­bergen.

Die dreitausend schwiegen. Sie standen ebenfalls unter der Wirkung des Schocks, zumal niemand wußte, was es mit dem frem­den Flugkörper auf sich hatte, der sich der Senke näherte.

Eine Abordnung der FESTUNG? Die Technos erwarteten eine Entschei­

dung. Jeder von ihnen mochte spüren, daß sich in diesen Minuten eine Entwicklung an­bahnte, die sie alle gleichermaßen anging. Für den Augenblick war der erbitterte Streit zwischen den Anhängern Sirkats und Her­rohns vergessen. Selbst Herrohn verzichtete darauf, ans Mikrophon zu gehen, obwohl sich ihm hier eine Gelegenheit bot, den Spieß umzudrehen und Sirkat die Schuld an dem, was geschehen war, in die Schuhe zu schieben.

»Geht an eure Plätze!« rief Sirkat in die Menge. »Verrichtet eure Arbeit, bis ich an­dere Befehle gebe. Zwei Wachhabende in jedem Palast müssen vorerst genügen. Die anderen halten sich bereit, um nötigenfalls im Norden nach dem Rechten zu sehen.«

Die Technos befolgten die Anweisung fast alle widerspruchslos. Nur wenige stie­ßen Flüche aus und schüttelten die Fäuste.

Sirkat und Herrohn standen sich allein auf der Plattform gegenüber.

Sirkat steckte die Waffe ein. »Ich weiß nicht, was ich von der ganzen

Sache halten soll«, sagte er. »Ich schlage vor, daß wir einen Waffenstillstand schlie­ßen, bis die Vorgänge geklärt sind. Wenn du nicht hinter den Ausfällen steckst, ist es et­was anderes, und das kann zur Gefahr für uns alle werden.«

»Einverstanden«, erklärte Herrohn. »Ich weiß wirklich nichts. Aber du hast einen Verdacht.«

Sirkat zuckte die Schultern. »Möglich.« »Du denkst an den Daalen«, sagte Her­

rohn. Sirkat gab keine Antwort. Er ließ Herrohn

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einfach stehen, verließ das Podest und be­stieg seinen Torc. Minuten später nahm er Verbindung mit Tersten auf.

Sirkat spürte, wie das Grauen sich in sein Gehirn schleichen wollte, als er erfuhr, daß es inzwischen zwei weitere Ausfälle gege­ben hatte, diesmal im Sektor Nord-22-7, ei­ne Entfernungsschale näher am Zentrum. Aber das war nicht alles.

Tersten erklärte, daß er zwei Torcs mit je vier Mann Besatzung in das bezeichnete Ge­biet geschickt hatte, um Klarheit in die un­heimlichen Vorgänge zu bringen.

Seit zwei Minuten meldeten die acht Technos sich nicht mehr.

»Der Flugkörper befindet sich jetzt über der Senke und nimmt Kurs auf das Zentrum. Es handelt sich um einen Zugor«, teilte Ter­sten mit.

Sirkat hörte die Worte des Freundes kaum.

Zuerst Nord-22-8, dann Nord-22-7 … Sirkat konnte sich an den Fingern abzäh­

len, von wo die nächste Hiobsbotschaft kommen würde.

Das Unbekannte kam näher, unaufhaltsam …

Herrohns Worte hatten Sirkat bewiesen, daß er den gleichen Verdacht hatte wie er selbst. Sirkat dachte an den verschwundenen Daalen.

»Ich empfange Anrufe vom Zugor«, mel­dete Tersten. »Die Unbekannten bitten um Einweisung.«

»Ich komme«, sagte Sirkat schnell. »Lotse sie zu dir. In einer halben Stunde bin ich da.«

3.

Razamon lehnte sich über den Rand des schalenförmigen Zugors und betrachtete die Landschaft, die unter dem Fahrzeug vor­beiglitt. In der Ferne sah er die ersten in der Nachmittagssonne glitzernden Punkte. Es war schon später Nachmittag.

Die Glaspaläste. »Keine angenehme Erinnerung«, brumm-

Horst Hoffmann

te der Pthorer, als er zur Kontrollsäule zu­rückkehrte und Kolphyr ablöste. Der Bera machte Platz und setzte sich einfach zwi­schen zwei große Kisten, die Geschenke ent­hielten, um die Bewohner der Senke freund­lich zu stimmen. Razamon rechnete sich aus, daß man ihm und Kolphyr aufnahmebereiter entgegentreten würde, wenn sie sich als Ab­gesandte der FESTUNG ausgaben. Raza­mon wußte, daß die Technos, von einigen Ausnahmen abgesehen, ihre Aufgabe ernst nahmen und loyal zu den Herren der FE­STUNG gestanden hatten.

Vor allem der jetzige Anführer des Stam­mes, ein gewisser Sirkat, war geradezu fana­tisch darauf versessen, seine Aufgabe fehler­los auszuführen.

Allerdings hatten auch die Odinssöhne seit dem Absturz Pthors kaum noch etwas aus der Senke der verlorenen Seelen gehört. Vielleicht war das gut so. Sigurds, Balduurs und Heimdalls Aufmerksamkeit richtete sich momentan auf andere Dinge. Ansonsten wä­ren sie vielleicht längst auf die gleiche Idee gekommen wie Atlan, in dessen Auftrag Razamon und Kolphyr unterwegs waren.

Atlans Überlegungen waren folgende: Obwohl er nicht wußte, welchem Zweck das Arsenal der Schläfer letztendlich dienen sollte, rechnete er damit, daß nun, nach dem Sturz der Herren der FESTUNG, die konser­vierten Fremden geweckt werden könnten. Auf diese Weise konnten er und seine Ge­fährten wertvolle Helfer für den Fall gewin­nen, daß es in absehbarer Zeit doch zur Aus­einandersetzung mit den Odinssöhnen kom­men sollte.

Allerdings spielten hierbei zwei Dinge ei­ne wichtige Rolle.

Erstens war anzunehmen, daß die Odins­söhne früher oder später auf die gleiche Idee kamen. Es galt also, ihnen zuvorzukommen.

Zweitens waren Razamon und Kolphyr auf die Hilfe der Technos angewiesen, die die Konservierten bewachten und pflegten. Razamon bedauerte, daß er damals, als es ihn und Atlan zum Rand der Senke verschla­gen hatte, keinen Führer der Technos zu Ge­

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sicht bekommen hatte. Die »einfachen« Technos, die Atlan und er überwältigt hat­ten, konnte ihnen keine weiteren Auskünfte geben als die, daß die beiden Anführer Heinzkoor und Gryp hießen und daß etwas Grauenhaftes auf alle Schläfer wartete, wenn Pthor das Ziel seiner Reise erreichte.

Razamon wußte jetzt, daß sich damals ge­rade der Machtwechsel vollzogen hatte, wo­bei die Herren der FESTUNG dem jungen, ehrgeizigen Sirkat zu Hilfe kamen.

Razamon sah der Begegnung mit diesem Sirkat mit Spannung entgegen.

Kolphyr regte sich. Er hatte sich ausführ­lich über die Senke berichten lassen.

»Armes Wesen«, schrillte die Stimme des Beras, »sie tun mir leid. Sie sind wie Kol­phyr. Ich habe auch lange geschlafen.«

»Dabei konntest du wenigstens keine Dummheiten machen«, gab der Pthorer zu­rück. Seine rechte Hand fuhr an eine be­stimmte, schmerzende Stelle an der Stirn, ei­ne Erinnerung an Kolphyrs letzte Schmuse­rei. Um ein Haar wären beide mit dem Zu-gor abgestürzt, als sie gerade über die Aus­läufer des Taambergs flogen.

»Schmusen ist schön!« protestierte Kol­phyr. Er hob einen Arm in die Luft und sag­te: »Wer soll sonst mit Kolphyr schmusen, wenn nicht Freund Razamon? Atlan schmust nur noch mit Thalia.«

»So ein Lümmel«, sagte Razamon grin­send. »Aber verschone mich, bis wir gelan­det sind. Vielleicht freuen sich die Technos über deine Liebkosungen.«

»Meinst du das im Ernst?« fragte der Bera und stand auf. Der Zugor begann zu schwan­ken, so daß der Pthorer Mühe hatte, den Flug zu stabilisieren. Sie überflogen die er­sten Glaspaläste.

»Ja, aber bleib mir vom Leib, sonst schmust niemand mehr mit dir. Du solltest irgendwann etwas gegen deine Mutter- oder Vaterkomplexe tun.«

Kolphyr sah Razamon seltsam an. Dann begann er, im Zugor auf und ab zu wandern. Offensichtlich überlegte er, was von der Be­merkung des Gefährten zu halten war.

Razamon fluchte unterdrückt, als er im­mer wieder ausgleichende Flugmanöver aus­führen mußte. Er nutzte Kolphyrs besinnli­che Phase, um einen Funkspruch an die Technos in der Senke abzustrahlen. Unter­dessen steuerte er weiter auf das Zentrum zu.

»Mutterkomplex«, meinte Kolphyr schließlich. »Was ist das?«

Der Atlanter stöhnte und schickte einen gequälten Blick zum Himmel.

»Das soll heißen«, versuchte er zu erklä­ren, »daß ich nach dem nächsten Angriff auf mein Leben mit dir zum Fluß Xamyhr flie­ge, bis ich einen Stelzer gefunden habe, der dir wieder ein Ei unter die Haut legt. Als Wommser in dir heranwuchs, hatten wir we­nigstens alle unsere Ruhe.«

Der Bera zuckte zusammen. Einige Se­kunden lang stand er im Heck des Zugors wie eine steinerne Statue. Kolphyrs Augen waren schwärmerisch in die Ferne gerichtet.

»Wommser …«, vernahm Razamon un­deutlich. Zufrieden registrierte er, daß der Bera nun eine Weile mit seinen Erinnerun­gen beschäftigt war.

Der Pthorer wiederholte den Funkspruch. Er bat um Anweisungen, wo er zu landen hatte, um mit Sirkat sprechen zu können.

Erst nach Minuten erhielt er Antwort. Der Techno am anderen Ende schien sehr aufge­regt zu sein. Immerhin erhielt Razamon ge­naue Anweisungen. Er brauchte den Kurs nur geringfügig zu korrigieren.

Der Zugor landete zwischen drei Glaspa­lästen, die die genauen Eckpunkte eines gleichseitigen Dreiecks bildeten. Einige Technos kamen aus den Eingängen.

Sie waren tatsächlich erregt. Razamon nahm an, daß sein Erscheinen für die Aufre­gung verantwortlich war.

Einer der Männer trat vor und stellte sich als Tersten vor. Razamon grüßte und erkun­digte sich nach Sirkat.

»Er ist unterwegs hierher«, erklärte Ter­sten.

Razamon nickte. Die Technos hatten ihre Hände am Griff der Lähmwaffen, verhielten

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sich aber zurückhaltend. Der Pthorer drehte sich zum Zugor um

und rief nach Kolphyr, nachdem er versucht hatte, die Technos mit ein paar beruhigen­den Erklärungen auf den Anblick des Beras vorzubereiten. Keine Reaktion.

Razamon trat an das Fahrzeug heran und spähte über den Rand. Kolphyr lag zwischen den Kisten und hatte die Augen geschlossen. Dafür bewegten sich die Lippen des breiten Froschmauls.

»He, Schmuser, aufgewacht! Wir sind da!«

Der Bera blinzelte. »Kolphyr hat nicht geschlafen, Freund

Razamon, oh nein.« »Was dann?« Der Bera kam auf die Beine. Einige der

Technos stießen trotz Razamons Warnung Schreie aus.

Kolphyr ließ sich über den Rand des Zu­gors fallen.

»Ich habe ganz leise gesprochen«, erklärte der Bera mit ernstem Gesicht. Razamon hat­te längst gelernt, in seinen Zügen zu lesen.

»Aha, und mit wem?« »Mit Wommser«, verkündete Kolphyr.

»Wommser meint, daß wir zu einer schlech­ten Zeit hierhergekommen sind.«

»Sehr witzig!« knurrte der Pthorer. Tersten hatte dem seltsamen Gespräch mit

aufgerissenen Augen zugehört. Jetzt bedeu­tete er Razamon, ihm ins Innere seines Glas­palasts zu folgen.

*

»Nein!« sagte Sirkat entschlossen. »Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage!«

Razamon blickte in das Gesicht seines Gegenübers. Sirkat hatte wie alle Technos pechschwarze Augen und Haare. Die flie­hende Stirn schien in krassem Gegensatz zu den hervorstehenden Backenknochen zu ste­hen. Sirkat war für einen Techno außerge­wöhnlich groß. Er wirkte abgespannt, aber etwas in seinen Augen vermittelte Razamon einen Eindruck von der Tatkraft und Ent-

Horst Hoffmann

schlossenheit des Techno-Führers. Beide Parteien hatten ihre Standpunkte

klar gemacht. Sirkat begegnete dem Pthorer mit Höflichkeit, aber er war nicht bereit, die Schläfer zu wecken.

»Wenn es der Wunsch der Odinssöhne ist, daß die konservierten Wesen freigelassen werden«, hatte Sirkat gesagt, »so soll einer von ihnen hierherkommen und mir selbst den Befehl dazu geben.«

Dies war natürlich das letzte, was Raza­mon erreichen wollte. Er machte noch einen Versuch zu einer Einigung.

»Es wäre doch nur in deinem Interesse, Sirkat! Ein Drittel aller Technos hat die Sen­ke bereits verlassen, und Herrohn wird dafür sorgen, daß es noch mehr werden! Diejeni­gen, die dann noch übrig sind, werden nie­mals in der Lage sein, alle Konservierten am Leben zu erhalten. Wenn wir sie alle zusam­men erwecken, können sie in wachem Zu­stand als freie Wesen für sich selbst sorgen, anstatt nach und nach in den Tiefschlafkam­mern jämmerlich zugrunde zu gehen.«

Sirkat schüttelte den Kopf. »Ich habe eine Aufgabe«, sagte er. »Ich

erhielt sie von den Herren der FESTUNG selbst, und nur einer der neuen Herren kann mich von meiner Pflicht befreien.«

»Du bist hartnäckig«, brummte Razamon. Insgeheim empfand er allerdings fast so et­was wie Bewunderung für diesen Techno. Sirkat hatte von Herrohn und von der politi­schen Lage innerhalb der Senke berichtet. Er hätte es sich leicht machen und sich Herrohn anschließen können.

Razamon wollte einen letzten Versuch machen, Sirkat davon zu überzeugen, daß er falsch dachte, als Tersten aus einem anderen Raum des Glaspalasts gestürzt kam und Sir­kat eine Folie reichte.

Der Techno-Führer sprang aus seinem Sitz auf.

»Das ist unfaßbar!« entfuhr es ihm. »Ist kein Irrtum möglich?«

»Leider nicht«, sagte Tersten. Razamon glaubte, Niedergeschlagenheit und Schmerz aus seiner Stimme herauszuhören.

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Sirkat sah den Pthorer an. »Ich muß fort«, erklärte er dann. »Ihr bei­

de seid unsere Gäste bis zu meiner Rück­kehr.«

»Schlechte Nachrichten?« wollte Raza­mon wissen.

Sirkat preßte die Lippen aufeinander. Er wechselte einen schnellen Blick mit Tersten.

»Nichts, das euch zu interessieren hätte«, sagte er dann eine Spur zu schroff.

»Woher willst du wissen, daß wir in dei­ner Abwesenheit nicht die Tiefschlafkam­mern öffnen?« fragte Razamon.

»Ihr könntet es nicht. Ihr wißt nicht, wie eine Entkonservierung vollzogen werden muß, ohne daß die Schläfer sterben.«

»Wir könnten deine Leute dazu zwingen.« Sirkat war bereits am Ausgang angelangt.

Das Licht der untergehenden Sonne um­spielte seine Haare und tauchte sie in feuer­roten Glanz.

»Ihr könntet es nicht. Nicht einmal ich könnte alle Schläfer zugleich wecken, auch wenn ich es wollte.«

Sirkat wandte sich abrupt um und bestieg den Torc, in dem Tersten schon wartete.

Razamon sah ihm durch die riesige Glas­scheibe, die die ganze Wand bildete, nach. Er bemerkte ein halbes Dutzend Technos, die mit schußbereiten Waggus vor dem Pa­last Wache hielten.

»Hier ist doch etwas oberfaul«, brummte der Pthorer. »Was verbergen die Burschen vor uns? Und was haben Sirkats letzte Wor­te zu bedeuten, auch er könne nicht alle Schläfer zugleich wecken? Irgendwo muß es doch einen zentralen Weckmechanismus ge­ben!«

»Du redest dumm«, schrillte Kolphyrs Stimme. Zwei in der Nähe stehende Technos hielten sich die Ohren zu. »Was heißt ober­faul?«

»Nun fange bloß nicht wieder mit deinem Kauderwelsch an«, sagte Razamon. »Oberfaul ist etwas, wenn … na, wenn et­was nicht stimmt, verstehst du?«

»So ist das«, meinte der Bera. »Dann hast du recht.«

4.

»Wieso hast du den Fremden nichts ge­sagt?« fragte Tersten, während er den Torc in rasender Fahrt zwischen den Glaspalästen hindurchsteuerte. »Vielleicht hätten sie uns helfen können.«

»Unsinn!« wehrte Sirkat ab. »Das fehlte gerade noch, daß man in der FESTUNG von unserem Mißgeschick erfährt. Wir haben uns das, was geschehen ist, selbst einge­brockt, und wir müssen selbst damit fertig werden.«

»Wenn es sich tatsächlich um den Daalen handelt«, gab Tersten zu bedenken. »Außerdem gab es schon früher Verluste un­ter den Schläfern.«

»Aber niemals in der Kategorie 5.« Sirkat machte Tersten mit einer Geste

deutlich, daß er nichts mehr hören wollte. Sie befanden sich bereits im Sektor Nord­22-3. Die letzte Meldung war aus Nord-22-5 gekommen.

Sirkat hätte sich niemals anmerken lassen, daß er Angst hatte, und doch graute es ihm vor dem, was sie in Effrihls Palast vorfinden würden.

Zum erstenmal gab es einen vagen Hin­weis auf das, was in der Senke sein Unwe­sen trieb. Kurz bevor er verstummte, hatte Effrihl über die Funkverbindung zur Rund­rufzentrale scheinbar wirr von einem leuch­tenden »Ding« gesprochen, das langsam auf den Palast zukam. Die letzten Worte des Technos waren nach Terstens Aussage, daß das Etwas sich durch die gläsernen Wände ins Innere des Palasts schob.

»Bist du sicher, daß du ihn richtig ver­standen hast?« fragte Sirkat völlig überflüs­sigerweise. Der Spruch war automatisch auf­gezeichnet worden.

»Er war halb verrückt vor Angst«, sagte Tersten. »Aber es gibt keinen Zweifel, daß er noch Herr seiner Sinne war. Er wollte uns warnen. Vielleicht hat ihn das sein Leben gekostet.«

»Wir ändern den Kurs«, sagte Sirkat

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plötzlich. »Wir durchfahren nicht Nord­22-4, sondern weichen aus, so daß wir von Nord-20-5 kommen.«

Tersten sah Sirkat von der Seite her an. Der junge Techno-Führer bemerkte den selt­samen Ausdruck in seinen Augen.

»Sage den fünf anderen Fahrern, daß zwei von ihnen uns folgen sollen. Der Rest soll sich Effrihls Palast von Nord-24-5 aus nä­hern, so daß wir uns dort treffen.«

»Bisher haben wir keine Nachricht, daß das Unbekannte erneut zugeschlagen oder sich in Nord-22-4 gezeigt hat«, gab Tersten zu bedenken.

»Darum geht es nicht«, erwiderte Sirkat barsch. »Wenn das Etwas sich gezeigt hätte, wüßten wir, womit wir es zu tun haben und könnten uns entsprechend vorbereiten.« Sir­kat griff in die Tasche des Waffenrocks und strich über den kurzen Lauf der Strahlwaffe. »Wir müssen versuchen, in Effrihls Palast einen Hinweis zu finden. Dann greifen wir an. Wenn der Daale sich weiterhin so gerad­linig auf das Zentrum zubewegt, werden wir keine großen Schwierigkeiten haben, ihn zu stellen.«

Tersten gehorchte. Über Funk benachrich­tigte er die Fahrer der fünf anderen Torcs, die zu Sirkats Gruppe gehörten.

Dann schwieg der Techno. Sirkat beob­achtete den Freund aus den Augenwinkeln heraus. Tersten hatte Angst.

Natürlich! dachte Sirkat. Ich habe sie auch, aber wir müssen damit fertig werden!

Sirkat versuchte sich vorzustellen, wie es jetzt im Zentrum der Senke aussah. Hatte Herrohn sein Versprechen gehalten, oder be­nutzte er die günstige Gelegenheit, um die Arbeit in den Glaspalästen sabotieren zu las­sen?

Zweifellos waren die Schläfer in den Pa­lästen, die von dem Daalen angegriffen wor­den waren, nicht mehr am Leben, von eini­gen widerstandsfähigen Arten abgesehen. Eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes bahnte sich an.

Und die beiden Fremden? Sirkat war nicht überzeugt davon, daß sie

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wirklich im Auftrag der FESTUNG hierher­gekommen waren. Aber solange diese Mög­lichkeit bestand, mußte er vorsichtig sein.

Trotzdem: War er nicht zu leichtsinnig gewesen, sie nur von ein paar zuverlässigen Technos bewachen zu lassen? Vor allem das große grüne Wesen, das so seltsam roch, war Sirkat unheimlich.

Aber auch der hagere Fremde weckte Un­behagen. Er erinnerte Sirkat an etwas, das einige Zeit zurücklag.

»Kerdens Palast!« stieß Tersten aus und riß Sirkat aus den Gedanken.

»Was ist damit. Ist er etwa …?« »Ausfall«, bestätigte Tersten. »Dieses …

dieses Etwas weicht kein Grad von seiner Marschlinie ab. Der nächste Palast wird 918 sein, Pondyr.«

Sirkat fluchte hemmungslos. Immerhin näherten sie sich jetzt immer schneller dem Ziel. Die drei Torcs hatten Sektor Nord-22-5 mittlerweile erreicht.

Sirkat hatte versucht, sich vorzustellen, was sie erwartete.

Es war inzwischen dunkel geworden. Die Scheinwerfer der Fahrzeuge tauchten den Glaspalast, in dem Effrihl und sein einziger Helfer Dienst getan hatten, in weißes Licht.

Sirkat wurde übel. Er hörte kaum, wie Tersten stöhnte. Langsam, stieg er aus und ging auf das zu, was einmal ein Glaspalast gewesen war.

*

Razamon sah sich im etwa fünfzehn mal zehn Meter großen Kontrollraum des Ge­bäudes um. Die Technos hinderten ihn nicht daran.

Die Instrumente waren derart fremdartig, daß Razamon Tage, ja vielleicht Wochen gebraucht hätte, um ihre Funktion zu begrei­fen und einen der Schläfer zu erwecken.

Einen einzigen! Dabei gab es über 3000 Glaspaläste in der

Senke! Wie lange würde es dauern, bis er al­le Schläfer aus den Tiefschlafkammern be­freit hatte? Fünf Monate? Ein Jahr?

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17 Die Nacht der Schläfer

Bis dahin würden die Odinssöhne längst den gleichen Gedanken wie Atlan gehabt ha­ben und ihrerseits versuchen, die Gefange­nen aus ihrem Dämmerzustand zu befreien. Nach Sirkats Worten war anzunehmen, daß Sigurd, Balduur oder Heimdall nicht lange um Hilfe zu bitten brauchten.

Sirkat war höflich, aber mißtrauisch. Razamon mußte den Odinssöhnen zuvor­

kommen. Notfalls mußte er sich etwas ein­fallen lassen, um Sirkat zur Hilfeleistung zu zwingen.

Dem Pthorer war gar nicht wohl bei die­sem Gedanken. Sirkat war offen zu ihm und Kolphyr gewesen, und auf eine unerklärliche Art und Weise empfand Razamon eine ge­wisse Sympathie für den Techno.

Und dieser Herrohn? Sollte es nicht möglich sein, den Konflikt

der beiden Technos und ihrer Anhänger­schaften für Atlans Ziele auszunutzen? Raz­amon nahm sich vor, die Technos im Palast ein wenig auszuhorchen, was es mit Herrohn tatsächlich auf sich hatte.

Razamon passierte ungehindert den Ein­gang zum hinter der Trennwand liegenden Komplex, in dem die Schläfer untergebracht waren. Zwei Technos folgten ihm schwei­gend mit angeschlagenen Lähmwaffen.

Razamon ging weiter in den Gang hinein. Er sah in einige jener Räume hinein, die dem Personal als Wohn- und Schlafgemä­cher dienten. Dann tauchten die ersten Ni­schen auf. Vor einer blieb Razamon stehen und betrachtete lange das Wesen, das, an komplizierte Lebenserhaltungssysteme an­geschlossen, in der Vertiefung lag. Die Kammer des Schläfers mochte knapp zwei mal zwei Meter groß sein. Die Wände be­standen auch hier aus glasähnlichem Materi­al wie fast überall in den Palästen. Razamon entdeckte ein längliches Schaltbrett, von dem aus sich offenbar in Notsituationen die Entkonservierung direkt lenken ließ.

Das gefangene Wesen erinnerte den Ptho­rer an einen zusammengerollten Igel.

Plötzlich drang Lärm in den Gang. Die beiden Technos fuhren herum. Razamon

handelte instinktiv, als er ihnen die Waggus aus den Händen schlug. Er stieß die wild an­greifenden Männer zurück und lähmte sie mit der Waffe.

Dann stürmte er zurück in den Kontroll­raum. Er wußte selbst nicht, weshalb er die Wächter überwältigt hatte. Wahrscheinlich hatte er unterschwellig begriffen, daß sich hier eine nicht so schnell wiederkehrende Chance für ihn und Kolphyr bot, ohne Blut­vergießen die Initiative an sich reißen zu können.

Technos mit einem flammend roten Strei­fen quer über dem Oberteil der Lederkombi­nationen standen breitbeinig in der Halle. Die Wachen lagen paralysiert am Boden. Kolphyr hockte in einer Ecke und rührte sich nicht, bis er Razamon sah.

Aber auch die Technos hatten die Bewe­gung im Gang wahrgenommen. Sie rissen die Waggus hoch. Razamon glaubte schon, einen dummen Fehler gemacht zu haben, als er die schneidende Stimme hörte.

Die Technos steckten die Waggus ins Fut­teral zurück, behielten aber die Hände am Griff.

Ein hochgewachsener Mann kam auf Raz­amon zu.

Der Pthorer wartete, bis der Fremde vor ihm stand. Aus den Augenwinkeln heraus prägte er sich die Positionen der Technos ein. Er versuchte, die Chancen abzuschät­zen, sie notfalls zu überwältigen.

Es war so gut wie unmöglich. Selbst mit Kolphyrs Hilfe konnte er nicht alle auf ein­mal unschädlich machen, jedenfalls nicht so schnell, daß einigen von ihnen nicht noch Zeit blieb, mit den Waggus zu schießen.

Noch bevor der Fremde zu reden begann, wußte der Pthorer, wen er vor sich hatte.

»Ich bin Herrohn«, stellte sich der Techno vor. »Ich nehme an, Sirkat hat dir von mir erzählt.«

Razamon nickte. Irgend etwas an dem Techno störte ihn. Er wußte nicht, was, aber er glaubte nicht, daß er Herrohn jemals Sympathien entgegenbringen konnte.

»Schön. Ich glaube zu wissen, was er

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euch weismachen wollte. Aber vergessen wir Sirkat. Er wird so schnell nicht zurück­kommen. Ihr seid hier, um die Schläfer zu wecken?«

Razamon wechselte einen schnellen Blick mit Kolphyr. Der Bera ließ sich nicht anmer­ken, daß er der Unterhaltung aufmerksam folgte, aber Razamon kannte das Antimate­riewesen gut genug, um zu wissen, daß Kol­phyr nur auf ein Zeichen wartete.

»Und wenn es so wäre?« Herrohn verzog das Gesicht zu einer Gri­

masse. »Sirkat wird dir niemals helfen, Fremder.

Er ist verbohrt in seine Hirngespinste.« »Welche Hirngespinste?« wollte der At­

lanter wissen. Herrohn winkte barsch ab. Er wurde Raz­

amon von Sekunde zu Sekunde unsympathi­scher. Der Atlanter fühlte sich angewidert von der Selbstherrlichkeit des Technos.

»Ich dachte, ihr hättet einen Waffenstill­stand geschlossen, du und Sirkat?«

»Hat er euch das auch erzählt?« meinte Herrohn amüsiert. »Nun, wir halten uns dar­an, indem wir keine Glaspaläste sabotieren. Meine Anhänger führen sogar ihren Dienst ordnungsgemäß aus.«

»Da wird Sirkat sich aber freuen«, knurrte Razamon sarkastisch. »Aber das ist sicher nicht der Grund deines … Besuchs.«

Wieder die Grimasse! Herrohn verstand es, das, was er für einen Triumph halten mochte, auszukosten.

»Allerdings nicht. Ich bin hier, um euch einen Vorschlag zu machen, der beiden Sei­ten zum Vorteil gereicht – euch und uns.«

Razamon schwieg. Nach einer Weile fuhr Herrohn fort:

»Ihr wollt, daß die Schläfer erweckt wer­den. Wir wollen aus der Senke verschwin­den und nicht länger sinnlos gewordenen Tätigkeiten nachgehen. Ihr sucht einen zen­tralen Weckmechanismus, ich kann euch einen wertvollen Hinweis geben. Es gibt da nur ein Problem.«

Der Haken! durchfuhr es Razamon. »Wir müssen Zeit haben, die Senke zu

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verlassen, bevor die Schläfer ihre Paläste verlassen.«

Razamon war überrascht. Er hatte etwas anderes erwartet, eine Forderung, eine Be­lohnung oder ähnliches.

Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen!

Was hatte Sirkat gesagt? Herrohns An­hänger wollten die Konservierten sich selbst überlassen. Aus reiner Bosheit sicher nicht. Herrohn mochte raffiniert, hinterhältig und selbstherrlich sein, aber Razamon konnte sich nicht vorstellen, daß die Hälfte aller Technos in der Senke Mörder waren.

Außerdem fiel Razamon ein, daß Sirkat eigenartig reagiert hatte, als er ihm zum er­stenmal seine Forderung vortrug, fast ängst­lich!

Das Ergebnis dieser Gedankengänge war verblüffend.

»Ihr habt Angst davor, daß die Schläfer erwachen«, sagte der Pthorer Herrohn auf den Kopf zu. »Panische Furcht! Deshalb wollt ihr unbedingt aus ihrer Nähe ver­schwinden und sie notfalls sogar sterben las­sen, und Sirkat redet sich selbst ein, immer noch im Auftrag der FESTUNG zu han­deln.«

»Schweig, Fremder!« herrschte Herrohn den Atlanter an.

»Du weißt, daß ich recht habe! Aber gut, Herrohn, uns soll's nur recht sein. Wo befin­det sich der zentrale Mechanismus?«

Herrohn hatte den kurzen Schock, den Razamons Worte in ihm ausgelöst hatten, schnell überwunden.

»Immer langsam. Vorerst müssen wir uns darüber unterhalten, wie die Angelegenheit abzuwickeln ist. Ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann, Fremder. Du gehörst nicht zu den Göttersöhnen.«

Sehr schlau! dachte Razamon. Aber er wußte nun, daß Herrohns großspurige Worte nur dazu dienen sollten, sich eine günstigere Verhandlungsposition zu verschaffen. Aus irgendeinem Grund brauchte der Techno Razamon und Kolphyr. Und Razamon glaubte zu wissen, warum.

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Herrohn mochte es nichts ausmachen, die Schläfer sterben zu lassen. Aber seine An­hänger spielten nicht mit. Herrohn stand un­ter dem Druck seiner eigenen Leute!

Sie wollten die Senke so schnell wie mög­lich verlassen, aber nicht um den Preis, der Herrohn vorschwebte. Sonst hätten sie längst ihre Arbeitsplätze in den Glaspalästen im Stich gelassen und wären ebenso auf Nimmerwiedersehen verschwunden wie die viertausend, die Hals über Kopf vor den Ka­tastrophen nach dem Absturz Pthors flohen.

Razamon war klar, daß sowohl die pani­sche Furcht vor den wiedererwachten Schlä­fern als auch die innere Sperre, die sie daran hinderte, die Konservierten sterben zu las­sen, den Technos von höherer Stelle einge­impft worden waren.

Die ausweglose Situation, in der sie sich nach dem Sturz der Herren der FESTUNG befanden, äußerte sich in ungezügelter Ag­gression und wilden Phrasen, aber sie waren nicht bereit, Herrohn kompromißlos zu fol­gen.

»Wie lange braucht ihr bis zum Rand der Senke?« fragte der Pthorer. »Vom Zentrum aus zwei Stunden, wenn wir die Torcs neh­men«, erklärte Herrohn.

»In Ordnung«, sagte Razamon. »Wir er­fahren von dir, wo sich der zentrale Weck­mechanismus befindet. Dafür garantieren wir, euch sofort Nachricht zu geben, wenn wir ihn gefunden haben. Dann habt ihr ge­nau zwei Stunden Zeit zur Flucht, bevor wir die Entkonservierung einleiten.«

Razamon wußte inzwischen von Sirkat, daß die Schläfer zwei Stunden ohne War­tung überlebten.

Herrohn sah den Atlanter prüfend an. »Wer sagt mir, daß ich deinen Worten

trauen kann, Fremder?« »Ich«, erklärte Razamon ungerührt. »Du

mußt mir ebenso vertrauen wie ich dir, Her­rohn.«

Der Techno sah Razamon in die Augen. Dann winkte er zwei seiner Leute herbei und flüsterte etwas mit ihnen. Schließlich nickte Herrohn.

Ihm bleibt gar keine andere Wahl! dachte Razamon. Im stillen amüsierte er sich über Herrohns Getue.

»Also gut, Fremder. Wir wissen beide, was wir wollen, und wir haben beide einen Vorteil, wenn wir ehrlich zueinander blei­ben.«

Und ich weiß, was du wirklich willst, dachte Razamon.

»Ihr müßt den Schwarzen Palast suchen«, erklärte Herrohn. Razamon merkte, daß dem Techno die Worte schwer über die Lippen kamen.

Schwarzer Palast? Was war das nun wie­der?

»Ich will versuchen, es dir zu erklären«, sagte der Techno.

Zehn Minuten später verließen Razamon und Kolphyr den Glaspalast zusammen mit Herrohns Leuten. Die beiden Besucher stie­gen in den Zugor, während Herrohn und sei­ne Leibwache in Richtung Zentrum davon­rasten.

Razamon war nicht viel schlauer als vor­her.

Sie mußten einen »Schwarzen Palast« su­chen, in dem sich alten Legenden der Tech­nos zufolge der zentrale Weckmechanismus für den Fall befand, daß Pthor eines Tages sein Ziel, die Schwarze Galaxis, erreichte.

Weder Herrohn noch Sirkat oder irgend­ein anderer Techno in der Senke wußte, so sich dieser Schwarze Palast befand.

Razamon stand an der Kontrollsäule des Zugors und manövrierte das Fahrzeug in die Höhe. Seine Laune war die denkbar schlech­teste.

Kolphyr trat zu ihm. »Und?« knurrte der Atlanter. »Was sagt

dein Wommser?« »Wommser sagt nicht viel«, erklärte der

Bera. »Wommser schimpft!« »Und auf wen?« wollte Razamon wissen,

der nicht allzuviel auf die Eröffnungen Kol­phyrs gab.

»Auf Razamon, weil Razamon mit den schlechten Technos arbeitet, während andere bald sterben werden.«

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Der Pthorer fuhr herum. Kolphyr konnte nur Sirkat meinen, der

überstürzt aufgebrochen war, als er von sei­nem Vertrauten die Nachricht erhalten hatte.

»Sag Wommser, er soll sich klarer aus­drücken.«

»Nicht nötig«, zirpte der Bera. »Wommser bald hier.«

Spätestens jetzt, wo der Bera wieder sein schreckliches Kauderwelsch produzierte, wußte Razamon, daß er tatsächlich Kontakt zu seinem unbegreiflichen ehemaligen Sym­bionten hatte.

Das aber bedeutete nichts Gutes. Der Symbiont hatte bisher nach seinem

»Verschwinden« immer nur dann eingegrif­fen, wenn sich die Gefährten – und hierbei speziell Kolphyr – in höchster Gefahr befun­den hatten.

Noch gab es kein Anzeichen für eine sol­che Gefahr. Sie lauerte also noch irgendwo auf sie.

Im Schwarzen Palast? durchfuhr es Raza­mon.

Der Atlanter zwang sich zur Konzentrati­on. Er steuerte den Zugor über die Glaspalä­ste hinweg aufs Zentrum der Senke zu. Von hier aus wollte er die Suche beginnen.

Der Schwarze Palast! Einer von 3012!

5.

Sirkat zwang sich, weiterzugehen. Immer wieder sah er sich nach allen Seiten um, als ob hinter jedem der anderen Palästen, hinter jedem der hier vereinzelt stehenden Bäume das Unfaßbare lauern könnte.

Eines war Sirkat sofort klar, als er Effrihls Palast vor sich sah.

Dies hier konnte niemals das Werk des Daalen sein, den er in der Nische von Sir­rows Glaspalast gesehen hatte. Hier hatte sich ein Monstrum durch die für unzerstör­bar gehaltenen Glaswände geschoben, keine relativ kleines Wesen, wie es der Daale ge­wesen war.

Oder hatte sich der Daale den Technos bisher nur nicht in seiner wahren Form ge-

Horst Hoffmann

zeigt? Die Spekulationen führten zu nichts. Sir­

kat brauchte konkrete Hinweise. Der Techno hielt die todbringende Strahl­

waffe in der Hand. Tersten und die anderen folgten ihm in einigen Metern Abstand. Sir­kat mußte sich zusammenreißen, um seine Angst zu verbergen. Er war sich darüber im klaren, daß er bisher nur deshalb über die Hälfte des Stammes zusammenhalten konn­te, weil den Technos immer noch vor Augen war, wie Sirkat von den Herren der FE­STUNG zum neuen Führer bestimmt wor­den war.

Die geringste Unsicherheit, und Herrohn war am Ziel!

Sirkat erreichte den Eingang. Er sah das verwüstete Innere, den breiten, unregelmä­ßig runden Korridor, der sich durch die Wände bis hin in den Komplex der Schläfer gefressen hatte.

»Tersten!« Zögernd trat der Vertraute ein, bis er ne­

ben Sirkat stand. »Was für Wesen befinden sich in den

Schlafkammern?« Tersten gab nicht sofort Antwort. Es war

ihm anzusehen, daß auch er das, was er sah, nur schwer verkraften konnte.

»Kopfschlangen von Ceeh'Cobar«, flü­sterte er kaum hörbar. »Wir haben sie erst vor kurzem konserviert, auf unserer vierten Station vor der Katastrophe.«

Langsam schritt Sirkat weiter, in den Gang hinein, der zu den Nischen führte.

Er mußte Gewißheit haben. Mittlerweile hatte er seine Gefühle wieder völlig unter Kontrolle. Die letzte Meldung aus Nord­22-4, wo sich Kerdens Palast befand, machte klar, daß das Monstrum sich längst nicht mehr in der unmittelbaren Umgebung be­fand.

Trotzdem zitterte Sirkat, als er vor der er­sten Tiefschlafkammer stand. Die große Schlange mit dem riesigen flachen Kopf war tot. Ein kurzer Blick auf das Kontrollbrett zeigte Sirkat, daß alle Lebensfunktionen er­loschen waren.

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21 Die Nacht der Schläfer

Die Angst war längst einer unbeschreibli­chen Wut gewichen, blindem Zorn auf et­was, das gerade in diesem Augenblick dabei sein mochte, weitere wertvolle Schläfer in den Tod zu schicken und weitere Technos zu …

Sirkat erkannte bestürzt, daß er bisher kei­ne Spuren von Effrihl gefunden hatte. Auch von Tenz, Effrihls Helfer, war nichts zu se­hen gewesen.

Sirkat fuhr herum und beeilte sich, in den Kontrollraum zu kommen. Außer Tersten warteten alle anderen Technos noch draußen im Freien.

Sirkat befahl ihnen, den Palast zu durch­suchen. Nur widerwillig kamen sie der Auf­forderung nach.

»Was hier geschehen ist«, flüsterte Ter­sten, »ist … völlig unvorstellbar, Sirkat! Mir wird jetzt noch schlecht, wenn ich nur daran denke. Es muß etwas so Grauenhaftes sein, daß ich …«

»Schweig!« herrschte Sirkat den Freund an. Sofort tat ihm sein barscher Ton leid.

»Schon gut, Tersten. Wir werden das Er­gebnis der Suche abwarten und dann alle verfügbaren Männer in Nord-22-3 zusam­menziehen. Der Daale, oder was auch immer dies hier angerichtet hat, wird genau dort auftauchen. Wir können sogar vorausbestim­men, welchen Palast das Monstrum sich aus­suchen wird. Dann machen wir ihm den Garaus. Einer Waggu mag es widerstehen können, aber nicht dem hier.« Sirkat schlug mit der flachen Hand auf die Stelle, wo sich der Waffenrock über der Strahlwaffe leicht ausbeulte.

Aber tief in seinem Innern blieb ein Rest von Zweifel. Sirkat war nicht so sicher, wie er sich gab.

Zwei der Technos, die er auf die Suche nach Effrihl und Tenz geschickt hatte, er­schienen im Durchgang zu den Konservie­rungs- und Wohnkomplexen. Sie hielten sich an Streben und Stühlen fest. Einer von ihnen brach zusammen und wand sich in Krämpfen.

»Was ist los?« fragte Sirkat. Er ging auf

den Techno zu, der sich mit Mühe auf den Beinen hielt. »Was habt ihr gefunden? Ant­worte!«

Der Mann sah seinen Herrn aus aus­druckslosen Augen an. Er begann, unzusam­menhängende Worte zu stammeln.

»Er ist tatsächlich nicht bei Sinnen«, flü­sterte Tersten entsetzt. »Wir sollten hier ver­schwinden, Sirkat. Je eher wir dem Spuk ein Ende machen, desto besser für uns alle.«

»Nein!« sagte Sirkat heftig. »Ich will wis­sen, was sie gesehen haben. Du bleibst hier. Rufe die anderen zusammen. Ihr wartet, bis ich zurück bin.«

»Sirkat …«, flüsterte Tersten flehend. Aber der Techno-Führer war bereits im Durchgang verschwunden.

Die beiden Männer waren aus einer der Wohnunterkünfte Tenz' und Effrihls gekom­men.

Sirkat hatte die Strahlwaffe in der Hand, als ob sie Schutz vor dem Grauen bieten könnte, das den beiden den Verstand geraubt und sie zu psychischen Wracks gemacht hat­te.

Sirkat rechnete mit allem möglichen, aber als er vor dem stand, was von Tenz oder Effrihl übriggeblieben war, spürte er, wie seine Beine nachgaben.

* CYR

Das Bewußtsein:

Verworren, ohne Beziehung zur früheren Existenz. Cyr ahnte unterschwellig, daß er früher einmal anders gewesen war, daß es etwas gab, mit dem er sich identifiziert hat­te, ein anderes Wesen.

Gepeinigt, verrückt vor Schmerz und Ent­täuschung, als der sich Haß entwickelt hatte, Haß auf all das, was ihn zu dem gemacht hatte, was er jetzt war.

Was davor lag, wußte Cyr nicht. Er kann­te nicht einmal seinen Namen.

Er wußte nicht, was er jetzt war, wie er aussah. Er wußte nur, daß er weitermußte.

Die Motivation:

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Haß, bitterer Haß und der Wille, zu zer­stören, anderen das zu ersparen, was ihm widerfahren war. Immer weiter, bis zum Zentrum der verhaßten Vibrationen.

Dazwischen kurze Momente einer gewis­sen Selbsterkenntnis, unbeschreibliche Ver­zweiflung, das Wissen, daß er dazu verurteilt war, bis zu seinem Ende als Monstrum exi­stieren zu müssen.

Schmerz: Immer weiter, wie unter einem fremden

Zwang. Cyr mußte seinem Drang zum Zen­trum der Vibrationen folgen, um sein Werk zu vollenden. Vielleicht würde er dann zur Ruhe kommen. Irgendwo in den Tiefen sei­nes Unterbewußtseins war die Erinnerung an eine Zeit, in der Cyr glücklich gewesen war.

Das alles war vorbei. Geblieben waren Haß und die Qualen eines monströsen Orga­nismus.

Und über allem stand die Verzweiflung und der Zwang, immer weiter zu müssen, zu zerstören und Rache zu nehmen …

In den kurzen Augenblicken der Ruhe sandten Cyrs pervertierte Sinne wilde Rufe nach außen, immer wieder der gleiche ver­zweifelte Aufschrei:

HELFT MIR! Aber es gab niemanden, der ihn hörte –

mit einer Ausnahme.

*

Es war etwas, vor dem Sirkat sein ganzes Leben lang Angst gehabt hatte. Die Aussicht hatte ihn im Traum verfolgt, ihn in seiner Jugend gequält, bis es ihm gelang, den Ge­danken zu verdrängen.

Es war die angsterfüllte Frage nach der ei­genen Existenz.

Noch niemals hatte ein Techno einen Art­genossen ohne seine Hülle gesehen. Sobald ein Techno starb, wurde er von Dienern der FESTUNG abgeholt. Gleichzeitig wurde von dort aus »Ersatz« geliefert.

Um so schrecklicher war der Anblick. Das stählerne Skelett lag, zusammenge-

Horst Hoffmann

halten von ebenfalls metallenen Sehnen, in Tenz' Sessel. Sirkat konnte nicht sagen, ob es die Überreste von Effrihl oder Tenz wa­ren, die er vor sich sah.

Das Gerippe eines toten Technos! Nicht die Vorstellung dessen, was sich

hier ereignet hatte, drohte Sirkat den Ver­stand zu rauben. Es war ein ungeschriebenes Gesetz der Technos, nicht über das zu spre­chen, was ihre Körper zusammenhielt. Aus dem gleichen Grund galt es als Verbrechen, in Gesellschaft anderer die Kleidung abzule­gen. Kaum ein Techno wagte es, dies zu tun, wenn er allein war.

An den Anblick der sichtbar werdenden Skeletteile, hatte man sich von Kindheit an gewöhnt, aber alles andere …

Sirkat spürte, daß das, was in der Senke sein Unwesen trieb, nicht nur die Existenz der Schläfer bedrohte. Es erschütterte die Grundfesten der Techno-Zivilisation in der Senke, ja, vielleicht auf ganz Pthor!

Sirkat zwang sich, den Blick von dem Un­faßbaren zu nehmen. Am ganzen Körper zit­ternd, ging er langsam in den Kontrollraum zurück, wo Tersten mit angsterfülltem Ge­sicht auf ihn wartete.

»Was hast du gefunden, Sirkat?« fragte er kaum hörbar.

Sirkat sah den Freund lange an. Er würde ihn einweihen müssen, aber im Augenblick wollte er Tersten die Qualen ersparen.

Die beiden Technos, die das Skelett gese­hen hatten, hockten am Boden und starrten ins Leere. Sie würden den Schock nie mehr überwinden können. Im Gegensatz zu Sir­kat, der gewarnt war, hatten sie dem Unfaß­baren unvermittelt gegenübergestanden.

»Später«, brachte Sirkat hervor. Zu den Wartenden gewandt, sagte er: »Zwei von euch schaffen diese beiden«, er deutete auf die Apathischen, »in meinen Palast. Bleibt bei ihnen und laßt sie nicht aus den Augen, bis ich zurück bin.«

Die Männer gehorchten. Sie stellten keine Fragen, obwohl auch sie sahen, in welcher Verfassung sich ihr Anführer befand.

Sirkat gewann die Kontrolle über sich zu­

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23 Die Nacht der Schläfer

rück. Tersten erschrak, als er nun die kom­promißlose Entschlossenheit in seinem Blick sah.

»Wir haben hier nichts mehr verloren. Rufe alle verfügbaren Männer zusammen, Tersten. Sie sollen sich mit Torcs in Rich­tung Nord-22-3 in Bewegung setzen, aber noch nicht in diesen Sektor eindringen, son­dern an der Grenze auf weitere Befehle war­ten. Ab sofort muß eine Wache in jedem Glaspalast genügen. Nur wo noch Instand­setzungs- und dringende Wartungsarbeiten auszuführen sind, dürfen Ausnahmen ge­macht werden. Dieser Palast hat eine lei­stungsstarke Funkanlage, versuche, einen Rundruf zustande zu bringen. Ich bin gleich zurück.«

Sirkat zog die Strahlwaffe wieder aus dem Waffenrock der Lederrüstung und betrat noch einmal den Korridor. Er mußte sich zu jedem Schritt zwingen, bis er im Eingang der Wohnunterkunft stand.

Noch einmal spürte er, wie das Entsetzen ihn zu übermannen drohte. Dann schoß er. Das stählerne Skelett verging in dem bereits bekannten grünen Leuchten.

Aber irgendwo mußte sich ein zweites be­finden, irgendwo in einem der anderen Räu­me.

Sirkat kehrte zu Tersten und den Warten­den zurück.

»Wir fahren allein, Tersten. Die anderen bleiben zurück und riegeln den Palast von außen ab. Niemand darf hinein. Das gleiche gilt für alle anderen zerstörten Glaspaläste. Je zehn Mann sollen sie bewachen. Wer dem Befehl zuwiderhandelt und einen Palast be­tritt, wird hingerichtet. Ihr wißt also Be­scheid.«

Tersten starrte den Freund an wie einen Geist.

»Sirkat …«, flüsterte er tonlos. »Ja?« »Herrohns Anhänger haben die beiden

Fremden befreit. Ich erhielt soeben die Nachricht. Die Fremden sind mit ihrem Zu-gor entkommen und kreisen über der Senke, als ob sie etwas suchten.«

»Dieser Verräter!« fluchte der Techno-Führer. »Ich hätte wissen müssen, daß er sich nicht an unsere Abmachung hält. Er hat den Fremden vom Schwarzen Palast erzählt. Wenn ich nur wüßte, was er vorhat!«

»Seine Leute tun nach wie vor in den Pa­lästen Dienst«, sagte Tersten.

»Das hat nichts zu bedeuten. Aber wir ha­ben keine Zeit, uns jetzt darum zu kümmern. Hast du den Rundruf ausgestrahlt?«

Tersten nickte. »Also gut. Wir brechen auf. Es geht um

Minuten.« Sirkat und Tersten sprangen in ihren Torc.

Dann raste das Fahrzeug auf den Sektor zu, wo sich in diesen Augenblicken das Drama fortsetzte.

*

Razamon steuerte den Zugor durch die Nacht. Er hatte lange überlegt, was sich hin­ter dem Begriff »Schwarzer Palast« verber­gen mochte und vermutete, daß es sich dabei um eine Umschreibung handelte.

Aber wofür? Die im Licht der Scheinwerfer glitzernden

Glaspaläste zogen unter dem Zugor vorbei. Es mußte sich um einen der 3012 Paläste

handeln, egal, was die geheimnisvolle Be­zeichnung zu bedeuten hatte.

Razamon blickte zum Himmel. Mittler­weile kannte er die Sternkonstellationen über Loors und konnte sich einigermaßen an ihnen orientieren. Die Nacht würde noch ei­nige Stunden dauern. Bei Tageslicht hätte die Suche vielleicht eher Erfolg gebracht.

»Es ist sinnlos«, murmelte der Pthorer. »Uns wird nichts anderes übrigbleiben, als jeden Palast einzeln zu untersuchen.«

»Das kann Jahre dauern«, gab Kolphyr zu bedenken. »Bis dahin wird kaum noch einer der Schläfer am Leben sein. Herrohn wird bald die Geduld verlieren.«

»Ich traue ihm nicht über den Weg«, knurrte Razamon. »Aber er muß immerhin Rücksicht auf seine Anhänger nehmen. Aber du hast trotzdem recht. Mit seinem dezi­

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mierten Personal wird Sirkat es auf die Dau­er nicht schaffen, alle Schläfer am Leben zu erhalten.«

Außerdem macht mir Wommsers Aktivität Sorgen! dachte er. Und Sirkats überstürzter Aufbruch.

Was hatte Herrohn gesagt? Sirkat würde so schnell nicht zurückkehren?

Der Techno hatte ihm und Kolphyr etwas verschwiegen.

Eine Gruppe von dicht beieinander ste­henden Glaspalästen tauchte in Flugrichtung auf. Es gab viele solcher Gruppen, die aus fünf oder mehr Gebäuden bestanden. Raza­mon schenkte ihnen nur wenig Beachtung. Der Schwarze Palast, davon war Razamon überzeugt, mußte sich irgendwo abseits der anderen befinden, an einem Ort, der seiner Sonderstellung gerecht wurde.

In jedem Glaspalast arbeiten Technos, dachte der Pthorer. Wie ist es dann möglich, daß niemand weiß, welcher der sagenhafte Schwarze Palast ist?

Hatte Herrohn gelogen? Razamon glaubte es nicht. Herrohn profitierte genauso wie er davon, wenn Razamon schnell an sein Ziel gelangte.

Aber danach sah es im Moment nicht aus. Razamon mußte diesen zentralen Weck­

mechanismus finden. Es war die einzige Chance, die Schläfer zu wecken, ohne daß ein Großteil von ihnen starb. Inzwischen hatte der Atlanter sich ein Bild von den Ver­hältnissen in der Senke gemacht. Der Ver­lust der viertausend Technos stellte Sirkat vor schier unüberwindliche Probleme. Das Personal in den Glaspalästen reichte gerade noch aus, um die Lebenserhaltungssysteme zu kontrollieren und einfache Wartungsar­beiten zu erledigen. Was aber, wenn sich größere Schäden einstellten?

Die Technos, die abgestellt werden muß­ten, um einen Teil der Schläfer zu erwecken, mußten zwangsläufig ihre Pflegearbeit un­terbrechen.

Razamon war überzeugt davon, daß Her­rohns Anhänger früher oder später ihre Skrupel aufgeben würden. Sirkat hatte dann

Horst Hoffmann

nicht mehr genug Leute, um die Schläfer zu versorgen.

Plötzlich begann der Zugor heftig zu schwanken. Ein Ruck fuhr durch das Fahr­zeug. Razamon hielt sich an der Kontroll­säule fest und stieß eine Reihe heftiger Flü­che aus.

»Kolphyr! Ich habe dir gesagt, du sollst dich ruhig verhalten! Du treibst es noch so­weit, daß wir abstürzen!«

»Kolphyr verhält sich ruhig«, kam es von hinten. »Nur Razamon tobt wie ein Berser­ker.«

Der Pthorer zuckte bei dem Wort zusam­men. Er drehte sich um und sah, wie der Be­ra wieder zwischen den Kisten lag. Der Velst-Schleier glitzerte im spärlichen Licht der Sterne wie ein Kleid aus Millionen Dia­manten.

»Razamon soll lieber aufpassen, wohin er fliegt!«

Der Atlanter rüttelte verzweifelt an eini­gen Steuerhebeln. Der Zugor verlor schnell an Höhe. Einige der Kontrollämpchen waren erloschen.

»Der Antrieb«, rief Razamon. »Er ist de­fekt. Ich kann nichts machen!«

»Vielleicht haben ein paar Technos am Zugor herumgespielt, als wir im Palast wa­ren«, vermutete Kolphyr.

»Dein Gemüt möchte ich haben«, brumm­te Razamon, während er immer wieder an den Steuerknüppeln riß, bis zwei von ihnen abbrachen. Der Pthorer fluchte und warf sie über Bord.

»Das kommt davon«, schrillte Kolphyrs Stimme. »Razamon muß noch viel lernen.«

»Halt die …« Razamon blieb das Wort im Hals stecken,

als er die Erscheinung sah. »Was soll Kol­phyr halten? Dich?«

»Still!« Der Zugor sank schnell ab. Vor dem Fahr­

zeug tauchten drei Glaspaläste auf, die eng beieinander standen. Aber Razamon nahm sie gar nicht wahr.

In der Ferne erfaßten die starken Schein­werfer des Zugors einen Palast. Als der

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25 Die Nacht der Schläfer

Lichtkegel ihn streifte, hatte Razamon se­kundenlang den Eindruck, auf eine dunkle Wand zu blicken, die sich vor dem Gebäude in die Höhe schob.

Eine schwarze Wand! »Der Schwarze Palast!« rief der Pthorer.

»Das muß er sein!« Er sah die drei Gebäude auf sich zukom­

men. Der Zugor ließ sich nicht mehr lenken. Der Fahrtwind strich Razamon um die Oh­ren, seine Augen begannen zu tränen.

Dann war es soweit. »Festhalten!« rief der Atlanter. Kolphyr

antwortete nicht. Im nächsten Augenblick prallte der Zugor

frontal gegen einen der drei zusammenste­henden Glaspaläste. Razamon wurde aus dem Fahrzeug geschleudert und landete un­sanft wenige Meter neben dem Gebäude in weichem Gras. Das war seine Rettung.

Benommen kam der Pthorer auf die Bei-ne. Er sah sich um. Aus dem Zugor stieg Rauch auf. Das Fahrzeug war ziemlich zer­beult und auf keinen Fall jemals wieder flugtauglich.

»Kolphyr!« Keine Antwort. Razamon taumelte auf

das Wrack des Zugors zu. Er achtete nicht auf die beiden Technos, die bewaffnet aus dem Palast stürmten.

Da sah Razamon die Leuchterscheinung. Eine vogelähnliche Gestalt schien über

dem Wrack zu schweben, genau dort, wo Kolphyr gelegen hatte. Razamon kannte sie nur zu gut.

Wommser! Kolphyrs ehemaliger Symbi­ont, der, wie der Bera es einmal ausgedrückt hatte, »irgendwo zwischen den Welten« leb­te.

Razamon kniff die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, war der Spuk vorbei.

Eine grüne Pranke schob sich über den Rand des Zugors. Dann kletterte der Bera aus der Flugmaschine.

Die Technos waren stehengeblieben. Auch sie hatten die Erscheinung gesehen.

»Alles in Ordnung?« fragte Razamon. »Mit Kolphyr schon«, sagte das Antima­

teriewesen. »Aber?« »Wommser«, sagte Kolphyr traurig.

»Wommser ist gekommen, um uns etwas zu zeigen, aber er kann nicht.«

»Was soll das heißen, er kann nicht?« Der Bera zuckte die mächtigen Schultern. »Wommser ist krank.«

*

Razamon starrte den Bera betroffen an. Er versuchte, sich vorzustellen, wie ein Wesen, das nur ab und zu als halbtransparente Er­scheinung auftauchte, krank sein konnte.

Er kam nicht dazu, sich weitere Gedanken zu machen.

Die Technos hatten ihren Schock über­wunden und kamen mit entschlossenen Mie­nen auf ihn und Kolphyr zu. Auch aus den beiden anderen Gebäuden kam je ein Tech­no. Sie alle hielten ihre Waggus schußbereit in den Händen.

Razamon tastete vorsichtig nach der er­beuteten Lähmwaffe in seinem Gürtel. Er konnte jetzt keinen zusätzlichen Ärger ge­brauchen.

»Was habt ihr hier zu suchen?« fragte ei­ner der Technos. »Ihr habt den Glaspalast beschädigt. Es ist fraglich, ob wir die sechs Schläfer noch retten können.«

»Dann würde ich mich um sie kümmern, statt hier draußen ein Schauspiel zu veran­stalten«, gab der Pthorer bissig zurück. »Wir wollen nichts von euch. Geht zurück und kümmert euch um die Konservierten.«

Razamon gab Kolphyr ein Zeichen. Vor­sichtig setzte er sich in Bewegung.

»Halt!« rief der Techno. »Ich kenne euch nicht, aber ihr müßtet wissen, daß der Bezirk Nord-22-3 von Sirkat zum Sperrgebiet er­klärt wurde. Wir müssen euch festhalten, bis wir Sirkat verständigt haben und wissen, woran wir mit euch seid.«

Razamon sah den im Licht, das aus den Gebäuden drang, noch gespenstischer wir­kenden Mann verständnislos an.

Nord-22-3? Sperrgebiet? Sirkats Anwei­

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sung? Hatte dieses Theater etwas mit Sirkats

überstürztem Aufbruch zu tun? »Sagt Sirkat Bescheid«, riet Razamon.

»Uns laßt in Ruhe. Wir handeln in seinem Auftrag.«

Natürlich war das gelogen. Dennoch war Razamon immer noch bestrebt, jeden Ärger zu vermeiden. Die Technos taten nur ihre Pflicht, und in ihren Augen mußten Raza­mon und Kolphyr Saboteure sein. Sie hatten den Glaspalast, gegen den der Zugor geprallt war, beschädigt und damit die dort befindli­chen Schläfer in Gefahr gebracht.

Aber der Techno ließ sich nicht beirren. Razamon sah sich unauffällig um. Vier

Mann. Kolphyr verhielt sich ruhig, aber Razamon wußte, daß er nur auf ein Zeichen wartete.

Als der Techno die Waggu hochriß, warf Razamon sich zu Boden und zog die eigene Waffe. Noch im Fallen betäubte er zwei der Männer. Lähmstrahlen fuhren über ihn hin­weg. Razamon wälzte sich zur Seite und schoß erneut. Der Wortführer der Technos zielte auf ihn, doch Razamon kam ihm zu­vor. Als der vierte der Wächter sah, was mit seinen Kollegen geschah, warf er die Waggu weg und flüchtete in einen der drei Paläste.

»Komm schnell!« rief der Atlanter Kol­phyr zu. »Wir verschwinden, bevor sie Ver­stärkung erhalten.«

Die beiden ungleichen Freunde rannten in die Nacht hinein. Nach wenigen Minuten waren sie außerhalb der Sichtweite der Technos, die sich noch in den Palästen be­finden mochten.

Die Paralyse würde nicht lange anhalten, jedenfalls nicht so lange, daß die Schläfer ernsthaft gefährdet waren.

»Und wohin jetzt?« wollte Kolphyr wis­sen.

»Wir suchen den Glaspalast, den ich aus der Luft gesehen habe«, sagte Razamon ent­schlossen. »Wenn es wirklich der sagenhafte Schwarze Palast ist, haben wir unser Ziel bald erreicht.«

Sie machten sich auf den Weg. Nur flüch-

Horst Hoffmann

tig dachte Razamon an die Worte des Tech­nos.

Weshalb war dieser Teil der Senke Sperr­gebiet?

Hätte Razamon die Wahrheit gewußt, hät­te er vielleicht anders gehandelt. So aber nahm er an, daß Sirkat mehr über den Schwarzen Palast wußte als Herrohn und deshalb dieses Gebiet absperren ließ.

* WOMMSER (I)

Der Symbiont hockte in seinem Dimensi­onsnest irgendwo zwischen den Existenzebe­nen.

Wommser bot ein Bild des Elends. Die Schattenballungen zehrten nach und

nach alle Energie aus seiner Sphäre. Sie lauerten überall zwischen den Dimensionen. Als Wommser erkannt hatte, daß sein Nest mitten in eine dieser Ballungen hineintrieb, war es bereits zu spät gewesen.

Er spürte, wie seine Kraft schwand. Dabei mußte er zu Kolphyr, aus dem er

hervorgegangen war. Noch einmal mußte er eingreifen, um die ungeheure Gefahr, die seinem Bezugspartner drohte, abzuwenden.

Der erste Versuch war kläglich geschei­tert. Wommser hatte seine Kräfte über­schätzt.

Vielleicht würde es ihm nie gelingen, mit den Schattenballungen fertig zu werden, die das Nest wie das Netz einer Spinne festhiel­ten.

Aber es ging nicht nur um Kolphyr und seinen Freund.

Wommser wußte, daß die Bedrohung vie­ler anderer Wesen auf jener Welt, in der er herangewachsen war, von artverwandtem Leben ausging, das alle Kontrolle über sich verloren hatte.

Wommser verstärkte die Hülle des Di­mensionsnests. Er wußte nicht, wie lange er auf diese Weise den Zugriff der Schattenbal­lungen abwehren konnte. Er mußte versu­chen, in dieser Zeit neue Energien zu sam­meln. Er mußte den Bezugspartner und seine

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Freunde vor den Schattenballungen warnen, denn es war nicht ausgeschlossen, daß sie eines Tages auf ihrer Reise durch die Di-mensionen in ihre Netze gehen würden.

Wommser zog sich in sich zusammen. Er konzentrierte sich auf das Wesen allen Seins.

6.

Herrohn saß im Privatgemach seines Gla­spalasts und wartete. Er wußte, wo sich die beiden Fremden befanden. Herrohn hatte seine Informanten überall in der Senke.

Ganz wohl war dem Techno nicht bei dem Gedanken, daß er sein Schicksal in die Hände der Fremden gelegt hatte, aber es gab keine andere Wahl für ihn …

Wenn jemand in der Lage war, den Schwarzen Palast zu finden, dann die Frem­den. Immer wieder hatten Technos sich auf die Suche nach ihm gemacht, Technos, die die alten Überlieferungen kannten und glaubten, sich durch das Geheimnis des Schwarzen Palasts eine gewisse Machtposi­tion in der Senke erobern zu können.

Auch Herrohn hatte daran gedacht, aber er wußte, daß kein Techno jemals dieses Ge­bäude finden würde. Jene, die die Paläste er­baut hatten, bevor es Technos in der Senke gab, hatten dafür gesorgt, daß ihr Geheimnis gewahrt blieb.

Herrohn mußte den Fremden vertrauen. Er wartete auf das verabredete Zeichen. Sei­ne Anhänger waren informiert. Wenn er das Signal der Fremden erhielt, würden sie sich im Zentrum sammeln und zum Rand der Senke aufbrechen.

Herrohn hörte Sirkats Rundrufe. Der Ge­genspieler würde kaum Zeit finden, ihn an seinem Vorhaben zu hindern. Sirkat war vollauf mit seinen eigenen Problemen be­schäftigt.

Und Herrohn war so sehr in seinen Ge­danken an den bevorstehenden Aufbruch be­fangen, daß er die Gefahr, die allen Technos des Stammes drohte, nicht ernst nahm.

*

Der Torc hielt zwischen drei anderen Fahrzeugen an. Sirkat und Tersten grüßten die Wartenden und begaben sich in einen knapp an der Grenze zu Nord-22-3 stehen­den Glaspalast.

Zwei weitere Hiobsbotschaften erwarteten den Techno-Führer.

Der an der nördlichen Grenze des Bezirks liegende Palast meldete sich nicht mehr. Ein Torc mit drei Technos war unterwegs dort­hin.

Sirkat gab sofort Befehl, nicht in das Ge­bäude einzudringen und es abzuriegeln.

Die zweite Nachricht besagte, daß die bei­den entflohenen Fremden sich in eben die­sem Bezirk befanden. Ihr Zugor war abge­stürzt und hatte dabei Verwüstungen an ei­nem Glaspalast angerichtet.

Alles schien sich in diesem Sektor zu konzentrieren. Das Monstrum, das Technos einfach fraß, die Fremden, die auf der Suche nach dem Schwarzen Palast waren …

Sirkat ließ sich von Myknar, dem einzi­gen Wachhabenden dieses Palasts, eine Kar­te reichen, auf der alle Glaspaläste der Senke verzeichnet waren, eingeteilt in die einzel­nen Sektoren. Sirkat markierte der Reihe nach alle von dem Daalen heimgesuchten Konservierungsbauten, bis hin zum an der Grenze zu Nord-22-3 gelegenen Glaspalast.

Dann verband er die einzelnen Punkte miteinander. Er erhielt eine vollkommen ge­rade Linie, die vom äußersten nördlichen Rand der Senke genau zum Zentrum führte.

»Bennts Palast«, murmelte Sirkat. »Der Weg des Monstrums führt genau dorthin. Wenn es seine Marschgeschwindigeit beibe­hält, wird es in etwa einer Stunde dort sein.«

»Noch in der Nacht«, sagte Tersten. »Sollten wir nicht bis zum Morgengrauen warten?«

»Damit weitere Männer sterben und wei­tere Schläfer?« fragte Sirkat. »Nein, Tersten. Wir werden uns bei Bennts Palast zusam­menziehen und den Daale gebührend emp­

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fangen. Verständige Bennt!« Sirkat sah sich um. Er winkte Myknar

herbei. »Sorge dafür, daß so viele Lichtspender

wie möglich herbeigeschafft werden. In ei­ner halben Stunde brechen wir auf.«

Myknar nickte und setzte sich an die Funkanlage. Ein anderer Techno übernahm seine Arbeit an den Kontrollen der Lebens­erhaltungssysteme.

Und Herrohn hat uns das alles einge­brockt! durchfuhr es Sirkat. Er wird dafür büßen müssen!

Die halbe Stunde verstrich, ohne daß sich etwas Neues ereignete.

Sirkat saß selbst an den Kontrollen und stellte befriedigt fest, daß die Männer sich an der Grenze des Bezirks bereit hielten.

Allerdings mußte er feststellen, daß keine Anhänger Herrohns darunter waren, was sei­nen Verdacht, daß Herrohn etwas im Schilde führte, zur Gewißheit werden ließ.

Herrohns Leute hatten unter allen mögli­chen Vorwänden dafür gesorgt, daß sie die­jenigen waren, die in den Glaspalästen zu­rückblieben, um die Schläfer zu überwa­chen.

Sie warten auf etwas, sagte sich Sirkat. »Komm!« sagte er entschlossen zu Ter­

sten. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Sie verließen den Glaspalast. Über Funk gab Sirkat das Signal. Mehr

als hundert Torcs setzten sich gleichzeitig in Bewegung. Von allen Richtungen näherten sie sich ihrem gemeinsamen Ziel, eine Tech­no-Streitmacht, die in der langen Geschichte der Senke ihresgleichen suchte.

*

Razamons einzige Anhaltspunkte waren die ungefähre Entfernung und die isolierte Stellung des aus der Luft gesehenen Palasts.

Der Pthorer und Kolphyr hielten sich von anderen, meist hell erleuchteten, Glaspalä­sten fern, um nicht von den wachhabenden Technos gesehen zu werden.

Mit Sicherheit hatte der an der Absturz-

Horst Hoffmann

stelle des Zugors geflohene Techno Sirkat bereits Meldung vom Auftauchen der beiden Fremden gemacht.

Bei dem Gedanken stutzte Razamon. Sie schlichen jetzt seit etwa einer Viertel­

stunde, jede Deckung ausnutzend, durch die Nacht.

Wieso schickten die Technos keine Such­mannschaften?

Überhaupt lag eine unheimliche Stille über der Senke. Es war zu ruhig. Selbst die kleinen Tiere, die sonst im hohen Gras zwi­schen den Gebäuden umherhuschten, schie­nen wie vom Erdboden verschluckt zu sein.

Irgend etwas ging in diesem Teil der Sen­ke vor. Aber was?

»Razamon träumt mit offenen Augen«, sagte Kolphyr leise. »Sollte lieber auf den Weg aufpassen.«

»Sehr witzig.« Sie mußten eine Straße überqueren, dann

erreichten sie eine Buschgruppe. Razamon und Kolphyr machten einen Bogen um zwei eng zusammenstehende Glaspaläste, die Razamon vor dem Absturz gesehen zu ha­ben glaubte.

»Wir müßten bald da sein«, flüsterte der Atlanter. Kolphyr schwieg. Der Bera hatte in den letzten Minuten nicht viel gesprochen. Razamon ahnte, daß er in Gedanken bei Wommser war.

Plötzlich spürte der Pthorer einen stechen-den Schmerz im linken Bein. Er unterdrück­te einen Aufschrei.

Der Zeitklumpen! Razamon fühlte, wie ihm eine Gänsehaut

den Rücken hinunterlief. Was tat sich in der Senke? Wovor wollte Wommser warnen? Was hatte Sirkats merkwürdiges Benehmen zu bedeuten?

Der Pthorer blieb stehen und sah in den sternübersäten Himmel, als ob er dort eine Antwort finden würde. Plötzlich kam ihm die Umgebung noch gespenstischer vor. Nur das Licht aus den Glaspalästen erhellte hier und dort die Umgebung. Kein Mond stand am Himmel.

»Razamon träumt immer noch«, stellte

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29 Die Nacht der Schläfer

Kolphyr fest. »Hoffen wir, daß es nur ein Traum ist, ein

Alptraum«, brummte der Atlanter und gab sich einen Ruck.

Schweigend streiften die Freunde durch die Nacht.

Die Verbindungswege zwischen den Gla­spalästen waren ruhig. Kein Torc war unter­wegs. Alles wirkte wie ausgestorben.

Schließlich, nach etwa einer halben Stun­de Fußmarsch, blieb Razamon stehen und zeigte auf ein wenige hundert Meter vor ih­nen stehendes Gebäude, aus dem nur spärli­ches Licht drang.

»Ich glaube, das ist es«, murmelte der Pthorer. Er sah sich nach allen Seiten um. Er war nicht ganz sicher, aber er glaubte, ge­wisse Konfigurationen rekonstruieren zu können.

»Versuchen wir unser Glück«, sagte Raz­amon. Kolphyr trottete ihm nach.

»Was machen wir, wenn die Technos uns entdecken?« wollte der Bera wissen.

»Natürlich werden sie uns sehen, wir wol­len ja hinein. Aber wir dürfen kein Risiko mehr eingehen. Wenn wir tatsächlich den Schwarzen Palast vor uns haben, können wir Sirkats Besuch vorläufig nicht gebrauchen.«

Razamon zog die Waggu aus dem Gürtel. Kolphyr folgte schweigend seinem Beispiel.

*

Bennt stand vor dem großen Nordfenster, das fast die ganze Wand einnahm, und starr­te in die Nacht.

Der Techno war ruhiger geworden, nach­dem er ein Stimulans zu sich genommen hatte. Vorher hatte er den Anblick des Dun­kels nicht ertragen können, den schreckli­chen Gedanken, daß jeden Augenblick die­ses Etwas vor dem Palast auftauchen konnte, von dem niemand, überhaupt wußte, wie es aussah und wie es tötete.

Fest stand nur, daß es alle anderen Tech­nos in den überfallenen Palästen vollkom­men überrascht haben mußte.

Vielleicht würde er es überhaupt nicht er­

kennen, bis es zu spät war. Bennt war einer von Sirkats ergebensten

Anhängern, sonst hätte er sich zusammen mit Herm und Dallmar längst in den Torc geschwungen und wäre nach Süden, in Richtung Zentrum, geflohen. So aber hatte er sich dazu gezwungen, auszuharren und auf den Augenblick zu warten, in dem das Monstrum vor dem Glaspalast auftauchen würde.

Bennt vertraute Sirkat, und doch blieb die Unsicherheit, selbst nach der Droge.

Herm und Dallmar wußten nichts von Sir­kats Nachricht. Sie arbeiteten im Konservie­rungskomplex, um einen Fehler im Lebens­erhaltungssystem einer der Tiefschlafkam­mern zu beheben. Bennt wollte ihnen die Qual der Ungewißheit ersparen.

Wenn er wenigstens wüßte, wie das Un­bekannte aussah!

Sirkat hatte von einem entflohenen Daa­len gesprochen. Bennt wußte nicht einmal, was ein Daale war und wie er aussah. Über 200 000 Schläfer lagen in den Tiefschlaf­kammern der Technos. Es war unmöglich, alle Arten zu kennen.

Bennt fuhr zusammen, als er glaubte, eine vage Bewegung im Dunkel vor dem Palast zu erkennen. Seine Hand legte sich auf den Griff der Waggu.

Nichts rührte sich. Ich sehe bereits Gespenster, versuchte der

Techno sich einzureden. Sicher ließ Sirkat den Weg des Monstrums beobachten und würde ihn rechtzeitig warnen.

Trotzdem blieb Bennt wachsam. Er schritt im Kontrollraum auf und ab, blieb immer wieder stehen, um zu lauschen oder in die Dunkelheit hinauszuspähen.

Plötzlich glaubte er, daß er den Verstand verlieren müßte.

Irgend etwas klopfte leise an die West­wand, genau dort, wo sich eine breite Me­tallverstrebung befand und den Blick nach draußen behinderte.

Nie gekannte Panik stieg in dem Techno auf. Dann fielen ihm Sirkats Worte ein. Das, was sich in der Senke herumtrieb, war in der

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Lage, sich einfach durch das Glas der Wän­de hindurchzuschieben.

Wieder das Klopfen. Das Monstrum würde sich nach allem,

was Bennt wußte, nicht auf eine solch primi­tive Art und Weise ankündigen.

Aber wer war dann draußen? Bennt nahm seinen ganzen Mut zusam­

men. Er überlegte, ob er Sirkat benachrichti­gen sollte. Die kleine Streitmacht mußte sich inzwischen ganz in der Nähe befinden.

Irgend etwas zwang den Techno dazu, zum Eingang des Glaspalasts zu gehen. Vor­sichtig betätigte er den Öffnungsmechanis­mus und trat hinaus ins Freie.

Kein Laut. Vielleicht ein Flüchtling, über­legte Bennt, ein Techno, der dem Unbekann­ten entkommen ist und nun hier Schutz sucht.

»Ist da jemand?« rief Bennt leise. Er er­hielt keine Antwort. Dafür hörte er wieder das Klopfen.

Langsam ging der Techno weiter. Noch wenige Schritte bis zur Ecke …

Bennt holte tief Luft. Die Droge verhin­derte, daß er sich des Wahnsinns seines Vor­gehens bewußt wurde.

Der Techno preßte sich mit dem Rücken gegen die Wand des Palasts. Seine Finger krampften sich um den Griff der Waggu.

Dann sprang er vor. Bennts ausgestreckter Arm fuhr herum. Er zeigte genau auf das riesige grüne Wesen, das sich wenige Meter vor ihm direkt an der Westwand befand.

Einen kurzen Augenblick dachte der Techno, vor dem zu stehen, das von Sirkat gejagt wurde. Dann hörte er die Stimme hin­ter sich.

Bennt wirbelte herum. Im gleichen Au­genblick, als er den hageren Fremden sah, traf ihn der Strahl aus der Lähmwaffe.

Der Techno knickte in der Körpermitte ein und stürzte zu Boden. Noch im Fallen erkannte er, daß er die beiden Fremden vor sich hatte, von denen Tersten gesprochen hatte.

Bennt hatte nicht einmal Zeit, sie zu war­nen.

Horst Hoffmann

*

»Das wäre geschafft«, sagte Razamon. »Sirkat weiß nun zwar, daß wir in dieser Ge­gend sind, aber er weiß nicht, wo, jedenfalls nicht, wenn er so ahnungslos ist, wie er sich gibt.«

»Sirkat gibt sich gar nicht«, korrigierte Kolphyr. »Herrohn gibt.«

»Du weißt, was ich meine, du Sprachge­nie.«

Natürlich hatte auch Razamon kurz daran gedacht, daß Herrohn eigentlich vorhaben könnte, ihn und Kolphyr gegen Sirkat auszu­spielen. Aber das war unlogisch.

»Komm!« Nacheinander traten sie durch den offenen

Eingang in den mächtigen Glaspalast. Sie ließen den Techno einfach im Gras liegen.

Das Innere des Gebäudes unterschied sich nicht im geringsten von denen, die Razamon bisher kennengelernt hatte.

Und dies sollte der Schwarze Palast sein? »Uns bleibt nichts anderes übrig«, seufzte

der Atlanter. »Wir müssen jeden Winkel un­tersuchen. Am besten trennen wir uns. Wenn einer von uns etwas findet, ruft er den ande­ren sofort. Wahrscheinlich halten sich noch Technos irgendwo in den Gängen auf. Wenn du einem begegnest, sofort paralysieren.«

»Und die Schläfer?« fragte der Bera. »Sie sterben, wenn sie nicht versorgt werden.«

»So lange hält die Lähmung nicht an«, be­ruhigte Razamon das Antimateriewesen. »Die Technos werden rechtzeitig wieder auf den Beinen sein.«

Hintereinander passierten die beiden Ge­fährten die Trennwand zu den Konservie­rungs- und Wohnkomplexen. Kolphyr sollte sich in den Privaträumen der Technos umse­hen, während Razamon sich in den Gang be­gab, der zu den Schlafnischen führte.

Der Schmerz am Zeitklumpen hatte nach­gelassen. Außerdem war das Gefühl einer unbekannten Bedrohung fast gänzlich gewi­chen. Die gläsernen Wände um ihn herum gaben dem Atlanter ein gewisses Gefühl der

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Sicherheit. Razamon rechnete damit, jeden Augen­

blick auf einen Techno zu stoßen, der an den Kontrollen der Nischen arbeitete. Aber er er­reichte die erste Tiefschlafkammer ohne Zwischenfall.

Das war genau der Augenblick, als Sir­kats kleine Streitmacht rings um den Glaspa­last Stellung bezog.

7.

Das letzte Stück der Strecke waren die Torcs mit ausgeschalteten Scheinwerfern ge­fahren.

Sirkat und Tersten hatten abwechselnd über Funk die heranrückenden Fahrzeuge, vollbesetzt mit Technos, dirigiert. Schließ­lich bildeten die Torcs eine nach Norden hin offene Schale in Form eines Hufeisens um Bennts Palast. Dreihundert Meter vor dem Gebäude waren sie zum Stillstand gekom­men.

Sirkat gab den Befehl zum Warten. Drei Torcs streiften im Norden und versuchten, das anrückende Monstrum auszumachen, um Sirkat über seinen Weg auf dem laufen­den zu halten.

Noch war keine positive Meldung gekom­men, mit Ausnahme eines Funkspruchs, in dem von einer seltsamen Leuchterscheinung die Rede war, die jedoch nach wenigen Se­kunden wieder verschwand.

Alles, was Sirkat bisher über das Unbe­kannte erfahren hatte, schien seine Vermu­tung, daß sie es mit dem Daalen zu tun hat­ten, widerlegen zu wollen.

Und doch konnte es sich nur um ihn han­deln. Kein anderer Schläfer war ausgebro­chen, und die Möglichkeit, daß ein Wesen von außerhalb der Senke ins Reich der Glas­paläste eingedrungen war, schloß der Tech­no aus.

Mittlerweile hatte Sirkat von verschiede­nen Stellen erfahren, daß immer mehr Schlä­fer starben. Viele befanden sich in höchster Lebensgefahr. Ein Mann als Wache war ein­fach zuwenig.

Sirkat machte sich schwere Vorwürfe, aber er wußte, daß er nicht anders handeln konnte. Wenn es nicht gelang, das, was Tod und Verderben verbreitete, zu stoppen, brauchte er sich keine Gedanken um die Zu­kunft der Senke mehr zu machen.

Dann meldete Bennt sich nicht mehr. »Er wird mit der Belastung nicht fertig

geworden sein«, vermutete Tersten. »Ich kann es ihm nicht verdenken.«

Sirkat nickte. Er war nicht sicher, ob er an Bennts Stelle durchgehalten hätte. Bennt hatte sozusagen auf dem Präsentierteller ge­sessen.

Zehn Minuten, nachdem die Technos um den Glaspalast Stellung bezogen hatten, empfing Sirkat die Nachricht eines der drei Scout-Torcs, daß das unheimliche Leuchten wieder gesichtet worden war, diesmal näher an Bennts Palast. Der Techno redete wirr durcheinander. Angeblich wollte er gesehen haben, wie das Leuchten Bäume und Sträu­cher einfach in sich aufgenommen hatte und dabei ständig an Intensität zunahm. Wie ein glühender Ball von einigen Metern Durch­messer schob es sich in Richtung Süden, al­les verschlingend, was sich ihm in den Weg stellte.

Es war noch drei Kilometer von Bennts Palast entfernt.

Sirkat versetzte die Torcs in erhöhte Alarmbereitschaft. Er spürte, wie das Grau­en nach ihm greifen wollte, und nur mit großer Mühe schaffte er es, einen klaren Kopf zu behalten.

Sirkat sah sich um. Die Beleuchtungskör­per waren aufgebaut. Die Technos warteten nur auf sein Zeichen.

*

Razamon betrachtete das Wesen, das reg­los in der Tiefschlafnische lag, lange und nachdenklich. Flüchtig überflog er die über dem Schaltbrett befindlichen Daten über Herkunft, Metabolismus und sonstige Eigen­heiten des Schläfers. Überall in der hinter der Glaswand liegenden Kammern verliefen

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Kabel und armdicke Röhren, die in den Tief­schlafbehälter mündeten. Manchmal kam es Razamon so vor, als ob die Röhren leicht pulsierten, wie übergroße Adern.

Er hatte dieses Bild schon einige Male ge­sehen. Der einzige Unterschied bestand in der Gestalt des konservierten Wesens, das Razamon an eine Riesenspinne erinnerte, deren Beine unter dem ovalen Körper zu­sammengeknickt waren.

Der Pthorer ging weiter, tiefer in den Gang hinein. Es gab einige Abzweigungen, schmälere Korridore, die zu weiteren Ni­schen führten.

Dies war das einzige, was diesen Glaspa­last auf den ersten Blick von anderen unter­schied, aber Razamon wußte inzwischen, daß die Architektur der einzelnen Paläste auf die Natur der in ihnen gefangengehaltenen Wesen abgestimmt war. Es gab Gebäude, in denen sich nur drei oder vier Schlafkam­mern mit entsprechend großen Wesen befan­den. Dann gab es andere, die über eine Viel­zahl von Nischen verfügten, in denen kleine­re Geschöpfe untergebracht waren.

Je mehr Kammern ein Glaspalast aufwies, desto verästelter waren die Gänge. Wenn sich der Weckmechanismus irgendwo in diesem Gebäude befand, konnten sich Raza­mon und Kolphyr auf eine lange Suche ge­faßt machen.

Razamon blieb auf dem Hauptgang. Er schritt an mehreren kleinen Nischen vorbei, untersuchte jedesmal die Kontrollen und sah sich nach Mechanismen um, die er in ande­ren Palästen nicht gesehen hatte.

Mit jeder Minute, bei jedem Anblick ei­nes »normalen« Schläfers stieg die Enttäu­schung.

Razamon fragte sich, was er eigentlich er­wartete. Er hatte keine Ahnung, wie der zen­trale Weckmechanismus, falls es diesen hier überhaupt gab, aussehen sollte. Vielleicht war er längst an ihm vorbeigekommen, ohne ihn als solchen zu erkennen.

Razamon begann zu zweifeln. Wenn die schwarze Wand, die er aus der

Luft gesehen hatte, nur eine optische Täu-

Horst Hoffmann

schung gewesen war oder ein Streich, den ihm seine Nerven gespielt hatten, ver­schwendeten er und Kolphyr nur wertvolle Zeit.

Aber vielleicht hatte Kolphyr mehr Er­folg?

Razamon erreichte das Ende des Ganges. Resigniert zuckte er die Schultern und dreh­te sich um.

Der Pthorer zuckte leicht zusammen, als er die beiden Technos sah. Sie standen mit schußbereiten Waggus nur wenige Meter vor ihm.

Sofort hatte der Atlanter sich wieder unter Kontrolle.

»Wieso seid ihr nicht bei der Arbeit?« fragte er beherrscht.

Die Technos sahen sich verwirrt an. An­scheinend wußten sie nicht, was sie mit dem Fremden, der da plötzlich in ihrem Palast aufgetaucht war, anfangen sollten.

»Wer bist du?« fragte einer von ihnen, oh­ne die Waffe zu senken.

Razamon überlegte sich die Antwort sorg­fältig. Jeder Fehler konnte verhängnisvoll sein. Ihm blieb nur der einmal eingeschlage-ne Weg – die Flucht nach vorn.

»Es soll zu einem Fehler im Lebenserhal­tungssystem eines Schläfers gekommen sein, eines für die FESTUNG unerhört wert­vollen Schläfers. Deshalb ließ Sirkat mich kommen, um nach dem Rechten zu sehen.«

Die Technos sahen sich wieder an. Raza­mon überlegte, ob er einen Überrumpelungs­versuch wagen sollte, aber dazu waren sie zu weit weg.

»Du kommst aus der FESTUNG?« fragte der Sprecher der beiden mißtrauisch. »Die neuen Herren schicken dich?«

So komme ich nicht weiter! dachte der Pthorer. Wenn ich nur wüßte, wie der Tech­no hieß, den ich paralysiert habe!

Die beiden Wachen halfen ihm ungewollt. »Weiß Bennt Bescheid?« »Natürlich!« knurrte Razamon. »Glaubst

du, sonst hätte er mich in den Palast gelas­sen?«

»Er hat recht«, sagte der bisher schweig­

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same Techno. »Bennt hätte ihn niemals her­eingelassen, wenn Sirkat ihn nicht vorher in­formiert hätte. Außerdem sieht der Fremde nicht so aus, als ob er aus der Senke käme.«

»Ich bin kaum ein entsprungener Schlä­fer«, sagte Razamon sarkastisch, während er überlegte, wie er sich die beiden Kerle am schnellsten vom Hals schaffen konnte.

Plötzlich kam ihm ein verwegener Gedan­ke.

War es nicht möglich, daß sie ihm auf sei­ner Suche weiterhelfen konnten?

Der Sprecher der beiden stellte ihm einige Fragen, die mit den Odinssöhnen zusam­menhingen und wohl jeden Zweifel an sei­nen Worten beseitigen sollten. Razamon ant­wortete offenbar zufriedenstellend, denn beide Technos ließen die Waffen sinken.

»Wir arbeiten gerade an der Behebung ei­ner Störung an einem der Systeme. Kommst du deshalb?«

Razamon winkte lässig ab. »Es handelt sich um eine Störung, die ihr

nicht beheben könnt. Aber ihr könnt mir vielleicht helfen. Es soll euer Schaden nicht sein.«

Die Technos wurden hellhörig. »Es geht um den Spezialmechanismus,

die zentrale Anlage. Ihr wißt, wo er sich be­findet?«

Augenblicklich trat wieder das alte Miß­trauen in die Augen der Technos. Razamon erkannte seinen Fehler und sagte schnell:

»Aber das könnt ihr nicht wissen. Nur die FESTUNG verfügt über die genauen Infor­mationen. Geht zurück an eure Arbeit. Ihr wißt, daß kein einziger Schläfer sterben darf, sonst trifft euch alle der Zorn der FE­STUNG. Die Odinssöhne verstehen ebenso­wenig Spaß wie die ehemaligen Herren.«

Das wirkte. Noch immer war die FE­STUNG Inbegriff aller Macht auf Pthor. Die Furcht vor Strafe steckte tief in allen Ge­schöpfen, die bis vor kurzem den verbreche­rischen Herren der FESTUNG gedient hat­ten und sich nun mit Sigurd, Balduur, Heim­dall und Honir zu arrangieren versuchten.

Ohne Worte drehten die Technos sich um

und verschwanden in einem Seitengang. Razamon atmete auf. Die Technos hatten also tatsächlich keine

Ahnung von einem zentralen Weckmecha­nismus.

Die Zweifel wurden immer stärker. Jagte Razamon nicht doch nur einer Einbildung nach?

Der Atlanter ging durch den langen Gang zurück. Er fand Kolphyr im Kontrollraum.

»Ich habe alle Wohnräume und Vorratsla­ger untersucht«, erklärte der Bera. »Nichts.«

Razamon war nahe daran, die Suche hier aufzugeben und bis zum Morgen zu warten, um dann an anderer Stelle weiterzusuchen.

Aber ohne Zugor? In einem Anflug plötzlichen Trotzes

schlug der Pthorer mit der Faust auf ein Pult. »Ich habe mich nicht geirrt, Kolphyr! Die

schwarze Mauer war da! Wir suchen jeden Winkel dieses Gebäudes ab. Komm!«

Zusammen gingen die beiden Gefährten noch einmal den Hauptgang ab. Dann durch­suchten sie systematisch die kleineren Korri­dore. Razamon achtete jetzt nicht mehr auf die Kammern der Schläfer. Der Weckme­chanismus mußte sich an einer separaten Stelle befinden, irgendwo abgesondert von den »normalen« Entkonservierungssyste­men.

Wieder erreichten die Freunde das Ende eines Nebengangs. Razamon wollte schon umkehren, als ihm etwas auffiel.

»Kolphyr, die bisher durchsuchten Gänge waren alle etwa gleichlang.«

Kolphyr sah den Atlanter verständnislos an.

»Das stimmt, aber was denkt Freund Raz­amon?«

»Freund Razamon denkt, daß dieser Gang viel kürzer ist als die anderen, nur etwa halb so lang.«

Der Pthorer betrachtete die Wand, die den Korridor abschloß. Auch sie bestand aus Glas, aber es war milchig und ließ nicht er­kennen, was sich dahinter verbarg.

Razamons Herz schlug schneller. Er ahn­te, daß er dem Geheimnis auf der Spur war.

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Systematisch untersuchte er die Wand, bis er eine etwa handgroße Vertiefung befand. Er spreizte die Finger und berührte das Ma­terial.

Die Wand begann zu vibrieren! »Jetzt drücke die Daumen, Kolphyr«, flü­

sterte der Atlanter. Er berührte immer neue Stellen in der Vertiefung, wobei seine Fin­gerspitzen alle möglichen Kombinationen bei der Berührung des Materials bildeten.

Und dann war die Wand verschwunden, als ob sie nie existiert hätte. Die Gefährten blickten in einen düsteren Gang, der schon eine Ewigkeit lang nicht mehr betreten wor­den war. Überall hingen Spinnweben von der Decke herab. Der Staub lag zentimeter­dick auf dem Boden.

Unbändiger Triumph durchfuhr den At­lanter. Um so heftiger traf ihn der Schock, als er das Geräusch hinter sich und Kolphyr hörte.

Razamon fuhr herum. »Dachten wir es uns«, sagte der Techno,

der auch bei der ersten Begegnung das Wort geführt hatte. Seine Lähmwaffe war auf Kolphyr gerichtet. »Versuche nicht noch einmal, dich herauszureden, Fremder. Wir haben Bennt gefunden.«

*

Herm war bereit gewesen, dem Fremden zu glauben, aber Dallmar war mißtrauisch geblieben. Als er in den leeren Kontrollraum kam, wurde sein Verdacht zur Gewißheit.

Er rief nach Bennt und erhielt keine Ant­wort. Schließlich fand er ihn betäubt vor dem Eingang des Palasts.

Dallmar alarmierte Herm. Nach kurzer Suche stießen sie auf die beiden Fremden. Der Anblick des grünen Monstrums jagte den Technos einen gehörigen Schrecken ein.

Für sie gab es nur eine Erklärung: Der ha­gere Fremde hatte das große Wesen aus ei­nem Glaspalast befreit und war nun dabei, weitere Schläfer zu wecken.

Auch Herm und Dallmar waren Sirkat treu ergeben. Und so war es nicht verwun-

Horst Hoffmann

derlich, daß sie in dem Hageren einen Sabo­teur sahen, der in Herrohns Auftrag handel­te.

Sie richteten die Waggus auf die beiden. Der Hagere fuhr herum, als er die Schritte der Technos hörte.

Dallmar hatte den Griff seiner Waffe fest umklammert und war bereit zu schießen, aber irgend etwas hinderte ihn daran. War es der Blick des Fremden, der ihn zu durch­dringen schien? Auch Herm zögerte.

Dallmar erklärte, daß das Spiel des Verrä­ters durchschaut sei. Einen Augenblick stand der Hagere wie erstarrt in der Mitte des Gan­ges. Dann drehte er sich schnell um und starrte auf etwas, das die Technos nicht se­hen konnten, weiter hinten im Gang.

»Ihr habt keine Chance«, hörte Dallmar sich sagen. »Gebt auf und folgt uns. Wir werden euch Sirkat übergeben.«

Wieso schoß er nicht? Der schwarzhaarige Fremde fuhr herum.

Wieder glaubte Dallmar in einen tiefen Ab­grund zu blicken, als er in diese Augen sah.

Plötzlich hob der Hagere beide Hände und streckte sie vom Körper weg, als ob er durch diese Geste seine Friedfertigkeit zum Aus­druck bringen wollte.

»Es hat keinen Zweck«, sagte Dallmar. Nun folgte auch der Grüne dem Beispiel

des Saboteurs. Langsam wichen sie beiden zurück.

Verdammt! durchfuhr es Dallmar. Warum schieße ich nicht einfach?

Die Fremden wichen langsam zurück. Dallmar fluchte und zwang sich, die Hand um den Griff der Waggu zu pressen und da­mit die Waffe auszulösen.

Im gleichen Moment erkannte er seinen fatalen Fehler. Er hatte zu lange gezögert. Der Hagere gewahrte seine Bewegung im Ansatz und schrie dem Grünen etwas zu. Die beiden sprangen zurück.

Sie verschwanden! Die Stelle, an der sie eben noch gestanden

hatten, der ganze Gang – leer! »Bei allen Geistern der Schläfer!« entfuhr

es Herm. »Was ist das, Dallmar?«

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35 Die Nacht der Schläfer

Der Techno fand keine Worte. Ungläubig starrte er in den Korridor.

Herm fuhr auf dem Stiefelabsatz herum und rannte schreiend davon. Dallmar gab einen Schuß in den leeren Gang ab. Dann folgte er dem andern.

*

»Halt!« schrie Razamon dem Bera zu. »Sie bleiben stehen!«

Kolphyr drehte sich um. Die beiden Ge­fährten waren etwa zehn Meter in den düste­ren Gang hineingelaufen. Die erwarteten Schüsse blieben aus.

Razamon sah, wie die Technos ratlos in den Gang starrten. Sie sahen an ihnen vor­bei, als ob Kolphyr und Razamon gar nicht vorhanden wären.

Falsch! korrigierte der Pthorer sich in Ge­danken. Sie wissen doch, daß wir hier sind. Sie benehmen sich, als ob wir für sie un­sichtbar wären.

Ein vager Verdacht keimte in Razamon auf. Er verstärkte sich, als beide Technos keinen Fuß über die Schwelle setzten, hinter der der verstaubte Teil des Ganges lag.

Sie sehen uns tatsächlich nicht! durchfuhr es den Atlanter. Aber was dann? Sehen sie eine Wand vor sich, so wie wir, oder einen leeren Korridor?

Einer der Technos schrie auf und rannte davon. Der andere gab noch einen ungeziel­ten Schuß ab. Dann lief er hinter seinem Kollegen her und bog auf den Hauptgang ein, in Richtung Kontrollraum.

Sie werden Sirkat alarmieren, dachte Raz­amon. Schnell berichtete er Kolphyr von sei­nen Überlegungen.

Die Angelegenheit wurde immer rätsel­hafter, aber nun gab es keinen Zweifel mehr, daß sie auf der richtigen Spur waren.

»Komm!« sagte Razamon. »Viel Zeit bleibt uns jetzt nicht mehr.«

Die Freunde schritten in den nur spärlich erleuchteten Gang hinein. Nach wenigen Metern waren sie über und über mit klebri­gen Spinnweben behangen.

Auch hier gab es zu beiden Seiten kleine­re Nischen, aber sie waren offen und verlas­sen. Razamon lief ein Schauer über den Rücken, als er daran dachte, wie lange hier schon niemand mehr gewesen sein mochte.

»Ich möchte wetten, daß die Technos die­sen Teil des Palasts gar nicht kennen«, meinte der Atlanter. »Wahrscheinlich wis­sen sie nicht einmal, daß es ihn gibt.«

Ist es wirklich möglich, daß sie mich nicht einmal sehen können? überlegte er. Daß sie statt dessen etwas anderes vorgegaukelt be­kamen?

»Pfui!« rief Kolphyr schrill. »Es wird lan­ge dauern, bis der Velst-Schleier wieder sau­ber ist.«

»Wenn das deine einzige Sorge ist.« Razamon hatte bisher sieben verlassene

Nischen gezählt. Er konnte sich des Ein­drucks nicht erwehren, daß sie ihn und den Bera wie tote Augenhöhlen anstarrten.

Täuschte er sich, oder wurde es allmäh­lich heller?

»Tatsächlich«, brummte der Pthorer. »Dort vorne, die letzte Kammer auf der rechten Seite – sie ist erleuchtet.«

»Glaubt Freund Razamon, daß er den Weckmechanismus in einer Nische findet?«

Der Atlanter antwortete nicht. Er be­schleunigte seine Schritte, bis er vor der ver­schmutzten Scheibe der Tiefschlafkammer stand, aus der das Licht drang.

Wieder begann sein Herz wild zu schla­gen, als er langsam die Hand ausstreckte und Staub und Spinnweben von einem Teil der Scheibe wischte.

Einen Augenblick weigerte er sich zu glauben, was er sah.

»Warum schweigst du, Freund Raza­mon?« wollte Kolphyr wissen, dem nun auch die Erregung anzumerken war. »Hast du etwas gefunden?«

»Dort drinnen …«, stammelte der Pthorer, »… dort liegt ein … Mensch!«

*

Es dauerte eine Weile, bis Razamon sich

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von der Überraschung erholt hatte. Innerhalb weniger Sekunden hatten er und Kolphyr die mehr als zwei mal einen Meter große Schei­be, hinter der der Behälter mit dem Schläfer lag, soweit gereinigt, daß beide weitere Ein­zelheiten erkennen konnten. Kolphyr mußte sich bücken, um in die Nische sehen zu kön­nen.

Es konnte keinen Zweifel geben: In dem Behälter, der einem gläsernen Sarg ähnelte, lag ein Mensch.

»Ein Mann«, flüsterte Razamon. »Soweit sich von hier aus erkennen läßt, ist er noch sehr jung, vielleicht gerade zwanzig Jahre alt.«

»Als man ihn konservierte«, gab Kolphyr zu bedenken. »In Wirklichkeit kann er hun­dert oder tausend Jahre alt sein.«

»Und wenn schon. Wir haben einen Men­schen gefunden, Kolphyr! Weißt du, was das heißt?«

Der Bera zuckte die Schultern. Kunststück! dachte Razamon. Ich weiß es

ja selbst nicht. Aber es hat etwas zu bedeu­ten, daß wir ausgerechnet hier einen Mann finden, der vielleicht sogar bei einem der früheren Besuche von Pthor auf der Erde gekidnappt wurde.

»Diese Kammer wurde seit Jahrhunderten nicht mehr von Technos gewartet«, sagte der Atlanter. »Trotzdem arbeiten die Systeme.«

Er zeigte auf die aus anderen Nischen be­reits bekannten pulsierenden Stränge, die zum Konservierungsbehälter führten.

»Wahrscheinlich hat eine Robotik die Steuerung des Lebenserhaltungssystems übernommen«, überlegte Razamon weiter. Plötzlich fiel ihm etwas ein.

Nach kurzer Suche fand er das Schaltbrett mit den Kontrollen. Er wischte den klebri­gen Staub darüber weg und fand die kleine Tafel mit den Daten des Schläfers.

Razamon las nur den Namen. »Freund Razamon hat schon wieder etwas

entdeckt«, schrillte Kolphyrs Stimme. Er stieß den Freund einfach beiseite und las selbst.

Razamon war totenblaß geworden. Noch

Horst Hoffmann

einmal musterte er den Mann, sein langes, dunkelbraunes Haar, das indianische Profil.

»Grizzard«, sagte er gedehnt. »Du weißt, was das bedeutet, Kolphyr?« Der Bera schüttelte verständnislos den Kopf.

Razamon atmete tief durch. Dann sagte er kaum hörbar:

»›Grizzard‹ ist ein Symbolwort. Es bedeu­tet soviel wie:

›Der, der für alle schläft‹ …« Kolphyr stieß einen schrillen Pfiff aus. »Dann haben wir gefunden, was wir such­

ten?« »Es scheint so«, sagte der Atlanter. »Ich

werde …« Razamon fuhr herum, als er die grelle

Lichtflut bemerkte, die plötzlich von außen in den Gang drang. Er glaubte, Stimmen zu hören, das Geräusch von Motoren.

Kolphyr stieß einen glucksenden Laut aus. Die Luft um ihn herum begann zu flim­mern. Razamon wußte, was das bedeutete.

8.

Sirkat saß schweigend im Sitz seines Torcs und wartete. Tersten informierte ihn über die Entwicklung. Der leuchtende Ball war inzwischen bis auf einen Kilometer her­an, aber Sirkat wollte bis zuletzt warten, ehe er das Zeichen zum Angriff gab.

Die Zweifel daran, daß die Technos etwas gegen das, was sich unaufhaltsam mit kon­stanter Geschwindigkeit von Norden näher­te, wurden immer größer. Sirkats einzige Hoffnung war die Waffe, die er in Heinzko­ors Truhe gefunden hatte.

Die Minuten verstrichen. Immer wieder tauchte das Bild des stäh­

lernen Skeletts aus Effrihls Palast vor Sir­kats geistigem Auge auf. Er würde den An­blick nie im Leben vergessen können. Sirkat hoffte nur, daß die Posten vor den überfalle­nen Glaspalästen seinem Befehl folgten und nicht versuchten, in eines der Gebäude ein­zudringen.

Der ewige Alptraum der Technos war mit ungestümer Gewalt aus dem Unterbewußt­

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sein hervorgebrochen. Alle Wesen, die in den Tiefschlafkam­

mern lagen, selbst die kleinen Tiere der Sen­ke, bestanden aus organischer Materie – der ganze Körper, also auch das Knochengerüst.

Das Skelett eines Technos bestand aus Stahl.

Immer wieder endeten Sirkats verzweifel­te Überlegungen an einem ganz bestimmten Punkt. Ein in jedem Techno verankerter Me­chanismus sorgte dafür, daß die Gedanken­gänge an dieser Stelle einfach abgewürgt wurden.

Es war die immer wiederkehrende Frage nach der eigenen Identität. Auch die ältesten Überlieferungen gaben keine befriedigenden Hinweise auf die Entstehungsgeschichte von Sirkats Volk. An die Erklärungsversuche ei­niger kleiner Sekten wollte er nicht glauben.

»Wenn es wenigstens Tag wäre!« fluchte der Techno-Führer und schlug mit der Faust auf den Metallrahmen des Torcs. Er mußte sich zwingen, nicht den Befehl zu geben, die Leuchtkörper zu aktivieren.

»Dort, Sirkat!« Der Blick des Technos folgte Terstens

ausgestreckter Hand. Zuerst glaubte Sirkat, daß es im Norden zu dämmern begann, aber er wußte, daß das unmöglich war.

Das Leuchten! »Die Erkundungstorcs sollen sich zurück­

ziehen«, sagte Sirkat. Tersten nickte und nahm Funkverbindung

zu den Fahrern auf. »Sie kommen«, erklärte Tersten. »Jelgt

berichtet, daß das Monstrum noch knapp 800 Meter von Bennts Palast entfernt ist.«

»Wir warten, bis wir es von hier aus se­hen«, entschied Sirkat. »Hoffentlich behal­ten alle die Nerven.«

»Hoffentlich behalten wir sie.« Weitere zwei Minuten vergingen. Dann

sprach der Funkempfänger an. Tersten dreh­te den Lautsprecher auf.

Eine panikerfüllte Stimme war zu hören. Sie gehörte einem der Fahrer der Scout-Torcs. Sirkat nahm das Mikrophon.

»Prestoor, ich kann dich nicht verstehen!«

Unverständliche Wortfetzen. Der Fahrer mußte verrückt vor Angst sein. Sirkat richte­te sich im Sitz auf.

»Wirst du daraus schlau, Tersten?« »Moment«, sagte der Techno. Er nahm

das Mikro und redete beruhigend auf Pre­stoor, den Fahrer des Scout-Torcs, ein. Jetzt verstand er einige Worte.

»Er kommt von dem Ding nicht los! Es hält ihn offenbar fest!«

»Er soll aussteigen und davonrennen!« sagte Sirkat aufgeregt.

Tersten sprach wieder ins Mikrophon. Plötzlich drang ein furchtbares Krachen aus dem Lautsprecher. Im gleichen Augenblick schoß genau im Zentrum des hellen Scheins im Norden ein greller Blitz in den Himmel. Farbige Lichtkaskaden erhellten die Nacht, als er in den Prallschirm über Pthor fuhr. Für Sekunden waren die Beobachter geblendet.

Ein Techno sprang schreiend aus seinem Torc und rannte davon. Von überall kamen Meldungen, daß Männer dabei waren, Hals über Kopf zu fliehen.

Sirkat preßte die Zähne aufeinander. Als er wieder sehen konnte und nach Norden blickte, mußte er ebenfalls gegen den unbän­digen Drang ankämpfen, einfach aufzusprin­gen und wegzulaufen.

Genau zwischen zwei Glaspalästen schien eine neue Sonne aufzugehen, ein in allen Farben des Regenbogens strahlender Ball.

»Bei allen Göttern!« entfuhr es Tersten. Sirkat sah, wie der Freund am ganzen Leib zitterte.

Aber plötzlich ging eine Veränderung mit dem Techno vor.

Sirkat zwang sich dazu, solange in den Glutball zu sehen, bis seine Augen zu schmerzen begannen. Der Anblick des Mon­strums wirkte fast erlösend auf ihn. Die Angst wurde von unbändigem Zorn und wil­der Entschlossenheit abgelöst.

Ein Blick auf Tersten zeigte ihm, daß es dem Freund ähnlich erging. Das unwirkliche Licht warf gespenstische Schatten auf Ter­stens Züge.

Vielleicht ist doch noch nicht alles verlo­

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ren! dachte Sirkat. Plötzlich war er völlig ruhig. »Wir warten noch eine Minute«, flüsterte

er. Genau in diesem Augenblick sprach der

Funkempfänger erneut an. Zwei Technos aus Bennts Palast berichteten von zwei Fremden, einem hageren Mann und einem grünen Ungeheuer, die in das Gebäude ein­gedrungen und plötzlich spurlos verschwun­den waren. Gleichzeitig wollten sie wissen, was das Leuchten zu bedeuten hatte.

»Verdammt!« fluchte Sirkat. »Gerade jetzt müssen sie uns in die Quere kommen. Wieso spricht Bennt nicht selbst?«

»Er ist gelähmt«, erklärte der Sprecher am anderen Ende aufgeregt. Sirkat hörte die Fragen nach dem Leuchten nicht mehr. Zu­viel schoß ihm durch den Kopf.

Die Fremden hatten den Schwarzen Palast gesucht. Konnte das bedeuten, daß …?

»Unsinn!« stieß der Techno hervor. Er hatte jetzt keine Zeit, sich auch noch um die Eindringlinge zu kümmern.

Die Minute war vorbei. Mittlerweile hatte sich der strahlende Ball über einen kleinen Hügel geschoben und näherte sich schnell dem Palast.

»Schaltet die Scheinwerfer ein!« schrie Sirkat ins Mikrophon.

Im nächsten Augenblick flammten die Lichter auf. Die Nacht war zum Tage ge­worden, und jetzt glaubte Sirkat, die Kontu­ren des Daalen in dem leuchtenden Etwas, das nur für einen kurzen Augenblick zum Stehen kam, zu erkennen.

Dann setzte das Monstrum seinen Weg fort – auf Bennts Palast zu, unaufhaltsam und unbeirrt.

»Bleibt an euren Plätzen!« befahl der Techno. »Alle! Unternehmt nichts, bevor ich neue Befehle gebe.«

»Was hast du vor?« wollte Tersten wis­sen.

»Das einzig mögliche«, knurrte Sirkat. Dann riß er die Strahlwaffe aus der Tasche. Noch einmal drehte er sich zu seinem Freund und Vertrauten um.

Horst Hoffmann

»Kümmere dich um die Leute, Tersten. Sieh zu, daß sie zusammenbleiben, auch, wenn ich nicht zurückkommen sollte.«

»Aber.« Sirkat drehte sich abrupt um und ging auf

Bennts Palast zu. Die in allen nur denkbaren Farben strahlende Kugel war bis auf zwei­hundert Meter heran.

* WOMMSER (II)

Wommser wachte auf. Langsam kehrte das Bewußtsein aus der Versenkung in un­endliche Tiefen an der Wurzel allen Seins zurück.

Der Dimensionssymbiont fühlte die neue Kraft, die ihn durchströmte. Aber sofort be­gannen die Schattenballungen wieder, an dieser neugewonnenen Kraft zu zehren.

Wommser blieb keine Zeit. Er mußte han­deln.

Das unfaßbare Wesen katapultierte sich aus seinem Dimensionsnest hinaus. Einen kurzen Augenblick schwebte es mitten in ei­ner der Schattenballungen. Dann fand es den Bezugspunkt.

Wommser konzentrierte sich auf Kol­phyrs Impulse. Im nächsten Moment befand er sich in unmittelbarer Nähe des Bezugs­partners.

Warme, wohltuende Ströme. Wommser fühlte sich unbeschwert und glücklich, wie immer, wenn er für kurze Zeit in der Nähe des Wesens sein konnte, aus dem er hervor­gegangen war. Er nahm gleichzeitig einen Schwall Anti- und Normalmaterie in sich auf. Die Normalmaterie drang von allen Sei­ten auf ihn ein, während er die Antimaterie aus Kolphyr sog – durch den in diesem Kon­tinuum undurchlässigen Velst-Schleier, der aber für Wommser kein Hindernis bedeutete.

Neue Kraft! Wommser verdrängte den Wunsch, sich

erneut mit Kolphyr zu verbinden. Er wußte, daß ihm nur wenig Zeit blieb, bis er wieder ins Dimensionsnest zurückkehren mußte.

Der Symbiont übermittelte Kolphyr die

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39 Die Nacht der Schläfer

notwendigen Informationen. Ein Großteil würde dem Bezugspartner erst in ferner Zu­kunft zur Verfügung stehen – dann, wenn Pthor in das Netz der Schattenballungen ge­raten sollte, falls dies überhaupt jemals der Fall war.

Wommser hoffte es nicht. Die Trennung schmerzte, wie jedesmal,

wenn der kurze Augenblick des Glücks zu Ende ging.

Wommser konzentrierte sich auf das, was sich bereits in unmittelbarer Nähe des Be­zugspartners befand.

Artverwandtes Leben – aber was für ein Leben!

Es gab nur eine Möglichkeit, eine Kata­strophe unvorstellbaren Ausmaßes zu ver­hindern. Wommser wußte nicht, ob seine neuen Kräfte dazu ausreichten.

Der Symbiont wagte alles, sein Leben, und vielleicht auch das Leben Kolphyrs.

Denn immer noch befand Wommser sich in einer Abhängigkeit von Kolphyr, die auch ihm noch nicht völlig klar war.

Kolphyr und Wommser waren Bezugs­partner, zwei unterschiedliche Wesen, die durch eine unbegreifbare Brücke miteinan­der verbunden waren.

*

»Was ist?« fragte Razamon, als er sah, wie Kolphyrs Blick sich wieder zu klären begann, nachdem die halbtransparente Vo­gelgestalt verschwunden war.

»Wommser sagt, daß wir Grizzard sofort wecken müssen«, erklärte der Bera über­gangslos.

Razamon stutzte. Er war von Kolphyrs ehemaligem Symbionten mittlerweile eini­ges gewohnt. Trotzdem fragte er sich, wie Wommser von dem Schläfer wissen konnte.

Der Bera schien seine Gedanken zu lesen. »Freund Razamon fragt zuviel. Wir müs­

sen Grizzard aufwecken, bevor etwas pas­siert.«

Was soll passieren? wunderte Razamon sich wieder. Dann hörte er erneut die aufge­

regten Stimmen, die zum Teil aus Lautspre­chern zu kommen schienen.

Hat man uns aufgespürt? Kaum, dachte der Atlanter. Irgend etwas

anderes geht hier vor. »Ich werde es versuchen«, sagte der Ptho­

rer. »Nein«, entgegnete das Antimateriewesen

entschieden. »Kolphyr wird Grizzard wecken.«

Erstaunt sah Razamon den Gefährten an. Aber dann trat er zurück und machte bereit­willig Platz.

Als Kolphyr sich am Schaltbrett zu schaf­fen machte, wußte Razamon, daß der Bera über Informationen verfügte, die er nur von Wommser erhalten haben konnte.

Ganz wohl war dem Pthorer nicht, als er Kolphyr bei der Arbeit zuschaute. Dabei sagte der Name »Grizzard« eigentlich alles.

Wenn dieser Mann »für alle schlief«, konnte er auch für alle aufwachen.

Aber was, wenn Grizzard nicht das war, was Razamon und Kolphyr sich von ihm er­hofften? Wenn er kein Helfer, sondern ein potentieller Gegner war?

Die grünen Finger des Beras huschten über die Knöpfe und Tasten der Kontrollen, als hätten sie nie etwas anderes getan. Raza­mon verscheuchte die Zweifel.

Wenn Wommser seinem »Vater« mitge­teilt hatte, daß Grizzard unverzüglich er­weckt werden mußte, hatte das seinen Grund. Der ehemalige Symbiont hatte sich schon einige Male als rettender Engel erwie­sen.

Draußen, vor dem Palast, schrien viele Technos wild durcheinander. In das plötz­lich aufgeflammte Licht mischte sich jetzt ein unheimliches Leuchten.

Razamon wurde unruhiger. »Mach schnell, Kolphyr!« »Razamon muß nicht drängen«, sagte der

Bera. »Kolphyr braucht Zeit. Aber Grizzard beginnt aufzuwachen.«

»Hat Wommser dir noch etwas anderes erzählt?« wollte der Atlanter wissen. »Etwas, daß mit dem Theater vor dem Palast

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zu tun hat?« »Das hat er«, antwortete Kolphyr unge­

halten. »Aber Kolphyr weiß nichts mehr. Und wenn Freund Razamon noch länger dumme Fragen stellt, weiß Kolphyr auch nicht mehr, wie der Mann in der Nische auf­geweckt wird.«

»Ist schon gut«, beruhigte der Pthorer den Gefährten. »Laß dich nicht stören.«

»Dann sei jetzt ruhig.« Grizzard schlug die Augen auf. Sie waren

weit in die Ferne gerichtet. Die Nische war noch verschlossen, so daß Razamon keine weiteren Einzelheiten erkennen konnte.

Immer wieder die gleiche Frage: Wie kam dieser Mensch hierher? Etwa von einem frü­heren Besuch Pthors auf der Erde? Oder aus einer anderen Zeit?

Vielleicht war er auch gar kein Mensch, sondern nur menschenähnlich. Razamon versuchte sich zu erinnern, ob es irgendei­nen Hinweis darauf gab, daß Pthor nach Razamons Verbannung Kolonialwelten der Erde heimgesucht hatte.

Oder etwa die Akonen, die Arkoniden, die Tefroder?

Unmöglich! dachte der Atlanter. Es han­delte sich zweifelsfrei um einen Menschen oder um den Angehörigen einer Rasse, die die Terraner im Verlauf ihrer bisherigen kosmischen Expansion noch nicht kennen­gelernt hatten.

Die Odinssöhne! durchfuhr es ihn. Hatte er am Ende etwas mit ihnen zu tun?

Die Fragen türmten sich unüberwindlich vor dem Pthorer auf. Razamon sah ein, daß alle Spekulationen zu nichts führten. Viel­leicht würde er später einmal alle Antworten erhalten.

Aber dazu mußten sie hier heraus! Ein greller Lichtblitz erhellte den Gang

und blendete den Atlanter für Sekunden. Kolphyr ließ das Schaltbrett los. Zum er­stenmal hörte Razamon den Bera fluchen.

»Warte hier und mach weiter!« sagte er. »Ich sehe nach, was draußen los ist.«

Kolphyr versuchte zu nicken. Da sein Kopf fast übergangslos in den Oberkörper

Horst Hoffmann

überging, wirkte die Geste grotesk. Razamon hatte längst aufgehört, sich zu

fragen, wieso die Technos ihn und Kolphyr nicht hatten sehen können, sie aber alles wahrnahmen, was außerhalb des Palasts und im gewarteten Teil des Ganges vorging.

Es gab nur eine Erklärung: Durch irgend­einen Mechanismus hatten die ehemaligen Herren der FESTUNG dafür gesorgt, daß Grizzards Gefängnis selbst vom Wachperso­nal des Glaspalasts nicht entdeckt werden konnte. Seltsam war nur, daß es sich dabei um eine »optische Einbahnstraße« handelte. Anders war nicht zu erklären, daß das grelle Licht von draußen an die Augen der Gefähr­ten drang.

Das Ende des Ganges bildete gleichzeitig einen Teil der Außenwand des Gebäudes. Auch hier war das Glas von klebrigen Fäden und Staub bedeckt. Razamon unterdrückte seinen Ekel und wischte einen Teil der Scheibe frei.

Was er sah, ließ ihm fast das Blut in den Adern gefrieren.

»Schneller, Kolphyr!« schrie er. »Es kommt auf Sekunden an!«

»Razamon redet wieder dumm«, hörte er die Stimme des Beras. »Grizzard ist er­wacht.«

Der Atlanter fuhr herum. Mit wenigen Schritten war er bei dem Gefährten.

Grizzard preßte die Hände gegen den Deckel des gläsernen Schreins. Einen Au­genblick fürchtete Razamon, daß er noch zu schwach wäre, um ihn hochzustemmen.

Dann brach der Behälter auseinander. Der Mann mit dem indianischen Profil stieg langsam heraus. Er wirkte benommen. Im­mer wieder sah er sich nach allen Seiten um, als ob er Mühe hätte, sich zu orientieren.

Dann sah er seine Befreier. Im gleichen Augenblick begann die

Scheibe, die die Nische vom Gang trennte, zu vibrieren. Langsam fuhr sie in den Bo­den. Ein widerlicher Geruch stieg Razamon in die Nase.

Der junge Mann taumelte auf die beiden ungleichen Freunde zu. Razamons Blick

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41 Die Nacht der Schläfer

hing wie gefesselt an dem erweckten Schlä­fer. Das Zischen und Summen im vorderen, gewarteten Teil des langen Ganges nahm er nur unbewußt wahr, bis Kolphyr ihn hart an den Schultern rüttelte.

Sämtliche Tiefschlafkammern öffneten sich, aber damit nicht genug.

Ein grünliches Leuchten drang durch die schmutzverschmierte Außenwand des Glas­palasts. Eine Sekunde später blendete ein Lichtblitz die Augen des Atlanters.

9.

Sirkat stand nur wenige Meter vor Bennts Palast. Der Eingang stand offen. Herm und Dallmar, Bennts Gehilfen, hatten das Ge­bäude längst verlassen, um sich vor dem, was da genau auf sie zukam, in Sicherheit zu bringen.

Erst jetzt wurde Sirkat bewußt, daß er dem Monstrum ganz allein gegenüberstand. Der Techno hatte eine dunkle Brille aufge­setzt, so daß er in das strahlende Etwas, das sich unaufhaltsam auf ihn zuschob, blicken konnte, ohne nach wenigen Augenblicken geblendet zu werden. Jetzt erkannte er deut­lich die Konturen des Daalen.

Sirkat hielt den Griff der Strahlwaffe mit beiden Händen umklammert. Der Mittelfin­ger der rechten Hand lag auf dem Auslöser.

Noch fünfzig Meter. Der Techno mußte alle Willenskraft auf­

bringen, um nicht vorzeitig abzudrücken. Er hörte die Schreie seiner Männer.

Vierzig Meter! Nur im Unterbewußtsein nahm der Tech­

no wahr, daß das Licht in den umliegenden Palästen plötzlich zu flackern begann.

Dreißig Meter! Jetzt! durchfuhr es Sirkat. Halb verrückt

vor Angst, drückte er auf den Auslöser. Ein grüner Lichtfinger schoß auf die Glutkugel zu.

Im nächsten Augenblick glaubte Sirkat, daß die Welt um ihn herum in einem Schwall entfesselter Energien unterging. Er sah die Blitze am Himmel, hörte das Zischen

und Krachen von Entladungen, dann explo­dierte etwas in seinem Gehirn.

Sirkat merkte, daß er am Boden lag. Nur schemenhaft nahm er die gleißende Hellig­keit wahr, die sich auf ihn zuschob.

Das Ende! hallte es immer wieder in sei­nen Gedanken. Sirkat wälzte sich herum und preßte die Hände gegen die Augen. Immer wieder das gleiche Bild:

Ein stählernes Skelett, pulsierende Organe aus unbekanntem, anorganischem Material.

Noch einmal bäumte der Techno sich auf. Die Augen schmerzten, die gleißende Hel­ligkeit drang durch die Schutzbrille. Trotz­dem glaubte er zu sehen, wie sich etwas von oben über die glühende Kugel schob.

*

»Schnell weg hier!« schrie Razamon. »Gleich ist der Teufel los!«

Kolphyr verstand augenblicklich. Sie packten den noch benommenen Schläfer und zerrten ihn aus dem Gang. Ehe sie auf den Hauptkorridor gelangten, blickte der Atlan­ter sich schnell noch einmal um.

Er sah die verstaubte hintere Hälfte des Ganges.

Wieso hatten die Technos ihn dann nicht wahrnehmen können?

»Freund Razamon träumt schon wieder!« tadelte Kolphyr.

»Ist ja schon gut«, knurrte der Pthorer. Sie liefen in Richtung Kontrollraum, wo sich der Ausgang befand.

Razamon sah das irisierende Licht, das durch alle Wände des Glaspalasts drang.

»Auf den Boden!« schrie er. Kolphyr be­griff. Die beiden Freunde ließen sich fallen. Grizzard landete genau neben ihnen. Bis jetzt hatte dieses seltsame Wesen noch kein einziges Wort gesprochen.

Der Lichtblitz fuhr über die drei hinweg. Plötzlich schrie Kolphyr gepeinigt auf.

»Wommser!« brachte der Bera hervor. »Er … er wird …«

Kolphyr brauchte nicht weiterzureden. Razamon sah in seine Augen. Das Entset­

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zen, das aus ihnen sprach, sagte alles.

*

Sirkat nahm alles wie im Traum wahr, so, als ob sich das Geschehen um ihn herum wie hinter einem dunklen Schleier abspielte, der sich zwischen ihn und die Außenwelt ge­schoben hatte.

Der Techno sah, wie die halbtransparente, schwach leuchtende Gestalt am Himmel auf­tauchte und auf die Glutkugel herabstürzte. Er sah, wie die Blitze in den Himmel schos­sen, als das Monstrum nur noch wenige Me­ter von ihm entfernt war, sah, wie die Er­scheinung am Himmel, die ihn an eines der Flugwesen der Senke erinnerte, sich mit dem Glutball vereinigte.

Sirkat wälzte sich schreiend am Boden. Er spürte die Hitze, die von dem Monstrum ausging. Jeden Augenblick mußten seine Gliedmaßen von dem lodernden Feuer, das die Kugel umgab, zerfressen werden.

Sirkat hielt den Atem an und wartete auf den Augenblick, nach dem alles vorbei sein würde.

Irgendwann würden andere Technos ein stählernes Skelett finden.

Sirkat sehnte das Ende herbei. Mit einem Mal schien sein ganzes Leben sinnlos ge­worden zu sein, all die Arbeit, die er sich ge­macht hatte, um seinen großen Auftrag zu erfüllen.

Hätte er nur niemals die Initiative ergrif­fen und Heinzkoor und Gryp herausgefor­dert. Wäre er doch nur ein einfacher Techno geblieben!

Die Hitze! Sie ließ nach! Sirkat richtete sich auf. Ungläubig starrte

er auf den leeren Platz vor dem Glaspalast. Er sah nur verbranntes Gras. Keine Spur von der glühenden Kugel.

Das kann nicht wahr sein! sagte er sich. Ich muß träumen oder schon im Reich der Toten sein.

Der Schmerz belehrte ihn eines besseren. Sirkat sah an sich herab. Seine Rüstung war

Horst Hoffmann

rußgeschwärzt, die freien Stellen seines Kör­pers verbrannt.

Irgend jemand kam auf ihn zugerannt. Erst als er sich über ihn beugte, erkannte Sirkat den Freund. »Tersten«, brachte er hei­ser hervor. »Was … was ist passiert?«

»Ganz ruhig, Sirkat«, sagte Tersten leise. »Es ist alles vorbei. Es war ein Wunder, das uns gerettet hat.«

Dann erzählte Sirkats Vertrauter, wie er und die wenigen an ihren Plätzen gebliebe­nen Technos beobachtet hatten, daß der Schuß aus der Strahlwaffe wirkungslos an dem Monstrum abgeprallt war. Er berichtete vom Auftauchen der seltsamen Erscheinung am Himmel, sagte aus, wie sie sich in den Glutball versenkt hatte und unter furchtba­ren Blitzen mit ihm verschwunden war, kurz, bevor das Monstrum Sirkat hatte errei­chen können.

»Was war das, Tersten? Hast du eine Ah­nung?«

»Ein Wunder, Sirkat. Es kann nur ein Wunder gewesen sein!«

Der junge Techno blickte skeptisch. Ter­sten half dem Freund auf die Beine. Sirkat biß die Zähne zusammen. Außer den Ver­brennungen hatte er anscheinend keine Schäden davongetragen.

Sirkat sah sich um. Immer noch war der Platz um Bennts Palast herum in das Licht der Scheinwerfer getaucht.

»Wieviele Männer sind geblieben?« woll­te Sirkat wissen.

Tersten zuckte die Schultern. »Wir werden sehen. Die meisten sind ge­

flohen. Ich habe …« »Still!« zischte Sirkat. Täuschte er sich,

oder flackerte die Beleuchtung der Glaspalä­ste schon wieder?

Der Techno drehte sich um die eigene Achse. Tatsächlich! Aber das, was hier vor­ging, betraf alle Paläste in Sichtweite.

Ein schrecklicher Verdacht kam Sirkat. »Komm schnell!« Tersten zögerte keinen

Augenblick und folgte dem Freund zum Torc, von dem aus sie die Technos dirigiert hatten. Ein Mann saß im Fahrzeug. Er hielt

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43 Die Nacht der Schläfer

eine Folie in seinen Händen und starrte un­gläubig auf die Symbole.

»Was ist los, Zammer? Hast du Nachrich­ten?«

Der Techno im Torc hob den Blick. Erst jetzt sah er, wen er vor sich hatte.

Der Mann stammelte etwas Unverständli­ches. Seine Augen waren vor Panik gewei­tet. Plötzlich bäumte er sich auf und ließ sich über den Rand des Torcs fallen. Als er auf die Beine kam, war sein Blick sekunden­lang auf etwas gerichtet, das hinter Sirkat und Tersten lag. Dann rannte er schreiend in die Nacht.

»Allmählich reicht mir's!« fluchte Sirkat. »Ruf alle Männer, Tersten. Sie sollen sich hier zusammenziehen, damit wir Bennts Pa­last nach den Fremden untersuchen kön­nen.«

Tersten hatte die Folie genommen und die Symbole gelesen.

»Was ist los, Tersten? Was steht da?« Unendlich langsam drehte der Vertraute

sich um, bis er Bennts Palast sehen konnte. Sirkat fluchte lauthals und fuhr herum. Im gleichen Augenblick, als er die Schlä­

fer sah, wußte der Techno, daß alles verlo­ren war. Die Fremden hatten ihr Ziel er­reicht.

Das aber konnte nur bedeuten, daß Bennts Glaspalast der Schwarze Palast war.

»Warum haben sie das getan?« flüsterte Sirkat kaum hörbar. »Sie haben alles zer­stört, was unsere Ahnen in jahrtausendelan­ger Arbeit aufgebaut haben. Warum, Ter­sten?«

»Laß uns fliehen, Sirkat!« rief Tersten be­schwörend. »Es hat doch keinen Sinn mehr, noch länger hierzubleiben. Sieh dich um!«

Überall öffneten sich jetzt die Paläste. Der Funkempfänger im Torc sprach an. Tersten drehte den Lautsprecher auf volle Lautstär­ke. Irgend jemand berichtete, daß die ganze Senke von allen möglichen Wesen, die sich aus ihren Tiefschlafkammern befreit hatten, überschwemmt wurde. Die Technos flohen in alle Richtungen.

»Komm, Sirkat. Wir haben hier nichts

mehr verloren. Die Fremden haben den zen­tralen Weckmechanismus gefunden. Die Schläfer leben. Eine uns unbekannte Vor­richtung hat dafür gesorgt, daß sie ohne Kontrolle durch einen Techno erweckt wur­den. Es ist ein Zeichen der Götter, Sirkat! Laß uns fliehen!«

Sirkat fuhr herum und starrte den Vertrau­ten wütend an.

»Dann verschwinde, aber laß mich mit den Göttern in Frieden! Ich will wissen, wa­rum sie es getan haben.«

Tersten redete auf den Freund ein, aber ohne Erfolg. Längst war außer ihm und Sir­kat kein Techno mehr in der Nähe. Die er­sten Schläfer waren fast heran. Noch wirk­ten sie benommen und taumelten zwischen verlassenen Torcs und den Scheinwerferma­sten hin und her. Tersten sah riesige, drei Meter hohe Geschöpfe und exotische, kleine Wesen. Er glaubte, den Verstand verlieren zu müssen.

Von Panik erfüllt, sprang Tersten in den Torc und raste davon, nach Norden, nur her­aus aus der Senke.

Sirkat drehte sich nicht einmal um. Wie in Trance ging er weiter auf Bennts Palast zu und achtete überhaupt nicht auf die Schläfer, die an ihm vorbeikamen und ihn neugierig musterten.

Vielleicht hielten sie ihn für einen der Ih­ren.

Der Morgen begann zu dämmern, als Sir­kat vor dem Eingang des Gebäudes stand.

Er wartete auf die Fremden. Irgend etwas sagte ihm, daß sie kommen würden. Sirkats Blick war leer, seine Augen die eines Man­nes, der alles verloren hatte.

Er war unbewaffnet. Irgendwo mußte die Strahlpistole liegen, aber Sirkat brauchte sie nicht mehr.

Nach wenigen Minuten sah er die drei Gestalten hinter der Glaswand.

*

Als Herrohn die Nachricht vom Anlaufen der Entkonservierungsapparaturen hörte,

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wußte er, daß die Fremden ihn betrogen hat­ten.

Seine Entrüstung war grenzenlos. Einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, mit ein paar zuverlässigen Anhängern zum Bezirk Nord-22-3 zu fahren und Rache zu nehmen.

Aber dazu war es zu spät. Herrohn hatte den Fremden vertraut. Das

Wissen, daß ausgerechnet er einen solchen Fehler gemacht hatte, brachte den Techno fast um den Verstand. Er fühlte sich zwi­schen widersprüchlichen Gefühlen hin und her gerissen, aber schließlich siegte die Ver­nunft.

Über eine Rundrufschaltung forderte der Techno all diejenigen seiner Anhänger, die ihren Posten noch nicht in heller Panik ver­lassen hatten, auf, die Torcs zu nehmen und sich an vier zentralen Punkten am Rand der Senke zu sammeln. Dort sollten sie auf wei­tere Befehle warten.

Durch einen seiner Leute, die sich unter Sirkats kleine Streitmacht in Nord-22-3 ge­mischt hatten, wußte Herrohn alles über Sir­kats Versuch, das Monstrum aufzuhalten, wenngleich er aus den zuletzt wirren Schil­derungen vom Auftauchen einer seltsamen Leuchterscheinung am Himmel nicht recht schlau wurde.

Plötzlich tat Sirkat ihm leid. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, den Frem­den vom Schwarzen Palast zu erzählen.

Ganz bestimmt! dachte Herrohn verbittert. »Wartet nur«, murmelte er. »Ihr mögt

noch so schlau sein, aber gnade euch der Himmel über Pthor, wenn ihr Herrohn noch einmal in die Hände fallen solltet!«

Der Techno stand von seinem Sitz vor den Kontrollen auf und trat wuchtig gegen ein Schaltpult. Dann verließ er den Palast und sprang in einen wartenden Torc.

»Nach Norden!« befahl er dem Fahrer. »Zur Sammelstelle. Die Fremden werden ebenfalls in diese Richtung fliehen. Wir werden sie gebührend empfangen!«

Der Rundruf wurde unaufhörlich weiter gesendet. Herrohn hatte ihn auf ein Band ge-

Horst Hoffmann

sprochen. Er forderte nicht nur seine Anhän­ger, sondern alle Technos auf, sich an den vier angegebenen Fluchtpunkten zu sam­meln.

Es würde ihm nicht schwerfallen, sie da­von zu überzeugen, daß allein Sirkat schuld an der Katastrophe war, und dann würde er, Herrohn, alleiniger Führer des Stammes sein.

Der Torc raste davon. Der Fahrer mußte immer wieder ziellos durch die Senke strei­fenden ehemaligen Schläfern ausweichen. Herrohn und die drei Technos, die sich im hinteren Teil des Torcs befanden, schossen mit Lähmstrahlen auf die Wesen.

Herrohn brauchte den Fahrer nicht anzu­stacheln. Die Angst saß ihm im Nacken, so daß er wie ein Verrückter fuhr. Der Torc überholte mehrere andere Fahrzeuge, die hoffnungslos mit Flüchtlingen überladen waren.

Bilder wie aus einem Alptraum. Die Technos dachten nur noch daran, so schnell wie möglich die Senke hinter sich zu brin­gen. Dabei kam es kaum einmal vor, daß ei­ner der Entkonservierten einen Torc angriff.

Die Angst steckte tiefer, viel tiefer. Nur Herrohn spürte sie nicht. Zorn und

unbändiger Haß auf die Verräter überlager­ten alle anderen Gefühle. Immer wieder griff er zum Mikrophon des Funkgeräts und peitschte die anderen Torcs vorwärts.

*

Auch Razamon dachte an das Verspre­chen, das er Herrohn gegeben hatte.

Ihm war keine Wahl geblieben. Selbst, wenn es ihm gelungen wäre, den ehrgeizi­gen Techno zu benachrichtigen, hätten er und Kolphyr nicht zögern dürfen. Die Ent­wicklung der letzten Viertelstunde hatte den Entschluß, auf Wommsers Rat zu hören, nachträglich rechtfertigt.

Razamon versuchte sich auszumalen, wie es in diesen Minuten in der Senke aussehen mochte. Die Entkonservierung aller Schläfer des Schwarzen Palasts hatte bewiesen, daß

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45 Die Nacht der Schläfer

Grizzards Erwachen tatsächlich den zentra­len Weckmechanismus ausgelöst hatte.

Razamon und Kolphyr sahen den warten­den Techno, bevor sie den Ausgang erreich­ten.

»Sirkat«, brummte der Pthorer. »Wieso ist er nicht längst über alle Berge?«

Kolphyr gab keine Antwort. »Sei's drum«, sagte Razamon. »Wir müs­

sen verschwinden, bevor die Senke sich in ein Tollhaus verwandelt hat. Noch sind die Schläfer benommen, aber das wird sich schnell ändern, und dann könnten sie auf den Gedanken kommen, zu fragen, wer für ihr Elend verantwortlich ist.«

Wenn sie nicht vorher übereinander her­fallen! fügte er in Gedanken hinzu. Bisher wurden sie mit allem, was sie zum Leben brauchten, versorgt. Bald werden einige von ihnen Hunger bekommen, und sie sind be­stimmt nicht alle Vegetarier.

Einige von ihnen würden überleben, viel­leicht sogar der größte Teil. Sie alle gingen einem ungewissen Schicksal entgegen. Wür­den sie in der Senke, die bald von allen Technos verlassen sein dürfte, oder in den Weiten von Pthor den harten Überlebens­kampf bestehen?

Wie würden die Odinssöhne reagieren? »Atlan wird sich dies alles sehr gut über­

legt haben«, murmelte Razamon. »Wir wer­den uns um sie kümmern und ihnen helfen, wo wir nur können, wenn ich mich auch fra­ge, wie wir uns mit einer solch unübersehba­ren Anzahl verschiedenartigster Wesen ver­ständlich machen sollen. Zweihunderttau­send!«

Der Pthorer schüttelte den Kopf. Sirkat wartete.

»Komm, Kolphyr, bringen wir's hinter uns. Der arme Kerl tut mir verdammt leid.«

Die Gefährten nahmen Grizzard wieder in die Mitte und traten ins Freie. Dann standen sie vor Sirkat. Eine Weile sahen Razamon und der Techno sich in die Augen. Dann fragte Sirkat leise und mit hängenden Schul­tern:

»Warum?«

Razamon kam sich in diesen Augen­blicken vor wie ein gemeiner Verbrecher. Er konnte das Leid des Technos nicht mitanse­hen.

»Es ist das beste für sie, glaub mir, Sirkat. Über kurz oder lang hätte Herrohn trium­phiert. Du hättest mit ein paar Getreuen al­lein dagestanden, und die Schläfer wären ei­ner nach dem anderen gestorben. Es ist eine neue Zeit angebrochen, Sirkat. Willst du das denn nicht begreifen?«

»Ich kann es nicht«, brachte der Techno hervor.

Ein Zittern durchlief seinen Körper. Raza­mon sprang auf ihn zu und stützte ihn, wäh­rend Kolphyr sich um Grizzard kümmerte.

Erst jetzt schien Sirkat den seltsamen Mann zu bemerken. Noch einmal kehrte das Feuer in seine Augen zurück.

»Ihr müßt euch in Sicherheit bringen. Ihm darf nichts geschehen.«

Razamon wechselte einen schnellen Blick mit Kolphyr.

»Wer ist er, Sirkat?« »Ich weiß es nicht«, sagte der Techno lei­

se. »Es ist eine Erinnerung, aber sie ist vage, wie hinter Schleiern verborgen. Sucht Bennts Torc. Er muß noch in der Nähe des Palasts sein. Bennt kann nichts mehr damit anfangen. Er ist bestimmt längst geflohen.«

Sirkat schnappte nach Luft. Seine Beine gaben nach. Razamon fing den Fall auf und legte den Techno sanft ins verbrannte Gras.

»Warte hier«, sagte der Atlanter zu Kol­phyr. »Ich sehe mich um.«

Keine zwei Minuten später war er mit dem Torc zurück. Kolphyr führte Grizzard in das Fahrzeug. Der ehemalige Schläfer verriet durch keine Geste, daß er etwas von dem wahrnahm, was um ihn herum vorging. Er ließ willig alles mit sich geschehen.

»Was machen wir mit ihm?« fragte der Bera und zeigte auf den bewußtlosen Tech­no.

»Wir nehmen ihn mit«, erklärte Razamon. Wenig später jagte der Torc auf den Rand

der Senke zu – nach Norden.

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46

*

Es war ein Bild des Chaos. Noch nie in seinem Leben hatte Razamon eine solche Menge völlig verschiedenartiger Lebewesen auf engstem Raum versammelt gesehen.

Unwillkürlich fuhr er langsamer, als der Torc wenige Dutzend Meter an einer kleinen Gruppe von erwachten Schläfern vorbeikam.

Es war jetzt fast hell. Fast alle Exoten wa­ren nackt. Einige glichen riesigen Spinnen mit meterlangen, geknickten Beinen, auf de­nen ein winziger Körper mit großem Kopf saß, andere erinnerten den Pthorer an Ech­sen. Razamon sah drei entfernt humanoide Wesen, die Techno-Lederrüstungen trugen.

Der Atlanter mußte bei dem Gedanken, daß sie sich schämten und deshalb schnell­stens Abhilfe geschaffen hatten, unwillkür­lich grinsen. Hoffentlich waren sie vorsich­tig mit den Technos umgegangen, von denen sie sich die unförmig vom Körper hängende Kleidung besorgt hatten.

Ein riesiger Käfer, dessen gefächerte Füh­ler meterhoch in die Höhe ragten, lief vor dem Zugor auf die Gruppe zu. Sein Chitin­panzer schimmerte in allen Regenbogenfar­ben, als er von den Scheinwerfern des Fahr­zeugs kurz erfaßt wurde.

Das Wesen störte sich nicht an dem Ge­fährt. Es erreichte die seltsame Versamm­lung. Razamon konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß diese Wesen miteinan­der sprachen.

»Unsinn!« brummte der Pthorer. Aber warum eigentlich nicht? Razamon

versuchte, sich in die Lage der Kreaturen zu versetzen. Sie wußten nicht, wo sie sich be­fanden. Vielleicht ahnten sie nicht einmal, wie sie hierhergekommen waren. Aber es waren andere da, die ebenso ratlos waren. Weshalb sollten sie nicht versuchen, sich ge­genseitig zu verständigen?

Razamon beschleunigte den Torc wieder. Bis zum Rand der Senke mochten es noch zehn Kilometer sein.

Immer das gleiche Bild: wiedererwachte

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Schläfer, die ziellos zwischen den geöffne­ten Glaspalästen und herumstehenden Torcs umherstreiften, kleinere Gruppen von Exo­ten, die sich gegenseitig zu verständigen suchten, Entkonservierte, die einfach herum­standen und darauf warteten, daß irgend et­was geschah.

Aber es fehlte etwas. Es ist mir zu friedlich! dachte Razamon.

Daß alle Schläfer völlig harmlos waren, war mehr als unwahrscheinlich. Er mußte an sei­nen ersten Aufenthalt in der Senke zurück­denken. Damals waren drei bärenähnliche Kreaturen aus ihren Tiefschlafkammern be­freit worden und hatten mehrere Paläste ver­wüstet.

»Ich wünschte nichts mehr, als daß ich mich irre«, murmelte der Pthorer. Unwill­kürlich beschleunigte er weiter. Der Torc fuhr mit Höchstgeschwindigkeit.

Kolphyr saß hinten zwischen Grizzard und Sirkat. Er sprach kein Wort. Sicher trau­erte er wieder Wommser nach. Noch war Razamon nicht dazu gekommen, Sirkat da­nach zu fragen, was sich draußen, vor Bennts Palast ereignet hatte. Er nahm sich vor, dies so bald wie möglich nachzuholen.

Sie mochten noch knapp fünf Kilometer vom Rand der Senke entfernt sein, als das eintrat, was Razamon die ganze Zeit über befürchtet hatte.

Zuerst glaubte der Atlanter, daß der Torc, der zwischen zwei Glaspalästen auftauchte und auf die Freunde zuschoß, von einem Wahnsinnigen gesteuert wurde. Dann erst sah er die drei hünenhaften Gestalten, die ihn verfolgten. Sie schwangen halbe Baum­stämme und bombardierten die fliehenden Technos mit mittleren Felsbrocken.

Razamon zögerte keine Sekunde. Er trat auf die Bremsen, so daß der Torc auf dem weichen Boden um die eigene Achse ge­schleudert wurde. Das Fahrzeug kam zum Stehen. Razamon war gegen die Kontrollen geschleudert worden. Jetzt sprang er heraus und zog die Waggu aus dem Gürtel. Die Technos im anderen Torc schienen zu be­greifen. Sie steuerten ihre Maschine knapp

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47 Die Nacht der Schläfer

an ihm vorbei. Razamon zielte mit der Lähmwaffe. Die

Hünen kamen wie drei alles niederwälzende Tanks heran. Plötzlich grinste der Atlanter.

»Nein«, sagte er und schleuderte die Waggu zur Seite. »Das machen wir anders.«

Kolphyr stand neben ihm. Die beiden er­warteten die abenteuerlichen Gestalten. Je­der der stark an Steinzeitmenschen erinnern-den Männer war fast drei Meter groß.

Dann waren sie heran. Sie schienen zu glauben, leichtes Spiel mit den Verrückten zu haben, die sich ihnen da in den Weg ge­stellt hatten. Einer der Hünen schwang die Keule.

»Jetzt!« Razamon rannte mit gesenktem Kopf auf

den Angreifer zu und bohrte ihm den Schä­del in die Magengrube. Er hörte ein Stöh­nen. Der Berserker Razamon umfaßte die behaarte Taille des Riesen und hielt ihn mit eisernem Griff umklammert. Dann holte er Schwung und riß das Wesen zu Boden.

Der Pthorer sah in zwei kleine Augen, aus denen heillose Verblüffung sprach. Der Wil­de stemmte die Hände gegen Razamons Schultern und schleuderte den Gegner da­von. Razamon landete einige Meter entfernt im hohen Gras.

Mit einem schnellen Blick überzeugte er sich davon, daß Kolphyr keine ernstzuneh­menden Schwierigkeiten mit den beiden an­deren hatte.

»Na, komm, mein Freund!« rief der Ptho­rer und winkte dem Hünen zu. Dieser war schon wieder heran. Mit weit ausgestreckten Händen stürzte er sich auf den Gegner und versuchte, Razamons Hals zu packen. Der Atlanter wich geschickt zur Seite aus, ließ aber das Bein stehen. Mit einem ohrenbetäu­benden Schrei stürzte der Riese wie ein ge­fällter Baum und krachte schwer auf den Boden.

»Ich glaube, sie haben genug!« rief Kol­phyr. Einer seiner beiden Widersacher woll­te die kleine Unaufmerksamkeit zu einem neuen Angriff nutzen, aber Kolphyr drehte sich nicht einmal um. Seine rechte Faust lan­

dete unter dem Kinn des Wilden. »Hast du genug?« fragte der Pthorer sei­

nen Gegner. Der Hüne stieß einen gurgelnden Laut aus

und machte Anstalten, sich wieder auf ihn zu stürzen, aber noch bevor er auf den Bei­nen war, landete Razamons Faust hart auf seinem breiten Schädel.

»Jetzt schläft er wieder«, kommentierte Kolphyr, dessen Widersacher sich nun auch im Reich der Träume befanden.

»Aber diesmal werden wir ihn ganz be­stimmt nicht wecken. Ab geht die Post.«

Sie sprangen in den Torc. Sirkat hatte die Benommenheit abgeschüttelt. Er sah die Freunde an, als ob sie eben leibhaftig aus der Hölle aufgefahren wären.

»Wieso habt ihr das gemacht?« fragte er. »Ihr hattet Waggus.«

Razamon winkte ab. »Das wird auf die Dauer langweilig, Sirkat. Eine richtige Prü­gelei war jetzt genau das Richtige, um trübe Gedanken zu verscheuchen.«

»Seltsame Wesen seid ihr«, murmelte der Techno. Er sah sich scheu nach Grizzard um. Der Jüngling schwieg nach wie vor. Wenn er wußte, was mit ihm geschah, so ließ er es sich nicht anmerken.

Nach einem weiteren unliebsamen Zwi­schenfall erreichten sie den Rand der Senke. Eine der kleinen Gruppen friedlicher Schlä­fer war von zwei Meter großen Insektenwe­sen angegriffen und förmlich niedergemet­zelt worden.

Inzwischen hatte Sirkat über die Ereignis­se der Nacht berichtet. Kolphyr sah ihn im­mer wieder zweifelnd an, wenn die Rede von der Leuchterscheinung am Himmel war. Aber er konnte wieder Hoffnung schöpfen.

Razamon erfuhr weiter, daß weder Bennt noch seine beiden Helfer etwas von dem versteckten Gang in ihrem Palast gewußt hatten. Die Technos konnten ihn tatsächlich nicht sehen. Irgendeine Sperre sorgte dafür, daß sie einen normallangen Gang vor sich sahen, aber niemals daran dachten, die dort befindlichen Nischen zu warten.

Der Atlanter war froh darüber, daß Sirkat

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neue Energie zeigte. Die Apathie war weit­gehend verschwunden. Wenn es jemanden gab, der dafür sorgen konnte, daß die nun überall versprengten Technos wieder zu ei­nem geordneten Zusammenleben fanden, dann war das Sirkat.

Der Rand der Senke. Das Gelände stieg jetzt immer steiler an.

Überall fanden die Flüchtlinge Spuren von anderen Torcs. Razamon entschloß sich da­zu, ihnen zu folgen und Sirkat bei der ersten Gruppe geflohener Technos, die man fand, abzuliefern.

10.

»Da kommen sie!« stieß Herrohn trium­phierend aus. Der Techno gab den anderen, die sich in einer Reihe nebeneinander po­stiert hatten, ein Zeichen. Zusammen mit den Torcs bildeten sie einen undurchdringli­chen Riegel. Die Fremden würden sie erst sehen können, wenn sie auf der Hügelkuppe waren.

Dann aber ist es zu spät, dachte Herrohn triumphierend.

Herrohn wußte noch nicht genau, auf wel­che Weise er Rache nehmen würde. Zu­nächst mußten die Verräter paralysiert wer­den. Vielleicht würde er sie gefesselt in die Senke schaffen und sie dort den Horden der Schläfer überlassen.

Geduckt warteten die Technos (Herrohn hatte etwas mehr als zweihundert Männer um sich gesammelt, darunter auch ehemali­ge Getreue von Sirkat, die glaubten, daß ihr Führer beim Kampf gegen das Monstrum den Tod gefunden hatte) darauf, daß der Torc der Fremden die Kuppe erreichte.

Das Motorengeräusch wurde lauter. Die Lichtkegel der Scheinwerfer tauchten auf. Dann war es soweit.

»Auf sie!« schrie Herrohn und sprang in die Höhe. Der Torc mußte eine Vollbrem­sung vollführen, um nicht in die Mauer aus Leibern und Fahrzeugen zu rasen.

Dabei wurde der hagere Fremde heraus­geschleudert, so daß Herrohn nicht schießen

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konnte. Es war sein Fehler, daß er sich nur auf ihn konzentrierte. Zu spät hörte er das Raunen, das durch die Reihen der Technos ging.

»Dein Spiel ist aus, Herrohn!« sagte eine bekannte Stimme.

Herrohn hob den Blick. Sirkat! »Nehmt ihn fest!« befahl Sirkat. Seine

Stimme duldete keinen Widerspruch. Her­rohns Rivale stand aufrecht in dem halb zur Seite gekippten Torc. »Er hat das zu verant­worten, was geschehen ist. Herrohn erzählte den beiden Fremden vom Schwarzen Palast, und er war es, der den Daalen zu töten ver­suchte, wobei etwas geschehen sein muß, was dieses Wesen zum Monstrum machte. Herrohn verdient die härteste Strafe, die un­sere Gesetze vorsehen.«

Betroffen sah Herrohn, daß die Technos die Waffen sinken ließen. Einige drehten sich zu ihm um und sahen ihn mit finsteren Mienen an.

»Aber das ist doch Unfug!« schrie er. »Hört nicht auf ihn! Seht ihr nicht, wie er versuchen will, seine Haut zu retten?«

»Sirkat hat recht!« rief jemand. Mehrere Männer näherten sich Herrohn drohend.

Der Techno wußte, was die Stunde ge­schlagen hatte. Sirkat war wie durch ein Wunder noch am Leben. Für die abergläubi­schen Narren war dies ein Zeichen der Göt­ter.

Aber Herrohn war nicht bereit, kampflos aufzugeben. Zu sehr brannte der Haß in sei­nem Gehirn. Er riß dem Arm mit der Waggu hoch und zielte auf Sirkat. Ein kurzer Hand­druck und …

Der Schlag traf den Techno mit solcher Wucht, daß er einige Meter vorwärtsge­schleudert wurde und mit dem Gesicht im lehmigen Boden landete. Ein Fuß setzte sich schwer auf seinen Rücken.

Herrohn wollte sich noch einmal aufbäu­men, als er vom Strahl der Waggu getroffen wurde. Er wußte nicht, wer auf ihn geschos­sen hatte, aber die Vorstellung, daß es einer seiner Anhänger gewesen sein könnte, trieb

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ihn fast zum Wahnsinn. Razamon, der sich von der Seite her ange­

schlichen hatte, als Herrohn Sirkat anstarrte, nahm den Fuß vom Rücken des gelähmten Technos.

Sirkat nickte ihm dankbar zu. Er wies die Männer an, zu warten, bis er weitere Anwei­sungen gab. Immer öfter erschienen jetzt ehemalige Schläfer, kümmerten sich aber nicht um die Technos. Sie machten sich auf den Weg in eine neue, unbekannte Welt vol­ler Gefahren, die vielleicht eines Tages zu einer neuen Heimat für sie werden könnte. Die meisten schienen jedoch in der Senke zu bleiben, in der Nähe der Glaspaläste, die ih­nen vielleicht ein Gefühl der Zuflucht geben konnten.

Sirkat nahm Razamon beiseite, während Kolphyr und Grizzard im Torc warteten.

»Hier trennen sich unsere Wege«, sagte der Techno. »Ihr habt großes Leid über mei­nen Stamm gebracht, aber ich weiß nun, daß ihr nur das beste wolltet. Geht jetzt. Nehmt den Torc und seht zu, daß ihr so schnell wie möglich aus der Nähe der Senke verschwin­det. Die hier«, er deutete auf die wartenden Technos, »kann ich zurückhalten, aber ich kann keine Garantie dafür übernehmen, daß nicht andere Flüchtlinge über euch herfallen, weil sie in euch die Schuldigen an ihrem Schicksal sehen.«

»Was wird aus dir?« fragte Razamon. »Das wird sich finden. Wir bleiben in der

Nähe der Senke. Vielleicht gelingt es mir, den Stamm wieder zu einen, vielleicht fin­den wir eines Tages eine neue Aufgabe. Ich weiß es nicht.«

Razamon schwieg. Die beiden so ver­schiedenen Männer blickten sich lange in die Augen. Der Atlanter registrierte mit Be­friedigung, daß die Resignation von Sirkat abgefallen war. Die neue Aufgabe hatte dem Techno wieder Kraft gegeben.

Razamon reichte Sirkat die Hand. Der er­griff sie.

Ohne ein weiteres Wort drehte der Pthorer sich um und stieg in den Torc. Dann raste er mit Kolphyr und ihrem geheimnisvollen

Passagier davon. Bald sahen sie nur noch vereinzelte Tech­

nos, die ziellos umherirrten. Razamon fuhr jetzt nach Osten. Im Norden lag die lebens­feindliche Wüste Fylln, mit der er bereits unliebsame Bekanntschaft gemacht hatte. Er hatte keine Lust, noch einmal in dieses Ge­biet verschlagen zu werden.

Seine Gedanken kreisten um Grizzard. Er war sicher, daß sich ein großes Geheimnis hinter diesem Mann verbarg. Vielleicht konnte er Atlan einen wertvollen Verbünde­ten bringen.

Aber erst einmal mußte er einen Weg fin­den, zu dem Arkoniden zurückzukehren.

Er konnte nicht ahnen, in welch aussichts­loser Situation sich Atlan befand.

»Freund Razamon träumt schon wieder!« kam es tadelnd von Kolphyr. Der Pthorer grinste. Wenn der Bera die Sprache wieder­gefunden hatte, war auch seine Depression bald vorüber.

Nach allem, was Sirkat berichtet hatte, mußte Wommser einen Weg gefunden ha­ben, das seltsame Wesen, das einen Teil der Senke in Angst und Schrecken versetzt hat­te, zu neutralisieren.

»Freund Razamon ist müde«, erklärte der Atlanter.

Das stimmte sogar. Aber sie hatten keine Zeit zum Ausruhen.

* WOMMSER (III)

Wommser befand sich wieder im Dimen­sionsnest – irgendwo zwischen den Existen­zebenen.

Es war ihm gelungen, die ungeheure Be­drohung von den Wesen abzuwenden, die seine eigentliche Heimat, die ihre Bewohner Pthor nannten, bewohnten. Zugleich hatte er ein weiteres Mal zugunsten seines Bezugs­partners eingreifen können.

Es hatte Kraft gekostet. Wommser wußte, daß der Tag kommen würde, an dem er nicht mehr ohne weiteres in die Geschicke jener Welt eingreifen konnte. Vielleicht kam er

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eher, als er dachte. Die Schattenballungen griffen unbarm­

herzig nach ihm. Noch verhinderte die über­gelagerte Struktur des Dimensionsnests, daß sie ihn direkt angreifen konnten, aber sie zehrten an seiner Substanz. Und das Nest trieb immer weiter in sie hinein.

Wommser fragte sich, was aus Cyr ge­worden war. Im interdimensionalen Raum hatte Cyr sich zu dem Wesen zurückent­wickelt, als das er einst in die Fänge der Herren der FESTUNG gefallen war.

Er hatte sich von Wommser gelöst, um seine Heimat wiederzufinden.

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Wommser hoffte, daß es Cyr gelingen würde.

Der Dimensionssymbiont, das aus Nor­mal- und Antimaterie geborene Wesen, für das in Kolphyrs Welt kein Platz war, zog sich zusammen, um neue Kraft zu schöpfen, nur durch die schützende Haut des Nestes vor dem Zugriff der Dunkelballungen ge­schützt …

ENDE

E N D E