140
EUROPARECHT Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden Heft 3 Mai – Juni 2004 2004 Heft 3 EUROPARECHT E 21002 F

E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EUROPARECHT

Nomos VerlagsgesellschaftBaden-Baden

Heft 3 • Mai – Juni 2004

2004

•H

eft

3EU

ROPA

RECH

TE 21002 F

Page 2: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

Fortsetzung Inhaltsverzeichnis hintere Umschlagseite

Inhaltsverzeichnis

Aufsätze

Prof. Dr. Anne Peters, BaselEuropäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess .................... 375

Prof. Dr. Eckhard Pache, WürzburgDie Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsordnung ......................................................................... 393

Prof. Dr. Claus Dieter Classen, GreifswaldDie Grundfreiheiten im Spannungsfeld von europäischer Marktfreiheit und mitgliedstaatlichen Gestaltungskompetenzen ............................................. 416

Rechtsprechung

Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften/Gericht erster Instanz

Nationale Wettbewerbsbeschränkung durch italienisches ZündholzkonsortiumUrteil des Gerichtshofs vom 09.09.2003 (Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Italien)), Consorzio Industrie Fiammiferi (CIF)/Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato, Rs. C-198/01 ................................................................................ 439

Zuordnung des Zwecks einer Abfallverbringung (Verwertung oder Beseitigung) – Hauptverwendung als Brennstoff oder andere Mittel der EnergieerzeugungUrteil des Gerichtshofs vom 13.02.2003 (Vertragsverletzungsverfahren), Kommission/Bundesrepublik Deutschland, Rs. C-228/00 ................................. 448

Höchstbeträge für die Kostenübernahme für ArzneimittelUrteil des Gerichtshofs vom 16.3.2004 (Vorabentscheidungsersuchen des OLG Düsseldorf und des BGH), AOK Bundesverband u.a./Ichthyol-Gesellschaft Cordes u.a., verb. Rs. C-264/01, C-306/01, C-354/01 und C-355/01.................. 455

Inhalt_Heft 3.indd 2 19.06.2004, 14:42:05

Page 3: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

Fortsetzung Inhaltsverzeichnis

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen – Begriffliche und dogmatische Klärungenvon Heiko Sauer, Düsseldorf .............................................................................. 463

Die Geschichte der Fusionskontrollverordnung als ein Beispiel der Europäischen Normsetzungvon Kyrill Farbmann, Mülheim/Ruhr................................................................. 478

Europarechtlicher effet utile und deutsches AGB-Recht – Verkürzte Kündigungsfristen des Herstellers nach der neuen Kfz-GVO –von Dr. Ingo Brinker und Michael Meyer, München ......................................... 488

Rezensionen

Christian Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, Ein Rechtsrahmen für Stabilität in der Wirtschafts- und Währungsunion(Prof. Dr. Ulrich Häde, Frankfurt/Oder). ........................................................... 498

Bibliographie

Bücher und Zeitschriften .................................................................................... 500

Inhalt_Heft 3.indd 3 19.06.2004, 14:42:05

Page 4: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

375EuR – Heft 3 – 2004

EUROPAR ECHT

In Verbindung mit der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht

herausgegeben von

Claus-Dieter Ehlermann, Ulrich Everling, Hans-J. Glaesner, Meinhard Hilf,Hans Peter Ipsen †, Joseph H. Kaiser †, Peter-Christian Müller-Graff,

Gert Nicolaysen, Hans-Jürgen Rabe, Jürgen Schwarze

Schriftleiter:Armin Hatje, Ingo Brinker

39. Jahrgang 2004 Heft 3, Mai – Juni

Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess*

Von Anne Peters, Basel

Einleitung

Einen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ im 18. Jahrhundert diagnostizierte Jür-gen Habermas vor gut 40 Jahren.1 Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszu-sagen, dass sich im 21. Jahrhundert ein anderer, bereits begonnener Strukturwandel, fortsetzen wird. Es handelt sich um die Europäisierung der politischen Öffentlich-keit. Dies soll am Beispiel des europäischen Verfassungsprozesses aufgezeigt wer-den. In den Teilen I und II dieses Beitrages sind die beiden Titelbegriffe zu klären. In Teil III untersuche ich, inwiefern die europäische Öffentlichkeit in den Verfassungspro-zess einbezogen ist. Dabei konzentriere ich mich auf das erstmals 2002/03 prakti-zierte Konventsverfahren. Mein Fazit ist, dass die Konventsmethode trotz aller Män-gel einen qualitativen Sprung in Richtung öffentlicher Verfassungsentwicklung darstellt und dass hierin eine neue Art der Legitimation der europäischen Verfas-sung liegt.

* Dieser Aufsatz basiert auf einem am 8.2.2003 gehaltenen Vortrag innerhalb des Postgraduierten-Studiengangs Europawissenschaften der Berliner Universitäten.

1 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt 1990 (orig. 1962).

Layout_Heft 3.indd 375 19.06.2004, 16:25:40

Page 5: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004376

I. Die europäische Öffentlichkeit

1. Öffentlichkeit(en) empirisch und normativ

Bei der konzeptionellen Klärung ist ein normativ-theoretischer von einem empi-risch-konkreten Begriff der Öffentlichkeit zu unterscheiden.2 Empirisch gibt es – auch innerhalb eines Nationalstaates – „die“ Öffentlichkeit nicht, sondern in Bezug auf bestimmte Materien nur Teilöffentlichkeiten, Fachöffentlichkeiten und fragmen-tierte Öffentlichkeit. Diesem empirischen Befund ist eine normativ-theoretische Öffentlichkeit gegenüberzustellen. Diese Instanz hat in der Demokratie die wichti-gen Funktionen der Kontrolle der Regierung, der Bereitstellung einer Kommunika-tionssphäre und der Ermöglichung der Partizipation inne.3 Dabei meint Öffentlich-keit sowohl die Bürgerschaft als auch den Raum, in dem Information Verbreitung findet, Diskussion und Meinungsbildung stattfinden und Kritik formuliert wird.4 Meiner Ansicht nach sollte auch das normative Konzept der Öffentlichkeit pluralis-tisch sein und kein monolithisches Kollektiv fingieren. Mit anderen Worten: In der pluralistischen Gesellschaft sind auch in normativer Hinsicht nur Teilöffentlichkei-ten im Plural relevant. Diese bestehen aus den (debattierenden) Bürgern. Es ist nicht erforderlich, ein überwölbendes Kollektiv als Kontroll- und Appellationsinstanz zu imaginieren.

2. Die europäische Ebene

a) Theorie

Um „europäisch“ oder zumindest „europäisiert“ zu sein, müssten die (Teil-)Öffent-lichkeiten – im Sinne von Bürgerschaft – zum Ersten jedenfalls ansatzweise eine auch-europäische Identität haben und zum Zweiten auf Europa als (emergentes) Po-litikum bezogen sein. Eine („weiche“) europäische Identität, welche die nationalen und regionalen Identitäten ergänzt und insofern eine Identitätserweiterung darstellt,

2 Jörg Requate/Martin Schulze Wessel, Europäische Öffentlichkeit: Realität und Imagination einer appellativen Instanz, in: dies. (Hrsg.), Europäische Öffentlichkeit: Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhun-dert, Frankfurt/New York 2002, S. 11, 13. Klärung des Konzepts im Kontext verschiedener Demokratietheori-en (Elitetheorie, Pluralismustheorie, Partizipationstheorie) bei Andreas Beierwaltes, Demokratie und Medien, Baden-Baden 2000, S. 56-61; 79-121; 135-158; 170-202. Zum Begriff Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.), Öffent-lichkeit – Geschichte eines kritischen Begriffs, Stuttgart u.a. 2000 mit Bibliographie auf S. 124 ff. Siehe zur Wiederaufwertung des staatsrechtlichen Begriffs der normativen Öffentlichkeit als unabdingbare Vorausset-zung jeder Demokratie Jörg Paul Müller, Macht und demokratische Öffentlichkeit – Montesquieu und Kant als Wegbereiter des politischen Denkens der Moderne, in: Jusletter 15.7.2002, www.weblaw.ch/jusletter/Artikel.jsp?ArticleNr=1757&Language=1.“

3 Die der Öffentlichkeit zugeschriebenen Funktionen hängen von der zugrundegelegten Demokratietheorie ab (siehe Beierwaltes (Fn. 2), S. 60 f.). Siehe zur verwandten Kontrollfunktion der „öffentlichen Meinung“ Jacob Shamit/Michael Shamir, The Anatomy of Public Opinion, Ann Arbor 2000; sowie die Beiträge in Hermès 31 (Cognition, Communication, Politique), L’Opinion publique: Perspectives anglo-saxonnes, Paris 2001.

4 Siehe zum Begriff der politischen Öffentlichkeit Rainer Schmalz-Bruns, Reflexive Demokratie, Baden-Baden 1995, S. 90-102 m.w.N.; Beierwaltes (Fn. 2), S. 56 ff.

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 376 19.06.2004, 16:25:40

Page 6: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

377EuR – Heft 3 – 2004

existiert bereits in nuce. Auf ein abstraktes Ranking der Identitäten kommt es nicht an.5 Diese europäische Bürgerschaft ist auch insofern eine politische und legitimato-rische Größe, als sie auf Europa als Hoheitsträger bezogen ist.6 Ein diesbezüglicher kategorialer Unterschied zu den nationalen (Teil-)Öffentlichkeiten existiert nicht, weil europäische und nationalstaatliche Hoheitsgewalt im Zeitalter der Globalisie-rung nicht mehr kategorial verschieden sind.7

Was die europäischen Öffentlichkeiten als Räume angeht, so sind nicht geographi-sche, sondern „deliberative Räume“ auf der Ebene jenseits des Nationalstaats ent-scheidend.8 Es müsste also Foren der grenzüberschreitenden transnationalen Dis-kussion geben und einen entsprechenden Informationsfluss. In Europa müsste eine solche Diskussion durch europaweite Medien mit gesamteuropäischem Adressaten-kreis oder durch national basierte, aber durchlässige Medien in Gang gesetzt wer-den. „Durchlässig“ hieße dabei, dass nicht nur über Europa und die anderen Mit-gliedstaaten berichtet wird, sondern dass in jedem Mitgliedstaat auch ausländische Autoren zu Wort kommen, also Diskursteilnehmer sind.

b) Empirie

Bis Ende der neunzehnneunziger Jahre im Zusammenhang mit der Legitimitätsde-batte nach Maastricht, vereinzelt auch noch heute, wurde bzw. wird vielfach behaup-tet, dass eine europäische Öffentlichkeit ebenso wenig wie eine europäische Mei-nung existiere. Es gebe auf empirischer Ebene allenfalls transnationale Öffentlich-keiten in Europa, kaum aber eine allumfassende gesamteuropäische Öffentlichkeit.9 Die Teilöffentlichkeiten seien „durchnationalisiert“10 oder „national zentriert“.11

5 Siehe näher zur europäischen Identität Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, Berlin 2001, S. 707 ff.

6 Vgl. Hans-Jörg Trenz, Zur Konstitution politischer Öffentlichkeit in der Europäischen Union, Baden-Baden 2002, S. 28 f.

7 Peters (Fn. 5), S. 113 ff.8 Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaats, Frankfurt a. M. 1998, S. 241; auch Seyla Benhabib, Toward

a Deliberative Model of Democratic Legitimacy, in: dies. (Hrsg.), Democracy and Difference: Contesting the Boundaries of the Political, Princeton (N.J.) 1996, S. 80.

9 Georg Kofler, Das Europäische Parlament und die öffentliche Meinung, Wien u.a. 1983, S. 104 ff., insb. 145: Nach den einschlägigen empirischen Indikatoren existiert keine europäische öffentliche Meinung. Gerd G. Kopper, Europäische Öffentlichkeit – Ansätze für ein internationales Langzeitprojekt, in: ders. (Hrsg.), Euro-päische Öffentlichkeit: Entwicklung von Strukturen und Theorie, Berlin 1997, S. 9: „[E]ine europäische Öf-fentlichkeit existiert faktisch bisher nicht.“ Siehe in diesem Sinne Alexander von Brünneck, Die öffentliche Meinung in der EG als Verfassungsproblem, EuR 24 (1989), S. 249 f.; Albert Bleckmann, Chancen und Gefah-ren der europäischen Integration, Juristen-Zeitung 45 (1990), S. 301 und 303; Dieter Grimm, Mit einer Aufwer-tung des Europa-Parlaments ist es nicht getan – Das Demokratiedefizit der EG hat strukturelle Ursachen, Jahrbuch Staats- u. Verwaltungswissenschaft 6 (1992/93), S. 15 f.; Udo Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grund-gesetzes, Der Staat 32 (1993), S. 203-205; Graf Peter Kielmannsegg, Lässt sich die Europäische Gemeinschaft demokratisch verfassen?, Europäische Rundschau 22 (1994), S. 29 (der europäische Diskurs fehlt); Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, Baden-Baden 1997, S. 269; Gert Nicolaysen, Vielsprachigkeit als Herausforderung und Problematik des europäischen Einigungsprozesses – Diskussions-beitrag, in: Thomas Bruha/Hans Joachim Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, Baden-Baden 1998, S. 22; Requate/Schulze Wessel (Fn. 2), S. 13.

10 Requate/Schulze Wessel (Fn. 2), S. 22.11 Von Brünneck (Fn. 9), S. 252.

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 377 19.06.2004, 16:25:41

Page 7: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004378

Tatsächlich sind sämtliche Voraussetzungen für die Bildung einer öffentlichen Mei-nung auf europäischer Ebene zu einem geringeren Grade erfüllt als auf nationaler Ebene. Eine qualifizierte öffentliche Meinung setzt Informiertheit und einen Kom-munikationsraum voraus; beides erfordert entsprechende Medien und Kommunika-tionskompetenz. In der Realität gibt es aber nur wenige genuin europäische Medien; die meisten Massenmedien werden nur für die Märkte einzelner Mitgliedstaaten produziert. In den nationalen Medien wurden und werden europäische Themen überwiegend aus der nationalen Perspektive behandelt. Dabei geht es noch immer meist um die Frage, inwieweit eine bestimmte europäische Politik dem eigenen Land nützt oder schadet. Die mangelnde Medienaufmerksamkeit beziehungsweise die mangelnde Europäisierung der Berichterstattung steht in einer hemmenden Wech-selwirkung mit dem relativen Desinteresse der Bürger. Weil sich die Bürger weniger für europäische Themen als für nationale Ereignisse interessieren, wird Information nicht nachgefragt, und aus Unkenntnis heraus kann kein gesteigertes Interesse er-wachsen. Nach Elisabeth Noelle-Neumann wurde noch 1995 in keinem Bereich der Nahzone unmittelbarer politischer Betroffenheit der Bevölkerung mit so hohem An-teil mit „unentschieden“, „kein Urteil“ oder „weiß nicht“ geantwortet wie bei Fragen zu Europa.12 Sprachbarrieren, Intransparenz und Impersonalität der europäischen Politik tragen zum Informationsdefizit bei. Da die öffentliche Meinung im Hinblick auf die EG/EU nicht so informiert ist, kann sie keine qualifizierte Kritik entwickeln.

c) Tendenzen

Alle Faktoren, an denen üblicherweise die Europäisierung der Öffentlichkeit gemes-sen wird (Aufmerksamkeit für europäische Themen, gemeineuropäische Relevanz-kriterien und Bedeutungsstrukturen, gegenseitige Anerkennung als legitime Spre-cher usw.) befinden sich in der Entwicklung. Der kritische Ratifikationsprozess der Maastrichter Verträge stellt diesbezüglich eine Zäsur dar. Hier hatten die Vertrags-schließenden die Wachsamkeit der Öffentlichkeit unterschätzt. Überraschenderwei-se setzte eine breite Debatte ein, die Joseph Weiler zu Recht als erste öffentliche europäische Verfassungsdiskussion bezeichnet.13 Wegen dieser Diskussion und we-gen des Verfassungsbewusstseins, das der Maastrichter Vertrag in Gang gesetzt hat, ist er wohl der bisher bedeutsamste „constitutional moment“ in der europäischen Integrationsgeschichte.14 Seitdem ist die Öffentlichkeit sensibilisiert und stellt keine Blankovollmachten mehr aus. Zwar wurde noch bei den Europaparlamentswahlen 1999 als Hauptgrund für die (hohe) Stimmenthaltung von den betreffenden Bürgern angegeben, man fühle sich nicht gut genug informiert, um wählen zu gehen.15 An-

12 Elisabeth Noelle-Neumann, Die öffentliche Meinung, Jahrbuch der Europäischen Integration 1994/95, S. 269.13 Jospeh H. H. Weiler, „ ... We will Do, and Hearken“ (Ex. XXIV:7): Reflections on a Common Constitutional

Law for the European Union, in: Roland Bieber/Pierre Widmer (Hrsg.), L’espace constitutionnel européen, Zürich 1995, S. 417.

14 Joseph H. H. Weiler, The Constitution of Europe: „Do the new clothes have an emperor?“ and other essays on European integration, Cambridge 1999, S. 3 f. u. 8.

15 Eurobarometer Nr. 51 (1999), 82.

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 378 19.06.2004, 16:25:41

Page 8: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

379EuR – Heft 3 – 2004

dere Erhebungen deuten jedoch darauf hin, dass das Interesse an europäischen The-men im Durchschnitt nicht mehr niedriger zu sein scheint als an nationalen The-men.16 Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit sind der BSE-Skandal oder die Korruption innerhalb der Kommission – Ereignisse, die europaweit sehr große Auf-merksamkeit auf sich zogen. Mit dem Aufmerksamkeitsgrad wird auch der Informa-tionsgrad und das Kritikpotential steigen. Zu Recht mehren sich deshalb die positi-veren Beurteilungen der Öffentlichkeitsproblematik.17 Es existieren ansatzweise bereits europäisierte Teilöffentlichkeiten als normative Instanz. Welche Rolle spielen nun diese europäischen Öffentlichkeiten im Verfassungsent-wicklungsprozess? Die Erörterung dieser Frage muss mit einer kurzen Analyse die-ses Prozesses beginnen.

II. Der europäische Verfassungsprozess

1. Die evolutive Verfassungsentwicklung

Grundlegende Bestimmungen des EGV und des EUV sowie gewisse ungeschriebe-ne Prinzipien sind europäisches Verfassungsrecht im materiellen Sinne, weil sie die Funktionen einer Verfassung erfüllen.18 Die Verfassungslesart der europäischen Do-kumente ändert nichts an ihrem fortbestehenden Charakter als völkerrechtliche Ver-träge. Teile des europäischen Rechts waren bereits vor der Verabschiedung des kon-solidierten Textes „Sowohl-als-auch“: Vertrag und Verfassung.19 Der Konventsent-

16 Stefan Immerfall/Andreas Sobisch, Europäische Integration und europäische Identität: Die Europäische Union im Bewusstsein ihrer Bürger. Aus Politik und Zeitgeschichte 47 (1997), B10, S. 29 auf der Grundlage von Mei-nungsumfragen.

17 Roman Herzog erblickt in den transnationalen Akteuren, die in allen gesellschaftlichen Bereichen ihre Anlie-gen europaweit vertreten, „eine Form von Öffentlichkeit“ und europäischer Zivilgesellschaft (Roman Herzog, Demokratische Legitimation in Europa, in den Nationalstaaten, in den Regionen, Bulletin (Presse und Infor-mationsamt der Bundesregierung), Nr. 25/1999, S. 243). Udo Di Fabio erkennt eine „zarte Pflanze der europä-ischen Öffentlichkeit“ (Udo Di Fabio, Für eine Grundrechtsdebatte ist es Zeit: Was eine Europäische Charta leisten könnte und was nicht, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 268 v. 17. Nov. 1999, S. 11). Siehe auch Peter Häberle mit der These, dass die kulturelle Öffentlichkeit entscheidend sei, die wissenschaftliche und politische Öffentlichkeit sei nur komplementär dazu. Eine solche kulturelle Öffentlichkeit hat in Europa bereits eine lan-ge Tradition (Peter Häberle, Gibt es eine europäische Öffentlichkeit?, Thüringer Verwaltungsblätter 7 (1998), S. 123-125). Optimistische Prognose auch bei Beierwaltes (Fn. 2), S. 238-245; ebenso Trenz (Fn. 6), S. 15 und 32 ff.

18 Peters (Fn. 5), S. 76-92.19 Peters (Fn. 5), S. 220-242 m.w.N. Siehe auch Jospeh H. H. Weiler/Ulrich Haltern, The Autonomy of the Com-

munity Legal Order – Through the Looking Glass, Harvard International Law Journal 37 (1996), S. 417; Denys Simon, Les fondements de l’autonomie du droit communautaire, in: Sociéte français pour le droit international (Hrsg.), Colloque de Bordeaux: Droit international et droit communautaire, perspectives actuelles, Paris 2000, S. 228: „un acquis constitutionnel se greffe sur l’inné conventionnel, sans qu’aucun des deux termes ne puisse être écarté si l’on veut rendre compte de l’autonomie du droit communautaire“; Claudio Franzius, Szenarien für die Zukunft der Europäischen Union, Humboldt Forum Recht 2002, Beitrag 3, S. 9, http://www.humboldt-forum-recht.de/3-2002/. Allgemein gegen die vermeintliche Gegensätzlichkeit von Vertrag und Verfassung bzw. Gesetzgebung im Staatsrecht Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 195; im Völkerrecht Robert Y. Jennings/Arthur Watts, Oppenheim’s International Law, Bd. 1: Peace, 9. Aufl., Harlow 1992, § 583 (S. 1204); Alfred Verdross/Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., Berlin 1984, S. 339; Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht, I/3, Berlin 2002, S. 520 f.

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 379 19.06.2004, 16:25:41

Page 9: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004380

wurf des „Vertrages über eine Verfassung für Europa“ (Juli 2003)20 schreibt diese Rechtslage fort. Die europäische Verfassung entstand nicht durch einen einmaligen und punktuellen Akt, sondern bildete sich in einem zeitlich gestreckten Vorgang. Dieser wird im all-gemeinen als Konstitutionalisierung („constitutionalization“) der europäischen Ver-träge21 oder als Verfassungsentwicklung22 bezeichnet. Diese Verfassungsentwick-lung bestand und besteht in einer Kumulation von Schritten mit unterschiedlichem Rechtscharakter. Neben der Rechtsprechung des EuGH sowie informellen Vertrags-änderungen oder -ausfüllungen durch die anderen Organe und verfassungsrelevan-ten Praktiken der Mitgliedstaaten (in der Art von Verfassungskonventionen („con-stitutional conventions“23)) bildeten vor allem förmliche Vertragsänderungen, ins-besondere die von Maastricht (1992) und von Amsterdam (1997), Etappen im kontinuierlichen Verfassungsprozess.

20 „Draft Treaty Establishing a Constitution for Europe“ vom 13.6./10.7.2003 (zu Händen der Ratspräsidentschaft am 18.7.2003), Doc. CONV 850/03. Siehe auch Europäischer Rat von Thessaloniki am 19./20.6.2003, Schluss-folgerungen des Vorsitzes, Rn. 2-7, abgedr. in EuGRZ 30 (2003), S. 376. Alle CONV-Dokumente sind im In-ternet über http://european-convention.eu.int auffindbar. In den Fußnoten wird diese Internetfundstelle nicht wiederholt, sondern es werden nur zusätzliche Fundstellen angegeben.

21 Léontin-Jean Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden 1977, S. 344-350 („konstitutionalisierte Integration“); Gerhard Casper, Remarks, in: American Society of International Law (Hrsg.), Proceedings of the 72nd Annual Meeting, Washington D.C. 1978, S. 169, 173 („constitutionalization“); G. Frederico Mancini, The Making of a Constitution for Europe, Common Market Law Review 26 (1989), S. 566; Koen Lenaerts, Constitutionalism and the Many Faces of Federalism, The American Journal of Compara-tive Law 38 (1990), S. 208-210; Robert Kovar, La contribution de la Cour de justice à l’édification de l’ordre juridique communautaire, Collected Courses of the Academy of European Law IV-1 (1993), S. 25; Peter Badu-ra, Der Bundesstaat Deutschland im Prozess der europäischen Integration, Saarbrücken 1993, S. 14 („Prozess mit dem Charakter einer sich allmählich herausbildenden Verfassungsordnung“); Ernst-Joachim Mestmäcker, Zur Wirtschaftsverfassung in der Europäischen Union, in: Rolf H. Hasse/Josef Molsberger/Christian Watrin (Hrsg.), Ordnung in Freiheit: Festgabe für Hans Willgerodt zum 70. Geburtstag, Stuttgart u.a. 1994, S. 621; Francis Snyder, General Course on Constitutional Law of the European Union, Collected Courses of the Aca-demy of European Law VI-1 (1995), S. 56-58, 71, 99; Carmenza Charrier, La Communauté de droit, une étape sous-estimée de la construction européenne, Revue du Marché commun et de l’Union européenne, 1996, S. 522 ff.; Norbert Reich, A European Constitution for Citizens: Reflections on the Rethinking of Union and Commu-nity Law, European Law Journal 3 (1997), S. 131.

22 Im nationalen Recht umfasst die Verfassungsentwicklung die Verfassungsgebung, die förmliche Verfassungs-änderung und den stillen Verfassungswandel. Siehe für diese Terminologie in Bezug auf die europäische Ver-fassung Jürgen Schwarze, Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft: Begriff und Grundla-gen, in: ders./Roland Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, Baden-Baden 1984, S. 15-48, insb. 35; Ro-land Bieber, Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Jürgen Schwarze/ders. (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, Baden-Baden 1984, S. 49-89; Heinrich Schneider, Rückblick für die Zukunft: Konzeptionelle Weichenstellungen für die Europäische Einigung, Bonn 1986, S. 52; Ingolf Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-Making Revisited?, Common Market Law Review 36 (1999), S. 707, 747 und 750. Siehe für das nationale Recht Brun-Otto Bryde, Verfassungsent-wicklung, Baden-Baden 1982, S. 17 (Verfassungsentwicklung als Oberbegriff zu förmlicher Änderung und Wandel).

23 Dazu umfassend Geoffrey Marshall, Constitutional Conventions: The Rules and Forms of Political Accounta-bility, Oxford 1984; Überblick bei Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 2. Aufl., London 1998, S. 30-49. Siehe aus dem deutschen Schrifttum eingehend Karl-Ulrich Meyn, Die Verfassungskonventio-nalregeln im Verfassungssystem Großbritanniens, Göttingen 1975; auch S. 52-61.

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 380 19.06.2004, 16:25:41

Page 10: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

381EuR – Heft 3 – 2004

2. Die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt

Wer ist in diesem Verfassungsentwicklungsprozess der pouvoir constituant? Norma-tiv haben wir es mit einem pouvoir constituant mixte zu tun, der aus den europäi-schen Bürgern, den Mitgliedstaaten und den europäischen Organen besteht.24 Kor-respondierend dazu sind empirisch im bisherigen Prozess der Verfassungsentwick-lung folgende Akteure auszumachen:25 Die mitgliedstaatlichen Regierungen,26 die mitgliedstaatlichen Parlamente, welche die Änderungsverträge ratifizierten, der Eu-ropäische Gerichtshof, der verfassungsentwickelnde Grundsatzurteile wie van Gend & Loos27 oder Costa/ENEL28 fällte und die europäischen Grundrechte herausarbei-tete, sowie schließlich die sonstigen Organe, die am formellen Vertragsänderungs-verfahren beteiligt sind sowie autonome Vertragsänderungen oder Vertragsergän-zungen (letztere nach Art. 308 EGV) vornehmen.

3. Konvent und Regierungskonferenz 2003: Weiterentwicklung, nicht Ersetzung der europäischen Verfassung

Unter der Prämisse, dass bereits vor 2003 eine europäische Verfassung im materiel-len Sinne existierte, hätte der im Konvent vorbereitete und von einer Regierungs-konferenz zu verabschiedende Verfassungsvertrag theoretisch entweder in evoluti-ver Weiterentwicklung oder aber als normativ diskontinuierliche Ersetzung des existierenden Verfassungsrechts realisiert werden können. Der letztere Weg der ori-ginären, normativ diskontinuierlichen, also revolutionären Verfassungsgebung wur-de nicht eingeschlagen. Vielmehr mündete der Vorschlag des Konvents in eine Ver-tragsrevision, die im förmlichen Änderungsverfahren des Art. 48 EUV zu vollzie-hen ist.29

Einzige verfahrensmäßige Neuerung in diesem Prozess war die Vorschaltung des

24 „Il s’agirait maintenant de mettre en place les conditions d’expression du ‘pouvoir constituant communautaire’ qui sera sans doute doublement mixte, mi-national, mi-communautaire et mi-gouvernemental, mi-parlementai-re“ (Vlad Constantinesco, L’Union européenne: par le droit ou vers le politique? (ad angusta per augusta?), in: Gérard Duprat (sous la direction de), L’Union européenne, droit, politique, démocratie, Paris 1996, S. 186. In diesem Sinne auch ders., L’émergence d’un droit constitutionnel européen, Revue universelle des droits de l’homme 7 (1995) S. 450; bereits Carl J. Friedrich, Federal Constitutional Theory and Emergent Proposals, in: Arthur W. Macmahon (Hrsg.), Federalism: Mature and Emergent, Garden City (N.Y.) 1955, S. 526 unter Ver-weis auf den föderalen Charakter der EG; auch Schneider (Fn. 22), S. 79. Im Anschluss an Vlad Constanti-nesco auch Jörg Gerkrath, L’émergence d’un droit constitutionnel pour l’Europe, Bruxelles 1997, S. 187, 260, 264 f.: Wir haben eine „pluralité des pouvoirs constituants“. Da Europa einerseits demokratisch sein müsse, andererseits auf die Staaten nicht verzichtet werden könne, gehöre der pouvoir constituant den Mitgliedstaaten und den europäischen Völkern gemeinsam.

25 Hierzu Peters (Fn. 5), S. 390 ff. 26 Diese dominieren das Verfahren der formellen Vertragsänderung, schließen informelle verfassungsrelevante

Abmachungen und begründen damit konstitutionelle Praxis, z.B. die Luxemburger Vereinbarungen von 1966.

27 Rs. 26/62, Slg. 1963, 1.28 Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251.29 Der Europäische Rat in Thessaloniki (19./20.6. 2003) hat den künftigen italienischen Vorsitz ersucht, auf der

Ratstagung im Juli 2003 das Verfahren nach Art. 48 EUV einzuleiten (Schlussfolgerungen des Vorsitzes (Fn. 20), Rn. 5).

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 381 19.06.2004, 16:25:42

Page 11: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004382

Konvents, die ihrerseits keine vertragliche Grundlage hat, sondern per Regierungs-beschluss festgelegt wurde. Im Konventsentwurf selbst wurde diese „Konventsme-thode“ als verbindlicher Verfahrensschritt für zukünftige Änderungen des Verfas-sungsvertrages vorgeschlagen.30 Ansonsten bleibt es beim Erfordernis der Ratifika-tion durch alle Mitgliedstaaten.

III. Die Einbeziehung der Öffentlichkeit in den aktuellen Verfassungs-prozess

Aufgrund des weitgehenden Ausschlusses der Öffentlichkeit vom bisherigen Verfas-sungsprozess verlagerte sich in der Vergangenheit die kritische öffentliche Diskussi-on auf die Phase der mitgliedstaatlichen Ratifikation der Änderungsverträge mit konstitutionellen Gehalten. In dieser Phase waren die Vertragstexte bereits festge-klopft. Die Ratifikationsdebatte zu Maastricht manifestierte – für die Regierenden überraschend – eine schwere Akzeptanzkrise und löste eine fundamentale europäi-sche Legitimitäts- und Finalitätsdebatte aus, die bis heute andauert. Die Konvents-methode (unten III. 1.) sowie die informelle Parlamentarisierung des nachgeschalte-ten Revisionsverfahrens (unten III. 2.) sind Reaktionen auf diese Krise.

1. Der Einfluss der Öffentlichkeit im europäischen Verfassungskonvent

a) Genese und Mandat des Konvents

Unter dem Druck der bereits versprochenen Osterweiterung hatte man auf der Re-gierungskonferenz von Nizza im Dezember 2000 versucht, die europäischen Institu-tionen zu reformieren und erweiterungstauglich zu machen – mit sehr mäßigem Er-folg. Nachdem diese Regierungskonferenz mehr schlecht als recht den Weg für die Erweiterung geebnet hatte, beschlossen die Regierungen, dass eine eingehende und breit angelegte Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union stattfinden müsse.31 Darauf aufbauend, nahm der Europäische Rat im Dezember 2001 die Er-klärung von Laeken zur Zukunft der Union an. Ein ganzer Abschnitt dieser Erklä-rung befasst sich mit den „Erwartungen des europäischen Bürgers“ und zieht das Fazit: „Der Bürger verlangt ein klares, transparentes, wirksames, demokratisch be-stimmtes (...) Konzept.“32 Um ein solches Konzept erarbeiten zu lassen, berief der Rat in der Laekener Erklärung einen „Konvent zur Zukunft Europas“ ein. Dessen Aufgabe war „eine möglichst umfassende und möglichst transparente Vorbereitung

30 Konventsentwurf vom 13.6./10.7.2003 (zu Händen der Ratspräsidentschaft am 18.7.2003), Doc. CONV 850/03, Art. IV-6.

31 Erklärung zur Zukunft der Union (Erklärung Nr. 23 zum Vertrag von Nizza) vom 26.2.2001, ABl. C 80 vom 10.3.2001, S. 85 f.

32 Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union vom 15.12.2001, Abschnitt I (Hervorhebung d. Verf.). Bull. 12-2001; abrufbar etwa unter: http://european-convention.eu.int/pdf/LKNDE.pdf (besucht am 7.5.2003).

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 382 19.06.2004, 16:25:42

Page 12: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

383EuR – Heft 3 – 2004

der nächsten Regierungskonferenz“. Der Konvent hatte „die wesentlichen Fragen zu prüfen, welche die zukünftige Entwicklung der Union aufwirft, und sich um ver-schiedene mögliche Antworten zu bemühen.“33 Vorbild des Verfassungskonvents war der Grundrechtekonvent, in dem die EU-Grundrechtecharta in einem damals völlig neuartigen, öffentlichen und transparen-teren Verfahren erarbeitet wurde. Die Bezeichnung „Konvent“ hatte sich der Grund-rechtekonvent selbst gegeben, und sie wurde von den europäischen Institutionen und der Öffentlichkeit akzeptiert. Das Etikett „Konvent“ hat verfassungsmäßige Konno-tationen. Berühmtestes historisches Vorbild ist wohl der US-amerikanische Verfas-sungskonvent („Constitutional Convention“), der im Sommer 1787 tagte und die Verfassung des amerikanischen Bundesstaates ausarbeitete, die noch heute gilt. Nach dem Gipfel von Laeken war in der Öffentlichkeit, also in den Medien, zu-nächst vom „Reformkonvent“ oder vom „Zukunftskonvent“ die Rede. Aber schon bald hieß es nur noch „Konvent“ oder sogar „Verfassungskonvent“. Diese Umetiket-tierung dürfte Ausdruck der öffentlichen Wahrnehmung sein. Es scheint in der Öf-fentlichkeit ein Bedürfnis nach einem „constitutional moment“34 zu bestehen.

b) Zusammensetzung und Arbeitsphasen des Konvents

Der Konvent arbeitete vom 1. März 2002 bis zum 10. Juli 2003. Seine 105 Mitglie-der setzten sich zusammen aus einem dreiköpfigen Präsidium, Vertretern der Staats- und Regierungschefs (15), der nationalen Parlamente (30), des Europäischen Parla-ments (16), der Europäischen Kommission (2) und der Bewerberländer (mit einge-schränkten Beteiligungsrechten). Die Konventsarbeit gliederte sich in drei Phasen: Die fünfmonatige Reflexionsphase/„phase d’écoute“ (März 2002 bis Juli 2002), die siebenmonatige Arbeitsphase/„phase d’étude“ (August 2002 bis Februar 2003),35 sowie die Vorschlagsphase/„phase de proposition“ (Februar bis Juli 2003). Bereits einen Monat zuvor wurde der Entwurf (ungeachtet des noch nicht definitiv be-schlossenen Teils über die Institutionen) vom Europäischen Rat in Thessaloniki als „gute Ausgangsbasis für den Beginn der Regierungskonferenz“ in Rom (Oktober 2003) begrüßt.36

33 Erklärung von Laeken (Fn. 32), Abschnitt III. 34 Bruce Ackerman, We The People, Vol. 1: Foundations, Cambridge (Mass.) u.a. 1991, passim. 35 In dieser Phase wurden 11 Arbeitsgruppen zu einzelnen Sachthemen, z.B. Subsidiarität, Rechtspersönlichkeit

der EG/EU, Grundrechecharta usw. gebildet, die bis zum 6.2.2003 ihre Schlussberichte vorstellten. Arbeits-gruppe I: Subsidiarität, II: Charta, III: Rechtspersönlichkeit, IV: Einzelstaatliche Parlamente, V: Ergänzende Zuständigkeiten, VI: Ordnungspolitik, VII: Außenpolitisches Handeln, VIII: Verteidigung, IX: Vereinfa-chung, X: Freiheit, Sicherheit und Recht, XI: Soziales Europa. Die Arbeitsphase erfuhr eine Zäsur mit der Vorstellung des Strukturentwurfes für den Verfassungsvertrag durch das Konventspräsidium am 28.10.2002 (Doc. CONV 369/02, abgedr. in EuGRZ 29 (2002), S. 666 ff.).

36 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen (Fn. 20), Rn. 5. Die Teile III und IV des Entwurfes wurden vom Kon-vent am 10.7. verabschiedet. Der endgültige Entwurf wurde dem Vorsitzenden des Europäischen Rates am 18.7.2003 vorgelegt.

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 383 19.06.2004, 16:25:42

Page 13: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004384

c) Die Einbeziehung der Öffentlichkeit in die Konventsarbeit

Die Erklärung von Laeken gab vor, dass die Konventsarbeit auf einer „öffentliche[n] Debatte“ basieren müsse und dass die „Erörterungen und sämtliche offiziellen Dokumente ... für die Öffentlichkeit zugänglich“ sein müssten.37 Dementsprechend unternahmen der Konvent und alle Mitgliedstaaten enorme Anstrengungen, um eine öffentliche Verfassungsdebatte zu provozieren und die Anregungen aus der Zivilge-sellschaft aufzunehmen. Die Regierenden hatten begriffen, dass in der Offenheit des Konventsverfahrens eine Möglichkeit lag, das Ansehen des Europäischen Projekts bei den Bürgern zurückzugewinnen. Der Konvent selbst suchte durch Einbindung der Zivilgesellschaft die Überzeugungskraft seiner (formal nicht bindenden) Ergeb-nisse zu steigern.38

Die Einbeziehung der Öffentlichkeit war am prononciertesten in der „phase d’écoute“. Der Konventspräsident hatte diese Phase als „unabdingbar“ bezeichnet.39 Der fast schon flehentliche Appell an die Öffentlichkeit blieb jedoch nicht auf diese explizite Anhörungsphase beschränkt. Alle Plenartagungen des Konvents, die ein- oder zweimal im Monat im Gebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel statt-fanden, waren öffentlich. Die offizielle Website des Konvents gab Auskunft über die Terminplanung. Jeder Bürger konnte sich die offiziellen Dokumente und Beiträge ausdrucken. Auf der Website waren zwei Kanäle für den input seitens der Öffent-lichkeit eingerichtet, die „Diskussionsecke“ und das „Forum“. Die Diskussionsecke sollte – so der Willkommenstext – „den europäischen Bürgern Gelegenheit geben, sich offen zur Zukunft Europas zu äußern und über dieses Thema zu diskutieren.“40

In der Diskussionsecke legten auch einzelne Mitglieder des Konvents Beiträge zu kontroversen Themen vor und baten die Bürger, darauf zu reagieren. Der zweite Ka-nal war das Konvents-Forum, ein strukturiertes Netz von NGOs, die regelmäßig über die Arbeiten des Konvents unterrichtet wurden. Die interessierten NGOs muss-ten sich registrieren lassen. Sie konnten eigene Beiträge einreichen, die im Internet veröffentlicht werden und sie wurden auch vom Konvent zu besonderen Themen gehört und konsultiert. Neben der Konvents-Website unterhielten alle Mitgliedstaa-ten und auch die Beitrittsländer nationale Diskussionsforen, in Deutschland z.B. über das Auswärtige Amt.41 Schließlich soll die bereits seit März 2001 von der Kom-mission unterhaltene Website „Futurum“ als Pattform für den Austausch von Mei-

37 Erklärung von Laeken vom 16.12.2001 (Fn. 32) unter „Arbeitsmethoden“. 38 Vgl. Franzius (Fn. 19), S. 5. 39 Compte-rendu presenté par Valéry Giscard d’Estaing, Président de la convention sur l’avenir de l’Europe au

Conseil européenne de Bruxelles le 24 oct. 2002 (http://european-convention.eu/int/docs/speeches/4022.pdf (besucht am 26.8.2003)). Siehe bereits Europäischer Konvent, Sekretariat, Übermittlungsvermerk des Präsidi-ums für den Konvent, betr. Tagung vom 21./22.3.2002 – Allgemeine Debatte: „Die Bürger Europas haben das Gefühl, zur Zukunft Europas nicht gehört zu werden. Die erste Phase unseres Konvents muss daher eine An-hörungsphase sein.“ (CONV 6/02).

40 http://europa.eu.int/futurum/documents/contrib/editorialpolicy_de.htm (besucht am 6.5.2003).41 http://www.auswaertiges-amt.de (besucht am 6.5.2003).

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 384 19.06.2004, 16:25:43

Page 14: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

385EuR – Heft 3 – 2004

nungen und Kommentaren aus der Zivilgesellschaft zur Zukunft der Union dienen; hier konnte auch nach Abschluss des Konvents die Verfassungsdebatte weiterge-führt werden.42

Neben den virtuellen Diskussionen fanden auch verkörperte Debatten statt. Bei-spielsweise trafen sich im Juni 2002 acht sogenannte Kontaktgruppen des Konvents mit Vertretern der Zivilgesellschaft (aufgeteilt in acht Sektoren43 wie „Umwelt“, „Soziales Europa“, „Think tanks“ usw.).44 Im Juni 2002 widmete sich das Konvents-Plenum einer „Anhörung der Zivilgesellschaft“. Pro Sektor hatten die Vertreter der Zivilgesellschaft 25 bis 30 Minuten Redezeit, an die sich eine ebenso lange Ausspra-che mit Konventsmitgliedern anschloss. Außerhalb des Plenums fanden weitere Treffen zwischen Vertretern der Zivilgesellschaft und Konventsarbeitsgruppen statt. Und schließlich wurde im Juli 2002 ein „Jugend-Konvent“ in Brüssel veranstaltet.Kritische Analysten halten alle Bemühungen um die Öffentlichkeit für Makulatur. De facto sei das Konventsergebnis durch das im Verborgenen arbeitende Sekretariat weitgehend vorgegeben und durch einige wenige Angehörige der Ministerialbüro-kratien bestimmt worden.45 Selbst Beobachter, welche die Realität der Entschei-dungsstrukturen anders einschätzen, mussten praktische Probleme anerkennen: Es war auf den sehr komplexen Websites schwer, sich einen Überblick über die Kon-ventsarbeit zu verschaffen. Ein interessierter europäischer Bürger, der sich etwa vornahm, einer Plenarsitzung beizuwohnen, konnte nur mit großer Mühe die exak-ten Tagungsordnungspunkte einer terminierten Plenarsitzung in Erfahrung bringen. Aber wahrscheinlich ist die Komplexität der öffentlichen Plattform in Anbetracht der Komplexität der Materie und der schieren Quantität der Diskussionsteilnehmer nicht weiter reduzierbar. Man könnte von einer „Komplexitätsfalle“ sprechen, in der sich der Integrationsprozess und damit auch der Verfassungsprozess befindet. Hinzu kommt, dass – trotz regelrechter Werbekampagnen – in Wirklichkeit nur ein Bruchteil der europäischen Bürger die Debatte verfolgte oder gar aktiv teilnahm. Das ist zwar unter legitimatorischen Gesichtspunkten bedauerlich, jedoch in einem freiheitlichen System offenbar unvermeidlich. So sinkt gerade in reifen Demokrati-en die Wahlbeteiligung kontinuierlich ab;46 dennoch akzeptieren wir die Ergebnisse. Ein Stimmzwang oder sonst wie gearteter Beteiligungszwang ist – ich meine zu Recht – ein nur in wenigen demokratischen Staaten eingesetztes Abhilfeinstru-ment47 und einer offenen Gesellschaft nicht angemessen.

42 http://europa.eu.int/futurum (besucht am 26.8.2003).43 Die acht Sektoren waren: „Sozialer Sektor“; „Umwelt“; „Akademische Kreise und Thinks tanks“; „Bürger

und Institutionen“; „Gebietskörperschaften“; „Menschenrechte“; „Entwicklung“; „Kultur“. 44 Siehe Europäischer Konvent, Sekretariat, Informatorischer Vermerk vom 19.6.2002, CONV 120/02. 45 Franz C. Mayer, Macht und Gegenmacht in der Europäischen Verfassung: Zur Arbeit des Verfassungskon-

vents, ZaÖRV 63 (2003), S. 59 (65).46 Beispiel Schweiz: Rückgang der Beteiligung an Wahlen zum Nationalrat von 1918 (Einführung des Proporz-

systems) bis 1999 von 80,4 Prozent auf 43,3 Prozent. In den USA: Rückgang der Wahlbeteiligung an Kongress-wahlen von 1960 bis 1996 von 63,0 auf 49,0 Prozent.

47 So in Belgien nach Art. 62 Abs. 3 der Verfassung (koordinierter Text vom 17.2.1994): Pflicht zur Teilnahme an der Wahl der Abgeordnetenkammer; Sanktionen im Code electorale, Titre VI: Buße zwischen fünf und 25 Euro sowie bei mehrfacher Wiederholung Ausschluss vom Zugang zu öffentlichen Ämtern. Siehe auch die Wahlpflicht nach Art. 23 Abs. 2 der Verfassung des Schweizer Kantons Schaffhausen vom 17.6.2002.

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 385 19.06.2004, 16:25:43

Page 15: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004386

Ein weiteres Problem lag in der hierarchischen Binnenstruktur des Konvents. Die Nichtöffentlichkeit der Beratungen des Konventspräsidiums wurde von einigen Konventsmitgliedern kritisiert. Zwar wurden Ergebnisse der Präsidiumsberatungen durch das Sekretariat zusammengefasst und in dieser Form unverzüglich der Öffent-lichkeit zugänglich gemacht. Im Gegensatz dazu blieben die Tagesordnung und die Protokolle der Beratungen des Präsidiums jedoch geheim. Das Präsidium begründete diese Geheimhaltung damit, dass andernfalls die Präsidiumsdebatten ihre Funktion der Anregung der Konventsdebatte nicht mehr erfüllen könnten, sondern selbst Ge-genstand der Diskussion würden. Damit würde die Tätigkeit des Konvents untermi-niert.48 Diese Argumentation wurde vom europäischen Bürgerbeauftragten in einer Entscheidung über die Beschwerde einer NGO wegen Verweigerung des Zugangs zu den besagten Präsidiumsdokumenten akzeptiert. Der Bürgerbeauftragte stellte fest, dass die Verordnung über den Zugang zu Dokumenten von Parlament, Rat und Kom-mission49 nicht unmittelbar auf Konventsdokumente anwendbar sei, empfahl jedoch ihre analoge Berücksichtigung.50 Dementsprechend darf der Zugang zu einem inter-nen Dokument verweigert werden, wenn seine Verbreitung den Entscheidungsprozess der betreffenden Institution „ernstlich beeinträchtigen würde“.51 Diese Tatbestands-voraussetzung liegt nach Abschluss der Konventsarbeiten nicht mehr vor, so dass nun auch die bisher geheimen Präsidiumsprotokolle veröffentlicht werden müssen.52

d) Machtfaktor Konvent

Nachdem sich die Regierungsvertreter auf das neuartige Konventsverfahren geei-nigt hatten, machten einige Staaten klar, dass der Konvent von der nachfolgenden Regierungskonferenz geschieden bleiben müsse. Der Konvent habe lediglich recht-lich unverbindliche Vorschläge zu unterbreiten. Der entscheidende rechtliche Quali-tätsunterschied zwischen Konvent und nachfolgender Regierungskonferenz sollte der Öffentlichkeit durch eine zeitliche Zäsur klar gemacht werden. England sprach von einer „Brandmauer“.53 Diese Konzeption, die dem traditionellen Vertragsrevisionsverfahren das entschei-dende Gewicht einräumte, hat die hohe politische und symbolische Bedeutung, die dem Konvent in der Öffentlichkeit zugemessen wurde, und das Ansehen, das er sich durch sein Funktionieren erworben hat, unterschätzt. Wiewohl das Mandat von Lae-ken den Konvent damit beauftragte „sich um verschiedene mögliche Antworten zu bemühen“, hat der Konvent, vor allem auf Betreiben seines Präsidenten Giscard

48 Entscheidung des europäischen Bürgerbeauftragten auf die Beschwerde 1795/2002/IJH vom 12.6.2003, Stel-lungnahme des Präsidenten des Konvents sowie Entscheidung Ziff. 2.7. (http://www.euro-ombudmsan.eu.int/decision/en/021795convention.htm (besucht am 26. August 2003)).

49 Verordnung (EG) 1049/2001 des EP und des Rates vom 30.5.2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Do-kumenten des Europäischen Parlamentes, des Rates und der Kommission, ABl. 2001, L 145/43.

50 Entscheidung des europäischen Bürgerbeauftragten vom 12.6.2003 (Fn. 48), Ziff. 2.4. und 2.6. 51 Verordnung 1049/2001 (Fn. 49), Art. 4 Abs. 3 UA 1. 52 Entscheidung des europäischen Bürgerbeauftragten vom 12.6.2003 (Fn. 48), Ziff. 2.8.53 Raùl Lautenschütz, Anpfiff der EU-Reformdiskussion in Laeken/Vorbereitung auf nächste Regierungskonfe-

renz, Neue Zürcher Zeitung vom 13.12.2002, S. 9.

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 386 19.06.2004, 16:25:43

Page 16: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

387EuR – Heft 3 – 2004

d’Estaing,54 nur einen konsentierten Vorschlag unterbreitet – mit entsprechend hö-herer Autorität. Auch die Öffentlichkeit schien begierig, nach den mehr oder weni-ger desaströsen Regierungskonferenzen einer Instanz zu vertrauen, der sie sowohl hohe fachliche Kompetenz, Repräsentativität der vertretenen Interessen und eine gewisse Unabhängigkeit von der aktuellen Tagespolitik und vom aktuellen Wieder-wahlinteresse zusprach. Ein weiterer Vorgang ist in diesem Kontext bemerkenswert: Diejenigen Mitglied-staaten, die anfangs keine hochrangigen Politiker als Beauftragte der Regierung in den Konvent entsandt hatten, tauschten diese Vertreter gegen ein Kabinettsmitglied aus.55 Das kann man als exekutivische Störung der Konventsmethode kritisieren. Diese hielt sich jedoch insofern in Grenzen, als die Regierungsmitglieder jedenfalls formal mit den anderen Konventsmitgliedern gleichgestellt waren. Mir scheint das Revirement vielmehr ein Indiz dafür, dass der Konvent in der Schlussphase viel ernster genommen wurde als zum Zeitpunkt seiner Erfindung. Es war den Regie-rungen klar geworden, dass der Konventsvorschlag, wiewohl rechtlich unverbind-lich, in politischer Hinsicht für die Regierungskonferenz eine hohe Präjudizwirkung haben würde.

2. Die Öffnung und Konstitutionalisierung des eigentlichen Vertragsrevisi-onsverfahrens

Das dem Konvent nachgeschaltete, weiterhin grundsätzlich anwendbare formale Revisionsverfahren nach Art. 48 EU bzw. nach Art. IV-6 des Konventsentwurfes hat eine gemischt kontraktuell-konstitutionelle Struktur. Idealtypisch vertragsmäßi-ge Elemente sind das Übergewicht der Mitgliedstaaten (gegenüber den europäischen Organen) sowie die Exekutivlastigkeit des Verfahrens. Verfassungstypisch ist ande-rerseits die Beteiligung der Gemeinschaftsorgane und der Legislativen.56

Die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung an der formellen Vertragsänderung (und damit der Einfluss der Öffentlichkeit auf diese) waren bisher relativ gering. Folgen-de demokratische Elemente sind vorhanden: Erstens sind die Regierungsvertreter mittelbar oder unmittelbar demokratisch gewählt. Außerdem müssen die nationalen Parlamente den Änderungsvertrag ratifizieren (dazu unten III. 3.). Ferner ist nach

54 Siehe etwa die Rede des Konventspräsidenten zur Eröffnung der Plenarsitzung am 20.12.2002, Schlusssatz (http://www.europarl.eu.int/meetdocs/delegations/conv/20030114/DiscVGEfr.pdf (besucht am 5.8.2003)).

55 So ersetzte Deutschland im Oktober 2002 Professor Peter Glotz, der persönlicher Beauftragter des Bundes-kanzlers im Konvent war, durch Bundesaußenmnister Joschka Fischer. Im November 2002 wurde der franzö-sische Außenminister Dominique Alouzeau de Villepin Konventsmitglied. Auch die meisten anderen Mitglied-staaten haben ihre Außenminister, Europaminister oder andere Kabinenttsmitglieder entsandt.

56 Näher zur kontraktuell-konstitutionellen Struktur des förmlichen Änderungsverfahrens Peters (Fn. 5), S. 434-442. Unter der Prämisse, dass verfassungsgebende und verfassungsändernde Gewalt ein Kontinuum bilden, ist es keine Anomalie, dass die Mitgliedstaaten sowohl die Erzeugung als auch die Änderung des Rechtsregimes dominieren. Stärker den primär diplomatischen, intergouvernmentalen und damit eher völkervertragsmäßigen Charakter betonend: Bruno de Witte, Rules of Change in International Law: How Special is the European Community? Netherlands Yearbook of International Law 25 (1994), S. 317; ders., International Agreement or European Constitution?, in: Jan A. Winter (Hrsg.), Reforming the Treaty on European Union: The Legal De-bate, Den Haag u.a. 1996, S. 15.

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 387 19.06.2004, 16:25:43

Page 17: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004388

dem Wortlaut von Art. 48 EUV das Europäische Parlament (nur) im Vorfeld anzuhö-ren. In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass sich das EP aber kontinuierlich mehr (informellen) Einfluss erkämpft hat. Bisherige Krönung dieser Bemühungen ist das Zugeständnis des Europäischen Rates von Thessaloniki vom 19./20. Juni 2003: „Das Europäische Parlament wird eng zu den Beratungen der [Regierungs-]konfe-renz hinzugezogen und daran beteiligt werden.“57 Mit der Vorschaltung des Konvents (erhöhte Repräsentanz von Parlamentariern und öffentliche Debatte) und der stärke-ren Einbeziehung des EP (ebenfalls öffentliche Debatte) werden die konstitutionellen Elemente und damit auch die Öffentlichkeit des Revisionsverfahrens verstärkt.

3. Die Beteiligung der Öffentlichkeit in der Ratifikationsphase: Gesamteuropäisches Referendum?

Eine weitere Frage ist, wie die mehr oder minder öffentlich erzielte Einigung über Verfassungsinhalte verbindlich gemacht und ob auch hier die Öffentlichkeit einbe-zogen werden kann. Öffentlichkeitsbeteiligung heißt in dieser Phase direkte oder indirekte demokratische Bestätigung. Nach dem herkömmlichen Revisionsverfahren wird auch der Verfassungsvertrag per mitgliedstaatlicher Ratifikation verbindlich gemacht werden (Art. 52 EUV und Art. 312 EGV bzw. Art. IV-8 des Verfassungsvertrages). Vor allem das Erfordernis der (parlamentarischen) Ratifikation legitimiert die Vertragsänderung formaldemo-kratisch.58 Positive Mitgestaltungsrechte haben die nationalen Parlamente jedoch dabei nicht. Selbst wenn ihnen, was sich abzeichnet, bereits im eigentlichen Revisi-onsprozess mehr (zumindest informelle) Möglichkeiten eröffnet werden, wird be-zweifelt, dass sie diese kompetent wahrnehmen können und wollen. Vor diesem Hintergrund wurde zwecks vermeintlichem Legitimationsgewinn von Mitgliedern des Konvents selbst,59 von Wissenschaftlern,60 Richtern,61 prominenten

57 Schlussfolgerungen des Vorsitzes (Fn. 20), Rn. 6.58 Die parlamentarischen Ratifikationen wurden bereits in der Frühphase der Integration als Elemente demokrati-

scher Legitimation des Primärrechts anerkannt (siehe nur Peter Badura, Bewahrung und Veränderung demo-kratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, Veröffentlichun-gen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 23 (1966), S. 72; Pierre Pescatore, Les exigences de la démocratie et la légitimité de la Communauté européenne, Cahiers de droit européen 10 (1974), S. 508 f.). Für die nationalen Parlamente als primäre Akteure der Verfassungsgebung etwa Joseph H. Kaiser, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 23 (1966), S. 19; Meinhard Hilf, Wege und Verantwortlichkeiten europäischer Verfassungsgebung, in: Jürgen Schwarze/Roland Bieber (Hrsg.), Eine Ver-fassung für Europa, Baden-Baden 1984, S. 266. Nach Armin von Bogdandy erfüllt die Ratifikationspflicht auf der Ebene der Unionsgrundordnung die Funktion von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, indem er über die demokrati-sche Herkunft der in den Verträgen begründeten Hoheitsmacht Rechenschaft ablegt (Armin von Bogdandy, Su-pranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, Baden-Baden 1999, S. 56).

59 Beitrag mehrerer Mitglieder, stellvertretender Mitglieder und Beobachter: „Referendum zur europäischen Verfassung“ vom 31.3.2003 (CONV 658/03), http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00658de03.pdf (besucht am 7.5.2003).

60 Kritisch Manfred Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäi-sches Verfassungsrecht, Berlin u.a. 2003, S. 931 (952).

61 So z.B. Jutta Limbach, frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, laut Stellungnahme in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.8.2002, S. 1; Günter Hirsch, Präsident des BGH (in einer Expertenanhörung im deutschen Bundestags-Ausschuss für Angelegenheiten der EU am 14.3.2001 (http://www.bundestag.de/presse/hib/2001/2001_072/07.html (besucht am 8.8.2003)).

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 388 19.06.2004, 16:25:44

Page 18: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

389EuR – Heft 3 – 2004

Politikern62 und von einer NGO-Koalition63 ein gesamteuropäisches Referendum über die Ergebnisse des Konvents und/oder der Regierungskonferenz gefordert. Ein entsprechendes europäisches Verfahren fehlt jedoch. Folglich konzentrierten sich die konkreten Vorschläge auf parallele nationale Referenden, die gleichzeitig mit den Wahlen zum EP im Juni 2004 oder später stattfinden sollten. Diese hätten sich nach dem jeweiligen nationalen Verfassungsrecht gerichtet. Dieser Vorschlag konnte an bereits geübte Praxis anknüpfen. Denn bisher gab es ungefähr 30 Europareferenden, das heißt Abstimmungen zum Beitritt zur Union64 und zur Änderung der europäi-schen Verträge.65 Entsprechende Verfassungsgrundlagen existieren in vielen (poten-tiellen) Mitgliedstaaten.66 In den bisher strikt repräsentativdemokratisch ausgerich-teten Staaten wie insbesondere Deutschland, Belgien, Malta und Zypern hätten zu-mindest konsultative Referenden veranstaltet werden können. Meines Erachtens sind europäische Verfassungs-Grundsatzfragen prinzipiell refe-rendumsfähig. Sie gehören nicht zu den Typen rechtlich-politischer Entscheidungen, wie etwa finanzielle Verteilungsfragen, die sich besonders schlecht für eine Annah-me auf direktdemokratischem Wege eignen. Allerdings halte ich ein Referendum nicht für ein zentrales Element der Legitimation der Verfassung. Diese Bedenken gründen nicht darin, dass eine repräsentativdemokratische Legitimation vorzugs-würdig wäre, sondern sind grundsätzlicherer Art. Es gibt in der Realität der lebendi-gen Verfassungen keine punktuelle, einmalige und abschließende Verfassungsge-bung auf einen Schlag. Dementsprechend kann ein einmaliger Akt eine Verfassung ohnehin nicht legitimieren. Denn dieser bezieht sich immer nur auf den Status quo. Wenn sich Verfassungsinhalte nicht bewähren oder wenn sich die Umstände ändern,

62 So z.B. der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber in einer Grundsatzrede an der Berliner Humboldt-Universität vom 8.11.2001, http://www.bayern.de/Presse-Info/Reden/2001/11-08.html (besucht am 6.5.2003); der spanische Regierungschef José Maria Aznar, Neue Zürcher Zeitung vom 14.4.2003 (http://www.nzz.ch/2003/04/14/al/page-article8SNRJ.html). Politische Parteien, die ein Referendum befürworten, sind insb. die Grünen im EP und im deutschen Bundestag sowie die deutsche PDS und FDP (Vorschlag zur Änderung von Art. 23 GG), Spiegel Online, 25.4.2003: www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,246061,00.html (besucht am 13.5.2003).

63 NGO-Referendumskampagne auf http://www.european-referendum.org. Siehe auch diverse Stellungnahmen zugunsten eines Referendums von Vertretern der Zivilgesellschaft in der gemeinsamen öffentlichen Anhörung der Europaausschüsse von Bundestag und Bundesrat am 26.6.2002 zum Europäischen Verfassungskonvent (http://www.bundestag.de/gremien/a22_stellungnahmen/index.htm, besucht am 15.8.2003).

64 Zu den Beitritten 1973: Irland, Dänemark, Norwegen ablehnend; zum Verbleib in der EG Großbritannien 1975; zu den Beitritten 1995: Österreich, Finnland, Schweden, Norwegen ablehnend. Zur Osterweiterung 2004: Neun Beitrittsreferenden in allen Beitrittsländern außer Zypern: In chronologischer Reihenfolge Malta, Slowe-nien, Ungarn, Litauen, Slowakei, Polen, Tshechien, Estland, Lettland – siehe zu den genauen Ergebnissen http://europa.eu.int/comm/enlargelemt/negotiations/accession_proc. Siehe zu den älteren Referenden Anne Peters, Das Gebietsreferendum im Völkerrecht, Baden-Baden 1995, S. 347 und 33 f. m.w.N.

65 Zur Vertragsänderung durch die EEA 1986: Dänemark und Irland; zur Vertragsänderung von Maastricht 1992: Irland, Frankreich, Dänemark (zweimal); zur Vertragsänderung von Amsterdam 1997: Dänemark, Irland. Zur Vertragsänderung von Nizza (2000) ergab in Irland die erste Abstimmung im Juni 2001 eine Ablehnung. Erst bei der zweiten Abstimmung im Oktober 2002 wurden dank mehr Propaganda eine höhere Beteiligung und ein positives Ergebnis erzielt.

66 So vor allem in Irland (Art. 27 i.V.m. mit Art. 46 irische Verfassung); Dänemark (Art. 42 dänische Verfassung), Frankreich (Art. 11 Abs. 1 franz. Verfassung: auf Vorlage des Präsidenten); Spanien (Art. 92 span. Verfassung: konsulatives Referendum); Portugal (Art. 115 port. Verfassung).

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 389 19.06.2004, 16:25:44

Page 19: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004390

dann bringt die vergangene einmalige Zustimmung nichts. Für die nachfolgenden Generationen, die unter dieser Verfassung leben müssen, hat dieser Akt – wenn es auf die Zustimmung der Bürger ankommen soll – gar keine Legitimationswirkung. Das ist schon im 18. Jahrhundert von Republikanern und Jakobinern erkannt wor-den.67 Meiner Ansicht nach wird eine Verfassung weniger durch die Art und Weise ihrer Erzeugung legitimiert als über ihre – nur ex post feststellbaren – Leistungen und kontinuierliche Akzeptanz.68 Die unbestrittene Legitimität des deutschen Grundgesetzes, das bekanntlich an diversen „Geburtsmakeln“ litt, illustriert diese These.Hinzu kommt, dass verfahrensmäßig in einem europäischen Verfassungsreferendum der föderale Aspekt zum Tragen kommen müsste.69 Es dürfte nicht nur auf die Zu-stimmung der gesamten europäischen Bürgerschaft ankommen, sondern es wäre auch die regionale Verteilung der Zustimmung zu berücksichtigen, um die Majori-sierung von Bürgern kleiner Mitgliedstaaten (deren auch-nationale Identität zu re-spektieren ist) zu verhindern. Die bloß parallelen nationalen, auf Europa bezogenen Referenden könnten diesen Minderheitenschutz nicht leisten. Und ein gesamteuro-päisches Referendum (gar mit dem geschilderten föderalen Mechanismus) ist noch utopisch.

Schlussfolgerung: Legitimation durch Öffentlichkeit

Die Konventsmethode ist ein Novum im europäischen Verfassungsprozess. Der ers-te europäische Verfassungskonvent ist von historischer Bedeutung – unabhängig von den maßvollen inhaltlichen Ergebnissen. Die Bedeutung ist vielmehr eine pro-

67 Thomas Paine, The Rights of Man (orig. 1792), in: Moncure Daniel Conway (Hrsg.), The Writings of Thomas Paine, Bd. II, London 1996, S. 278: „Every age and generation must be as free to act for itself in all cases as the age and generation which preceded it. ... Man has no property in man; neither has any generation a property in the generations which are to follow. ... It is the living, not the dead, that are to be accommodated“ . Thomas Jefferson beantwortete die Frage „Whether one generation of men has a right to bind another“ negativ und fol-gerte, dass eine Verfassung jeweils nur für eine Generation gelte. „[N]o society can make a perpetual constitu-tion, or even a perpetual law. The earth belongs always to the living generation. ... Every constitution then, and every law, naturally expires at the end of 19 years“ (Brief vom 6.9.1789 an Madison, in Merrill D. Peterson, The Portable Thomas Jefferson, New York 1977, S. 444 (445 und 449)). Art. 28 S.2 der nie in Kraft getretenen jakobinischen Verfassung vom 24.6.1793 lautete: „Eine Generation kann ihren Gesetzen nicht die zukünftigen Generationen unterwerfen.“ (Franz. Text u. Übers. abgedr. in Günther Franz, Staatsverfassungen: Eine Samm-lung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit und Gegenwart in Urtext und Übersetzung, 2. Aufl., München 1964, S. 372 ff.). Einschlägig ist auch David Humes bekannte Kritik an John Lockes Theorie des Gesellschafts-vertrages. Diese „supposes the consent of the fathers to bind the children, even to the most remote generations, (which republican writers will never allow)“ (David Hume, Of the Original Contract, in: ders., Essays: Moral, Political, and Literary, hrsg. v. T. H. Green/T. H. Grose, Bd. I, London 1889 (1748), S. 447).

68 Vgl. statt vieler (bezogen auf den Staat, nicht die Verfassung): Roman Herzog, Staat und Staatsbegriff am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Gerhard Köbler/Meinhard Heinze/Wolfgang Hromadka (Hrsg.), Europas universale rechtspolitische Aufgabe im Recht des dritten Jahrtausends: Festschrift für Alfred Söllner zum 70. Geburtstag, München 2000 (orig. 1997), S. 437 (442). Näher Peters (Fn. 5), S. 577 ff.

69 Siehe hierzu das Beispiel des schweizerischen Verfassungsreferendums: „Volk und Stände“ müssen einer Ver-fassungsrevision zustimmen (Art. 140 Abs. 1 lit. a) i.V.m. Art. 142 Abs. 2 Schweizer Bundesverfassung). Das heißt, jede Verfassungsänderung bedarf sowohl der nationalen Mehrheit als auch einer Mehrheit der Kanton-stimmen, wobei eine Kantonsstimme („Standesstimme“) durch das Ergebnis der Volksabstimmung im Kanton ermittelt wird.

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 390 19.06.2004, 16:25:44

Page 20: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

391EuR – Heft 3 – 2004

70 Standardwerke sind: John S. Dryzek, Discursive Democracy, Cambridge 1990; Joseph M. Bessette, The Mild Voice of Reason: Deliberative Democracy and American National Government, Chicago 1994; James S. Fish-kin, Democracy and Deliberation, New Haven (Conn.) u.a. 1991; Carlos Santiago Nino, The Constitution of Deliberative Democracy, New Haven (Conn.) u.a. 1996; Jon Elster (Hrsg.), Deliberative Democracy, Cam-bridge 1998; James Bohman/William Regh (Hrsg.), Deliberative Democracy: Essays on Reason and Politics, Cambridge (Mass.) u.a. 1997.

71 John Dewey, The Public and its Problems, 1927; zitiert nach der dt. Übersetzung: Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, hrsg. von Hans-Peter Krüger, Darmstadt 1996, S. 173: „Das Mehrheitsprinzip, rein als Mehrheits-prinzip ist so lächerlich wie seine Kritiker es zu sein bezichtigen. Aber es ist niemals nur Mehrheitsprinzip. (...) Die wichtige Überlegung besteht darin, dass der Idee Gelegenheit gegeben wird, sich auszubreiten und zum Besitz der Masse zu werden. (...) Das wesentliche Erfordernis besteht, mit anderen Worten, in der Verbesse-rung der Methoden und Bedingungen des Debattierens, Diskutierens und Überzeugens. Das ist das Problem der Öffentlichkeit.“

72 Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die postnatio-nale Konstellation, Frankfurt a. M. 1998, S. 91, 166.

zedurale und liegt in der Tatsache, dass hier öffentlich über die Verfassung Europas diskutiert wurde. Die Öffentlichkeit dieses Verfahrens ist ein Legitimationsfaktor (neben vielen anderen). Die legitimierende Kraft rührt daher, dass in einem öffent-lichen Diskurs die diversen Interessengruppen ihre Standpunkte und Ideen einbrin-gen können und dass diese Vorschläge diskutiert werden. Aus Sicht der deliberati-ven Demokratietheorie70 ist diese öffentliche Deliberation wichtiger als der formale (Mehrheits-)Entscheid.71 Nach dem deliberativen Demokratiekonzept kann ein Ent-scheidungsverfahren bereits dann als „demokratisches“ Verfahren bezeichnet wer-den, wenn die verschiedenen Interessengruppen ihre Positionen einbringen konnten, auch wenn am Ende ein Entscheid unter Ausschluss von Bürgerbeteiligung gefällt wird.72 Etwas vorsichtiger ist jedenfalls festzuhalten, dass die öffentliche Deliberati-on eine conditio sine qua non ist, ohne die eine förmliche Abstimmung praktisch keine Legitimationswirkung hat. Ein wichtiger Vorbehalt muss allerdings angebracht werden: Verfassungsentwick-lung, zumal auf europäischer Ebene, ist kein „hierarchischer“ Modus der Rechtset-zung „von oben“, sondern es handelt sich um einen Prozess, in dem der „horizonta-le“ Modus des Aushandelns mit Paketlösungen, Tauschgeschäften und Kompromis-sen dominiert. Jegliches Aushandeln funktioniert aber grundsätzlich besser unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Denn Öffentlichkeit zwingt die agierenden Vertreter praktisch zur Verhärtung ihres Standpunktes und erschwert damit die Problemlö-sung durch Konzessionen oder Neudefinition des Problems. Die Auflösung dieses Spannungsverhältnisses in Richtung von mehr Öffentlichkeit kann nur durch Abge-hen vom horizontalen Verhandlungsmodus erfolgen. Das heißt mit der Ver-Öffentli-chung der Deliberation muss prinzipiell die hierarchische, nicht primär verhandeln-de Rechtsetzung einhergehen, wenn die Entscheidungsfindung nicht blockiert oder apokryph werden soll. Denn wenn Öffentlichkeit unter Beibehaltung des Verhand-lungsmodus realisiert wird, hat das zur Folge, dass die wirklichen Entscheidungen in informellen Gesprächen getroffen werden, die neben den offiziellen Verhandlungen laufen. Ein gutes Beispiel für diesen Effekt ist die gescheiterte WTO-Ministerkonfe-renz in Seattle im Dezember 1999, die Entwicklungsländern freien Zugang zu den

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 391 19.06.2004, 16:25:44

Page 21: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004392

Verhandlungen gewährte. Die Folge war, dass die eigentlichen Entscheidungen in den Korridoren und beim Mittagessen in kleinen Gruppen getroffen wurden. Auch in der Konventsarbeit waren Tendenzen in diese Richtung vorhanden (z.B. einfluss-reiche, nicht-öffentlich erarbeitete Vorgaben des Präsidiums, siehe hierzu oben III.1. c)). Als Fazit ist festzuhalten, dass die Einführung der Konventsmethode sowie die in-formelle Parlamentarisierung des eigentlichen Revisionsverfahrens einen qualitati-ven Sprung in Richtung einer öffentlichen Verfassungsentwicklung markieren. Die Operationalität des öffentlichen Verfahrens könnte durch Stärkung der legislatori-schen „hierarchischen“ Elemente (Mehrheitsabstimmungen) im Verfassungsprozess gesteigert werden – was jedoch Legitimitätsprobleme anderer Art aufwirft.

Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess

Layout_Heft 3.indd 392 19.06.2004, 16:25:45

Page 22: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

393EuR – Heft 3 – 2004

Die Europäische Menschenrechtskonventionund die deutsche Rechtsordnung

Von Eckhard Pache, Würzburg*

I. Zur Vielfalt der Grundrechtsordnungen in Europa

Grundrechtsschutz in Europa erfolgt im angehenden 21. Jahrhundert in einem über-aus komplexen, nur mit Mühe überschaubaren, pluralen und wenig kohärenten Sys-tem sich überschneidender und ergänzender Rechtskreise1. Grundrechte der Landes-verfassungen stehen – und gelten2 – neben den Grundrechten des Grundgesetzes. Der Europäische Gerichtshof hat seit 1969, seit seiner Entscheidung Stauder3, auch durch die Solange-I-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts4 veranlasst, die Wahrung der Grundrechte als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts an-erkannt und eine Vielzahl eigenständiger Gemeinschaftsgrundrechte im Wege wer-tender Rechtsvergleichung aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen oder aus gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten hergeleitet und als Gemeinschaftsgrundrechte anerkannt5. Die Achtung dieser Grundrechte durch die EU wird durch Art. 6 EUV bekräftigt, hinzu ist die am 07. Dezember 2000 in Nizza proklamierte EU-Charta der Grundrechte getreten6, die nunmehr Aufnahme in den Entwurf eines Vertrages für eine Verfassung für Europa gefunden hat und damit möglicherweise künftig rechtlich bindender Teil der zu verabschiedenden Verfassung der EU werden kann7. Daneben gelten auch in Europa die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 beschlossenen Fassung8, der Internationale Pakt

* Europäisches Rechenzentrum der Universität Würzburg.1 Ausführlicher A. Weber, Einheit und Vielfalt der europäischen Grundrechtsordnungen, DVBl. 2003, S. 220 ff.

(227 m.w.N.); vgl. auch W. Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grund-rechte, EuGRZ 2002, 473 (482).

2 Hierzu Art. 142 GG sowie H. Dreier, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz- Kommentar, Bd. 3, Art. 142, Rdnr. 40 ff. m.w.N.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, München 2002, Art. 142, Rdnr. 4.

3 EuGH 12.11.1969 – Stauder, Rs. 29/69 – Slg. 1969, S. 419, 425.4 BVerfGE 37, 271, 280.5 Zusammenfassend nur Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, München 1993, S. 1

m.w.N.; einen Überblick über die Grundrechtsjudikatur des EuGH gibt auch Selmer, Die Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards durch den EuGH, Baden-Baden 1998, S. 119 ff. m.w.N.; Pernice/Mayer, nach Art. 6 EUV, Rdnr. 1 ff. m.w.N., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Loseblattsammlung, Stand August 2002.

6 ABl. 2000 Nr. C 364 S. 1 ff.; vgl. hierzu Pache, Die Europäische Grundrechtecharta – Ein Rückschritt für den Grundrechtsschutz in Europa?, EuR 2001, S. 475 ff. sowie Fischer, Der Vertrag von Nizza, Brüssel 2002, S. 263.

7 CONV 850/03 vom 18.07.2003; zur Entstehung des Entwurfs wie zu seiner möglichen Inkraftsetzung J. Meyer/S. Hölscheidt, Wie der Konvent Europa verfasst hat, Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaf-ten 3/2003.

8 Resolution 217 (III) Universal Declaration of Human Rights, in: United Nations, General Assembly, Official Records third Session (part I) Resolutions (Doc. A/810) S. 71; zu den Rechtswirkungen vgl. Pache, Tatbe-standliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, Tübingen 2001, S. 241 ff. m.w.N.

Layout_Heft 3.indd 393 19.06.2004, 16:25:45

Page 23: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004394

über bürgerliche und politische Rechte vom 12. Dezember 1966 (IPBPR)9, dem die Bundesrepublik Deutschland seit seinem Inkrafttreten am 23. März 1976 angehört und der einzelne Rechte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte inhaltlich näher ausgeformt, in die Form eines völkerrechtlich bindenden Vertrages gebracht und mit einem internationalen Durchsetzungsinstrumentarium versehen hat10, und nicht zuletzt die Grundrechtsgewährleistungen der Europäischen Menschenrechts-konvention (EMRK)11, die mit Recht als Grundpfeiler der sich herausbildenden eu-ropäischen Verfassungsordnung und als Kernelemente gemeineuropäischen Verfas-sungsrechts bezeichnet werden können12.Diese Vielfalt an Grundrechtsgarantien in Europa belegt nicht nur, wie umfassend die Erforderlichkeit grundrechtlicher Einbindung und Begrenzung jeder Hoheitsaus-übung in Europa mittlerweile auf allen Ebenen nationalen, supranationalen und völ-kerrechtlichen Handelns anerkannt und als unverzichtbar angesehen wird13 – sie wirft ebenso ganz erhebliche Probleme für einen kohärenten, stimmigen, einheitli-chen, effektiven und auch dem Bürger vermittelbaren Grundrechtsschutz in Europa auf 14.Ein Teilaspekt dieser Probleme ist das Verhältnis der Gewährleistungen der EMRK zum nationalen Recht und zu den nationalen Grundrechten. Diesem Teilaspekt, der Frage nach dem Verhältnis von EMRK und nationalen Rechtsordnungen, sollen die folgenden Überlegungen nachgehen.

II. Das Verhältnis von EMRK und nationalem Recht – offene Fragen

Die europäische Menschenrechtskonvention und ihr Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen der Konventionsstaaten – auch 50 Jahre nach dem Inkrafttreten der EMRK bestehen hier noch ganz erhebliche Unterschiede zwischen den Ver-tragsparteien der Europäischen Menschenrechtskonvention15, die vielberufene Euro-päisierung der nationalen Rechtsordnungen ist insoweit scheinbar noch nicht allzu weit fortgeschritten. Trotz weitgehender inhaltlicher Homogenität des Grundrechts-

9 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, GV-Res. 2200 A (XXI), UNTS Band 999, S. 171 ff. = BGBl. 1973 II S. 1533.

10 Vgl. Nowak, CCPR-Kommentar, Kehl am Rhein u.a. 1989, Einführung Rdnr. 2, der auf die große Anzahl der Vertragsstaaten hinweist und den IPBPR zusammen mit dem gleichzeitig vereinbarten Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als den gegenwärtig geltenden menschenrechtlichen Min-deststandard auf universeller Ebene bezeichnet; zur Entstehungsgeschichte ausführlich Nowak, Die Durchset-zung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, EuGRZ 1980, S. 532 ff. m.w.N.; zu den Schwächen des Durchsetzungsinstrumentariums des IPBPR Frowein, HdBStR VII, § 180 Rdnr. 34 f. m.w.N.

11 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950, UNTS Bd. 213 S. 221, BGBl. 1952 II S. 685, 953.

12 In diesem Sinne E. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, Tübingen 2001, S. 256 f. m.w.N.

13 Hierzu etwa E. Pache, Rechtsschutzdefizite im europäischen Grudnrechtsschutz, in: Nowak/Heselhaus (Hrsg.), Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, 2004.

14 Vgl. Broß, Grundrechte und Grundwerte in Europa, JZ 2003, 429 f.; Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, EuGRZ 2000, 511.

15 Insoweit nur Frowein, Einführung Rdnr. 6 m.w.N., in: Frowein/Peukert (Hrsg.), EMRK, Kommentar, 2. Aufl., Kehl u.a. 1996.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 394 19.06.2004, 16:25:45

Page 24: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

395EuR – Heft 3 – 2004

schutzes in Europa bestehen erhebliche formale Unterschiede und materielle Diver-genzen fort.Diese Unterschiede betreffen weniger die materielle Bedeutung, die der EMRK zu-erkannt wird: Die EMRK wird in allen Mitgliedstaaten des Europarates und damit weit über die derzeitige EU hinaus als zentraler Grundpfeiler der sich entwickelnden europäischen Verfassungsordnung und als deren menschenrechtlicher Kernbestand anerkannt16, sie verkörpert unbestritten die grundlegenden menschenrechtlichen Wertvorstellungen und Verpflichtungen, die ihren 45 Konventionsstaaten gemein-sam sind. Erhebliche Unterschiede bestehen demgegenüber im Hinblick auf Rang und Stel-lung der EMRK im innerstaatlichen Recht, im Hinblick auf die Wirkungen der Ur-teile des EGMR und auf die Verpflichtungen der Vertragsstaaten, die sich aus diesen Urteilen ergeben. Beispielsweise besitzt die EMRK in den Niederlanden Vorrang sogar vor der nationalen Verfassung, in Österreich kommt ihr Verfassungsrang zu. In den meisten Mitgliedstaaten steht die EMRK heute im Rang über den einfachen Gesetzen, aber unterhalb der Verfassung, so etwa in der Schweiz, Liechtenstein, Belgien und Frankreich, Griechenland, Luxemburg, Malta, Portugal, Spanien und Zypern. Teilweise wird ihr in der nationalen Rechtsordnung der Rang eines einfa-chen Gesetzes zuerkannt, teilweise ist eine Inkorporation in die nationale Rechtsord-nung bis heute gänzlich unterblieben17.Besondere Aktualität und Bedeutung kommt diesen bereits seit längerem erörterten Fragestellungen momentan im Hinblick auf intensiv geführte Reformdiskussionen hinsichtlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrech-te (EGMR)18 und dem nach dem Konventsentwurf eines Vertrages für eine Verfas-sung für Europa beabsichtigten Beitritt der EU zur EMRK19 zu, die jeweils erhebli-che Auswirkungen auf das derzeitige Verhältnis von EMRK und nationalem Recht haben würden.Als Grundlage für weiterführende Überlegungen sollen nachfolgend die wesentli-chen Elemente der deutschen Umsetzung der EMRK ins nationale Recht und insbe-sondere folgende fünf Punkte beleuchtet werden:1. Die völkerrechtlichen Vorgaben der EMRK für das nationale Recht;2. die Inkorporation der EMRK ins deutsche Recht;3. die Wirkungen der Urteile des EGMR im deutschen Recht;4. aktuelle Rechtsprechung zur EMRK durch deutsche Gerichte und aktuelle Recht-

sprechung des EGMR zum deutschen Recht sowie5. neuere Entwicklungs- und Veränderungsperspektiven.

16 Vgl. nur Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, Tübingen 2001, S. 254 ff. m.w.N.17 Für einen Überblick vgl. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 18 ff.

m.w.N.18 Für einen Überblick über wesentliche Aspekte der Reformdiskussion vgl. das Sonderheft der EuGRZ vom

30. April 2003 (30. Jg. Heft 4-6, S. 93 ff) mit zahlreichen Beiträgen zu Fragen der künftigen Reform des Recht-sprechungssystems.

19 Vgl. insoweit Art. 7 Abs. 2 des Entwurfes.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 395 19.06.2004, 16:25:45

Page 25: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004396

III. Völkerrechtliche Ausgangslage

1. Rechtsnatur der EMRK

Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der im Rahmen des Europarates auf der Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nati-onen in den Jahren 1949 und 1950 ausgearbeitet und am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet worden ist20. Sie ist am 3. September 1953 nach Ratifizierung durch die erforderlichen zehn Staaten in Kraft getreten21. Deutschland hat die EMRK am 5.12.1952 ratifiziert, Italien am 26.10.1955, Frankreich am 03.05.197422. Die EMRK ist mittlerweile von 45 Staaten ratifiziert worden23. Inhaltlich haben die Vertrags-staaten sie durch inzwischen dreizehn Zusatzprotokolle verändert oder ergänzt, die grundlegendste Reform ist durch das am 1.11.1998 in Kraft getretene 11. Zusatzpro-tokoll zur Reform des Rechtsschutzsystems der EMRK erfolgt, mit der das Neben-einander der zwei Konventionsorgane Kommission und Gerichtshof beendet und ein einheitlicher ständiger Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte geschaffen worden ist24.

2. Verpflichtungen der Konventionsstaaten

Im Gegensatz zum Europäischen Gemeinschaftsrecht enthält die EMRK keine Vor-gaben zur Art ihrer Umsetzung in das nationale Recht der Vertragsstaaten, ja nicht einmal eine unbedingte Verpflichtung dazu, die Rechte der Konvention überhaupt ausdrücklich ins nationale Recht zu inkorporieren25. Die völkerrechtliche Verpflich-tung der Vertragsstaaten besteht vielmehr lediglich in der in Art. 1 EMRK festge-legten Pflicht, den der Hoheitsgewalt der Vertragsstaaten unterstehenden Personen die in der Konvention bestimmten Rechte und Freiheiten zu gewähren, sowie in der ergänzenden Verpflichtung aus Art. 13 EMRK, eine innerstaatliche Beschwerde-möglichkeit für Verletzungen der Rechte aus der EMRK zur Verfügung zu stellen.In welcher Art und Weise diese Verpflichtungen erfüllt werden, überlässt die EMRK der Entscheidung der Vertragsstaaten. Diese können die EMRK in ihr nationales Recht inkorporieren und zwar entweder auf der Ebene eines einfachen Gesetzes, mit

20 Zur Entstehungsgeschichte ausführlich Partsch, ZaöRV 15 (1954), S. 631 ff.; vgl. auch Tonne, S. 147 f. m.w.N.; zu historischem Hintergrund und Institutionen der EMRK vgl. auch Jacobs/White, S. 3 ff. m.w.N.

21 Bekanntmachung vom 15.12.1953, BGBl. 1954 II S. 14; vgl. auch Frowein, HdBStR VII, § 180, Rdnr. 2 sowie ders., FS Zeidler, S. 1763.

22 Vgl. die Übersicht über die Ratifikation der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle (Stand 15.04.2003) in EuGRZ 2003, S. 179.

23 Vgl. die Übersicht über die 45 Staaten des Europarates in der Reihenfolge ihres Beitritts mit dem Ratifikations-stand bezüglich der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle (Stand 15.04.2003, weiterhin aktuell) in EuGRZ 2003, S. 179.

24 Zum 11. Zusatzprotokoll näher Meyer-Ladewig, EMRK, Handkommentar, Baden-Baden 2003, Einleitung Rdnr. 5 ff. m.w.N.

25 Vgl. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 18 ff. m.w.N.; ders., VVD-StRL 60, S. 290, 307.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 396 19.06.2004, 16:25:45

Page 26: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

397EuR – Heft 3 – 2004

Übergesetzeskraft oder mit Verfassungsrang. Sie können ihren Pflichten aus der EMRK aber auch völlig ohne ausdrückliche Inkorporation nachkommen, wenn ihre nationale Rechtsordnung als solche den Vorgaben der EMRK entspricht oder ange-passt wird26.Trotz massiver Kritik an diesem Verständnis der völkerrechtlichen Pflichten der Konventionsstaaten hat der EGMR bis heute an dieser Auslegung der EMRK festge-halten und wiederholt betont, dass „weder Art. 13 noch die Konvention insgesamt den Mitgliedstaaten einen bestimmten Weg für die Sicherung der effektiven An-wendung der Vorschriften der Konvention innerhalb ihres nationalen Rechts gebie-ten“27 und dass „keine Pflicht zur Inkorporation der Konvention in das innerstaatli-che Recht“ besteht28, wenn auch, so der EGMR, durch eine Inkorporation die Ab-sichten der Vertragsparteien „besonders treu verwirklicht würden“29.

3. Besonderheiten der EMRK

Diese rein formale Betrachtung als multilateraler völkerrechtlicher Vertrag in Ge-stalt eines „law-making-treaty“ mit menschenrechtlichem Inhalt30, der völkerver-tragliche Verpflichtungen der Vertragsparteien zur Beachtung und Gewährleistung der durch die EMRK gewährten Rechte begründet, der aber gegebenenfalls durch die Vertragsparteien nach Art. 58 EMRK gekündigt werden kann, wird allerdings der besonderen völkerrechtlichen Bedeutung der EMRK heute nicht mehr gerecht.Im Völkerrecht werden heute generell jedenfalls bestimmte grundlegende, staatli-cher Gewalt vorgegebene Menschenrechte wie das Recht auf Leben, das Folterver-bot oder das Verbot der Sklaverei als völkerrechtliches ius cogens und als Staaten-pflichten erga omnes verstanden31. In diesem Zusammenhang besitzt die EMRK für ihre Vertragsstaaten eine weit über einen normalen völkerrechtlichen Vertrag hin-ausgehende Bedeutung: Sie ist für die Mitgliedstaaten des Europarates neben den jeweiligen nationalen Verfassungen wesentlicher Teil des gemeineuropäischen Ver-fassungsrechtes im materiellen Sinne, eine Komplementärverfassung zu den natio-nalen Verfassungen, die vom EGMR als „Verfassungsinstrument“ bezeichnet wird32 und die von Völkerrechtlern als Bestandteil des „ordre public européen“, als Euro-

26 Ausführlicher Chryssogonos, Zur Inkorporation der Europäischen Menschenrechtskonvention in den nationa-len Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, EuR 2001, S. 49, 49 ff. m.w.N.; Meyer-Ladewig, EMRK, Handkom-mentar, Baden-Baden 2003, Einleitung Rdnr. 28 f.

27 EGMR 6.2.1976, Swedish Engine Drives Union gegen Schweden, A 20, Ziff. 50.28 EGMR 21.2.1986, James u.a. gegen Vereinigtes Königreich, A 98 Ziff. 84; EGMR 26.11.1991, Observer und

Guardian gegen Vereinigtes Königreich, A 216.29 Vgl. zum ganzen Chryssogonos, Zur Inkorporation der Europäischen Menschenrechtskonvention in den natio-

nalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, EuR 2001, S. 49, 51 ff. m.w.N.30 Näher Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 4 f.31 Hierzu etwa Fassbender, EuGRZ 2003, S. 1, 5 ff. m.w.N.; zum Schutz des Einzelnen im Völkerrecht und zu

universalen, staatlicher Gewalt vorgegebenen Menschenrechten vgl. auch Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, Tübingen 2001, S. 153, 237 ff., jeweils m.w.N.

32 EGMR, Urteil vom 23.3.1995, Loizidou, Serie A 310, Z. 75 („constitutional instrument of European Public order“).

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 397 19.06.2004, 16:25:46

Page 27: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004398

päische Menschenrechtsverfassung33 oder als völkerrechtliche Teilverfassung im Bereich der Menschenrechte angesehen wird34.Auf dieser Grundlage wird teilweise der bislang anerkannte Spielraum der Konven-tionsstaaten bei der Erfüllung der Verpflichtungen aus der EMRK als geschichtlich überholt angesehen35, teilweise wird sogar eine Pflicht zur Umsetzung ins nationale Recht mit Verfassungsrang behauptet. Diese Auffassungen sind allerdings trotz ih-res grundsätzlich begrüßenswerten Ziels, den Menschenrechten der Konvention in-nerstaatlich möglichst umfassende Geltung zu sichern, mit dem Wortlaut der EMRK ebenso wenig wie mit der Rechtsprechung des EGMR zu vereinbaren.

IV. Rang und Geltungsanspruch der EMRK im deutschen Recht

1. Inkorporation als einfaches Bundesgesetz

Die Bundesrepublik Deutschland hat die EMRK durch Zustimmungsgesetz gemäß Artikel 59 Absatz 2 GG zu innerstaatlichem Recht transformiert36. Dabei ist im Zu-stimmungsgesetz ausdrücklich angeordnet, dass die EMRK „mit Gesetzeskraft“ verkündet wurde 37. Die EMRK gilt also wie alle völkerrechtlichen Verträge, zu de-nen ein Zustimmungsgesetz nach Artikel 59 Absatz 2 GG ergangen ist, in der deut-schen Rechtsordnung mit dem Rang eines einfachen Bundesgesetzes38.Diese Einordnung der EMRK in die deutsche Rechtsordnung hat zur Folge, dass die EMRK in der nationalen Normenhierarchie unterhalb der Ebene des Verfassungs-rechts einzuordnen ist und dass der Konvention – jedenfalls normhierarchisch – kein gegenüber sonstigen Gesetzen hervorgehobener rechtlicher Rang zukommt. Deshalb kann die EMRK ungeachtet ihres unbestrittenen grundrechtlichen Gehaltes wie je-des andere innerstaatliche Gesetz und wie jeder andere im Rang eines einfachen Gesetzes umgesetzte völkerrechtliche Vertrag nicht unmittelbar Prüfungsmaßstab im Verfassungsbeschwerdeverfahren sein39, und deshalb kann theoretisch ein später ergangenes einfaches Gesetz die EMRK innerstaatlich verdrängen, da grundsätzlich die lex posterior der legi priori vorgeht40.

33 Frowein, Der europäische Menschenrechtsschutz als Beginn einer europäischen Verfassungsrechtsprechung, JuS 1986, S. 845 ff.; vgl. auch Hoffmeister, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Grundrechtsver-fassung und ihre Bedeutung in Deutschland, Der Staat 2001, S. 349, 353 ff.; Hillgruber, Staat und Religion, DVBl. 1999, S. 1155, 1176.

34 Zusammenfassend Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 6 f. m.w.N.35 So ausdrücklich Chryssogonos, Zur Inkorporation der Europäischen Menschenrechtskonvention in den natio-

nalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, EuR 2001, S. 49, 52.36 Gesetz vom 07.08.1952, BGBl. 1952 II S. 685, in Kraft getreten am 03.09.1953.37 Vgl. BGBl. 1952 II S. 686.38 Näher Dörr, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz Rdnr. 568 m.w.N., in: Sodan/Ziekow, VwGO, der dort er-

gänzend darauf hinweist, dass aus dem innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl im Range eines einfachen Bundesgesetzes auch deshalb kein Übergesetzesrang der EMRK folgt, weil diese einen solchen selbst auf völ-kerrechtlicher Ebene nicht beansprucht.

39 So BVerfGE 10, 271, 274; BVerfGE 34, 384, 395; BVerfGE 41, 126, 149.40 Vgl. zu dieser Problematik ausführlicher Bernhardt, EuGRZ 1996, S. 339.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 398 19.06.2004, 16:25:46

Page 28: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

399EuR – Heft 3 – 2004

2. Übergesetzesrang?

Wegen dieser unerwünschten Rechtsfolge war der Rang der EMRK im deutschen innerstaatlichen Recht von Anfang an umstritten. Bereits 1952 wurde im Rechtsaus-schuss des Deutschen Bundestages ein Verfassungsrang der EMRK diskutiert, je-doch im Ergebnis verneint41.Aus dem vor- und überstaatlichen Menschenrechtskerngehalt der EMRK in Verbin-dung mit der völkerrechtlichen Regel pacta sunt servanda ist teilweise ein Überver-fassungsrang der EMRK hergeleitet worden42. Ebenso wurde ihr unter Berufung auf Artikel 1 Absatz 2 GG und auf die dort erfolgende Anerkennung „unverletzli-cher und unveräußerlicher Menschenrechte“ vereinzelt unmittelbarer Verfassungs-rang zuerkannt43.Verschiedene andere Begründungsansätze sollen zumindest einen mittelbaren Ver-fassungsrang der EMRK belegen: Zum Einen sollen die Regelungsgehalte der EMRK bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes und der Auslegung von Staatsstrukturprinzipien, insbesondere des Rechtsstaatsprinzips, herangezogen werden und auf diese Weise am Verfassungsrang der ausgelegten Grundgesetzbe-stimmungen oder Staatsstrukturprinzipien teilhaben44. Zum Zweiten wird erwogen, die Konventionsrechte als Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 GG anzusehen, der EMRK widersprechende nationale Rechtsakte nicht der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne der Schrankenregelung des Artikels 2 Absatz 1 GG zuzurechnen und so die Möglichkeit der Rüge einer Verletzung der Garantien der EMRK im Wege der Verfassungsbeschwerde zu schaffen45. Drittens schließlich kann eine Verletzung des Artikels 3 Absatz 1 GG in Betracht gezogen werden, wenn jemand unter Verletzung des Willkürverbotes in seinen durch die EMRK gewährleisteten Rechten verletzt wird46.In Betracht kommt weiter, der EMRK zwar keinen Verfassungsrang, aber zumin-dest Übergesetzesrang zuzuerkennen: Dies geschieht teilweise mit der Begründung, die EMRK stelle regionaleuropäisches Völkergewohnheitsrecht dar. Derartiges regi-onaleuropäisches Völkergewohnheitsrecht zähle zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne des Artikels 25 GG, so dass ihm aufgrund der Anordnung des Artikels 25 GG eine Stellung zwischen der Verfassung und den einfachen Ge-

41 BT-Rechtsausschuss, 1. Wahlperiode, 113. Sitzung, Sten. Prot. 5 – 7 (Abg. Prof. Dr. Wahl); vgl. auch die Ein-ordnung der EMRK als allgemeine Regeln des Völkerrechts im Sinne von Artikel 25 GG in BT, 1. Wahlperio-de, Drs. 3338, S. 3 f.

42 Nachweise bei Hilf, EMRK, S. 35 f.43 So insbesondere von Echterhölter, JZ 1955, S. 691 f.; ders., JZ 1956, S. 142.44 Vgl. Ress, EMRK und Vertragsstaaten, S. 284; Seibert, S. 522 f.45 Vgl. insoweit Frowein, ZaöRV 46 (1986), S. 286 ff. unter Bezugnahme auf die Pakelli-Entscheidung des Bun-

desverfassungsgerichts.46 Dieser Ansatz findet sich etwa in BVerfGE 64, 135, 157 sowie BVerfG EuGRZ 1985, S. 654; hierzu näher auch

Frowein, ZaöRV 46 (1986), S. 286 f.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 399 19.06.2004, 16:25:46

Page 29: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004400

setzen zukomme47. Diese Annahme erscheint jedenfalls für einzelne Garantien der EMRK wie das Folterverbot als zutreffend, kann aber sicher nicht auf alle Garantien der EMRK und ihrer Protokolle erstreckt werden.Schließlich hat in neuerer Zeit eine Auffassung wieder an Boden gewonnen, nach der der EGMR eine zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne des Art. 24 GG dar-stellt, der die Bundesrepublik Deutschland im Bereich des Menschenrechtsschutzes Hoheitsrechte übertragen hat. Für diesen übertragenen Bereich soll die EMRK – wie aus dem Europäischen Gemeinschaftsrecht bekannt – einschließlich der zu ihrer Auslegung ergangenen Entscheidungen des EGMR Vorrang vor dem nationalen Recht beanspruchen48.

3. Gesetzesrang, Spezialität und völkerrechtskonforme Auslegung

Alle Versuche, der EMRK innerstaatlich einen höheren Rang als den eines einfa-chen Gesetzes zuzuerkennen, können im Ergebnis nicht überzeugen. Die EMRK ist mit der ganz überwiegenden Meinung als innerstaatlich mit dem Rang eines einfa-chen Gesetzes gültig anzusehen. Durch das Zustimmungsgesetz gemäß Artikel 59 Absatz 2 GG ist ihr innerstaatliche Verbindlichkeit mit Gesetzeskraft verliehen49. Damit kann die EMRK innerstaatlich unmittelbare Geltung beanspruchen, subjek-tive Rechte vermitteln und gerichtlich durchgesetzt werden. Sie besitzt jedoch auf-grund ihrer Rechtsnatur keinen gegenüber anderen Bundesgesetzen hervorgehobe-nen Rang oder Geltungsanspruch.Auch bei dieser Einordnung als innerstaatlich mit dem Rang eines einfachen Bun-desgesetzes gültig kann den Besonderheiten der EMRK angemessen Rechnung ge-tragen, kann die Derogierbarkeit der EMRK durch entgegenstehende einfache in-nerstaatliche Gesetze auf verschiedene Weise vermieden werden50. Eine Durchset-zung der Gewährleistungen der EMRK auch gegenüber entgegenstehendem späterem innerstaatlichem Recht kann insbesondere über eine völkerrechts- und vertragskonforme Auslegung späterer Gesetze erreicht werden. Ist eine solche völ-kerrechts- und konventionskonforme Auslegung des späteren innerstaatlichen Rechts nicht möglich, kommt in Betracht, die EMRK bzw. das Umsetzungsgesetz zur EMRK als speziellere Regelung der betroffenen Menschenrechtsfragen anzuse-hen und über die Anwendung der Kollisionsregel lex specialis derogat legi generali

47 Vgl. insbesondere Giegerich, Verfassungsbeschwerde, in: Grabenwarter (Hrsg.), Allgemeinheit der Grund-rechte und Vielfalt der Gesellschaft, 1994, S. 113; zusammenfassend Dörr, Europäischer Verwaltungsrechts-schutz Rdnr. 568 m.w.N., in: Sodan/Ziekow, VwGO; einen Überblick über die bei dieser Auffassung auftreten-den Probleme, insbesondere die Erstreckung des Artikel 25 GG auf nur regional geltende Grundsätze und die Einordnung sämtlicher Rechte der EMRK als allgemeine Regeln, gibt Hilf, EMRK, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristenkommission, Entwicklung der Menschenrechte, 1987, S. 38 f. m.w.N.

48 Vgl. hierzu Langenfeld, Die Stellung der EMRK im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Bröhmer, Jürgen (Hrsg.), Der Grundrechtsschutz in Europa, Baden-Baden 2002, S. 95 ff. m.w.N.

49 Zu Geltungsanspruch und Rang der EMRK im innerstaatlichen Recht ausführlich Ulsamer, in: Frowein/Ulsamer, Europäische Menschenrechtskonvention und nationaler Rechtsschutz, 1985, S. 35 f. m.w.N.; umfas-send auch Uerpmann, EMRK und deutsche Rechtsprechung, 1993, S. 41 ff. m.w.N.; vgl. auch Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, S. 34 m.w.N.; Hilf, EMRK, S. 21 ff. m.w.N.

50 Überblick über die verschiedenen Lösungsansätze bei Bernhardt, EuGRZ 1996, S. 339 m.w.N.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 400 19.06.2004, 16:25:47

Page 30: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

401EuR – Heft 3 – 2004

und eine Einordnung der EMRK als Spezialgesetz bezüglich der betroffenen Men-schenrechtsfragen die Durchsetzung der Verbürgungen der EMRK zu erreichen51.Auch das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung von der Gel-tung der EMRK mit dem Geltungsanspruch eines einfachen Bundesgesetzes aus52. Es trägt der gegenüber sonstigen Bundesgesetzen gesteigerten, aus der zugrundelie-genden völkerrechtlichen Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur inner-staatlichen Gewährleistung der in der EMRK verbürgten Rechte folgenden erhöhten Bedeutung jedoch ergänzend Rechnung, indem es die EMRK zusätzlich als Ausle-gungshilfe für die Grundrechte des Grundgesetzes heranzieht sowie den Grundsatz der Konventionskonformität auch späteren Bundesrechts – vorbehaltlich eines ein-deutig zum Ausdruck kommenden abweichenden Willens des Bundesgesetzgebers – aufstellt53. Dies begründet das Bundesverfassungsgericht wie folgt:

„Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang. Sie ist auch kraft Artikel 6 Absatz 2 EMRK Bestand-teil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland im Range eines Bundesge-setzes (...). Wenn das Bundesverfassungsgericht sich zur Definition der Unschulds-vermutung auf den Wortlaut des Artikels 6 Absatz 2 EMRK bezogen hat (BVerfGE 35, 311 [320]), der in der Bundesrepublik Deutschland den Rang von Verfassungs-recht nicht genießt, so beruht dies auf der rechtlichen Wirkung, die das Inkrafttreten der Konvention auf das Verhältnis zwischen den Grundrechten des Grundgesetzes und ihnen verwandten Menschenrechten der Konvention hat. Bei der Auslegung des Grundgesetzes sind auch Inhalt und Entwicklungsstand der europäischen Men-schenrechtskonvention in Betracht zu ziehen, sofern dies nicht zu einer Einschrän-kung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt, eine Wirkung, die die Konvention indes selbst ausgeschlossen wissen will (Artikel 60 EMRK). Deshalb dient insoweit auch die Rechtsprechung des Europäischen Ge-richtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundge-setzes. Auch Gesetze – hier die Strafprozessordnung – sind im Einklang mit den völ-kerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik auszulegen und anzuwenden, selbst wenn sie zeitlich später erlassen worden sind als ein geltender völkerrechtli-cher Vertrag; denn es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will.“54

51 Zum Grundsatz völkerrechts- und vertragskonformer Auslegung innerstaatlicher Gesetze und seiner Anwen-dung auf die EMRK Bernhardt, HdBStR VII, § 174, Rdnr. 29; Frowein, HdBStR VII, § 180, Rdnr. 6 m.w.N.; vgl. auch Tomuschat, HdBStR VII, § 172, Rdnr. 35; zur EMRK als menschenrechtsbezogener Spezialvorschrift Ulsamer, S. 39 f.; sowie Hilf, EMRK, S. 40 m.w.N.

52 Für einen Überblick über die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bedeutung der EMRK im deutschen innerstaatlichen Recht und im Verfassungsbeschwerdeverfahren vgl. Frowein, FS Zeidler, 2. Band, S. 1763 ff. m.w.N.; vgl. auch Ress, FS Zeidler, 2. Band, S. 1789 ff. m.w.N.

53 Vgl. nur BVerfGE 74, 358, 370; BVerfGE 82, 106, 114 f., jeweils m.w.N.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 1624 ff.; Dörr, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rdnr. 568 m.w.N., in: Sodan/Ziekow, VwGO.

54 So ausdrücklich BVerfGE 74, 358, 370 m.w.N.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 401 19.06.2004, 16:25:47

Page 31: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004402

4. Ergebnis

Zusammenfassend besitzt die EMRK im deutschen Recht damit unmittelbare Gel-tung und Bedeutung mit dem Rang eines einfachen Bundesgesetzes, das als Spezi-alregelung der betroffenen grund- und menschenrechtlichen Fragestellungen anzu-sehen ist und insoweit wegen seiner Spezialität Vorrang gegenüber abweichenden sonstigen einfachgesetzlichen Regelungen beanspruchen kann. Mittelbare Bedeu-tung besitzt sie darüber hinaus, weil sie den deutschen Gesetzgeber auf völkerrecht-licher Ebene zur Beachtung und Gewährleistung der Konventionsgarantien ver-pflichtet und von allen anderen Staatsorganen aufgrund des Grundsatzes der Völ-kerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung55 bei der Auslegung und Anwendung nationalen Rechts zumindest über die Verpflichtung zur konventions-konformen Auslegung des nationalen Rechts zu beachten ist56.

V. Die Urteile des EGMR im deutschen Recht

Die Urteile des EGMR sind grundsätzlich Feststellungsurteile. Mit ihnen stellt der EGMR lediglich fest, ob in einem Einzelfall ein Mitgliedstaat der EMRK eine Kon-ventionsverletzung begangen hat oder nicht. Die Aufhebung innerstaatlicher Geset-ze oder Rechtsakte oder die konkrete Vorgabe der aus einem Urteil zu ziehenden Konsequenzen fällt jedenfalls bisher nicht in die Zuständigkeit des EGMR57. Eben-so wenig folgt aus der EMRK eine völkerrechtliche Verpflichtung, den Urteilen des EGMR irgendeine unmittelbare innerstaatliche Wirkung beizumessen58.Vielmehr begründet die Feststellung einer Konventionsverletzung nach Art. 46 EMRK die völkerrechtliche Verpflichtung des beklagten Staates, das endgültige Urteil des Gerichtshofes zu befolgen und die festgestellte Konventionsverletzung abzustellen, wobei ihm bei der Erfüllung dieser Verpflichtung ein Beurteilungs-spielraum im Hinblick auf die zu ergreifenden Maßnahmen zuerkannt wird59. Rechtliche Grundlage für die Beendigung des festgestellten Konventionsverstoßes ist dabei das innerstaatliche Recht des Konventionsstaates, dieses muss hierfür ge-eignete Instrumente und Verfahren zur Verfügung stellen.Die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR kann nach Art. 41 EMRK mit der Zuerkennung einer gerechten Entschädigung verbunden werden, wenn nach dem innerstaatlichen Recht des betroffenen Konventionsstaates nur eine unvollkommene Wiedergutmachung der Konventionsverletzung möglich ist. Inso-weit geht die EMRK offensichtlich einerseits davon aus, dass das nationale Recht

55 Zu diesem Grundsatz z.B. Rojahn, Artikel 24, Rdnr. 2 m.w.N., in: von Münch/Kunig, GG; Tomuschat, HdBStR VII, § 172, Rdnr. 27 f.

56 In diesem Sinne auch Sommermann, AöR 114 (1989), S. 419 ff.; Dörr, Europäischer Rechtsschutz Rdnr. 571 m.w.N.; Schmidt-Aßmann, Einleitung Rdnr. 132 m.w.N., in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO.

57 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 115.58 Deutlich Uerpmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, Berlin

1993, S. 192 f. m.w.N.59 So deutlich Meyer-Ladewig, EMRK, Handkommentar, Baden-Baden 2003, Art. 46, Rdnr. 7.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 402 19.06.2004, 16:25:47

Page 32: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

403EuR – Heft 3 – 2004

nicht in jedem Fall eine uneingeschränkte Wiedergutmachung ermöglichen muss, und andererseits Urteile des EGMR auch Leistungsurteile darstellen können, aus denen sich eine eindeutig festgelegte Verpflichtung des betroffenen Konventions-staates ergibt60.Im Hinblick auf die Wirkungen der Feststellungsurteile des EGMR ist zwischen der Rechtskraftwirkung und der Orientierungswirkung der Urteile zu unterscheiden.

1. Rechtskraftwirkung

Die Rechtskraftwirkung der Urteile des EGMR ist nach Art. 46 EMRK auf den be-teiligten Konventionsstaat beschränkt. Nur dieser ist verpflichtet, das Urteil zu be-folgen und grundsätzlich durch restitutio in integrum den rechtmäßigen Zustand vor der festgestellten Konventionsverletzung wiederherzustellen61. Die Art und Weise, in der diese Verpflichtung zu erfüllen ist, hängt im Wesentlichen von der Art der staatlichen Maßnahme ab, durch die die Konventionsverletzung erfolgt ist. Dies kann ein Verwaltungsakt, ein Gerichtsurteil oder eine den Einzelnen unmittelbar betreffende Rechtsnorm oder sonstige generelle Maßnahme staatlicher Organe sein. Das deutsche Recht stellt für die Erfüllung der aus einem Konventionsverstoß fol-genden Restitutionspflicht nur in eingeschränktem Maße spezifische Instrumente zur Verfügung, die nach der Art der Verletzungshandlung unterschiedlich ausgestal-tet sind.

a. Verwaltungsakt

Ist die Konventionsverletzung durch einen Verwaltungsakt erfolgt, kommt eine Ab-stellung des festgestellten Konventionsverstoßes in Anwendung der allgemeinen Aufhebungsvorschriften des jeweils anwendbaren Verwaltungsverfahrensrechts, im allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht also nach Maßgabe des § 48 VwVfG, in Betracht. Es wäre nur konsequent, aufgrund der völkerrechtlichen Verpflichtung zur restitutio in integrum eine mitgliedstaatliche Pflicht zur Beendigung des Konventi-onsverstoßes und damit innerstaatlich eine Ermessensreduktion zur Aufhebung des konventionswidrigen Verwaltungsaktes anzunehmen.

b. Gerichtsurteil

Problematischer ist nach deutschem Recht die Möglichkeit zur Aufhebung von Ge-richtsurteilen, deren Konventionswidrigkeit festgestellt worden ist. Hier können die Rechtskraft des Urteils und die Unabhängigkeit der Justiz einer Aufhebung der kon-ventionswidrigen Urteile entgegenstehen62.

60 Vgl. hierzu Meyer-Ladewig, EMRK, Handkommentar, Baden-Baden 2003, Art. 46, Rdnr. 6 ff. m.w.N.; Okre-sek, Die Umsetzung der EGMR-Urteile und ihre Überwachung, EuGRZ 2003, S. 168, 169.

61 Vgl. Masuch, Zur fallübergreifenden Bindungswirkung von Urteilen des EGMR, NVwZ 2000, 1266 (1267).62 Vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Handkommentar, Baden-Baden 2003, Art. 46, Rdnr. 8.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 403 19.06.2004, 16:25:47

Page 33: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004404

Der deutsche Gesetzgeber hat im Jahr 1998 in der Strafprozessordnung einen spezi-fischen Wiederaufnahmegrund für den Fall der Feststellung eines Konventionsver-stoßes geschaffen. Der neue § 359 Nr. 6 StPO lautet:

„Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfah-rens zugunsten des Verurteilten ist zulässig, (…) 6. wenn der Europäische Gerichts-hof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.“

Entsprechende Wiederaufnahmeregelungen sind allerdings im Verwaltungsprozess wie in den übrigen gerichtlichen Verfahrensordnungen des deutschen Rechts nicht vorgesehen63. Dies entspricht der Betonung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit, der etwa auch dem § 79 BVerfGG zugrundeliegt, nach dem auch bei der Nichtigerklärung von Bundesrecht durch das Bundesverfassungsgericht die auf der für nichtig erklärten Norm beruhenden, unanfechtbaren Entscheidungen – bis auf Strafurteile – unberührt bleiben64. Er steht jedoch der Erfüllung der grund-sätzlichen völkerrechtlichen Verpflichtung zur Abstellung des in einem Gerichtsur-teil liegenden Konventionsverstoßes typischerweise entgegen.Dennoch sind derartige Regelungen nach der Rechtsprechung des EGMR grund-sätzlich mit den aus der Feststellung eines Konventionsverstoßes folgenden Ver-pflichtungen der Vertragsstaaten vereinbar, weil der Grundsatz der Rechtssicherheit auch Bestandteil des Konventionsrechtes ist und als solcher eine Begrenzung der Verpflichtungen der Konventionsstaaten aus einem Urteil des EGMR rechtfer-tigt65.Allerdings setzt sich zunehmend die Auffassung durch, zur optimalen Umsetzung der Verpflichtungen aus einem Urteil des EGMR seien Wiederaufnahmeverfahren im nationalen Recht für alle Fälle der Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR erforderlich und entsprechend im nationalen Recht vorzusehen66. Eine entsprechende Empfehlung hat das Ministerkomitee des Europarates abgege-ben, ebenso wird sie in einem Bericht an die Parlamentarische Versammlung aus dem Jahre 2000 vorgeschlagen. Konkrete rechtliche Maßnahmen haben sich hieraus bisher aber weder auf der Ebene des Europarates noch im nationalen deutschen Recht ergeben.

c. Rechtsnorm

Erfolgt eine durch den EGMR festgestellte Konventionsverletzung unmittelbar durch eine innerstaatliche Rechtsnorm, so folgt aus dem Feststellungsurteil die Pflicht, nicht nur den Konventionsverstoß im Einzelfall zu beenden, sondern ebenso

63 Vgl. § 153 VwGO sowie von Oertzen, in: Redeker/von Oertzen, 13. Aufl, Stuttgart u.a. 2000, § 153 VwGO.64 Zu § 79 BVerfGG vgl. Lechner/Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 4. Aufl., München 1996.65 Zusammenfassend Frowein/Peukert, Art. 53, Rdnr. 7 m.w.N., in: Frowein/Peukert, Europäische Menschen-

rechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Kehl u.a. 1996.66 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 116 f. m.w.N.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 404 19.06.2004, 16:25:48

Page 34: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

405EuR – Heft 3 – 2004

durch generelle Maßnahmen die nationale Rechtsordnung mit der Konvention in Ein-klang zu bringen, um künftige gleichartige Konventionsverstöße zu vermeiden67.Dabei kann die Beendigung des Konventionsverstoßes entweder durch eine künftige konventionskonforme Interpretation der unverändert bleibenden nationalen Bestim-mung erfolgen oder der nationale Gesetzgeber kann die beanstandete Rechtsnorm den Vorgaben der EMRK in der Auslegung des EGMR anpassen. Als generelle Maßnahmen kommen also die Änderung der Rechtsprechung oder der Verwaltungs-praxis zu Normen des nationalen Rechts oder der Erlass entsprechender Verwal-tungsvorschriften ebenso in Betracht wie ein Handeln des Gesetzgebers68.Das nationale deutsche Recht sieht für die Umsetzung von Urteilen des EGMR durch generelle Maßnahmen kein spezielles Verfahren und keine besonderen Instru-mente vor. Die Anwendung der allgemeinen Instrumente des nationalen Rechts er-folgt häufig nur zögerlich und mit erheblichem zeitlichem Abstand zur erfolgten Verurteilung, insbesondere wenn ein Handeln des Gesetzgebers erforderlich ist. In-soweit könnte möglicherweise das im Vereinigten Königreich im Jahre 2000 mit dem Human Rights Act eingeführte spezielle Gesetzgebungsverfahren für den Fall eines festgestellten Konventionsverstoßes durch eine Rechtsnorm als Vorbild für eine Verbesserung der innerstaatlichen deutschen Möglichkeiten zur Erfüllung der Verpflichtungen aus den Urteilen des EGMR dienen 69.

d. Ergebnis

Die Rechtskraftwirkung der Urteile des EGMR findet im deutschen Recht regelmä-ßig Beachtung. Allerdings ermöglicht die deutsche Rechtsordnung die Wiederauf-nahme gerichtlicher Verfahren bislang lediglich im Bereich des Strafrechts. Im Zi-vilprozess wie im Verwaltungsprozess fehlen bislang entsprechende spezifische Regelungen. Ist zur Umsetzung des Urteils ein Handeln des Gesetzgebers erforder-lich, erstreckt sich der Umsetzungsvorgang häufig über mehrere Jahre und beein-trächtigt schlicht durch seine Dauer die effektive Befolgung der aus dem Urteil er-wachsenden Verpflichtungen.

2. Orientierungswirkung

Von der vorstehend dargestellten Rechtskraftwirkung für die Parteien eines Rechts-streits nach Art. 46 EMRK ist die Orientierungswirkung der Urteile des EGMR für die anderen Mitgliedstaaten strikt zu unterscheiden.

67 Frowein/Peukert, Art. 53, Rdnr. 7 m.w.N., in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Kehl u.a. 1996; Okresek, Die Umsetzung der EGMR-Urteile und ihre Überwa-chung, EuGRZ 2003, S. 168, 170 f. m.w.N.

68 Okresek, Die Umsetzung der EGMR-Urteile und ihre Überwachung, EuGRZ 2003, S. 168, 170 f. m.w.N.69 Zum Human Rights Act, der spezifischen Situation im Vereinigten Königreich und dem speziellen Gesetzge-

bungsverfahren Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 23 f., 117, jeweils m.w.N.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 405 19.06.2004, 16:25:48

Page 35: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004406

Nur für die an einem Rechtsstreit beteiligten Parteien erwächst das Urteil des EGMR in Rechtskraft, nur diese Parteien sind zur Umsetzung des Urteils im natio-nalen Recht verpflichtet, nur ihnen gegenüber wird die Durchführung des Urteils im innerstaatlichen Bereich durch das Ministerkomitee nach Art. 46 Abs. 2 EMRK überwacht70.Für die anderen Konventionsstaaten ist damit die Entscheidung des EGMR völker-rechtlich nicht verbindlich. Auch wenn in ihrem innerstaatlichen Bereich identische Rechtsfragen und Probleme auftauchen wie in einem bereits vom EGMR entschie-denen Fall, sind sie berechtigt, diese Fragen so lange abweichend von der Rechtspre-chung des EGMR zu entscheiden, wie nicht ihnen gegenüber ein Urteil ergangen ist, dessen Rechtskraft sich auf sie erstreckt.Hierin besteht eines der Kernprobleme der Durchsetzung und tatsächlichen Geltung der EMRK in allen Konventionsstaaten, eine der Hauptursachen für die auch nach der Reform des Rechtsprechungssystems der EMRK durch das 11. Zusatzprotokoll bereits wieder festzustellende Überlastung des EGMR und gleichzeitig einer der Schwerpunkte der Reformdiskussionen über die erforderlichen Veränderungen der EMRK für die Zukunft 71. Durch die nur eng begrenzte Rechtskraft der Entschei-dungen des EGMR hat dieser Gerichtshof teilweise in einer Vielzahl von Rechts-streitigkeiten über identische Rechtsfragen zu entscheiden oder anders formuliert: bei allgemeiner Geltung der Urteile könnte eine Vielzahl von Verfahren vermieden werden.Natürlich sind die Urteile des EGMR auch für die nicht an einem konkreten Verfah-ren beteiligten Konventionsstaaten nicht völlig bedeutungslos, sondern besitzen eine erhebliche so genannte Orientierungswirkung. Diese Orientierungswirkung folgt zum einen daraus, dass der EGMR nach Art. 32 EMRK für die autoritative Ausle-gung und Anwendung der EMRK zuständig ist, und zum anderen daraus, dass in aller Regel der EGMR auch in künftigen Fällen und damit auch in einem Verfahren gegen andere Konventionsstaaten seine einmal vorgenommene Auslegung und An-wendung der EMRK fortführen wird72. Diese Orientierungswirkung steht aber rechtlich einer abweichenden Auslegung und Anwendung der EMRK durch einen Vertragsstaat, der nicht am jeweiligen Verfahren vor dem EGMR beteiligt war, in keiner Weise entgegen.Die Orientierungswirkung der Urteile des EGMR über die Parteien eines Rechts-streites hinaus wird zwar im deutschen Recht grundsätzlich anerkannt. Dennoch ist der Umgang der Rechtsprechung mit Urteilen des EGMR teilweise durchaus proble-matisch, und auch der Gesetzgeber nimmt die Orientierungsfunktion von Urteilen des EGMR nur eher zurückhaltend zur Kenntnis.

70 Okresek, Die Umsetzung der EGMR-Urteile und ihre Überwachung, EuGRZ 2003, S. 168, 169.71 Vgl. Reformheft der EuGRZ vom 30. April 2003 (30. Jg. Heft 4-6, S. 93 ff).72 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 117 f. m.w.N.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 406 19.06.2004, 16:25:48

Page 36: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

407EuR – Heft 3 – 2004

a. Grundsätzliche Anerkennung der Orientierungsfunktion

Nachdem die deutschen Gerichte aller Gerichtsbarkeiten zunächst erhebliche Pro-bleme mit der Einordnung der Auswirkungen einer ständigen Rechtsprechung des EGMR auf das deutsche Recht hatten, hat sich seit Ende der 90er Jahre des vergan-genen Jahrhunderts die Erkenntnis weitgehend durchgesetzt, dass die Auslegung der EMRK durch den EGMR auch von den deutschen Gerichten grundsätzlich zu be-achten ist.Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Urteil aus dem Dezember 1999 zur Entscheidung im Normenkontrollverfahren ohne mündliche Verhandlung klarge-stellt, dass eine neuere und gefestigte Rechtsprechung des EGMR von deutschen Gerichten bei der Auslegung der EMRK „vorrangig zu beachten ist“73. Dies folge aus dem besonderen Charakter der Konvention als Menschenrechtsvertrag, der den Rechtsunterworfenen im innerstaatlichen Rechtsraum aller Vertragsstaaten be-stimmte Grundrechte gegenüber der jeweils eigenen Staatsgewalt gewährleiste. Ein Gericht, das von einer gefestigten Auslegung durch den EGMR abweichen wolle, trage die Argumentationslast dafür, dass der eigene Standpunkt die entscheidend besseren Gründe für sich habe74.Noch weitergehend hat das Bundesverwaltungsgericht im Juli 2001 – wiederum in einem Verfahren über die notwendige mündliche Verhandlung im verwaltungsge-richtlichen Normenkontrollverfahren – entschieden:

Das Normenkontrollgericht ist (…) verpflichtet, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK mit dem Inhalt, den die Vorschrift in der Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gefunden hat, vorrangig zu beachten. Der Auslegung des Art. 6 Abs. 1 EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kann unter bestimmten Voraussetzungen über den entschiedenen Einzelfall hinaus eine norma-tive Leitfunktion beigemessen werden, an der sich die Vertragsstaaten zu orientieren haben. Lässt sich auf Grund einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs eine verallgemeinerungsfähige und allgemeine Gültigkeit beanspruchende Auslegung einer Konventionsbestimmung feststellen, haben die deutschen (Verwaltungs-)Ge-richte dem vorrangig Rechnung zu tragen.75

Damit wird im Grundsatz die für die umfassende Verwirklichung der Garantien der EMRK besonders wichtige Orientierungsfunktion der Urteile des EGMR für die Auslegung der EMRK von den deutschen Gerichten anerkannt und beachtet, so dass die autoritative Auslegung der EMRK durch den EGMR fall- und mitgliedstaats-übergreifende Wirkung entfalten kann.

73 BVerwG, NVwZ 2000, S. 810.74 Vgl. hierzu Masuch, Zur fallübergreifenden Bindungswirkung von Urteilen des EGMR, NVwZ 2000, S. 1266,

1267 m.w.N.75 BVerwG, NVwZ 2002, 87.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 407 19.06.2004, 16:25:48

Page 37: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004408

b. Abweichung: Nichtstaatliche Verfolgung

Diese Feststellung gilt allerdings nicht uneingeschränkt: Der 9. Senat des BVerwG etwa geht seit Oktober 1995 bei der Bestimmung der Reichweite von Art. 3 EMRK eigene und vom EGMR abweichende Wege76. Er distanziert sich ausdrücklich von Urteilen des EGMR, wonach der Schutz vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen nicht davon abhängt, ob die im Heimatstaat drohende unmenschliche oder erniedri-gende Behandlung auf einen Staat zurückzuführen ist77. Diese Auslegung lasse die als Verfassungsentscheidung geschützte Souveränität des nationalen Gesetzgebers und des Verfassungsgesetzgebers außer Acht, selbst über die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung im eigenen Hoheitsbereich und damit auch über die Aufnahme von Flüchtlingen und die Grenzen der Belastbarkeit frei entscheiden zu können. Der EGMR habe keine Kompetenz zur umfassenden dynamischen und rechtsschöpferi-schen Fortentwicklung des Vertragsinhalts der EMRK durch Auslegung78.Im Einzelnen hat der 9. Senat des BVerwG hierzu ausgeführt:

Der Senat sieht sich schließlich zu einer Änderung seiner Rechtsprechung nicht im Hinblick auf das erwähnte Urteil des EGMR vom 17. Dezember 1996 in der Sache Ahmed gegen Österreich veranlasst. In dieser Entscheidung hat der Gerichtshof al-lerdings unter Nr. 45 und Nr. 46 der Gründe ausgeführt, der Beschwerdeführer kön-ne nicht nach Somalia zurückkehren, ohne Gefahr zu laufen, einer Behandlung aus-gesetzt zu sein, die mit Art. 3 EMRK unvereinbar sei; dem stehe angesichts des abso-luten Charakters von Art. 3 EMRK auch nicht die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers oder das Fehlen jeglicher staatlicher Gewalt in Somalia entge-gen. (…)

Selbst wenn aber die Entscheidung des Gerichtshofs dahin zu verstehen sein sollte, dass Art. 3 EMRK bei der Beurteilung von Auslandsfolgen aufenthaltsbeendender Maßnahmen weder ein staatliches noch ein quasistaatliches Handeln verlangt, könnte der Senat dieser Rechtsprechung (…) nicht folgen. Der Oberbundesanwalt hat zutreffend ausgeführt, dass die Entscheidung insoweit keine rechtliche Bindungs-wirkung über den Kreis der am Verfahren unmittelbar Beteiligten und über den ent-schiedenen Einzelfall hinaus entfaltet (vgl. insbesondere Ress, in: Maier, Europäi-scher Menschenrechtsschutz, 1982, S. 247 ff., 250 ff. und EuGRZ 1996, 350 ff. m.w.N.). Auch der von der Revision angeführte Grundsatz der völkerrechtsfreundli-chen Auslegung gebietet lediglich eine Orientierung an dem aus der internationalen Rechtsordnung gewonnenen Auslegungsergebnis, gibt aber keine Handhabe dafür, Völkervertragsrecht über den Vertragsinhalt hinaus ausdehnend zu interpretieren.

76 Zusammenfassend Masuch, Zur fallübergreifenden Bindungswirkung von Urteilen des EGMR, NVwZ 2000, S. 1266 m.w.N.

77 EGMR, NVwZ 1997, 1100 – Fall Ahmed; NVwZ 1998, 163 – Fall H.L.R.; NVwZ 1998, 161 – Fall D.; ebenso u.a. Frowein, DÖV 1998, 806 (810); Gusy, ZAR 1993, 63 (66).

78 BVerwGE 104, 265, 272 f.; vgl. auch BVerwGE 105, 187.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 408 19.06.2004, 16:25:49

Page 38: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

409EuR – Heft 3 – 2004

Diese autonome und von der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des EGMR abweichende Konventionsauslegung durch das Bundesverwaltungsgericht, die das Gericht in weiteren Entscheidungen fortgeführt hat, ist zwar auf erhebliche Kritik gestoßen79. Sie ist aber aus völkerrechtlicher Perspektive wie aus der Perspektive des nationalen deutschen Rechts ungeachtet des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung und der völkerrechts-freundlichen Auslegung nationalen Rechts jedenfalls nicht rechtswidrig, da die Ur-teile des EGMR nicht gegen die Bundesrepublik Deutschland ergangen sind und deshalb eine formelle Rechtskraft der Entscheidungen nicht eingetreten ist.Die Probleme, die hieraus für eine einheitliche Grundrechtsgeltung, für eine einheit-liche Geltung der EMRK in Europa resultieren, liegen auf der Hand.

c. Überlange Verfahrensdauer – Fall Kudla

Ein weiteres Beispiel für den problematischen Umgang Deutschlands mit der einzel-fall- und parteiübergreifenden Orientierungswirkung der Urteile des EGMR ist die Entscheidung des EGMR im Fall Kudla/Polen.Der EGMR hat mit Urteil vom 26.10.2000 (Kudla/Polen) in Abweichung von seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass das in Art. 13 EMRK geregelte Recht auf wirksame Beschwerde neben Art. 6 Absatz 1 EMRK, also neben dem Recht auf ein faires Verfahren, verletzt sein kann, wenn der Beschwerdeführer eine überlange Verfahrensdauer rügt.Bisher hatte der EGMR angenommen, Art. 6 EMRK sei im Verhältnis zu Art. 13 EMRK lex specialis. Künftig wird Artikel 13 EMRK dahin verstanden, dass er ei-nen wirksamen Rechtsbehelf im nationalen Recht auch für den Fall verlangt, dass der Beschwerdeführer innerstaatlich eine Verletzung von Art. 6 EMRK wegen un-angemessener Dauer eines gerichtlichen Verfahrens rügen will.Nach der Rechtsprechung des EGMR garantiert Art. 13 EMRK eine innerstaatliche Beschwerde zur Durchsetzung der Rechte und Freiheiten der Konvention, in wel-cher Form auch immer sie in der innerstaatlichen Rechtsordnung gewährleistet ist. Selbst wenn eine einzelne Beschwerde für sich genommen die Anforderungen von Art. 13 EMRK nicht erfüllt, kann den Anforderungen dieser Konventionsbestim-mung durch das Zusammenwirken mehrerer vom staatlichen Recht vorgesehener Rechtsbehelfe hinreichend Rechnung getragen werden. Die Beschwerde (oder das Zusammenwirken mehrerer Rechtsbehelfe) muss allerdings „wirksam“ in dem Sin-ne sein, dass angemessene Abhilfe gewährleistet wird, und zwar entweder präventiv (beschleunigend) oder in Form einer angemessenen Entschädigung (für schon ein-getretene Verzögerungen).Die im Hinblick auf diese neuere Rechtsprechung des EGMR problematische deut-sche Rechtslage stellt sich wie folgt dar: Einen ausdrücklichen Rechtsbehelf zur Rü-

79 Vgl. nur Frowein, Der europäische Grundrechtsschutz und die deutsche Rechtsordnung, NVwZ 2002, S. 29, 32 f. m.w.N.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 409 19.06.2004, 16:25:49

Page 39: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004410

ge überlanger Verfahrensdauer gibt es im deutschen Recht nicht. Auch eine Rege-lung, die dem Beschwerdeführer eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrens-dauer zuspricht, ist in den deutschen gerichtlichen Verfahrensordnungen nicht vorgesehen. Ob die nach deutschem Recht vorgesehenen sonstigen Rechtsbehelfe (z.B. Dienstaufsichtsbeschwerde, Erinnerung, Befangenheitsantrag, Verfassungsbe-schwerde, Rechtsmittelverfahren mit Kompensationsmöglichkeit [Strafmilderung bzw. Verfahrenshindernis wie im deutschen Strafprozess anerkannt]) den Anforde-rungen an die Rechtsprechung des EGMR genügen, bleibt sehr zweifelhaft80.Welche Konsequenzen hat nun die Bundesrepublik Deutschland aus dieser neueren Rechtsprechung des EGMR aufgrund der Orientierungswirkung des Urteils gezo-gen?Das BMJ hat aufgrund des Urteils Kudla bei den Landesjustizverwaltungen, beim Geschäftsbereich des BMJ und bei den Justizverbänden eine Umfrage zum gesetz-geberischen Handlungsbedarf bei Verfahrensverzögerungen durchgeführt. Als Er-gebnis dieser Umfrage haben die Befragten gegen einen neuen Rechtsbehelf im Wesentlichen eingewandt, dass die vorhandenen Rechtsbehelfe ausreichende präven-tive bzw. kompensatorische Wirkung aufwiesen; darüber hinaus wird ein Bedürfnis mangels Vorkommens von überlangen Verfahren und diesbezüglicher Untätigkeits-rügen verneint; es wird ferner die Gefahr eines Missbrauchs sowie einer weiteren Verzögerung durch ein zusätzliches Verfahren gesehen.Daraufhin hat das BMJ eine Untersuchung der Rechtsbehelfssysteme anderer Kon-ventionsstaaten für den Fall überlanger Verfahrensdauer vorgenommen und letztlich aus Gründen der Rechtsklarheit und insbesondere der Prävention empfohlen, aus dem Urteil des EGMR Konsequenzen zu ziehen und einen entsprechenden Rechts-behelf zu schaffen, der es erlaubt, überlange Verfahrensdauer zu rügen.Aus diesem Vorschlag sind aber bis Mitte 2003 keinerlei weitere Konsequenzen ge-zogen worden, bis am 30. April 2003 das Plenum des deutschen Bundesverfassungs-gericht auf eine Vorlage des Ersten Senates entschieden hat, dass es gegen das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG ver-stößt, wenn eine fachgerichtliche Verfahrensordnung keine Abhilfemöglichkeit für eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vorsieht 81. Erst aus diesem Anlass und in diesem Zusammenhang ist nunmehr im BMJ erneut der Vorschlag zur Einführung eines Rechtsbehelfs zur Rüge überlanger Verfahrensdauer aufge-griffen worden – die Orientierungsfunktion der Urteile des EGMR allein hat zu ei-ner tatsächlichen Umsetzung nicht ausgereicht.

80 Exemplarisch sei insbesondere auf zwei problematische Konstellationen verwiesen: (1) StPO: Fälle, bei denen nach überlanger Verfahrensdauer ein Freispruch folgt; bei vermeidbaren Verfahrensverzögerungen nimmt die höchstrichterliche Rechtsprechung entweder einen Strafmilderungsgrund oder ein Verfahrenshindernis an; eine Kompensation des Verstoßes scheidet bei beiden Lösungen aus; (2) ZPO: Die außerordentliche Be-schwerde, die früher bei Untätigkeit des Gerichts für zulässig erachtet wurde, ist nach dem BGH-Beschluss vom 7.3.2002 nunmehr wegen der Neuregelung der §§ 574 I, 321a, 543 II Nr.1 ZPO unzulässig.

81 BVerfG vom 30.4.2003: NJW 2003, 1924; hierzu auch Vosskuhle, Bruch mit einem Dogma: Die Verfassung garantiert Rechtsschutz gegen den Richter, NJW 2003, 2193 ff. sowie Pache/Knauff, Zur Notwendigkeit fach-gerichtlicher Überprüfung der Verletzung rechtlichen Gehörs (in Veröffentlichung).

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 410 19.06.2004, 16:25:49

Page 40: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

411EuR – Heft 3 – 2004

VI. Rechtsprechung zur EMRK

Nach diesen eher abstrakten Überlegungen zur Stellung und Bedeutung der EMRK im deutschen Recht noch eine kurze statistische Auswertung der realen Bereiche und Problemfelder, in denen Bestimmungen der EMRK im Zeitraum 2001-2003 in der Rechtsprechung eine Rolle gespielt haben.

1. Deutsche Gerichte zur EMRK

Zunächst zum innerstaatlichen deutschen Recht: Eine Juris-Abfrage für die drei Jah-re 2001 bis 2003 ergibt, dass Normen der EMRK vom Bundesverwaltungsgericht in 19 von Juris erfassten Entscheidungen angewendet worden sind. Es handelt sich im Wesentlichen um Entscheidungen aus dem Ausländer- und Asylrecht, zum Eigen-tumsschutz, zum Disziplinarrecht, zur Sozialhilfe, zur Einbürgerung und immer wieder zum Prozessrecht, spezifisch zur Frage der Erforderlichkeit einer mündli-chen Verhandlung im verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren und im vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130 a VwGO.Das Bundesverfassungsgericht hat sich im selben Zeitraum in 16 Entscheidungen, die vor allem das faire Verfahren im Strafprozess sowie das Ausländerrecht betra-fen, auf die EMRK berufen sowie auch im sogenannten Kopftuchstreit die Bestim-mungen der EMRK herangezogen. In der gesamten Verwaltungsgerichtsbarkeit wurden in den letzten drei Jahren 72 in Juris erfasste Entscheidungen auf Normen der EMRK gestützt, bei denen es sich fast ausschließlich um ausländerrechtliche Judikate handelt. Schließlich führt Juris für alle deutschen Gerichte für den Zeit-raum 2001 bis Anfang September 2003 297 Entscheidungen mit Bezug zur EMRK auf.Betrachtet man diese durchaus ansehnlichen Verfahrenszahlen und berücksichtigt zusätzlich, dass eine Vielzahl weiterer Entscheidungen mit EMRK-Bezug überhaupt nicht veröffentlicht und deshalb auch nicht von Juris erfasst wird, so lässt sich jeden-falls feststellen, dass die EMRK mittlerweile vor den deutschen Gerichten heimisch geworden ist82.

2. EGMR zum deutschen Recht

Auf der Ebene des EGMR sind demgegenüber in den letzten 3 Jahren, also im Zeit-raum 2001 bis 2003, 37 Entscheidungen in Verfahren mit der Bundesrepublik Deutschland als Beklagter ergangen. Hier lassen sich keine eindeutigen oder spekta-kulären Entscheidungsschwerpunkte ausmachen, die Urteile betrafen unterschiedli-che Bereiche der deutschen Rechtsordnung und des Grundrechtsschutzes der EMRK.

82 So Klein, Schutz der Grund- und Menschenrechte durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit, LKV 2003, S. 74, 76 m.w.N.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 411 19.06.2004, 16:25:49

Page 41: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004412

Zu nennen sind Urteile des EGMR wegen der Zulässigkeit der strafrechtlichen Ver-folgung von Mitgliedern des Politbüros der ehemaligen DDR wegen gezielter Todes-schüsse an der innerdeutschen Grenze83, zum Ausschluss der deutschen Gerichts-barkeit für Klagen auf Reparationsleistungen wegen Enteignungen durch die Besat-zungsmächte nach dem Zweiten Weltkrieg84, zum Umgangsregelungsverfahren für nichteheliche Väter nach dem alten deutschen Recht85, zum fairen Verfahren im Strafprozess bei Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes allein auf-grund einer außerhalb der Hauptverhandlung erfolgten Aussage der einzigen kindli-chen Zeugin86, zur berufsrechtlichen Verwarnung eines Rechtsanwalts wegen Ver-unglimpfung von Justizpersonen87, die Rückauflassung von Bodenreformland an ein neues Bundesland der Bundesrepublik Deutschland88 oder die Überprüfung des deutschen berufsrechtlichen Werbeverbotes für Ärzte89. Die jüngsten Entscheidungen des EGMR vom 12.6.2003 betreffen abermals Um-gangsregelungen nichtehelicher Väter und das Erfordernis eines fairen und vorur-teilsfreien Verfahrens im Zivilprozess bei der Frage der Kostenerstattung einer Ge-schlechtsumwandlung eines Transsexuellen durch die private Krankenkasse.90

Insgesamt lässt sich damit feststellen, dass– zwar keine eindeutigen Problemschwerpunkte der deutschen Rechtsordnung aus-

zumachen sind (sieht man von der Dauerfrage der Verwaltungsgerichtsbarkeit nach der Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung ab),

– dass aber durch die Rechtsprechung des EGMR eine kontinuierliche punktuelle Weiterentwicklung und europäische Harmonisierung des Grundrechtsschutzes auch in Deutschland erfolgt.

VII. EMRK und Europäische Verfassung

Zusätzliche ganz zentrale Bedeutung für den Grundrechtsschutz in Europa speziell im Rahmen der EU – über die bisherige Bedeutung als wesentliche Rechtserkennt-nisquelle für die Gemeinschaftsgrundrechte hinaus – soll die EMRK im Zusam-menhang mit dem vorliegenden Entwurf eines Vertrages für die Verfassung der EU gewinnen, der zum einen die Einschränkbarkeit der Grundrechte der EU nur nach Maßgabe der Schrankenregelungen der EMRK zulassen und zum anderen den Bei-tritt der EU zur EMRK ausdrücklich ermöglichen soll.

83 EGMR 22.03.2001, NJW 2001, 3035.84 EGMR 12.07.2001, NJW 2003, 649.85 EGMR 11.10.2001, FamRZ 2002, 381.86 EGMR 20.12.2001, StraFo 2002, 123.87 EGMR 21.03.2002, NJW 2003, 877.88 EGMR 25.04.2002, ZOV 2002, 272.89 EGMR 17.10.2002, NJW 2003, 497.90 Nachzulesen in der EGMR- Datenbank: www.echr.coe.int/EngJudgments.htm.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 412 19.06.2004, 16:25:50

Page 42: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

413EuR – Heft 3 – 2004

1. Die Schrankenregelung des Verfassungsentwurfs

Der Konventsentwurf eines Verfassungsvertrages sieht die rechtsverbindliche Inte-gration der bislang rechtlich unverbindlichen EU-Grundrechtscharta91 in die zu-künftige EU- Verfassung als deren Teil II vor. Damit soll auch die Schrankenrege-lung der EU-Grundrechtscharta Teil der Verfassung der EU werden. Diese generelle Schrankenregelung für die europäischen Grundrechte soll Art. II-52 des Verfas-sungsentwurfes enthalten.Nach Art. II-52 Absatz I des Verfassungsentwurfs können die in der Charta nieder-gelegten Rechte beschränkt werden, wenn dies gesetzlich vorgesehen ist, der We-sensgehalt des Grundrechts nicht verletzt wird und dem Verhältnismäßigkeitsprin-zip entsprochen wird. Sie stehen also unter einem generellen, sehr allgemein gefass-ten und die Spezifika einzelner Grundrechte in keiner Weise berücksichtigenden Schrankenvorbehalt. Jedoch bestimmt Art. II-52 Abs. III des Entwurfs, dass die Grundrechte der Charta, die den in der EMRK garantierten Rechten entsprechen, „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie die Rechte der EMRK haben sollen. Durch diese Regelung der Unionsverfassung gewinnen die Grundrechte der EMRK und insbesondere die in der EMRK enthaltenen spezifischen und ausdifferenzierten Schrankenregelungen unmittelbare rechtliche Bedeutung für die Einschränkbarkeit der Grundrechte der europäischen Verfassung92, die Bedeutung und Tragweite der Rechte der EMRK – scilicet nach dem Stand der Rechtsprechung des EGMR – be-stimmen auch den Schutzumfang der Gemeinschaftsgrundrechte93 und können so im Gemeinschaftsrecht wie über das Gemeinschaftsrecht in den nationalen Rechts-ordnungen der Mitgliedstaaten der EU ganz neue rechtliche Wirkungen entfalten.

2. Beitritt der EU zur EMRK

Nach Artikel I-7 Absatz 2 Satz 1 des Verfassungsentwurfes strebt die Europäische Union den Beitritt zur EMRK an. Mit dieser Bestimmung des Verfassungsentwur-fes wird dem Gutachten 2/94 des EuGH94 Rechnung getragen und nunmehr eine ausdrückliche Kompetenz der EU zum Beitritt zur EMRK an prominenter Stelle in der Unionsverfassung verankert. Damit besteht die Möglichkeit eines Beitritts der EU zur EMRK, um die EU einer externen Grundrechtsbindung und -kontrolle zu unterwerfen und dem Bürger vergleichbare Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Hand-

91 Zu den ungeachtet der unmittelbaren rechtlichen Unverbindlichkeit anzunehmenden mittelbaren bisherigen Rechtswirkungen der EU-Grundrechtscharta vgl. nur Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, EuGRZ 2000, 511 (515).

92 Kritisch zu den fehlenden grundrechtsspezifischen Schrankenregelungen der EU-Grundrechtscharta und mit ihr des Verfassungsentwurfes sowie zur Heranziehung der Schranken der EMRK bei der Kodifikation der Unionsgrundrechte etwa Pache, Die Europäische Grundrechtscharta- ein Rückschritt für den Grundrechts-schutz in Europa?, EuR 2001, 475 ff.

93 Gemeinsam mit Artikel II-53 beinhaltet die Schrankenregelung ein grundrechtliches Harmonisierungsgebot im Sinne eines „doppelten Günstigkeitsvergleichs, vgl. Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte der Euro-päischen Union, DVBl. 2001, S. 10 f.

94 EuGHE 1996, I- 1795 ff Gutachten 2/94.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 413 19.06.2004, 16:25:50

Page 43: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004414

lungen der EU wie gegen Rechtsverletzungen der einzelnen Mitgliedsstaaten einzu-räumen.95 Zugleich kann eine unterschiedliche Auslegungspraxis der beiden euro-päischen Gerichtshöfe EuGH und EGMR zu parallelen Grundrechtsgarantien durch den Beitritt der EU zur EMRK möglicherweise vermieden werden, da nach Er-schöpfung des Rechtsweges innerhalb der EU gegebenenfalls der EGMR angerufen werden könnte. Der EuGH würde insoweit mit den nationalen Gerichten gleichge-stellt 96.Durch den Beitritt kann darüber hinaus ein „politisches Zeichen“ für die Kohärenz zwischen der Union und dem größeren Europa gesetzt 97 und eine harmonische Ent-wicklung der Rechtsprechung beider Gerichte, insbesondere durch Teilnahme eines Richters des EuGH beim EGMR, ermöglicht werden 98. Dem stünde keineswegs die teilweise befürchtete „Subordination“ des EuGH unter den EGMR entgegen, denn zum einen reichte diese nicht weiter als die bereits bislang bestehenden Kontrollbe-fugnisse des EGMR gegenüber nationalen Gerichten, zum anderen würde nicht et-wa ein Instanzenzug vom EuGH zum EGMR geschaffen, sondern der EGMR besä-ße lediglich beschränkte Kontrollbefugnisse im Hinblick auf den geringen Bruchteil von Fällen aus der Judikatur des EuGH, die einen Grundrechtsbezug aufweisen.99

Im Bereich der EMRK bedürfte es der Lösung der EMRK-Mitgliedschaft vom Er-fordernis der Mitgliedschaft einer Vertragspartei im Europarat (Artikel 59 I 1 EMRK), die nach Art. 4 der Satzung des Europarates Staaten vorbehalten und daher der EU nicht eröffnet ist. Ferner müssten institutionelle Fragen der Vertretung der Union im Ministerkomitee gelöst werden, die jedoch keine größeren Probleme auf-werfen dürften.

VIII. Fazit

Die EMRK besitzt für die deutsche Rechtsordnung mehrfache grundlegende grund-rechtliche Bedeutung: Sie ist deutlich erkennbarer Ausdruck der Achtung Deutsch-lands vor unverzichtbaren Grund- und Menschenrechten auf nationaler wie auf in-ternationaler Ebene und zugleich seiner Bereitschaft, die Achtung dieser Rechte im deutschen innerstaatlichen Bereich externer, internationaler Kontrolle zu unterwer-fen. Sie ist Symbol der Zugehörigkeit Deutschlands zur europäischen Grundrechts-gemeinschaft, die über die EU hinausgreift und als Wertegemeinschaft die 45 Staa-ten des Europarates materiell-inhaltlich verbindet. Zugleich ist sie für den einzelnen Bürger und für den Einzelfall Garant individueller Grundrechte und individueller

95 Spezifische Probleme hinsichtlich der Unabhängigkeit des EGMR sieht Engel in: Unabhängigkeit des EGMR als Voraussetzung für den Beitritt der Union zur EMRK, EuGRZ 2003, 388.

96 Alber/Widmaier, Die EU- Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2000, S. 505.

97 Weber, Einheit und Vielfalt der europäischen Grundrechtsordnung(en), DVBl 2003, 220 (226).98 WG II 16, Conv 354/02, S. 12.99 Alber/Widmaier, S. 506.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 414 19.06.2004, 16:25:50

Page 44: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

415EuR – Heft 3 – 2004

Rechtsschutzmöglichkeiten, die die nationalen Rechte und Verfahren ergänzen und absichern können.All diese Funktionen könnte die EMRK im Falle eines Beitritts der EU auch auf EU-Ebene erfüllen. Ein solcher Beitritt läge um so näher, als über die in die Unions-verfassung integrierte Schrankenbestimmung der EU-Grundrechtscharta für Be-deutung und Tragweite der Grundrechte der EU eh die Grundrechte der EMRK maßgeblich sein sollen, soweit diese den Gemeinschaftsgrundrechten entsprechen. Hier kann und sollte der Beitritt der EU zur EMRK endlich ein politisches Signal für mehr formale und inhaltliche Kohärenz im europäischen Grundrechtsschutz ge-ben und zugleich die rechtlichen Voraussetzungen für eine intensivere Integration und Verzahnung der europäischen Grundrechtsschutzsysteme schaffen.

Pache, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Rechtsordnung

Layout_Heft 3.indd 415 19.06.2004, 16:25:50

Page 45: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004416

Die Grundfreiheiten im Spannungsfeld von europäischer Marktfreiheit und mitgliedstaatlichen Gestaltungskompetenzen*

Von Claus Dieter Classen, Greifswald

I. Einführung

In einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Gesellschaft weisen viele Lebenssach-verhalte wirtschaftliche Aspekte auf. Tritt ein grenzüberschreitender Bezug hinzu1, erhebt sich die Frage nach der Anwendbarkeit der Grundfreiheiten des EG-Vertra-ges. Wird diese bejaht, kann sich die Gestaltungskompetenz eines Mitgliedstaates nur nach Maßgabe europarechtlicher Vorgaben entfalten. Waren-, Personen-, Dienst-leistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit drohen daher, sich zu einem umfassenden Prüfungsmaßstab für alle nationalen Regelungen zu entwickeln, die irgend etwas mit wirtschaftlicher Betätigung zu tun haben, soweit diese auch auf einen Fall mit Auslandsbezug Anwendung finden. Wegen des wirtschaftsrechtlichen Charakters der Grundfreiheiten könnten ökonomische Gesichtspunkte die Betrachtung domi-nieren, dass die Spezifika der jeweiligen Lebensbereiche nicht mehr hinreichend zum Tragen kommen. Kompetenzrechtlich kommt die Frage hinzu, inwieweit die Mitgliedstaaten bestimmte Politikbereiche eigenständig gestalten können2. Im Lichte eines weitgefassten Binnenmarktleitbildes könnte man zwar daran den-ken, dass für dessen Verwirklichung eine möglichst großzügige Interpretation der Grundfreiheiten einen wichtigen Beitrag leistet3. Die Binnenmarktidee wäre jedoch missverstanden, wenn man sie allein auf möglichst freies Wirtschaften, möglichst freies Leben in der Europäischen Union bezieht. Die Zuständigkeiten der Mitglied-staaten für viele Lebensbereiche wäre ebenso verkannt wie der systematische Unter-schied von Grundfreiheiten und Grundrechten, der sich vor allem daran zeigt, dass die Grundfreiheiten anders als die Grundrechte, die nur im – anderweitig definier-ten – Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts zum Tragen kommen4, auf alle tatbestandlich von ihnen erfassten Lebensbereiche Anwendung finden. Auch für die erwähnte Beschränkung der Grundfreiheiten auf Sachverhalte mit Auslandsbezug gäbe es keinen sachlichen Grund, wenn diese allein darauf ausgelegt wären, dem

* Die Abhandlung beruht teilweise auf einem Vortrag, der im Rahmen der Ringvorlesung „Gemeinwohlorientie-rung in Staat, Recht und Wirtschaft“ aus Anlass des 10jährigen Bestehens der Rechts- und Staatswissenschaft-lichen Fakultät der Universität Greifswald am 7. Juli 2003 gehalten wurde.

1 Zu dieser Voraussetzung der Anwendung der Grundfreiheiten etwa EuGH, Slg. 1991, I-1979 (2020), Rs. C-41/90 – Höfner und Elser; Slg. 1997, I-195 (210), Rs. C-134/95 – USSL.

2 Dazu Roth, in: Andenas/Roth (Hrsg.), Services and Free Movement in EU Law, 2002, 1 (7); Bernard, ICLQ 1996, 82; Epiney, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2002, § 7 Rn. 84; Kin-green, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, § 16, 99 ff., 147 ff.

3 So etwa Tietje, in: Ehlers (Fn. 2), § 10, Rn. 55; Pache, ebd., § 11, Rn. 52; Lackhoff, Die Niederlassungsfreiheit des EGV, 2000, S. 438 ff.; v. Wilmowsky, EuR 1996, 362 ff.; kritisch Bernard, ICLQ 1996, 82 (104); da Cruz Vilaça, in: Andenas/Roth (Fn. 2), S. 25 (34).

4 Dazu etwa Ehlers, in: ders. (Fn. 2), § 13, Rn. 30; Cirkel, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemein-schaftsgrundrechte, 2000.

Layout_Heft 3.indd 416 19.06.2004, 16:25:51

Page 46: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

417EuR – Heft 3 – 2004

Einzelnen möglichst umfassende Freiräume zu garantieren. Da tatbestandsbezogene Bereichsausnahmen nicht die notwendigen Differenzierungen gestatten, verbleiben Beschränkungsbegriff (II. und III.) und Rechtfertigung (IV.) als Anknüpfungspunk-te für die Frage nach Grenzen der Grundfreiheiten.

II. Beschränkungsbegriff I: Spezifisch den grenzüberschreitenden Verkehr behindernde Maßnahmen

1. Das Problem

Eine zentrale Frage beim Verständnis des bei allen Grundfreiheiten relevanten Be-schränkungsbegriffs hat – für den Warenverkehr – Generalanwalt Tesauro in sei-nem Schlussantrag zur Rechtssache Hünermund formuliert: Geht es (allein) um „die Liberalisierung des innergemeinschaftlichen Handels oder (sollen die Grundfreihei-ten) allgemein die freie Ausübung der Handelstätigkeit in den Mitgliedstaaten för-dern?“5 In der Literatur herrscht zwar zu Recht die Ansicht vor, dass die Frage für alle Grundfreiheiten im letzteren Sinne zu beantworten ist6. Konkret ist damit die Möglichkeit gemeint, auf dem Markt eines anderen Mitgliedstaates tätig sein zu können. Gewährleistet sein müssen hierfür (allein) die Möglichkeit, den eigenen Markt verlassen und den fremden betreten zu können und zwar zu fairen Marktbe-dingungen, also solchen, wie sie Inländer bzw. inländische Wirtschaftsgüter vorfin-den7. In der Rechtsprechung des Gerichtshofes schlägt sich dies bisher allerdings nur be-grenzt nieder; das transnationale Element droht „marginalisiert“ zu werden8. Mit Blick auf Art. 28 EGV wurde zwar zunächst im Dassonville-Urteil der Begriff der Beschränkung äußerst großzügig definiert9, später aber mit der Keck-Rechtspre-chung ein im Grundsatz praktikables Kriterium zu dessen „binnenmarktgerechter“ Eingrenzung entwickelt10. Bei den anderen Grundfreiheiten hat der EuGH dagegen bislang nur den ersten Schritt, eine weite Interpretation des Beschränkungsbegriffs, getan. So werden als Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit alle Maßnahmen angesehen, die geeignet sind, die Tätigkeit des Dienstleistenden, der in einem ande-ren Mitgliedstaat ansässig ist und dort rechtmäßig ähnliche Dienstleistungen er-bringt, zu unterbinden oder zu beschränken11. Noch lapidarer heißt es zur Niederlas-

5 EuGH, Slg. 1993, I-6787 (6800), Rs. C-292/92.6 So allgemein Müller-Graff, in: Hatje (Hrsg.), Das Binnenmarktrecht als Daueraufgabe, 2002, S. 36, 56; Eil-

mannsberger, JBl. 1999, 345 (354, 356 f.); Kingreen (Fn. 2), S. 111; für Art. 28 EGV auch Roth, FS Großfeld, S. 929 (942); für Art. 43 EGV auch Hatje, Jura 2003, 160 (166); a. A. aber die Fn. 3 genannten Autoren.

7 Hierzu Roth, FS Großfeld, 929 (944); Jarass, FS Everling, 593 (599); Chalmers, ELR 1994, 385 (397); Streinz, FS Rudolf, S. 199 (210).

8 Hatzopoulos, CMLR 2000, 43 (58); ähnlich Kingreen, Grundfreiheiten, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 631 (660).

9 EuGH, Slg. 1974, 837 (852), Rs. 8/74 – Dassonville.10 Slg. 1993, I-6097 (6131), Rs. C-267/91 – Keck; Slg. 1993, I-6787 (6823), Rs. C-292/92 – Hünermund.11 EuGH, Slg. 1991, I-4221 (4243), Rs. C-76/90 – Säger, 1994, I-3803 (3823), Rs. C-43/93 – Vander Elst, st.

Rspr.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 417 19.06.2004, 16:25:51

Page 47: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004418

sungsfreiheit, dass alle „nationalen Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen“, einer Rechtfertigungspflicht unterliegen12. Gelegentlich hat der EuGH die Annahme einer Beschränkung zwar mit dem Argu-ment abgelehnt, dass die jeweils geltend gemachten Behinderungen zu ungewiss und rein hypothetischer Natur seien, etwa für die Niederlassungsfreiheit Regelungen über Öffnungszeiten13, für die Arbeitnehmerfreizügigkeit die Koppelung des Abfin-dungsanspruches eines Arbeitnehmers daran, dass dieser nicht selbst gekündigt hat14. Dieser Ansatz weist aber einen letztlich rein tatsächlichen Charakter auf, ist dogmatisch kaum konturiert und trägt damit insbesondere nichts zur Frage bei, ob und inwieweit die Grundfreiheiten tatsächlich darauf begrenzt sind, spezifische Be-hinderungen des grenzüberschreitenden Wirtschaftens in Frage zu stellen15.

2. Freier Warenverkehr

a) Freie Wareneinfuhr: Art. 28 EGV

Ein Schritt zur Konturierung des Beschränkungsbegriffes, die diesen insbesondere auf das spezifische Problem der grenzüberschreitenden Wirtschaftstätigkeit ausrich-tet, ist bekanntlich für den Warenimport mit der Unterscheidung von produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen in den bereits erwähnten Urteilen Keck und Hü-nermund erfolgt. Dabei hat die Folgerechtsprechung des EuGH deutlich gemacht, dass es, worauf in der Literatur zu Recht hingewiesen wurde, hier nicht um begriff-liche Einordnungen gehe, sondern darum, Art. 28 EGV als Marktzugangsrecht zu begreifen16. In diesem Sinne hat der EuGH handelshemmende Maßnahmen, die man vielleicht auf den ersten Blick als vertriebsbezogen qualifizieren könnte wie Regelungen über den Namen eines Produktes17 oder über Aufdrucke auf Verpa-ckungen18, dennoch schon früh zu Recht am Maßstab von Art. 28 EGV gemessen. Bei als vertriebsbezogen qualifizierten Maßnahmen wird zudem gerade in der jün-

12 EuGH, Slg. 1995, I-4165 (4197), Rs. C-55/94 – Gebhard; Slg. 2001, I-837 (866), Rs. C-108/96 – Mac Quen; ähnlich zur Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH, Slg. 1995, I-4921 (5070), Rs. C-415/93 – Bosman; zu beiden Slg. 1993, I-1663 (1697), Rs. C-19/92 – Kraus; zur Parallelität Hatje, Jura 2003, 160 (164).

13 Slg. 1996, I-2975 (3009), Rs. C-418/93 u.a.- Semeraro Casa u.a.14 Slg. 2000, I-493 (522), Rs. C-190/98 – Graf.15 GA Tesauro, EuGH, Slg. 1993, I-6787 (6811), Rs. C-292/92 – Hünermund; Streinz, Europarecht, 5. Aufl. 2001,

Rn. 681a; positiv dazu aber Müller-Graff (Fn. 6), S. 46; Schwarze-Schneider/Wunderlich, EU-/EG-Kommen-tar, 2000, Art. 39 Rn. 45.

16 Steindorff, ZHR 158 (1994), 149 (163); Roth, FS Großfeld, 929 (944); Koenig/Haratsch, Europarecht, 4. Aufl. 2003, Rn. 509; Streinz (Fn. 15), Rn. 733; Koutrakos, ELR 2001, 391 (407); Grabitz/Hilf-Leible, Kommentar zur Europäischen Union, Art. 28 Rn. 28; Schwarze-Becker, EU-/EG-Kommentar 2000, Art. 28 Rn. 49; Weatherill, CMLR 1996, 885 (889 ff.); da Cruz-Vilaça, in: Andenas/Roth (Fn. 2), S. 25 (34); Poiares/Maduro, ebd., S. 41 (58 f.); kritisch aber Picod, RTDE 1998, 169. Siehe aus der EuGH-Rspr. neben den Nachweisen in Fn. 10 etwa EuGH, Slg. 2000, I-151 (171), Rs. C-254/98 – TK-Heimdienst; Urteil vom 18.9.2003, Rs. C-416/00 – Moratello, Rn. 101.

17 EuGH, Slg. 1994, I-317 (336), Rs. 315/92 – Clinique. 18 EuGH, Slg. 1995, I-1923 (1941), Rs. C-478/93 – Mars.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 418 19.06.2004, 16:25:51

Page 48: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

419EuR – Heft 3 – 2004

geren Rechtsprechung intensiv erörtert, ob sie inländische und ausländische Waren rechtlich und faktisch in gleicher Weise berühren, weil sie nur dann aus dem An-wendungsbereich von Art. 28 EGV herausfallen. Beispiele bilden schwedische Re-gelungen über Alkoholwerbung19 sowie die Koppelung der Befugnis, Waren auf Märkten zu verkaufen, an die Existenz einer festen Vertriebsstätte im betreffenden Staat20. Da allerdings der Begriff des Zugangs für sich genommen dem Beschrän-kungsbegriff, wie im Zusammenhang mit den anderen Grundfreiheiten noch zu zeigen ist, nicht die notwendige Klarheit zu geben21 vermag, erweist sich der „Keck-Ansatz“, bei allen Unklarheiten im Einzelfall22, insgesamt als einigermaßen tragfä-hig23.

b) Freie Warenausfuhr: Art. 29 EGV Im Lichte einer Reduktion der Grundfreiheiten auf die erwähnte „Binnenmarkt-funktion“ ist ferner Art. 29 EGV zu sehen. Der EuGH versteht den Begriff der Maß-nahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung hier enger als bei Art. 28 EGV: Erfasst werden nur Maßnahmen, „die spezifische Beschränkungen der Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken und damit unterschiedliche Bedin-gungen für den Binnenhandel innerhalb eines Mitgliedstaates und seines Außen-handels schaffen, sodass die nationale Produktion oder der Binnenmarkt des betrof-fen Staates zum Nachteil der Produktion oder des Handels anderer Mitgliedstaaten einen besonderen Vorteil erlangt“24. Schutzlos bleibt damit die Herstellung eines Produkts, das speziell auf die Anforderung eines anderen Staates ausgerichtet ist. Teilweise werden allerdings Regelungen, die nicht die Produktion im betreffenden Staat betreffen, sondern produktbezogenen Charakter aufweisen, als Beschränkung iSv Art. 29 EGV angesehen25. Ein solcher Ansatz aber würde die Grundfreiheiten aus dem Binnenmarktkontext herauslösen. Dessen tragende Prinzipien sind das Her-kunftslandsprinzip und das Vertrauensprinzip. Jede Ware, die den Standards des Herkunftslandes entspricht, soll im Grundsatz in der gesamten EG zirkulieren kön-nen; alle Mitgliedstaaten sind verpflichtet, im Grundsatz einander in dem Sinne zu vertrauen, dass marktfähige Produkte hergestellt werden und dass entsprechende Kontrollen auch praktiziert werden. Dieses Ziel aber würde durch die angesproche-ne Interpretation von Art. 29 EGV nicht erreicht. Produkte, die speziell für den Markt in einem anderen Mitgliedstaat hergestellt werden, können gerade nicht im ganzen Binnenmarkt vertrieben werden26. Will sich ein Hersteller auf die besonde-

19 EuGH, Slg. 1997, I-3843 (3890 f.), verb. Rs. C-34-36/95 – De Agostini; Slg. 2001, I-1795 (1825), Rs. C-405/98 – Gourmet International Products. Dazu etwa Biondi, ELR 2001, 616 (619 ff.); Stuyck, CDE 2001, 683 (696).

20 EuGH, Slg. 2000, I-151 (171), Rs. C-254/98 – TK – Heimdienst. Dazu etwa Shuibhne, ELR 2002, 408 (414 f.).21 Anders GA Jacobs, Slg. 1995, I-179 (194 f.), Rs. C-412/93 – Leclerc-Siplec.22 Zur Kritik siehe etwa Hatzopoulos, CMLR 2000, 40 (66).23 Ausführlich auch zu möglichen Alternativen Oliver, CMLR 1999, 783 (799).24 Slg. 1979, 3409 (3415), Rs. 15/79 – Groenveld, st. Rspr.25 Roth, ZHR 159 (1995), 78 (90 ff.); v. Wilmowsky, EuR 1996, 362 (364); Oliver, CMLR 1999, 783 (799).26 Müller-Graff (Fn. 6), S. 46.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 419 19.06.2004, 16:25:51

Page 49: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004420

ren Bedingungen eines bestimmten Marktes einstellen, schützen ihn die Grundfrei-heiten nur insoweit, dass er auf der Grundlage der Niederlassungsfreiheit des Art. 43 EGV seinen Standort im entsprechenden Mitgliedstaat wählen kann und dann, so-weit nicht Harmonisierungsakte nach Art. 94 und 95 EGV ergangen sind, allein den am Standort geltenden nationalen Vorschriften unterworfen ist. Nicht geschützt ist das „Rosinenpicken“: Die Nutzung der Standortvorteile des einen und der Vorteile der produktbezogenen Vorschriften des anderen Staates. Ganz in diesem Sinne hat der EuGH auch bei der Dienstleistungsfreiheit entschieden, dass ein Rundfunksen-der, der speziell Sendungen für einen anderen Mitgliedstaat konzipiert, nicht unter Berufung auf die Dienstleistungsfreiheit Nichtanwendung der Vorschriften dieses Staates verlangen kann27.

3. Dienstleistungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit: Art. 49 f. und Art. 56 EGV

Bei den anderen Grundfreiheiten lässt der EuGH eine „Beschränkung des Be-schränkungsbegriffs“ auf den eingangs skizzierten Binnenmarktgedanken bisher nicht erkennen. Dies überrascht gerade bei Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs-freiheit. Diese weisen nämlich Parallelen mit der Warenverkehrsfreiheit zumindest insofern auf, als nur das Wirtschaftsgut dauerhaft die Grenze überquert, das Wirt-schaftssubjekt dagegen im Grundsatz am bisherigen Standort verbleibt.

a) Dienstleistungsbeschränkungen des Empfangsstaates

Eine unmittelbare Übertragung der bei Art. 28 EGV praktizierten Unterscheidung zwischen produkt- und vertriebsbezogenen Beschränkungen auf Art. 49 EGV macht als solche allerdings keinen Sinn28. Beim Warenverkehr erfolgt der Verkauf an den Endverbraucher nämlich typischerweise nicht vom Ausland aus, sondern von einem im betreffenden Staat ansässigen Händler. Deshalb werden vertriebsbezogene Vor-schriften grundsätzlich als nicht unter Art. 28 EGV fallend eingestuft. Bei Dienst-leistungen dagegen erfolgt der Vertrieb regelmäßig durch den ausländischen Dienst-leistungserbringer; wird über eine nationale Zweigstelle vertrieben, findet die Nie-derlassungsfreiheit Anwendung29. Entscheidend ist vielmehr der Grundgedanke, die Beschränkung auf spezifisch den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr behindernde Maßnahmen30. So stellen etwa die Sicherheitsvorschriften oder Vorga-

27 EuGH, Slg. 1994, I-4795 (4832), Rs. C-23/93 – TV 10. Vgl. noch bei Fn. 39; ferner zum Warenverkehr EuGH, Urteil vom 11.12.2003, Rs. C-322/01 – Deutscher Apothekerverband, Rn. 129 – EuR 2004, 253 (272). Ausführ-lich zum Problem Kjellgren, in: Andenas/Roth (Fn. 2), S. 245 ff.

28 A.A. Koenig/Haratsch (Fn. 16), Rn. 601; vgl. auch 544 f., 573 f.29 Zu diesen Unterschieden Hatzopoulos, RTDE 1998, 191 (223 ff.). 30 Streinz (Fn. 5), Rn. 679 ff.; Nettesheim, NVwZ 1996, 342 (344); vgl. auch Roth (Fn. 2), S. 9 (18); a. A. Schwar-

ze-Holoubek, EU-/EG-Kommentar, 2000, Art. 49 Rn. 61; Pache (Fn. 3), § 11 Rn. 52; Rolshoven, „Beschrän-kungen“ des freien Dienstleistungsverkehrs, 2002, S. 240; Hatzopoulos, CMLR 2000, 43 (68).

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 420 19.06.2004, 16:25:52

Page 50: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

421EuR – Heft 3 – 2004

ben für Arbeitszeiten der Arbeitnehmer und Ähnliches im Zusammenhang mit dem Betrieb einer Baustelle trotz ihrer hinderlichen Wirkung zumindest im Regelfall im Lichte von Art. 49 EGV kein Problem dar. Immerhin formuliert der EuGH in diesem Sinne, dass Art. 49 EGV verbiete, die Er-bringung einer Dienstleistung zwischen Mitgliedstaaten gegenüber der Erbringung einer Dienstleistung innerhalb eines Mitgliedstaates zu erschweren31. Zur Entsen-dung von Arbeitnehmern hat der EuGH früher geurteilt, dass Art. 49 EGV den Empfangsstaat nicht hindere, seine arbeits- und sozialrechtlichen Normen auf sei-nem Staatsgebiet durchzusetzen; unklar blieb, ob es sich dabei um gerechtfertigte Beschränkungen oder gar nicht um Beschränkungen handelte32. In jüngerer Zeit sieht der EuGH solche Regelungen zwar als Beschränkungen an, die aber nur „im Ausnahmefall“ unverhältnismäßig seien33 – etwa, wenn Beiträge zu einem Leis-tungssystem zu entrichten sind, von dem die Arbeitnehmer aber wegen ihres nur vorübergehenden Aufenthaltes im betreffenden Staat nicht profitieren können34. Ins-gesamt hat der EuGH bisher mit flexiblen Ansätzen im Einzelfall, allerdings ohne „Standardformel“, überzeugende Ergebnisse erzielt. Ob dies auf Dauer ausreicht, bleibt abzuwarten.

b) Dienstleistungsbeschränkungen des Herkunftsstaates

Weniger überzeugend ist die Rechtsprechung zu Maßnahmen des Herkunftsstaates. Im Fall Alpin-Investment war ein von dem Staat erlassenes Verbot telefonischer Werbung für Kapitalanlagen zu beurteilen, in dem das betroffene Unternehmen sei-nen Sitz hatte. Die diskutierte analoge Anwendung der Grundsätze des Keck-Ur-teils35 passte jedoch schon deswegen nicht, weil dieses auf Einfuhrbeschränkungen zugeschnitten ist, während es vorliegend um Beschränkungen der Ausfuhr ging. Eine analoge Anwendung der zu Art. 29 EGV entwickelten Grundsätze36 wurde demgegenüber nicht geprüft. Diese hätten dazu geführt, dass Art. 49 EGV gar nicht anwendbar wäre. Den Grundgedanken des Binnenmarktes verkennt die vorliegend auch vom EuGH geteilte Annahme, dass der Herkunftsstaat gar nicht zuständig sei für den Schutz ausländischer Verbraucher37. Dem Gedanken des Herkunftslands-prinzips ist es immanent, dass die dort geltenden Schutzvorschriften beim Export

31 EuGH, Slg. 1994, 5145 (5169), Rs. C-381/93 – Kommission/Frankreich; Slg. 2002, I-8147 (8181), Rs. C-136/00 – Danner.

32 EuGH, Slg. 1982, 223 (236 f.), verb. Rs. 62 und 63/81 – Seco; Slg. 1990, I-1417 (1445), Rs. C-113/89 – Rush Portuguesa. In letztgenanntem Sinne meine frühere Einschätzung; vgl. Classen, Jura 1998, 88 (90).

33 EuGH, Slg. 1999, I-8453 (8516), verb. Rs. 369 und 376/96 – Arblade; 2001, I-2189 (2222 f.), Rs. C-165/98 – Mazzoleni.

34 So schon früher EuGH, Slg. 1982, 223 (237), verb. Rs. 62 und 63/81 – Seco; Slg. 1996, I-1905 (1922), Rs. C-272/94 – Guiot.

35 EuGH, Slg. 1995, I-1141 (1177), Rs. C-384/93 – Alpine Investments; dazu Koenig/Haratsch (Fn. 16), Rn. 601. 36 So auch Daniele, ELR 197, 201 (198); Roth (Fn. 2), S. 21; Grabitz/Hilf-Randelzhofer/Forsthoff, Kommentar zur

Europäischen Union, Art. 49/50 Rn. 68 ff.; Snell/Andenas, in: Andenas/Roth (Fn. 2), S. 69 (123 f.).37 EuGH, Slg. 1995, I-1141 (1177), Rs. C-384/93 – Alpine Investments; deutlich vor allem Roth, FS Fikentscher,

723 (738).

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 421 19.06.2004, 16:25:52

Page 51: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004422

auch den ausländischen Kunden zugute kommen38. Kann Art. 49 EGV die „Befrei-ung“ von den im Bestimmungsland geltenden Regelungen bedeuten, muss wenigs-tens die Beachtung der im Herkunftsland geltenden Vorgaben gewährleistet sein. Konsequenterweise fordert der EuGH für eine Berufung auf Art. 49 EGV vielfach, dass der Betroffene im Heimatstaat „rechtmäßig ähnliche Dienstleistungen er-bringt“39. Dies gilt auch, wenn wie im konkreten Fall das Bestimmungsland niedri-gere Anforderungen stellt. Die Option des Rosinenpickens ist auch hier nicht gefor-dert.Weiterhin kann sich ein Unternehmen nur auf Art. 49 EGV berufen, soweit seine Tätigkeit auf den entsprechenden Auslandsmarkt ausgerichtet ist. Die Behörden die-ses Auslandsmarktes aber haben gar keinen direkten Zugriff auf das Unternehmen, können also die Gesetzeskonformität dessen Verhaltens im Bestimmungsland kaum überprüfen, in jedem Fall nicht effektiv durchsetzen40. Aus diesem Grund muss der Herkunftsstaat auch intervenieren können, wenn ein bestimmtes Verbot wie das te-lefonischer Werbung auf eine Tätigkeit im Ausland erstreckt wird41. Insgesamt sind daher Maßnahmen des Herkunftslandes, die zu exportierende Dienstleistungen in gleicher Weise wie im Inland zu vertreibende Dienstleistungen betreffen, entspre-chend den zu Art. 29 EGV anerkannten Grundsätzen nicht als Beschränkung anzu-sehen. Unter lapidarem Hinweis auf ein anderes Urteil zu Familienangehörigen aus Dritt-staaten42 nahm der EuGH ferner eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit an43, als eine Philippinin, die mit einem Briten verheiratet war, mangels Aufent-haltserlaubnis aus Großbritannien ausgewiesen werden sollte; der Brite könnte dann seinen Beruf nicht mehr in der bisherigen Form ausüben. Dieser bestand in der Er-bringung von Dienstleistungen vor allem gegenüber ausländischen Kunden und war daher mit regelmäßigen Geschäftsreisen in andere EG-Mitgliedstaaten verbunden. Dabei überging der Gerichtshof, dass sich das Problem – im Gegensatz zum Refe-renzfall – nicht entscheidend anders dargestellt hätte, wäre der Brite zu Geschäfts-reisen innerhalb seines Heimatstaates genötigt gewesen. Ein Bezug zu einer spezi-fisch binnenmarktbezogenen Problematik ist nicht erkennbar44.

38 Vgl. auch zum Warenverkehr Epiney (Fn. 2), § 8 Rn. 63 f.; zur Niederlassungsfreiheit EuGH, Slg. 1994, I-3453 (3499), Rs. C-379/92 – Peralta. Der gelegentlich für die Gegenansicht herangezogene Fall EuGH, Slg. 1990, I-2143 (2164), Rs. C-169/89 – van den Burg; dazu auch Everling, NVwZ 1993, 209 (211), betraf den Sonderfall, dass die nationale Schutzregelung eine im Staatsgebiet gar nicht vorkommende Tierart erfasste.

39 Siehe oben Fn. 11: Wer im Heimatstaat keine Dienstleistungen erbringt, kann sich zwar dennoch auf Art. 49 EGV berufen (etwa um einen diskriminierungsfreien Zugang zum ausländischen Markt zu verlangen), nicht aber Befreiung von den Normen des Staates verlangen, in dem die Leistung erbracht wird. Siehe Fn. 27 sowie Slg. 1997, I-3143 (3168), Rs. C-50/96 – VT4.

40 Verwaltungskooperationen, auf die Lackhoff (Fn. 3) S. 132, verweist, nützen schon deswegen nichts, weil diese ja die vom Unternehmen gerade bezweifelte Befugnis des Herkunftsstaates zur Intervention voraussetzen.

41 Gegen Roth, FS Fikentscher, 723 (732, 737). 42 EuGH, Slg. 1992, I-4265 (4294), Rs. C-379/90-Singh. Dazu noch bei Fn. 59.43 EuGH, Slg. 2002, I-6279 (6320), Rs. C-60/00 – Carpenter.44 Kritisch daher Mager, JZ 2003, 204; Editorial, CMLR 2003, 537; v. Bogdandy, VVDStRL 62, 156 (Fn. 144);

zustimmend hingegen Prieto, RTDE 2003, 489 (501 f.).

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 422 19.06.2004, 16:25:52

Page 52: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

423EuR – Heft 3 – 2004

c) Kapitalverkehrsfreiheit

Wie allen anderen Grundfreiheiten erkennt der EuGH auch der Kapitalverkehrsfrei-heit einen absoluten Gehalt zu. Im hier vertretenen Sinne stellt er darauf ab, ob der Zugang zum Kapitalmarkt behindert wird45. In der Subsumtion greift der EuGH dann allerdings weit aus: Auch mit dem Erwerb bestimmter Aktien verbundene Ge-nehmigungspflichten werden als Beschränkungen verstanden, obwohl sie für Inlän-der in gleicher Weise gelten. Der Hinweis auf die Erschwerung beim Zugang zum betreffenden Kapitalmarkt ist jedoch nicht tragfähig, weil dieser von der fraglichen Regelung völlig unberührt bleibt.

4. Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit: Art. 39 und 43 EGV

Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit sollen beide, anders als die zuvor genannten Freiheiten, eine Integration des Wirtschaftssubjektes in das Wirt-schaftsleben eines anderen Staates ermöglichen.

a) Maßnahmen des aufnehmenden Staates

Art. 43 Abs. 2 EGV schützt neben der Aufnahme auch die Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten. Es geht also nicht nur um die Gründung von Agenturen und Zweigniederlassungen, sondern auch um deren Betätigung. Entsprechendes gilt nach Art. 39 Abs. 3 lit. c) EGV für Arbeitnehmer. Insoweit betont nun der EuGH zwar, dass ein Ausländer bei Aufnahme und Ausübung einer Tätigkeit grundsätzlich die nationalen Vorschriften, die bestimmte Erwerbstätigkeiten diskriminierungsfrei für Inländer und Ausländer in gleicher Weise regeln, beachten muss46. Teilweise wird daher angenommen, dass sich der Schutz der Betätigung im Ausland auf ein Diskriminierungsverbot beschränkt; es wird also zwischen Zugang zur Tätigkeit und deren Ausübung differenziert47. Die Rechtsprechung ist dagegen nicht so klar. Teilweise wird auch bei der konkreten Prüfung darauf abgestellt, dass die fraglichen Maßnahmen Ausländer weder rechtlich noch tatsächlich benachteiligen48. Ebenso wurden die Wanderbereitschaft eines Arbeitnehmers durchaus beeinträchtigende

45 EuGH, EuZW 2003, 529, Rs. C-98/01 – Kommission/Spanien (Rn. 47); ebds., 536, Rs. C-463/00 – Kom-mission/Vereinigtes Königreich (Rn. 61). Für eine Reduktion von Art. 56 EGV auf ein Diskriminierungsver-bot hingegen Schwarze/Glaesner, EU-/EG-Kommentar, 2000, Art. 56 Rn. 16.

46 Siehe zu Art. 43 EGV: EuGH, Slg. 1995, I-4165 (4197), Rs. C-55/94 – Gebhard; Slg. 2001, I-837 (866), Rs. C-108/96 – Mac Quen.

47 Hatje, Jura 2003, 160 (164); Everling, GS Knobbe-Keck, S. 607 (617); Roth, ebd. S. 729 (739); Reichhold, ZEuP 1998, 434 (447); tendenziell auch Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000, S. 134; Dörr, BauR 1997, 390 (396); Kingreen (Fn. 2), S. 122 ff.; vgl. auch Streinz, FS Rudolf, 199 (221) mit der Unterscheidung von marktsegmentierenden und marktregulierenden Maßnahmen. A. A. Jarass, RIW 1993, 1 (6).

48 EuGH, Slg. 1997, 3395 (3434), Rs. C-70/95 – Sodomare u.a.; Slg. 1999, I-2835 (2860), Rs. C-255/97 – Pfeif-fer.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 423 19.06.2004, 16:25:52

Page 53: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004424

Treueprämien eines Arbeitgebers bisher allein am Diskriminierungsverbot gemes-sen49. In anderen Urteilen aber folgt der soeben zitierten Aussage, wonach nationale Be-dingungen grundsätzlich erfüllt sein müssen, der Hinweis auf eine Rechtfertigungs-pflicht aller Behinderungen50. Im Fall Gräbner wurde ein für In- wie Ausländer geltendes Verbot der Tätigkeit von Heilpraktikern als – wenn auch durch den Ge-sundheitsschutz gerechtfertigte – Beschränkung der Niederlassungsfreiheit angese-hen51. Dies überzeugt nicht: Welche Tätigkeiten in einem Mitgliedstaat grundsätz-lich verboten sind und welche nicht, entscheidet vorbehaltlich sekundärrechtlicher Regeln allein der betreffende Staat, der Ausnahmen nur ggf. kraft Art. 49 EGV und damit nur insoweit akzeptieren muss, wie das betreffende Unternehmen im Ausland angesiedelt ist52. Art. 43 EGV kann insoweit keinen validen Prüfungsmaßstab abge-ben53. Noch weitergehend sah der EuGH eine nationale Regelung als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit an, nach der die Untersuchung von Patienten auf Sehfeh-ler Augenärzten vorbehalten wurde, obwohl die Hürde vom im Ausgangsverfahren klagenden Unternehmen durch Einstellung eines solchen hätte genommen werden können, also gar keine Marktzugangssperre darstellte. Dies überzeugt nicht – auch wenn der EuGH das Verbot angesichts des mit der Regelung verfolgten Ziels des Gesundheitsschutzes im Ergebnis als mit Art. 43 EGV vereinbar ansah54. Der Be-griff des „Marktzugangs“ muss daher bei den personenbezogenen Grundfreiheiten (Art. 39, 43 EGV) enger gefasst werden als bei den wirtschaftsgutbezogenen Frei-heiten (Art. 28, 49, 56 EGV)55. Es geht grundsätzlich nur um personenbezogene Hürden, konkret das Aufenthaltsrecht und Qualifikationserfordernisse des Berech-tigten (nicht seiner Angestellten). Beispiel: Ein generelles mitgliedstaatliches Verbot der Prostitution wäre keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit. Es gäbe gar keinen – legalen! – Markt, zu dem der Zugang erschwert werden könnte. Beschränkt wurde allein die vom Herkunftsprinzip geprägte Dienstleistungsfreiheit der im Aus-land ansässigen Protistuierten. Wird trotz der Existenz einer Zweigniederlassung eines ausländischen Unterneh-mens die eigentliche Leistung nicht von der Agentur, sondern von der Zentrale er-bracht, können allerdings durch parallele Anwendung zweier Rechtsordnungen auch tätigkeitsbezogene Hürden entstehen. Insoweit ist eine Reduktion von Art. 43 EGV auf ein Diskriminierungsverbot mit Blick auf die Ausübung einer Tätigkeit verfehlt. Als Beispiel kann ein Bauunternehmen dienen, das zwar in einem ausländischen Staat eine kleine Agentur unterhält, Bautrupps aber nur von seiner Zentrale aus ein-

49 EuGH, Slg. 1998, I-47 (68), Rs. C-15/96 – Schöning-Kougebetopoulou; Slg. 2000, I-10497 (10548 ff.), Rs. C-195/98 – Österreichischer Gewerkschaftsbund; Urteil vom 30.9.2003, Rs. C-C-224/01 – Köbler (Rn. 86) und dazu demnächst Anmerkung von Classen in CMLR. Vgl. auch bei Fn. 71.

50 So in den in Fn. 12 zitierten Urteilen.51 EuGH, Slg. 2002, I-6515 (6554, 6556), Rs. C-294/00.52 Kritisch dazu Lackhoff (Fn. 3), S. 426. Entgegen Kingreen (Fn. 2), S. 122 ff., gestatten Art. 39 und 43 EGV

also partiell auch eine Marktsegmentierung.53 A.A. aber Grabitz/Hilf-Randelzhofer/Forsthoff (Fn. 36), Art. 43 Rn. 90.54 EuGH, Slg. 2001, I-837 (869), Rs. C-108/96 – Mac Quen.55 Dazu bei Fn. 16 und 45; a. A. Ganten (Fn. 47), S. 134 f.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 424 19.06.2004, 16:25:53

Page 54: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

425EuR – Heft 3 – 2004

setzt und dann etwa auch Angehörige aus Drittstaaten einsetzen möchte, die zwar im Heimatstaat des Unternehmens legal arbeiten dürfen, aber für den ausländischen Staat keine Arbeitserlaubnis aufweisen. Hätte das betreffende Bauunternehmen kei-ne Agentur, wäre unstreitig die Dienstleistungsfreiheit anwendbar, und das Unter-nehmen könnte seine Arbeitskräfte einsetzen56. Dass allein die Gründung einer – an der Erbringung einer bestimmten (Teil-)leistung – gar nicht beteiligten Agentur et-was anderes bewirken kann, auch wenn in diesem Fall die tatbestandlichen Voraus-setzungen für die Anwendung der Niederlassungsfreiheit erfüllt sind57, ist fraglich. Viel spricht dafür, bei dieser Variante von „Niederlassungen mit Teilfunktionen“58 von Beschränkungen zu sprechen, die nach Maßgabe der für die Dienstleistungs-freiheit anerkannten Wertungen zu bewältigen sind. Die Großzügigkeit des Gerichtshofes zeigt sich schließlich auch daran, dass er aus Art. 43 EGV ein Recht zur Mitnahme des Ehegatten und der Kinder59 ableitet. In erweiternder Fortführung dieses Ansatzes werden in der Literatur ferner als Be-schränkung der Personenfreiheiten eingeordnet der Umstand, dass bestimmte sta-tusrechtliche Regelungen, etwa über eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft oder über das Sorgerecht, im Aufnahmestaat im Vergleich zum Herkunftsland deut-lich nachteilig ausgestaltet sind60. Die (erste) Entscheidung zum Aufenthaltsrecht leidet allerdings methodisch daran, dass, wie die Argumentationskette deutlich macht, das Sekundärrecht zur Interpretation des Primärrechts herangezogen wird61. In der Sache geht es nicht um den Aufenthalt als solchen, sondern um die Attraktivi-tät der Aufenthaltsbedingungen. Da aber die Attraktivität der Arbeitsbedingungen nicht von den Personenfreiheitsrechten geschützt wird, kann dies erst recht nicht für die der Aufenthaltsbedingungen gelten.

b) Maßnahmen des Herkunftsstaates

Sind im Lichte der hier untersuchten Fragestellung bei Maßnahmen des Aufnahme-staates nur Probleme mit Blick auf Art. 43 EGV aufgetreten, sind bei Maßnahmen des Herkunftsstaates Schwierigkeiten allein für Art. 39 EGV zu beobachten. Im Fall „Bosman“ setzte sich der EuGH zwar mit dem Argument auseinander, dass das glei-che Problem auch bei rein internen Sachverhalten auftritt62. Er hielt dem – wie der

56 EuGH, Slg. 1994, I-3803 (3825 f.), Rs. C-43/93 – Vander Elst.57 So EuGH, Slg. 1995, I-4165 (4194), Rs. C-55/94 – Gebhard; Slg. 1996, I-6511 (6535), Rs. C-3/95 – Broede.

Spätere Entscheidungen, aus denen man ableiten könnte, dass es bereits für die tatbestandliche Abgrenzung von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit auf die konkrete Leistung ankomme (so Roth, RabelsZ 54 (1990), 63 (108 f.); Lackhoff (Fn. 3), S. 145; Pasternacki, Zur Abgrenzung von Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit bei Niederlassungen mit Teilfunktion, 2000, S. 167), betreffen allein die Fernsehricht-linien: EuGH, Slg. 1996, 4073 (4077), Rs. C-222/94 – Kommission/Vereinigtes Königreich; Slg. 1997, I-3143 (5167), Rs. C-56/96 – VT4.

58 Dazu Steindorff, EuR 1988, 19 (28 ff.); Pasternacki (Fn. 57), S. 30. 59 EuGH, Slg. 1992, I-4265 (4294), Rs. C-370/90 – Singh.; EuGRZ 2003, 607, Rs. C-109/01 – Akrich (Rn. 52).

Parallel dazu EuGH, Slg. 2002, I-6279 (6320), Rs. C-60/00 – Carpenter für Maßnahmen des Herkunftsstaates (dazu bei Fn. 42).

60 So Dethloff, Vortrag auf der Zivilrechtslehrertagung in Greifswald, soll in AcP 2004 erscheinen.61 EuGH, Slg. 1992, I-4265 (4293 f., Rn 17-18-19), Rs. C-370/90 – Singh. 62 EuGH, Slg. 1995, I-4921 (5069 f.), Rs. C-415/93 – Bosman.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 425 19.06.2004, 16:25:53

Page 55: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004426

zur Keck-Entscheidung gezogenen Parallele – entgegen, dass dies an der Beeinträch-tigung der Freizügigkeit im konkreten Fall nichts ändere63. Damit wurde das Pro-blem des Falles verkannt. Dieses lag im Kern nicht in der Erschwerung des Zugangs zum neuen, sondern in der Lösung vom alten Fußball-Club. Die richtige Parallele im Bereich des Warenverkehrs hätte also nicht bei Art. 28, sondern wiederum bei Art. 29 EGV gesucht werden müssen64. Damit wird auch der richtige Ansatzpunkt für die Frage deutlich, ob – unabhängig von der Angemessenheit der Herrn Bosman zugedachten Behandlung – tatsächlich eine Beschränkung der Freizügigkeit gege-ben war. Diese läge nur vor, wenn der Wechsel zu einem ausländischen Verein in stärkerem Maße erschwert worden wäre als der Wechsel im Inland. Hierfür aber ist kein Anhaltspunkt erkennbar. Später hat der EuGH eine Regelung, nach der ein Ar-beitnehmer die ihm an sich beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis zustehende Abfindung bei eigener Kündigung nicht erhält65, – im Ergebnis zu Recht – dann nicht als Beschränkung seiner Freizügigkeitsrechte angesehen. Nicht tragfähig war allerdings die Begründung, dass der Zugang des Arbeitnehmers zum Arbeitsmarkt nicht erkennbar beeinflusst werde66. In der Literatur wird zum Teil – gleichsam spiegelbildlich zu Maßnahmen des Staa-tes der Niederlassung67 – generell auf eine solche Unterscheidung von Zugang und Ausübung abgestellt68. Allerdings bringt dieser Ansatz ein an sich verpöntes Ele-ment der Spürbarkeit in den Beschränkungsbegriff hinein69. So verwundert nicht, dass der EuGH später eine „Behinderung“ auch der Ausübung einer Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat70 ausreichen lässt. Entscheidend ist stattdessen, dass es bei der Lösung von einem Unternehmen ersichtlich keinen Unterschied macht, ob der neue Arbeitgeber im Inland oder im Ausland tätig ist71.

5. Bilanz

Bislang ist es dem EuGH nicht gelungen, ein klares Konzept zu entwickeln, wann die rein faktische Behinderung einer einen Auslandsbezug aufweisenden Wirt-schaftstätigkeit eine „Beschränkung“ einer Grundfreiheit im Rechtssinne darstellt. Dazu mag beitragen, dass der EuGH – für ihn untypisch – nicht durchweg standar-disierte Textbausteine verwendet72. Verfasser hatte vor Jahren vorgeschlagen, vor allem daran anzuknüpfen, dass Ausländer, ausländische Waren, Dienstleistungen

63 So auch Eilmansberger, JBl. 1999, 345 (359).64 Kingreen (Fn. 2), S. 133; Daniele, ELR 1997, 191 (199).65 EuGH, Slg. 2000, I-493 (522), Rs. C-190/98 – Graf.66 Grabitz/Hilf-Randelzhofer/Forsthoff (Fn. 36), vor Art. 39-55 Rn. 114; vgl. auch Oliveira, CMLR 2002,

77 (90).67 Siehe oben Fn. 47.68 GA Fennelly, ebd., S. 509; ähnlich Oliveira, CMLR 2002, 77 (92 f.); Shuibhne, ELR 2002, 408 (412).69 Jarass, EuR 2000, 705 (711); Deckert/Schroeder, JZ 2001, 88 (90); Shuibhne, ELR 2002, 408 (412).70 Slg. 2002, I-11819 (11863), Rs. C-385 – de Groot. Vgl. auch Bernard, CDE 1998, 11 (22).71 Vgl. auch zu Treueprämien des Arbeitgebers bei Fn. 49.72 Vgl. zu Art. 49 EGV die in Fn. 31 ff. nachgewiesenen Unterschiede in den Formulierungen zu den Nachweisen

in Fn. 11, ferner zu Art. 43 EGV Fn. 12, 48, 51 und 54; zu Art. 39 EGV Fn. 12, 50, 62 und 65.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 426 19.06.2004, 16:25:53

Page 56: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

427EuR – Heft 3 – 2004

und Kapital regelmäßig zwei Rechtsordnungen unterworfen sind; ferner seien die unmittelbaren Behinderungen des Grenzübertritts als Beschränkung anzusehen73. Dieser Ansatz ist wohl etwas zu eng. Als Beispiel sei ein in allen beteiligten Staaten bestehendes Werbeverbot für ein bestimmtes Produkt benannt. Dass sich ein neues Konkurrenzprodukt im Ausland dann trotzdem nennenswerte Marktanteile ver-schaffen kann, ist schwer vorstellbar74. Umgekehrt ist auch ein Abstellen auf den Marktzugang75 zu undifferenziert. Für den Warenverkehr kann damit dank der Konkretisierung durch die „Keck“- und die „Groenveld“-Rechtsprechung die spezi-fische Sondersituation grenzüberschreitender Wirtschaftstätigkeit erfasst werden, die allein die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten begründet; für die anderen Grundfreiheiten fehlt es noch an griffigen Formeln. Bei Beschränkungen von Art. 39 und 43 EGV durch den Aufnahmestaat bietet sich vor allem für den Normalfall die Eingrenzung auf „personenbezogene Zugangshürden“ an. III. Beschränkungsbegriff II: Nichtstaatliche Behinderungen

1. Das Problem

Umstritten ist ferner, ob und inwieweit eine Beschränkung nur dann vorliegt, wenn sie dem Staat zurechenbar ist. Soweit dies angenommen wird, ist allerdings zugleich zu fragen, ob nicht, wie vom EuGH postuliert, zumindest eine entsprechende Schutzpflicht des Staates besteht. Mit Blick auf den freien Warenverkehr legt aller-dings schon der Wortlaut von Art. 28 f. EGV eine Anwendung allein auf staatliche Maßnahmen nahe. Ferner halten für wettbewerbsbehindernde Maßnahmen Privater Art. 81 f. EGV ein angemessenes Instrumentarium bereit76. Dementsprechend geht der EuGH davon aus, dass unter „Beschränkungen“ nur staatliche Maßnahmen fal-len77. Für die anderen Grundfreiheiten wurde allerdings das Gegenteil postuliert, zunächst für privatrechtliche Organisationen – konkret Sportvereine –, denen für einen bestimmten Bereich eine weitreichende Normierungskompetenz zukommt78, später für normale Privatpersonen, und zwar für die Arbeitnehmerfreizügigkeit79, die Dienstleistungs80- und die Niederlassungsfreiheit81. Jüngst hat er ferner – dog-

73 Classen, EWS 1995, 97 ff.74 Vgl. zu den schwedischen Alkoholwerbebeschränkungen Fn. 19. 75 Neben den in Fn. 16, 45 und 68 genannten Autoren generell Kingreen (Fn. 8), S. 658. Grundsätzlich zurückhal-

tend demgegenüber Snell/Andenas, in: Andenas/Roth (Fn. 2), S. 69 (119 ff.).76 Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 1294; zurückhaltend demgegenüber aber Ganten (Fn. 47),

S. 72 ff.; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, S. 171 ff.77 EuGH, Slg. 1983, 4083 (4119), Rs. 222/82 – Apple and Peer Development Council; Slg. 1984, 1797 (1812), verb.

Rs. 177 und 178/82 – van de Haar; Slg. 1987, 3801 (3830), Rs. 311/85 – Vlaamse Reisebureaus; Slg. 1989, 1295 (1326 f.), verb. Rs. 266 und 267/87 – Royal Pharmaceutical Society. Tendenziell a.A. EuGH, Slg. 1981, 181 (195), Rs. 58/80 – Dansk Supermarket. Zu Besonderheiten dieses Falles Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 (460); Roth, FS Everling, 1231 (1241).

78 EuGH, Slg. 1974, 1405 (1419), Rs. 36/74 – Walrave; Slg. 1976, 1333 (1341), Rs. 13/76 – Donà; Slg. 1995, 4921 (5065 f.), Rs. C-415/93 – Bosman; Slg. 2000, I-2549 (2614), verb. Rs. C-51/96 und C-191/97 – Deliège.

79 EuGH, Slg. 2000, I-4139 (4172 f.) Rs. C-281/98 – Angonese.80 EuGH, Slg. 1977, 1091 (1128), Rs. 90/76 – van Ameyde; Slg. 1984, 4277 (4288), Rs. 251/83 – Haug-Adrion.81 EuGH, Slg. 1977, 1091 (1128), Rs. 90/76 – van Ameyde.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 427 19.06.2004, 16:25:53

Page 57: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004428

matisch in Anlehnung vor allem an die Rechtsprechung des EGMR82 – den privaten Charakter einer Handlung dadurch „überspielt“, dass er die Genehmigung für eine Gesellschaftssatzung83 sowie die Unterlassung eines Demonstrationsverbotes84 als Beschränkung der Kapital- bzw. der Warenverkehrsfreiheit ansah.Nach der – aus der deutschen Grundrechtsdiskussion vertrauten – Begründung stell-ten die Grundfreiheiten grundlegende Wertentscheidungen dar, die aus diesem Grunde umfassende Geltung beanspruchen müssten85. Gestützt auf die gleiche Be-gründung hat der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung aus den Grundfreihei-ten, konkret aus der Warenverkehrsfreiheit, zudem auch Schutzpflichten abgelei-tet86. Die Reaktion der deutschen Literatur entsprach dem Diskussionsstand der Grundrechtsdogmatik: Kritik an unmittelbarer Drittwirkung, Zustimmung zur Schutzpflicht87. Die Vertrautheit der dogmatischen Figuren sollte allerdings nicht über die Unter-schiede zwischen den nationalen Grundrechten und den europäischen Grundfreihei-ten täuschen. Ferner ist in der Sache zu differenzieren zwischen der formalen Frage nach dem Adressaten der Grundfreiheiten und der inhaltlichen Frage, wem gegenü-ber das fragliche Rechtsgut schützenswert ist. Die zuletzt genannte Frage ist deswe-gen wichtig, weil dann, wenn das fragliche Rechtsgut allein mit Blick auf den Staat von Bedeutung ist, mit Blick auf private „Gefährdungen“ gar kein Anlass zu irgend-welchen Schutzmaßnahmen besteht. In diesem Sinne ist also eine – untechnische – Drittwirkung, besser vielleicht Drittrelevanz, Voraussetzung für eine Schutz-pflicht88. Das sei zunächst für die deutschen Grundrechte erläutert. Formal ist Adressat allein der Staat (Art. 1 Abs. 3 GG). Die Entwicklung der Grundrechte zu einer umfassenden Werteordnung, die in der Sache auch für die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten gelten, hat sie zur Grundlage einer Schutzpflicht werden lassen, die durch die einfachgesetzliche Rechtsordnung erfüllt wird. Allerdings erfassen Wertordnung und Schutzpflicht im Grundsatz nur Freiheitsrechte, den Gleichheits-satz dagegen nur mit Blick auf bestimmte besondere Aussagen wie den Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter89. In einer durch das Prinzip der Privatau-tonomie geprägten Gesellschaft muss nämlich jedem Partner rechtlicher Beziehun-

82 Siehe etwa Slg. A 44 § 49 – Young, James, Webster. Nur etwas stärker differenzierend jetzt Slg. A 303 C § 51 – López Ostra; Urteil vom 2.10.2001, § 95 f. – Hatton; dazu Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy (Fn. 8), S. 583 (602).

83 EuGH, EuZW 2003, 529, Rs. C-98/01 – Kommission/Vereinigtes Königreich (Rn. 48). Diese Entscheidung mag allerdings fallbezogenen Charakter haben.

84 EuR 2003, 657, Rs. C-112/00 – Schmidberger (Rn. 64).85 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 300.86 EuGH, Slg. 1997, I-6959 (6999), Rs. C-265/95 – Kommission/Frankreich; EuR 2003, 657, Rs. C-112/00 –

Schmidberger (Rn. 56 ff.).87 Burgi, EWS 1999, 327 (330); Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 (466); Remmert, Jura 2003, 13 ff.; ähnlich auch

Roth, FS Everling, S. 1231 (1241 f.); Jarass, EuR 1995, 202 (211); Kingreen (Fn. 2), S. 195 ff.; Schwarze-Holoubek (Fn. 30), Art. 43 Rn. 40; zur Schutzpflicht auch Szczekella, DVBl. 1998, 219. Für eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten hingegen Steindorff (Fn. 85), S. 300. Grundsätzlich ablehnend Snell, in: Andenas/Roth (Fn. 2), S. 211 (228 ff. zur Drittwirkung, Ausnahme: nichtwirtschaftliche Einheiten, S. 234 f.; zur Schutzpflicht: S. 236 ff.).

88 Snell, in: Andenas/Roth (Fn. 2), S. 211 (237).89 BVerfGE 89, 276 (285 f.).

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 428 19.06.2004, 16:25:54

Page 58: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

429EuR – Heft 3 – 2004

gen Entscheidungsfreiheit zukommen90. Demgegenüber würde die umfassende Forderung nach Gleichheit in den privatrechtlichen Beziehungen genau diese Ent-scheidungsfreiheit zerstören91.

2. Sachlicher Gehalt

Eine ausdrückliche Regelung zur Adressatenfrage enthalten die Grundfreiheiten nicht. Den Versuch, die Regelungen über die Schranken als Beleg für den alleinigen Staatsbezug heranzuziehen, entkräftet der EuGH mit dem im Ansatz konsistenten Verweis darauf, dass die Privaten die entsprechenden Gestaltungsräume für sich beanspruchen könnten. Allerdings handeln Private im Regelfall nicht im Allgemein-interesse und dies kann auch nicht von ihnen erwartet werden92. Der Gebrauch indi-vidueller Freiheit müsste daher prinzipiell als legitim eingeordnet werden93. Zudem ist die Beschränkung von Grundfreiheiten durch wirtschaftliche Ziele zwar dem Staat prinzipiell verwehrt, bei Privaten jedoch selbstverständlich. Vor allem aber liegt die Rechtfertigungslast im Grundsatz bei denjenigen, die die Grundfreiheiten beschränken wollen, im Normalfall also dem Staat, hier aber den Marktteilnehmern. Im Anwendungsbereich des Marktprinzips ist Freiheit für die Marktteilnehmer die Regel, nicht die Ausnahme94. Vor allem aber sprechen inhaltliche Gesichtspunkte grundsätzlich gegen eine Dritt-wirkung. Auch wenn die Grundfreiheiten nicht auf ein Diskriminierungsverbot re-duziert werden können, beschränken sie sich nach dem hier zugrunde gelegten Grundverständnis doch darauf, spezifische Hindernisse für grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeit zu beseitigen. Ihr Grundanliegen besteht letztlich in der Siche-rung von fairen Marktchancen für ausländische Produkte, Wirtschaftsteilnehmer etc. und damit von Gleichheit, nicht Freiheit95. Dem Schutz der Gleichheit in privat-rechtlichen Beziehungen aber kommt wie erwähnt in einer freiheitlichen Ordnung nur begrenzte Bedeutung zu. Weder sollen die Regelungen über den freien Waren-verkehr Anhängern französischen Weines oder Käses spanische oder niederländi-sche Produkte aufdrängen, noch die Dienstleistungsfreiheit Fans französischer Fri-sierkunst nach Italien „umleiten“96.

90 BVerfGE 89, 214 (232).91 Classen, JöR n.F. 36 (1987), 29 (38); Isensee, HStR V, § 111 Rn. 96. 92 Ganten (Fn. 47), S. 173; Jaensch (Fn. 76), S. 129 ff.; Grabitz/Hilf-Randelzhofer/Forsthoff (Fn. 36), vor Art.

39-55 Rn. 81; Snell, in: Andenas/Roth (Fn. 2), S. 211 (232).93 So wohl Ganten (Fn. 47), S. 181.94 Hatje, Wirtschaftsverfassung, in: v. Bogdandy (Fn. 8), S. 683 (694); Müller-Graff (Fn. 6), S. 43; Jaensch

(Fn. 76), S. 138; Baquero Cruz, ELR 1999, 603 (619); Grabitz/Hilf-Randelzhofer/Forsthoff (Fn. 36), vor Art. 39-55 Rn. 67.

95 Ähnlich Kluth, AöR 122 (1997), 557 (576). Siehe ferner die Nachweise in Fn. 7.96 Müller-Graff (Fn. 6), S. 43.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 429 19.06.2004, 16:25:54

Page 59: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004430

Die Annahme einer sachlichen Relevanz der Grundfreiheiten für das Verhalten von Privatpersonen97 kommt daher – anders als bei den Freiheitsrechten des Grundge-setzes – nur ausnahmsweise in Betracht, nämlich soweit sie mit einem sachgerecht verstandenen Marktgedanken konform geht, konkret, wenn eine marktbezogene Maßnahme bzw. Entscheidung nachfragebehindernde Wirkung hat98. Dies wieder-um lässt sich im Wesentlichen nur bei offen diskriminierenden Maßnahmen feststel-len99: Boykottaufrufe oder sogar -maßnahmen speziell gegen ausländische Wa-ren100, die prinzipielle Weigerung von Versicherungsunternehmen, ausländische Kunden zu akzeptieren oder im Ausland erhaltene medizinische Leistungen allein aus diesem Grunde nicht zu erstatten101. Der einzelne Leistungsempfänger hinge-gen muss seine völlige Entscheidungsfreiheit behalten und sich entscheiden können, ob er Leistungen von einem inländischen Partner, einem ausländischen Partner oder der inländischen Zweigstelle eines ausländischen Unternehmens entgegennehmen will.Bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist zu beachten, dass sich ein Arbeitsvertrag auf Regelungen beschränken muss, die sich auf das Arbeitsverhältnis beziehen, also ins-besondere dem Arbeitgeber kein umfassendes Recht mit Blick auf die Person des Arbeitnehmers verschaffen. Daher sind Staatsangehörigkeitserfordernisse grund-sätzlich ebenso unzulässig102 wie etwa das Geschlecht kein zulässiges Auswahl- und Differenzierungskriterium mit Blick auf Arbeitnehmer darstellt. Dies gilt nicht nur für Verbände, die bestimmte Bereiche normativ fest „im Griff“ haben, sondern auch für die einzelnen Arbeitgeber. Sekundärrechtlich ist dies ohnehin weitgehend durch Art. 7 VO 1612/68 festgeschrieben. Für Verbände mit Normsetzungsbefugnis in einem weiten Lebensbereich lässt sich dies auch für die übrigen Grundfreiheiten postulieren103.Nichtdiskriminierende Maßnahmen sind demgegenüber im Regelfall unproblema-tisch. Produktbezogene Anforderungen, die ein Käufer stellt, sind selbstverständlich ebenso legitim104 wie der Wunsch eines Arbeitgebers nach einem bestimmten Di-plom105. Gleiches gilt für Maßnahmen, die bei staatlicher Durchführung als indirek-te Diskriminierung zu werten wären wie die Werbekampagne eines Ökovereins

97 Die Zuweisung absoluter Rechte durch staatliche Gesetze ist dabei dem Staat zuzurechnen (so auch Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 (465); Ganten (Fn. 47), S. 40 ff.), weswegen Regelungen über Patentschutz u.ä. im vorliegenden Kontext nicht unmittelbar von Bedeutung sind. Insoweit wohl a. A. Steindorff (Fn. 85), S. 287 ff.

98 Ganten (Fn. 48), S. 102 f., 137 f.; Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Vertrag über die Euro-päische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl. 2003, I, Art. 28 Rdnr. 308.

99 Speziell dazu Steindorff (Fn. 85), S. 287, 296. Roth, FS Everling, S. 1231 (1245 ff.) und Jaensch (Fn. 76), S. 253 ff. erreichen das gleiche Ergebnis über Art. 12 EGV.

100 Müller-Graff (Fn. 6), S. 43; vgl. auch EuGH, Slg. 1997, I-6959, Rs. C-265/95 – Kommission/Frankreich.101 Zur Leistungspflicht staatlicher Krankenkassen in einem solchen Fall siehe EuGH, NJW 2003, 2298, Rs.

C-385/89 – Müller-Fauré.102 Oppermann (Fn. 76), Rn. 1523; Reichold, ZEuP 1998, 434 (450). 103 Baquero Cruz, ELR 1999, 603 (616).104 Ganten (Fn. 47), S. 136.105 Siehe zur Pflicht des Staates zur Prüfung von ausländischen Diplomen EuGH, Slg. 1991, I-2357 (2383), Rs.

C-340/89 – Vlassopoulou. A. A. speziell dazu Steindorff (Fn. 85), S. 297.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 430 19.06.2004, 16:25:54

Page 60: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

431EuR – Heft 3 – 2004

zugunsten regionaler Produkte106. In Sonderfällen aber kann es anders sein; vor-stellbar ist dies insbesondere bei Verbänden, die über eine besondere Regelungs-gewalt verfügen107. Binnenmarktrelevante Behinderungen durch Private sind ferner etwa auch im Zusammenhang mit der Nutzung der Infrastruktur denkbar – De-monstrationen108 oder gar Fernfahrerstreiks109 liefern hier Beispiele. Da es insoweit aber ohnehin fast nur um den Warenverkehr geht, wo Art. 28 EGV allein eine staat-liche Schutzpflicht begründet, sind auch die sogleich dargelegten zusätzlichen An-forderungen zu beachten. Selbstverständlich kommt schließlich eine Rechtfertigung nach den einschlägigen Regeln in Betracht.

3. Rechtliche Wirkung

Bei der Frage, wie der soeben entwickelte drittbezogene Gehalt der Grundfreiheiten seine rechtliche Wirkung entfalten kann, wird im nationalen Verfassungsrecht gegen eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte zutreffend vorgebracht, dass die Abwägung zwischen jeweils konfligierenden Rechtsgütern ganz unterschiedlich ausfällt je nachdem, ob sich ein Bürger und der Staat oder ob sich zwei Bürger ge-genüberstehen110. Dies ist bei dem hier vertretenen Ansatz einer auf das Diskrimi-nierungsverbot begrenzten und auch dort nur teilweise zum Tragen kommenden Drittwirkung der Grundfreiheiten anders. Ausnahmen kommen nur zugunsten von Gemeinwohlbelangen in Betracht, die allein vom Staat angeführt werden können. Damit ist, soweit die Grundfreiheiten im Verhältnis zu anderen Privaten sachlich überhaupt von Bedeutung sind, eine unmittelbare Drittwirkung anzunehmen. Etwas anderes gilt nur für Art. 28 f. EGV. Eine Schutzpflicht kommt in Betracht, soweit nach den obigen Grundsätzen auch eine Drittwirkung anzunehmen ist, ferner bei Art. 28 f. EGV. Auch wenn sich – mit Blick auf die EMRK – der EGMR insoweit zurückhält, muss ferner eine erhebliche Gefährdung für das Schutzgut hinzukommen; verletzt wird die Schutzpflicht nur, wenn der Staat keine oder nur ersichtlich ungeeignete Maßnahmen ergreift111. Zwar sprechen gute Gründe dafür, die Dogmatik von europäischen Grundfreiheiten und europäischen Grundrechten parallel auszugestalten. Formal ist jedoch der bereits erwähnte Unterschied zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten zu beachten: Die europäischen Grundrechte haben keinen umfassenden Geltungsanspruch, son-dern weisen gewissermaßen akzessorischen Charakter auf, kommen nur im Anwen-dungsbereich des Gemeinschaftsrechts zum Tragen112. Die Grundfreiheiten hin-

106 Zur Begründung einer Diskriminierung bei lokalbezogenen Bevorzugungen siehe etwa EuGH, Slg. 1999, I-2517 (2536), Rs. C-224/97 – Ciola.

107 Müller-Graff (Fn. 6), S. 42, Roth, FS Everling, S. 1231 (1247); a. A. Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 (465).108 Dazu etwa EuGH, EuR 2003, 657, Rs. C-112/00 – Schmidberger.109 Dazu etwa Ganten (Fn. 47), S. 186 ff. 110 Dazu etwa Wahl/Masing, JZ 1990, 553 ff.111 So zum deutschen Grundrechtsschutz deutlich BVerfGE 77, 170 (215); vgl. auch 60, 253 (295, 298); vgl. dem-

gegenüber Fn. 82 zur EMRK.112 Siehe oben bei Fn. 4.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 431 19.06.2004, 16:25:55

Page 61: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004432

gegen weisen ihren eigenen, von kompetentiellen Gesichtspunkten unabhängigen Anwendungsbereich auf. Vor allem aber ist die Position des EGMR in der Sache ab-zulehnen, weil sie den erwähnten Unterschied zwischen staatlichem Eingriff bzw. staatlicher Beschränkung und unterlassenem Schutz zu gering bewertet. Betrachtet man in diesem Lichte die beiden Urteile des EuGH zur Schutzpflicht, war bei den von der französischen Polizei tolerierten Übergriffen gegen spanische Ob-stimporte die Annahme einer Schutzpflicht unproblematisch. Heikler ist der zweite Fall. Anders als im ersten Fall geht der EuGH von einer umfassenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus, von Privatpersonen geschaffene Hemmnisse für den freien Warenverkehr zu beseitigen. Dass im ersten Fall das Verhalten der Privaten bereits nach nationalem Recht als solches grob rechtswidrig, im zweiten aber rechtmäßig war, wird nicht einmal angesprochen. Hinzu kommt, dass der EuGH im ersten Ur-teil zu Recht deutlich das Ermessen des Staates betont113, in der jüngeren Entschei-dung dagegen von einer umfassenden Verpflichtung des Staates ausgeht, „alle erfor-derlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in ihrem Gebiet der Beach-tung dieser Grundfreiheit sicherzustellen“114. Das Wort „Ermessen“ kommt nicht vor; die vom Generalanwalt thematisierte Frage, ob eine Beschränkung wegen der Geringfügigkeit der Sperrung von 30 Stunden verneint werden kann, wird nicht er-örtert. Dass vorliegend die Blockade eine Art. 11 EMRK unterfallende Demonstra-tion war, wird allein im Zusammenhang mit der Rechtfertigung angesprochen. Ins-gesamt wird dem Staat damit in diesem Urteil – anders als im Fall der französischen Bauernproteste – eine nicht akzeptable Verantwortung auch für das Handeln Priva-ter zugewiesen.

IV. Rechtfertigung von Beschränkungen

1. Kontrolle des Ziels der Beschränkung

Die Möglichkeit der Rechtfertigung einer offen diskriminierenden Beschränkung einer Grundfreiheit ist im Grundsatz abschließend geregelt (Art. 30, 46 EGV)115. Für indirekte Diskriminierungen gilt dies nicht, weil solche nicht allein durch die rein tatsächliche Feststellung begründet werden, dass (maßgeblich) eine besonders geschützte Gruppe benachteiligt wird, etwa Ausländer, ausländische Waren etc. Vielmehr ist zusätzlich die Feststellung erforderlich, dass diese unterschiedliche Be-troffenheit nicht durch andere legitime Gesichtspunkte erklärt wird116. Damit gilt, was der EuGH auch für sonstige Beschränkungen annimmt. Rechtfertigend wirkt jedes „legitime Allgemeininteresse“ – bei Einfuhrhindernissen sachlich identisch

113 EuGH, Slg. 1997, I-6959 (6999 ff.), Rs. C-265/95 – Kommission/Frankreich.114 EuR 2003, 657, Rs. C-112/00 – Schmidberger (Rn. 59; vgl. auch Rn. 62): kritisch dazu Koch, EuZW 2003,

598.115 Zur insoweit nicht immer konsistenten Rechtsprechung siehe etwa Streinz, FS Rudolf, 199 (200 ff.); Kingreen

(Fn. 8), S. 672 ff.116 Grabitz/Hilf-Randelzhofer/Forsthoff (Fn. 36), vor Art. 39-55 Rn. 139; vgl. auch Classen, JZ 1996, 921 (923 f.).

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 432 19.06.2004, 16:25:55

Page 62: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

433EuR – Heft 3 – 2004

jedes „zwingende Erfordernis des Warenverkehrs“. Hierbei handelt es sich jeweils um durch gemeinschaftsrechtliche Begriffe determinierte Ausnahmetatbestände. Je enger dabei die „Maschen“ gezogen werden, desto kleiner werden die Spielräume für die Mitgliedstaaten, desto stärker wird aber auch die Dominanz wirtschafts-rechtlicher Überlegungen. Hier stellt sich also ebenfalls die doppelte Frage nach Kompetenz (zur Regelung) und Inhalt.Dabei hat der EuGH durchweg angemessene Lösungen gefunden117. Das vergleichs-weise strenge Regime für diskriminierende Beschränkungen ist kompetenzrechtlich grundsätzlich unproblematisch, weil der nationale Gesetzgeber nur gezwungen wird, den Anwendungsbereich bestimmter Regeln auszuweiten, nicht aber, deren Inhalt zu verändern. Deswegen dürfen etwa auch EG-Ausländer(innen) in Peep-Shows auftreten, solange deren Betrieb als solcher zulässig ist, auch wenn die Beur-teilung dessen, was mit der öffentlichen Sittlichkeit vereinbar ist, im Grundsatz in die nationale Kompetenz fällt118. Im Übrigen ist die Legitimität des rechtfertigenden Ziels nur in Frage gestellt worden, wenn dieses einen wirtschaftspolitischen Charak-ter aufwies119, weil solche Fragen abschließend im EG-Vertrag normiert sind. Ge-nannt seien Regelungen zum Schutz heimischer Unternehmer120 sowie materiell-rechtliche Steuertatbestände mit allein fiskalischer Erklärung121. Im Grundsatz ist hier ferner der Verbraucherschutz zu erwähnen122. Insoweit geht der EuGH – im Gegensatz zur traditionellen deutschen Rechtsprechung123 – von dem von ihm selbst festgelegten Leitbild eines einigermaßen wachen, lese- und entscheidungsfähigen sowie aufmerksamen Verbrauchers aus. Diese Überlegung beruht letztlich auf dem Marktprinzip und ist von daher kompetenzrechtlich nicht zu beanstanden124.

117 So auch Schwarze-Becker, EU-/EG-Kommentar, 2000, Art. 30 Rn. 37; Gormley, ELR 1994, 644 (650).118 Siehe EuGH, Slg. 1982, 1665 (1708); Rs. 115 und 116/81 – Adoui. Vgl. auch Slg. 2001, I-8615 (8682), Rs.

C-268/99 – Jany und dazu Prieto, RTDE 2003, 489 (492 ff.). Strukturell vergleichbar Slg. 2000, I-1335 (1362 f.), Rs. C-54/99 – Église de Scientology.

119 Zur Beschränkung von Art. 36 EGV auf nichtwirtschaftliche Sachverhalte siehe EuGH, Slg. 1984, 2727 (2750), Rs. 72/80 – Campus Oil; Slg. 1995, I-563 (608), Rs. 324/93 – Evans Medical.

120 Angesprochen im Zusammenhang mit der Verpflichtung zur Zahlung von Mindestlöhnen, die legitimen Ar-beitnehmerinteressen dienen, aber auch unzulässigen Schutz heimischer Unternehmen bezwecken kann. Vgl. EuGH, Slg. 2001, I-7831 (7901 f. einerseits, 7900 f. andererseits), Rs. C-49/98 u.a. – Finalarte u.a.; Slg. 2002, I-787 (813 einerseits, 814 andererseits), Rs. C-164/99 – Portugaia Construções.

121 EuGH, Slg. 1998, I-4695 (4723), Rs. C-264/96 – ICI; Slg. 1999, I-6161 (6200), Rs. C-307/97 – Saint Góbain; Slg. 2002, I-11779 (11814), Rs. C-324/00 – Lankhorst – Hohorst. Zulässig sind dagegen Beschränkungen, die sich aus Gründen der Kohärenz des Steuerrechts mit anderen, als solchen unproblematischen nationalen Rege-lungen ergeben (EuGH, Slg. 1992, I-249 (281), Rs. C-204/90 – Bachmann; Slg. 1992, I-305 (319 f.), C-300/90 – Kommission/Belgien) oder die auf unterschiedliche Kontrollmöglichkeiten zurückzuführen sind (dazu Nachweis in Fn. 136). Nur kompetenzrechtlich zu erklären ist schließlich die Möglichkeit einer Rechtfertigung, die nicht auf das finanzielle Gleichgewicht des Staates, sondern der Krankenkassen abstellt (vgl. dazu Nach-weise in Fn. 130 f.).

122 Zu Art. 28 EGV siehe etwa EuGH, Slg. 1987, 1227 (1270), Rs. 178/84 – Kommission/Deutschland; Slg. 1994, I-3537 (3560), Rs. C-17/93 – van der Veldt; zu Art. 49 EGV siehe EuGH, Slg. 1991, I-659 (687), Rs. C-154/89 – Kommission/Frankreich.

123 BGH, GRUR 1993, 127 (128); siehe jetzt aber GRUR 2000, 619 (621); dazu Beater, Unlauterer Wettbewerb, 2002, § 13 Rn. 18, 40 ff.

124 So auch Lackhoff (Fn. 3), S. 464; kritisch Epiney (Fn. 2), § 8 Rn. 84.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 433 19.06.2004, 16:25:55

Page 63: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004434

Im Übrigen aber sind die Mitgliedstaaten im Grundsatz frei, das Schutzgut125 und das Schutzniveau126 zu bestimmen.

2. Kontrolle des Mittels der Beschränkung

Demgegenüber wird der Einsatz des Mittels, das zur Erreichung des Zieles dient, vom EuGH recht intensiv kontrolliert. Dabei erweisen sich nationale Rechtferti-gungsstrategien vielfach aus rein tatsächlichen Gründen als inkonsistent mit der Folge, dass das Mittel entweder als ungeeignet oder nicht erforderlich anzusehen ist127. So wird etwa der Gesundheitsschutz weder durch die Vorgabe eines höheren Alkoholgehaltes bei Fruchtlikör128 noch durch das Verbot an sich legaler Zusatzstof-fe speziell im Bier129 befördert. Die Krankenkassen geraten nicht in finanzielle Not, wenn sie den Preis einer Brille erstatten müssen, die nicht im In-, sondern im Aus-land gekauft wurde130. Entsprechendes gilt für Besuche niedergelassener Ärzte im Ausland131, bei denen zudem auch nicht anzunehmen ist, dass durch deren Bezah-lung die ärztliche Infrastruktur im Inland leidet: Sprachbarrieren, räumliche Entfer-nung, Aufenthaltskosten und Mangel an Informationen werden dafür sorgen, dass solche Besuche im Ausland – anders als bei denen von Krankenhäusern – die Aus-nahme bleiben132. Die Befristung des Vertrages eines Sprachlektors an einer Hoch-schule sah der EuGH nicht als notwendig an, um hinreichende aktive und passive Sprachfertigkeiten des Lehrpersonals zu sichern, obwohl sich dem Argument in ei-nem parallelen Rechtsstreit, in einem obiter dictum auch das BVerfG anschloss133. Dabei verwies der Gerichtshof auf die Möglichkeit von Prüfungen und ähnli-chem134. Einfacher hätte man das gleiche Ergebnis damit begründen können, dass diese Befristungen jeweils auf die Dauer des Arbeitsverhältnisses abstellten, nicht aber auf die Dauer der Abwesenheit des Betreffenden vom jeweiligen Heimatland und damit in überhaupt keinem Zusammenhang mit dem verfolgten Regelungsziel standen.

125 EuGH, Slg. 1984, 2727 (2752), Rs. 72/83 – Campus Oil.126 Zu Art. 28 EGV siehe EuGH, Slg. 1983, 2445 (2463), Rs. 174/82 – Sandoz; Slg. 1983, 3883 (3905), Rs. 227/82

– van Bennekom; Slg. 1984, 2367 (2386), Rs. 97/83 – Melkunie; 1986, 1511 (1528), Rs. 304/84 – Muller; Slg. 1987, 1227 (1273), Rs. 178/84 – Kommission/Deutschland.

127 Vgl. auch Schwarze-Holoubek (Fn. 30), Art. 49 Rn. 95.128 EuGH, Slg. 1979, 649 (663), Rs. – 120/78 Rewe (Cassis de Dijon). Ähnlich: Slg. 1988, 4285 (4304), Rs. 90/86

– Zoni.129 EuGH, Slg. 1987, 1227 (1275), Rs. 178/84 – Kommission/Deutschland. Ähnlich: Slg. 1990, I-4285 (4296),

Rs. C-67/89 – Kommission/Italien.130 EuGH, Slg. 1998, I-1931 – Kohll.131 EuGH, NJW 2003, 2298, Rs. C-385/99 – Müller-Fauré (Rn. 73). 132 Ebd., Rn. 95 ff.; zustimmend Nowak, EuR 2003, 644 (656); Prieto, RTDE 2003, 489 (490, 518 f.); kritisch

Becker, NJW 2003, 2272 (2276).133 BVerfGE 94, 268 (292).134 EuGH, Slg. 1989, 1591 (1610 f.), Rs. 33/88 – Allué; Slg. 2001, I-4923 (4955), Rs. C-212/99 – Kommission/

Italien.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 434 19.06.2004, 16:25:55

Page 64: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

435EuR – Heft 3 – 2004

Mangelnde Erforderlichkeit des nationalen Mittels ist anzunehmen, wenn statt eines Verbotes eine Information des Verbrauchers ausreicht135. Doppelte Kontrollen im Herkunfts- wie im anderen Staat am gleichen Maßstab sind im Regelfall ebenfalls überflüssig136. Anderes mag gelten, wenn durch völkerrechtliche Verträge zwar die Maßstäbe standardisiert sind, die Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten aber ge-genläufige Interessen hinsichtlich der festzustellenden Tatsachen haben137. Wer zu Abgaben herangezogen wird, mit denen bestimmte Leistungen finanziert werden sollen, muss diese auch tatsächlich erlangen können138.Eine Güterabwägung im eigentlichen Sinne zugunsten einer Grundfreiheit wird vom EuGH hingegen kaum vorgenommen139. Dies kommt im Wesentlichen nur vor, wo es zugleich um den Grundrechtsschutz geht140. Dies erklärt sich aber daraus, dass insoweit in Form insbesondere der EMRK ein europäischer Maßstab zur Ver-fügung steht. In diesem Zusammenhang ist wohl auch der Fall „Bosmann“ zu se-hen141. Zwar kann man sich dem Hinweis der Sportvereine auf die von ihnen er-brachten Ausbildungsleistungen nicht vollständig verschließen. Die frühere Praxis aber, dass ein Berufssportler auch nach Ablauf seines Vertrages nur dann zu einem anderen Verein wechseln konnte, wenn zwischen beiden Vereinen eine Einigung über eine Ablösesumme erzielt wurde, brachte diesen in maßgebliche und deswegen nicht akzeptable Abhängigkeit von Vertragsverhandlungen zwischen Dritten. So hat denn das Bundesarbeitsgericht rein nationale Fälle unter Hinweis auf Art. 12 GG genauso entschieden142. Im Übrigen akzeptiert der EuGH Beschränkungen der Grundfreiheiten auch aus-gesprochen intensiver Art. Obwohl die Freizügigkeit für Lehrer damit faktisch beseitigt wird, hielt er die von ausländischen Bewerbern für den irischen Schuldienst kaum meisterbare Hürde der Kenntnis der zweiten irischen Amtssprache, des Gäli-schen, für zulässig143. Allein aus Respekt vor nationalen Zuständigkeiten ist zu er-klären, dass der EuGH eine Regelung nicht schon deswegen als unverhältnismäßig

135 Slg. 1987, 1227 (1271), Rs. 178/84 – Kommission/Deutschland; Slg. 1994, I-3537 (3560), Rs. C-17/93 – van der Veldt.

136 Zu Art. 28 EGV EuGH, Slg. 1998, I-5121 (5137), Rs. C-400/96 – Harpegnies; Slg. 1998, I-6197 (6225 f.), Rs. C-184/96 – Kommission/Frankreich; zu Art. 49 EGV siehe EuGH, Slg. 1994, I-4249 (4268 f.), Rs. C-293/93 – Houtwipper; Slg. 1995, I-4165 (4197 f.) – Rs. C-55/94 – Gebhard. Anderes gilt für den Fall unter-schiedlicher Maßstäbe (im Steuerrecht); EuGH, Slg. 1997, I-2471 (2500), Rs. C-250/95 – Futura.

137 Beispiel: die steuerrechtliche Überprüfung von konzerninternen Verrechnungspreisen. Zu einschlägigen nati-onalen Regelungsplänen siehe Kaminski/Strunk, RIW 2003, 561; Hahn/Suhrbier-Hahn, IStR 2003, 84.

138 Siehe oben bei Fn. 33 f.139 Vgl. auch Schwarze-Schlag, EU-/EG-Kommentar, 2000, Art. 43 Rn. 56; O’Leary/Fernández-Martín, in:

Andenas/Roth (Fn. 2), S. 163 (189 ff.).140 Slg. 1992, I-2575 (2609), Rs. C-62/90 – Kommission/Deutschland; Slg. 1997, I-3689 (3717), Rs. C-385/95 –

Familiapress; Slg. 2002, I- 6279 (6321), Rs. C-60/00 – Carpenter; EuGRZ 2003, 607, Rs. C-190/01 – Akrich (Rn. 58 ff.); dezidiert kritisch dazu Kingreen (Fn. 2), S. 164 ff. Voraussetzung ist selbstverständlich eine prä-zise Prüfung des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts, die vom EuGH aber nicht immer vorgenom-men wird. Im hiesigen Kontext dazu etwa oben bei Fn. 43 f.; ferner Kanitz/Steinberg, EuR 2003, 1013 ff.

141 Dazu bereits oben nach Fn. 62.142 BAG, NZA 1997, 647; ferner BAGE 63, 232 (239).143 EuGH, Slg. 1989, 3967 (3993 f.), Rs. 387/87 – Groener. Etwas höhere Anforderungen stellt der EuGH etwa bei

nationalen Sprachanforderungen für die Zulassung zum Arztberuf, doch er überlässt die letzte Entscheidung auch hier den mitgliedstaatlichen Gerichten (vgl. noch bei Fn. 146). Siehe EuGH, Slg. 2000, I-5123 (5167), Rs. C-424/97 – Haim und dazu Candela Soriano, CDE 2002, 9 (38).

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 435 19.06.2004, 16:25:56

Page 65: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004436

ansieht, weil andere Mitgliedstaaten vergleichbare Regelungen nicht kennen144. Die-se Beschränkung des EuGH bei der Kontrolle der Rechtfertigungsprüfung auf eini-ge Punkte wird erst so richtig deutlich, wenn man sie vergleicht mit der Relevanz der Gesichtspunkte, die die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes be-stimmen. Hier steht ganz eindeutig die Güterabwägung im Vordergrund. Daneben wird auch die Legitimität des Zieles durchaus intensiver überprüft. Demgegenüber kommt den Kriterien der Eignung und der Erforderlichkeit eine eher bescheidene Rolle zu145. In einer Reihe von Fällen schließlich hat sich der EuGH mit der Zulässigkeit von Beschränkungen der Grundfreiheiten im Rahmen von Vorabentscheidungsverfah-ren nach Art. 234 EGV zu befassen. Dies gestattet dem EuGH, sich auf relativ ab-strakte Aussagen zu beschränken und die konkrete Subsumtion – und damit auch die konkrete Konfliktentscheidung – dem nationalen Gericht zu überlassen146. Da-mit bleibt die Zuständigkeit letztlich in nationaler Hand.

V. Schluss

1. Zusammenfassung

Die besondere Bedeutung der Grundfreiheiten im Spannungsfeld von europäischer Marktfreiheit und nationalen Gestaltungsspielräumen, die in der Überwindung spe-zifisch für das grenzüberschreitende Wirtschaften bestehender Hürden liegt, ist vom EuGH bislang nur begrenzt herausgearbeitet worden. Am besten ist dies im Bereich der Rechtfertigung von Beschränkungen geschehen mit einem ausgesprochen diffe-renzierten Vorgehen bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Bei der Frage, wann eine Beschränkung vorliegt, gibt es zum Warenverkehr überzeugende Ansätze. Proble-matisch haben sich insoweit vor allem die Personenfreiheiten erwiesen. Der Hinweis auf eine den Marktzugang behindernde Wirkung allein reicht insoweit nicht; hinzu kommen muss grundsätzlich ein personenbezogener Charakter der Maßnahme. Die vom EuGH recht umfassend postulierte Drittwirkung schließlich ist auf ein partiel-les, marktkonformes Diskriminierungsverbot zu reduzieren. Die Schutzpflicht kann nicht entscheidend weiter gehen und ist wegen des mitgliedstaatlichen Ermessens-spielraums zudem daran geknüpft, dass schwerwiegende Beeinträchtigungen zu verzeichnen sind.

144 EuGH, Slg. 1995, I-1141 (1181), Rs. C-384/93 – Alpine Investments; Slg. 1996, I-6511 (6541), Rs. C-3/95 – Broede; Slg. 1999, I-7289 (7315), Rs. C-67/98 – Zenatti; Slg. 2001, I-837 (868), Rs. C-108/96 – Mac Quen (wenn auch unter Hinweis auf eine, eine vergleichbare Regelung in Deutschland für verfassungswidrig erklä-rende, Entscheidung des BVerfG).

145 Siehe etwa Stern, Staatsrecht III/2, 1994, S. 778, 782 mwN.146 Siehe dazu etwa Fn. 143 ferner EuGH, Slg. 1997, I-3689 (3718), Rs. C-368/95 – Familiapress; Slg. 1997, I-3843

(3893), verbRs. C-34 bis 36/95 – De Agostini; Slg. 2000, I-117 (147), Rs. C-220/98 – Lauder; Slg. 2001, 1795 (1827), Rs. C-405/98 – Gourmet International Products; Slg. 2002, I-607 (653 ff.), Rs. C-390/99 – Canal Saté-lite; Slg. 2002, I-5031 (5083 ff.), Rs. C-159/00 – Sapod Audic; Urteil vom 11.12.2003, Rs. C-322/01 – Deut-scher Apothekerverband, Rn. 118 – EuR 2004, 253 (270). Kritisch dazu aber Huglo, RTDE 2001, 743 (752).

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 436 19.06.2004, 16:25:56

Page 66: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

437EuR – Heft 3 – 2004

147 Koenig/Lorz, JZ, 2003, 167 (172); Broß, VA 92 (2001), 425 (429); Weiler, in: Kreuzer/Scheuing/Sieber (Hrsg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997, 9 (34).

148 Siehe etwa EuGH, Slg. 1991, I-2867 (2901), Rs. C-300/89 – Kommission/Rat (Titandioxid-Richtlinie); Slg. 2003, I-4989 (5034), verb. Rs. C-465/00, C-138/01 und C-139/01 – ORF mit gegenteiligem Schlussantrag Tizzano (Rn. 54 f.).

149 EuGH, Slg. 1999, I-7403 (7439), Rs. C-273/97 – Sirdair; Slg. 2000, I-69 (103), Rs. C-285/98 – Kreil. Zur Kritik siehe etwa Scholz, RIW 2000, 222.

150 EuGH, Slg. 1976, 455 (473 f.), Rs. 43/75.151 EuGH, Slg. 1985, 593 (612 ff.), Rs. 293/83.

2. Ausblick: Zur Verfehltheit eines Kompetenzgerichts

Die vorstehenden Ausführungen sind schließlich aufschlussreich für das derzeit zum Teil geforderte „Kompetenzgericht“. Dieses, zur Hälfte mit Richtern des EuGH, zur anderen Hälfte mit hauptberuflich an nationalen Gerichten tätigen Rich-tern besetzt147, soll Kompetenzfragen mit größerem Verständnis für nationale Be-lange entscheiden. Die vorstehenden Überlegungen haben die „Kompetenzrelevanz“ des Primärrechts deutlich gemacht. Das Verständnis der Grundfreiheiten hat näm-lich Auswirkungen auch für die binnenmarktbezogene Rechtsangleichungskompe-tenz nach Art. 95 EGV. Zwar geht das Binnenmarktkonzept ersichtlich über die Grundfreiheiten hinaus und erfasst zumindest auch die Unterschiede in den Wettbe-werbsbedingungen, die keiner Grundfreiheit unterfallen148. Nationale Regelungen etwa, die den Verkehr von Waren betreffen, aber keine Beschränkungen im techni-schen Sinne darstellen, insbesondere alle Maßnahmen, auf die im Sinne des Keck-Urteils des EuGH Art. 28 EGV letztlich nicht anwendbar ist, unterliegen dagegen im Grundsatz keiner Harmonisierung nach Art. 95 EGV. Dies gilt im Übrigen auch für andere Bereiche des EG-Rechts. Die Anwendung der Gleichberechtigungsrichtlinien auf die Bundeswehr149 hätte sich nie als Frage ge-stellt, würde die maßgebliche Norm des Primärrechts, Art. 141 EGV, unter Berück-sichtigung von Art. 45 EGV, der Ausnahme bei der Niederlassungs- und Dienstleis-tungsfreiheit, zu Gunsten der Ausübung öffentlicher Gewalt, ausgelegt. Entste-hungsgeschichtlich hätte man dies rechtfertigen können, weil der frühere Art. 119 EWGV nur deswegen in den Vertrag aufgenommen wurde, weil Frankreich in der Annahme, im Gegensatz zu den anderen EWG-Gründungsstaaten diesen Grundsatz selbst bereits verwirklicht zu haben, eine solche Reglung zum Schutz der Wettbe-werbsfähigkeit seiner Wirtschaft forderte. Die Frage nach der Konkurrenzfähigkeit der Arbeitgeber stellt sich aber nur im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten. Die – aus durchaus guten Gründen – vom EuGH vorgenommene, erweiternde, nämlich auch frauenschützend akzentuierte Interpretation der Norm in seinem Defrenne II-Urteil aus dem Jahre 1976150 hat dann diesen Weg verschlossen – für Art. 141 EGV ebenso wie für die entsprechenden Richtlinien. Ähnlich war in der Bildungspolitik die frühere Kompetenzbestimmung (Art. 128 EWGV a.F.) bis zum materiellrechtli-chen „Gravier-Urteil“ des EuGH151 weitgehend „lettre morte“ geblieben.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 437 19.06.2004, 16:25:56

Page 67: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004438

Im Ergebnis zeigt sich: Kompetenzfragen können nicht isoliert behandelt werden; sie stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem materiellen Recht. Dies belegt auch die Struktur des Vertrages, in dem die Kompetenzbestimmungen je-weils in unmittelbarem Zusammenhang mit den entsprechenden materiellrechtli-chen Regeln stehen. Dieser Zusammenhang aber muss bei der Ausgestaltung der institutionellen Struktur der rechtsprechenden Organe beachtet werden. Nun schließt dies nicht prinzipiell die Schaffung eines neuen Gerichtes aus. Vielmehr gibt es ei-nen Mechanismus, mit dem theoretisch die notwendige Kohärenz und Einheitlich-keit der Rechtsprechung auch zwischen hierarchisch nicht näher zugeordneten Ge-richten bzw. Spruchkörpern eines Gerichtes gewährleistet werden kann, nämlich Vorlageverfahren. Diese haben nur einen Nachteil. Nach aller Erfahrung auf natio-naler wie internationaler Ebene wird ihre Anwendung von den Betroffenen systema-tisch vermieden oder umgangen. Zum Glück ist dieser Gedanke daher vom Konvent nicht aufgegriffen worden.

Classen, Grundfreiheiten im Spannungsfeld

Layout_Heft 3.indd 438 19.06.2004, 16:25:56

Page 68: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

439EuR – Heft 3 – 2004

Nationale Wettbewerbsbeschränkung durch italienisches Zündholzkonsortium

1. Im Fall von Verhaltensweisen von Unternehmen, die gegen Artikel 81 Absatz 1 EG verstoßen und die durch nationale Rechtsvorschriften, die deren Wirkungen rechtfertigen oder verstärken, vorgeschrieben oder erleichtert werden, besonders im Hinblick auf die Festlegung von Preisen oder auf Marktaufteilungsvereinba-rungen, darf eine nationale Wettbewerbsbehörde, die die Aufgabe hat, unter ande-rem über die Einhaltung von Artikel 81 EG zu wachen, – diese nationalen Rechtsvorschriften nicht anwenden,– gegen die betroffenen Unternehmen keine Sanktionen für in der Vergangenheit

liegende Verhaltensweisen verhängen, wenn diese Verhaltensweisen ihnen durch diese nationalen Rechtsvorschriften vorgeschrieben waren,

– gegen die betroffenen Unternehmen Sanktionen für ihr Verhalten nach der Ent-scheidung, diese nationalen Rechtsvorschriften nicht anzuwenden, verhängen, sobald diese Entscheidung ihnen gegenüber Bestandskraft erlangt hat, und

– gegen die betroffenen Unternehmen Sanktionen für in der Vergangenheit lie-gende Verhaltensweisen verhängen, wenn diese durch diese nationalen Rechts-vorschriften erleichtert oder begünstigt wurden, allerdings unter Berücksichti-gung der Besonderheiten des rechtlichen Rahmens, innerhalb dessen die Unter-nehmen gehandelt haben.

2. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts zu beurteilen, ob nationale Rechtsvorschrif-ten, nach denen die Kompetenz zur Festlegung der Wiederverkaufspreise eines Er-zeugnisses bei einem Ministerium und die Befugnis zur Verteilung der Erzeugung auf die Unternehmen bei einem Konsortium mit Zwangsmitgliedschaft der Erzeu-ger liegen, im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG so verstanden werden können, dass sie Spielraum für Wettbewerb lassen, der durch selbständige Verhaltensweisen dieser Unternehmen verhindert, eingeschränkt oder verfälscht werden kann.

Urteil des Gerichtshofs vom 09.09.2003 (Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale amministrativo regio-nale per il Lazio (Italien)), Consorzio Industrie Fiammiferi (CIF) /Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato, Rs. C-198/01

URTEIL

[1] Das Tribunale amministrativo regionale per il Lazio hat [...] gemäß Artikel 234 EG zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 81 EG zur Vorabentscheidung vorgelegt. [2] Diese Fragen stellen sich in Rahmen einer Klage, mit der das Consorzio Industrie Fiam-miferi, das Konsortium der italienischen Zündholzhersteller (im Folgenden: CIF), die Ent-scheidung der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato, der italienischen Wettbe-werbsbehörde (im Folgenden: Autorità), vom 13. Juli 2000 anficht, mit der diese feststellte, dass die Rechtsvorschriften, die das CIF begründen und seine Tätigkeit regeln, gegen die Artikel 10 EG und 81 EG verstießen und dass das CIF und seine Mitglieder Artikel 81 EG durch die Zuteilung von Erzeugungsquoten verletzt hätten, und mit der sie anordnete, die festgestellten Verstöße abzustellen.

RECHTSPRECHUNG

Layout_Heft 3.indd 439 19.06.2004, 16:25:56

Page 69: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004440

Nationales Recht

[3] Durch das Königliche Dekret Nr. 560 vom 11. März 1923 (im Folgenden: Königliches Dekret Nr. 560/1923) führte der italienische Gesetzgeber eine neue Regelung über die Her-stellung und den Verkauf von Zündhölzern ein, mit der ein Konsortium der inländischen Zündholzhersteller geschaffen wurde, das CIF. Das Dekret verlieh dem CIF ein Handelsmo-nopol in Form des ausschließlichen Rechts, die für den Verbrauch auf dem italienischen Markt erforderlichen Zündhölzer herzustellen und zu verkaufen. [4] Dem CIF wurden außerdem besondere regierungsamtliche Marken für die Erhebung der mit demselben Dekret eingeführten Zündholzsteuer zugeteilt. Diese Marken waren unter den Mitgliedsunternehmen zu verteilen, damit diese sie auf den von ihnen hergestellten Zündholzschachteln anbrachten. [5] Das CIF ist also als geschlossenes Konsortium mit Zwangsmitgliedschaft nach italieni-schem Recht für die Herstellung und den Vertrieb der zur Deckung des Inlandsbedarfs er-forderlichen Zündhölzer errichtet worden. [6] Die Tätigkeit des CIF wurde durch eine Vereinbarung zwischen diesem und dem italieni-schen Staat geregelt, die dem Königlichen Dekret im Anhang als Bestandteil beigefügt war. Durch diese Vereinbarung verpflichtete sich der italienische Staat, den Vertrieb von Erzeug-nissen nicht dem CIF angehörender Unternehmen auf dem Inlandsmarkt zu untersagen, die Gründung neuer Herstellerunternehmen zu verhindern und durch Erlass des Finanzministe-riums den Verkaufspreis der Zündhölzer festzusetzen. Das CIF seinerseits war im Wesentli-chen dazu verpflichtet, die Steuer auf die Herstellung von Zündhölzern für den inländischen Verbrauch durch das Steuermarkensystem für alle Mitgliedsunternehmen zu entrichten. [7] Die Vereinbarung regelte ferner die interne Organisation des CIF im Einzelnen. Ihr Ar-tikel 4 übertrug die Aufgabe der Kontingentierung und Aufteilung der Produktion von Zündhölzern unter den Mitgliedern des CIF einem Ad-hoc-Ausschuss (im Folgenden: Quo-tenaufteilungsausschuss). Dieser besteht aus einem Beamten der Amministrazione dei Mo-nopoli di Stato (im Folgenden: staatliche Monopolbehörde) als Vorsitzendem sowie aus ei-nem Vertreter des CIF und drei Vertretern der Mitgliedsunternehmen, die vom Verwal-tungsrat des CIF ernannt werden, und trifft seine Entscheidungen mit einfacher Mehrheit. Seine Entscheidungen werden der staatlichen Monopolbehörde mitgeteilt und von dieser ge-nehmigt. Außerdem müssen einige Entscheidungen, darunter diejenigen betreffend die Übertragung von Quoten, dem Finanzministerium mitgeteilt und von diesem genehmigt werden. Die Satzung des CIF sieht vor, dass Erzeugungsquoten unter Berücksichtigung der bestehenden prozentualen Anteile zugeteilt werden müssen. [8] Die Einhaltung dieser Quoten wird von einem anderen Ausschuss überwacht, der in Ar-tikel 23 Absatz 2 der Satzung des CIF vorgesehen ist (im Folgenden: Quotenüberwachungs-ausschuss), aus drei vom Verwaltungsrat des CIF bestellten Mitgliedern besteht und der Geschäftsführung des CIF zu Beginn jedes Jahres Vorschläge für den Plan der von den Mit-gliedern des CIF zu liefernden Zündhölzer unterbreitet. [9] Das System blieb bis zum Urteil der Corte Costituzionale Nr. 78 vom 3. Juni 1970 nahe-zu unverändert, mit dem die Organisationsform des CIF wegen Verstoßes gegen den Grund-satz der Freiheit der privat-wirtschaftlichen Betätigung gemäß Artikel 41 Absatz 1 der itali-enischen Verfassung für rechtswidrig erklärt wurde, da sie den Beitritt neuer Unternehmen zum CIF ausschloss. [10] Mit Ministerialdekret vom 23. Dezember 1983, durch das eine neue Vereinbarung zwi-schen dem CIF und dem italienischen Staat gebilligt wurde, wurde neuen Unternehmen, die

Rechtsprechung

Layout_Heft 3.indd 440 19.06.2004, 16:25:57

Page 70: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

441EuR – Heft 3 – 2004

von der Finanzverwaltung eine Lizenz zur Herstellung von Zündhölzern erhalten hatten, der Beitritt zum CIF gestattet. [11] Die Mitgliedschaft im CIF blieb jedoch zumindest bis zur Aufhebung des Steuermono-pols im Jahr 1993 obligatorisch (zu dieser Aufhebung siehe unten Randnr. 14). [12] Durch Dekret des Finanzministeriums vom 5. August 1992 (im Folgenden: Dekret vom 5. August 1992) wurde die letzte Fassung der Vereinbarung zwischen dem CIF und dem ita-lienischen Staat gebilligt, die am 31. Dezember 2001 außer Kraft treten sollte (im Folgenden: Vereinbarung von 1992). [13] Nach Artikel 4 dieser Vereinbarung, die die Tätigkeit des CIF regelt, werden den Mit-gliedsunternehmen immer noch Erzeugungsquoten durch den Quotenaufteilungsausschuss zugeteilt. Die Überwachung der Einhaltung der Quoten wiederum bleibt weiter Aufgabe des Quotenüberwachungsausschusses. [14] Mit dem Gesetzesdekret Nr. 331 vom 30. August 1993 (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 331/1993) erließ der italienische Gesetzgeber neue Regeln über Verbrauchsteuern und andere indirekte Steuern. Artikel 29 dieses Gesetzesdekrets sieht vor, dass der Hersteller und der Importeur unmittelbare Schuldner der Herstellungsabgabe sind. Nach Ansicht des vorle-genden Gerichts hob diese Regelung das Steuermonopol des CIF auf. [15] Es bestehen unterschiedliche Ansichten über die obligatorische oder freiwillige Natur der Mitgliedschaft im CIF nach diesem Zeitpunkt hinsichtlich derjenigen Zündholzherstel-ler, die schon Mitglieder waren, bevor das Steuermonopol endete. [16] Vor 1986 war die Autorità nur für die Anwendung des italienischen Wettbewerbsrechts, nicht aber für die des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft zuständig. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 52 vom 6. Februar 1996 (im Folgenden: Gesetz Nr. 52/1996) ist sie jedoch auch dafür zuständig, die Artikel 81 Absatz 1 EG und 82 EG anzuwenden.

Der Ausgangsrechtsstreit

[17] Aufgrund der Beschwerde eines deutschen Zündholzherstellers, der behauptete, Schwie-rigkeiten beim Absatz seiner Erzeugnisse auf dem italienischen Markt zu haben, eröffnete die Autorità im November 1998 ein Untersuchungsverfahren gegen das CIF, dessen Mitglie-der und das Consorzio Nazionale Attività Economico-Distributiva Integrata (im Folgenden: Conaedi), einen Zusammenschluss fast aller Betreiber von Magazzini di Generi di Monopo-lio (Lager für Monopolwaren; im Folgenden: MGM), die als Großhändler des Erzeugnisses auftreten, um dem Verdacht etwaiger Verstöße gegen die Artikel 85 und 86 EG-Vertrag (jetzt Artikel 81 EG und 82 EG) nachzugehen und festzustellen, ob der Gründungsakt des CIF und die späteren Vereinbarungen zwischen dem CIF und dem italienischen Staat gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag (jetzt Artikel 8 Absatz 1 EG) verstießen. [18] Der Gegenstand der Untersuchung wurde bald auf eine Absprache zwischen dem CIF und einem der wichtigsten europäischen Zündholzhersteller, der schweizerischen Swedish Match SA (im Folgenden: Swedish Match), ausgedehnt, durch die sich das CIF angeblich verpflichtet hatte, von dieser eine Zündholzmenge zu erwerben, die einem vorher festgesetz-ten Anteil des italienischen Inlandsverbrauchs entsprach. [19] Am 13. Juli 2000 stellte die Autorità in ihrer endgültigen Entscheidung fest, dass das Verhalten der Teilnehmer am italienischen Markt für Zündhölzer sich zwar mehr oder weni-ger direkt aus dem rechtlichen Rahmen ergeben habe, der diesen Bereich seit dem Königli-chen Dekret Nr. 560/1923 geregelt habe, teilweise aber auch das Ergebnis selbständig getrof-fener Geschäftsentscheidungen gewesen sei.

Rechtsprechung

Layout_Heft 3.indd 441 19.06.2004, 16:25:57

Page 71: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004442

[20] Die Autorità unterschied bei den Handlungen des CIF drei Arten von Verhaltensweisen: solche, die ihm durch Rechtsvorschriften auferlegt waren, solche, die durch Rechtsvorschrif-ten lediglich begünstigt wurden, und solche, die auf freie Entscheidungen des CIF zurück-gingen. Sie unterschied hierbei ferner zwischen zwei Zeiträumen. [21] Erstens führte sie, was die Zeit vor dem Inkrafttreten des Gesetzesdekrets Nr. 331/1993 angeht, sowohl die Errichtung des CIF als auch den Umstand, dass ihm die Aufsicht über die Produktion und den Vertrieb der Zündhölzer übertragen worden war, ausschließlich auf die vorgenannten nationalen Rechtsvorschriften zurück. [22-24] [...][25] Zweitens unterstrich die Autorità – nach der Feststellung, dass das Dekret das Gesetzes-dekret Nr. 331/1993 zusammen mit der Vereinbarung von 1992 das Steuer- und das Handels-monopol des CIF de facto aufgehoben habe – , dass die Mitgliedschaft im CIF von 1994 an für die Produktion und den Vertrieb von Zündhölzern in Italien nicht mehr obligatorisch gewesen sei. [26-28] [...][29] Aus diesen Gründen gelangte die Autorità u. a. zu folgendem Ergebnis: – Das Bestehen und die Tätigkeit des CIF gemäß dem Königlichen Dekret Nr. 560 und der

im Anhang beigefügten Vereinbarung, zuletzt geändert durch das Dekret vom 5. August 1992, verstoßen gegen die Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe g EG, 10 EG und 81 Absatz 1 EG, da die betreffende Regelung unter Verstoß gegen Artikel 81 Absatz 1 EG dem CIF und dessen Mitgliedern bis 1994 wettbewerbswidrige Verhaltensweisen vorgeschrieben bzw. nach diesem Zeitpunkt erlaubt und erleichtert hat;

– jedenfalls haben das CIF und die Mitgliedsunternehmen Konsortialbeschlüsse gefasst und Vereinbarungen getroffen, die dazu dienten, die Modalitäten und Verfahren zur Auftei-lung der Produktion der vom CIF zu vertreibenden Zündhölzer unter diesen in einer Wei-se festzulegen, die den Wettbewerb stärker als in der einschlägigen Regelung vorgesehen beschränkt hat, und sich dadurch unter Verstoß gegen Artikel 81 Absatz 1 EG wettbe-werbswidrig verhalten;

– CIF und Swedish Match haben eine Vereinbarung zur Aufteilung der Produktion und zum gemeinsamen Vertrieb von Zündhölzern durch das CIF geschlossen, was den Tatbestand einer gegen Artikel 81 Absatz 1 EG verstoßenden wettbewerbswidrigen Handlung er-füllt;

– das CIF, die Mitgliedsunternehmen und Swedish Match haben die festgestellten Verstöße einzustellen und müssen sich für die Zukunft jeder Absprache enthalten, deren Gegen-stand oder Wirkung denen der festgestellten Absprache vergleichbar ist;

– das Conaedi und die Magazzini di Generi di Monopolio dürfen in Zukunft keine Abspra-chen treffen, deren Gegenstand oder Wirkung mit denen der festgestellten Absprachen vergleichbar ist.

Das Ausgangsverfahren

[30] Das CIF hat am 14. November beim Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio Klage gegen die Entscheidung der Autorità erhoben.[31-38] [...][39 Das Tribunale amministrativo regionale per il Lazio hat daher beschlossen, das Verfah-ren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Rechtsprechung

Layout_Heft 3.indd 442 19.06.2004, 16:25:57

Page 72: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

443EuR – Heft 3 – 2004

1. Wenn eine Absprache zwischen Unternehmen ungünstige Auswirkungen auf den Handel in der Gemeinschaft hat und wenn diese Absprache durch nationale Rechtsvorschriften, die diese Wirkungen rechtfertigen oder verstärken, vorgeschrieben oder erleichtert wird, besonders im Hinblick auf die Festlegung von Preisen oder auf Marktaufteilungsvereinba-rungen, schreibt Artikel 81 EG dann der nationalen Wettbewerbsbehörde vor oder erlaubt ihr, diese Vorschriften nicht anzuwenden und das wettbewerbsfähige Verhalten der Unter-nehmen zu bestrafen oder es jedenfalls für die Zukunft zu verbieten, und wenn ja, mit welchen Folgen?

2. Können nationale Rechtsvorschriften, nach denen die Kompetenz zur Festlegeung der Wiederverkaufspreise eines Erzeugnisses bei einem Ministerium und die Befugnis zur Verteilung der Erzeugung auf die Unternehmen bei einem Konsortium mit Zwangsmit-gliedschaft der Erzeuger liegen, im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG so verstanden wer-den, dass sie Spielraum im Wettbewerb lassen, der durch selbständige Verhaltensweisen dieser Unternehmen verhindert, eingeschränkt oder verfälscht werden kann?

Zur ersten Frage

[40-44] [...][45] Insoweit ist erstens daran zu erinnern, dass die Artikel 81 EG und 82 EG zwar an sich nur das Verhalten von Unternehmen und nicht durch Gesetz oder Verordnung getroffene Maßnahmen der Mitgliedstaaten betreffen; in Verbindung mit Artikel 10 EG, der eine Pflicht zur Zusammenarbeit begründet, verbieten sie es jedoch den Mitgliedstaaten, Maß-nahmen, auch in Form von Gesetzen oder Verordnungen, zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufhe-ben könnten (vgl. Urteile vom 16. November 1977 in der Rechtssache 13/77, GB-Inno-BM, Slg. 1977, 2115, Randnr. 31, vom 21. September 1988 in der Rechtssache 267/86, Van Eycke, Slg. 1988, 4769, Randnr. 16, vom 17. November 1993 in der Rechtssache C-185/91, Reiff, Slg. 1993, I-5801, Randnr. 14, vom 9. Juni 1994 in der Rechtssache C-153/93, Delta Schiffahrts- und Speditionsgesellschaft, Slg. 1994, I-2517, Randnr. 14, vom 5. Oktober 1995 in der Rechtssache C-96/94, Centro Servizi Spediporto, Slg. 1995, I-2883, Randnr. 20, und vom 19. Februar 2002 in der Rechtssache C-35/99, Arduino, Slg. 2002, I-1529, Randnr. 34). [46] Wie der Gerichtshof insbesondere entschieden hat, liegt eine Verletzung der Artikel 10 EG und 81 EG vor, wenn ein Mitgliedstaat gegen Artikel 81 EG verstoßende Kartellabspra-chen vorschreibt oder erleichtert oder die Auswirkungen solcher Absprachen verstärkt oder wenn er seiner eigenen Regelung dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, dass er die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteil-nehmern überträgt (vgl. Urteile Van Eycke, Randnr. 16, Reiff, Randnr. 14, Delta Schiffahrts- und Speditionsgesellschaft, Randnr. 14, Centro Servizi Spediporto, Randnr. 21, und Ardui-no, Randnr. 35). [47 Im Übrigen sieht der EG-Vertrag seit Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht aus-drücklich vor, dass die Tätigkeit der Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Wirtschaftspolitik dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist (vgl. Artikel 3a Absatz 1 und 102a EG-Vertrag [jetzt Artikel 4 Absatz 1 EG und 98 EG]). [48] Zweitens ist daran zu erinnern, dass der Vorrang des Gemeinschaftsrechts nach ständi-ger Rechtsprechung verlangt, dass jede nationale Rechtsvorschrift, die einer Gemeinschafts-vorschrift entgegensteht, unangewendet bleibt, unabhängig davon, ob sie älter oder jünger ist als diese.

Rechtsprechung

Layout_Heft 3.indd 443 19.06.2004, 16:25:57

Page 73: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004444

[49] Diese Pflicht, eine dem Gemeinschaftsrecht entgegenstehende nationale Rechtsvor-schrift unangewendet zu lassen, obliegt nicht nur den nationalen Gerichten, sondern allen staatlichen Organen einschließlich der Verwaltungsbehörden (vgl. in diesem Sinn Urteil vom 22. Juni 1989 in der Rechtssache 103/88, Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839, Randnr. 31), wo-raus sich gegebenenfalls die Verpflichtung ergibt, alle Bestimmungen zu erlassen, um die volle Geltung des Gemeinschaftsrechts zu erleichtern (vgl. Urteil vom 13. Juli 1972 in der Rechtssache 48/71, Kommission/Italien, Slg. 1972, 529, Randnr. 7). [50] Hat eine nationale Wettbewerbsbehörde wie die Autorità die Aufgabe, unter anderem über die Einhaltung von Artikel 81 EG zu wachen, und erlegt diese Vorschrift in Verbindung mit Artikel 10 EG den Mitgliedstaaten eine Pflicht zur Zurückhaltung auf, würde die prak-tische Wirksamkeit der Wettbewerbsvorschriften der Gemeinschaft geschmälert, wenn diese Behörde im Rahmen einer Untersuchung über das Verhalten von Unternehmen im Rahmen von Artikel 81 EG nicht feststellen könnte, dass eine nationale Maßnahme gegen Artikel 10 EG in Verbindung mit Artikel 81 EG verstößt, und sie daher nicht unangewendet lassen könnte. [51] In diesem Zusammenhang ist es ohne Bedeutung, dass den Unternehmen, wenn ihnen durch nationale Rechtsvorschriften ein wettbewerbswidriges Verhalten vorgeschrieben wird, nicht auch ein Verstoß gegen die Artikel 81 EG und 82 EG vorgeworfen werden kann (vgl. in diesem Sinn Urteil Kommission und Frankreich/Ladbroke Racing, Randnr. 33). Die den Mitgliedstaaten auf Grund der Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe g EG, 10 EG, 81 EG und 82 EG obliegenden Verpflichtungen, die sich von denen der Unternehmen aus den Artikeln 81 EG und 82 EG unterscheiden, bleiben nämlich bestehen, so dass die nationale Wettbewerbsbe-hörde verpflichtet bleibt, die streitige nationale Maßnahme nicht anzuwenden. [52] Im Zusammenhang mit den Sanktionen, die gegenüber dem betreffenden Unternehmen verhängt werden können, ist demgegenüber in zweifacher Hinsicht danach zu unterscheiden, ob die nationalen Rechtsvorschriften die Möglichkeit eines Wettbewerbs, der durch selbstän-dige Verhaltensweisen der Unternehmen noch verhindert, eingeschränkt oder verfälscht werden kann, bestehen lassen oder nicht und ob – im ersten Fall – der streitige Sachverhalt sich vor oder nach der Erklärung der nationalen Wettbewerbsbehörde, diese nationalen Rechtsvorschriften nicht anzuwenden, ereignet hat. [53] Im ersten Fall – wenn ein nationales Gesetz die Möglichkeit eines Wettbewerbs, der durch selbständige Verhaltensweisen der Unternehmen verhindert, eingeschränkt oder ver-fälscht werden kann, ausschließt – ist festzustellen, dass die Verpflichtung der nationalen Wettbewerbsbehörden, ein solches wettbewerbswidriges Gesetz nicht anzuwenden, die be-troffenen Unternehmen keinen strafrechtlichen oder administrativen Sanktionen für ein in der Vergangenheit liegendes Verhalten aussetzen darf, wenn dieses Verhalten durch das be-sagte Gesetz vorgeschrieben war; anderenfalls läge ein Verstoß gegen den allgemeinen ge-meinschaftsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit vor. [54] Die Entscheidung, das betreffende Gesetz nicht anzuwenden, ändert nämlich nichts da-ran, dass es das Verhalten der Unternehmen in der Vergangenheit bestimmt hat. Dieses Ge-setz bleibt damit für die Zeit vor der Entscheidung, es nicht anzuwenden, weiter ein Recht-fertigungsgrund, der die betroffenen Unternehmen allen Folgen des Verstoßes gegen die Artikel 81 EG und 82 EG entzieht, und zwar sowohl gegenüber den Behörden als auch ge-genüber anderen Wirtschaftsteilnehmern. [55] Zur Sanktion für zukünftige Verhaltensweisen von Unternehmen, die bisher durch ein nationales Gesetz gezwungen waren, sich wettbewerbswidrig zu verhalten, ist darauf hinzu-weisen, dass die Entscheidung der nationalen Wettbewerbsbehörde, die den Verstoß gegen

Rechtsprechung

Layout_Heft 3.indd 444 19.06.2004, 16:25:57

Page 74: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

445EuR – Heft 3 – 2004

Artikel 81 EG feststellt und ein solches wettbewerbswidriges Gesetz unangewendet lässt, ab dem Zeitpunkt, zu dem sie ihnen gegenüber Bestandskraft erlangt hat, für die betroffenen Un-ternehmen verbindlich ist. Ab diesem Zeitpunkt können die Unternehmen nicht mehr geltend machen, sie seien durch dieses Gesetz gezwungen, gegen die Wettbewerbsregeln der Gemein-schaft zu verstoßen. Ihr zukünftiges Verhalten kann daher Sanktionen unterworfen werden. [56] Im zweiten Fall – wenn ein nationales Gesetz sich darauf beschränkt, selbstständige wettbewerbswidrige Verhaltensweisen der Unternehmen zu veranlassen oder zu erleichtern – bleiben diese den Artikeln 81 EG und 82 EG unterworfen und können mit Sanktionen be-legt werden, und zwar auch für Verhaltensweisen aus der Zeit vor der Entscheidung, dieses Gesetz unangewendet zu lassen. [57] Dieser Umstand rechtfertigt zwar keine Praktiken, die geeignet sind, die Beeinträchti-gung des Wettbewerbs noch zu vermehren, muss jedoch dazu führen, das Verhalten der be-troffenen Unternehmen bei der Bemessung der Sanktion im Licht des mildernden Umstands zu beurteilen, den der nationale rechtliche Rahmen bildet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 1975 in den verbundenen Rechtssachen 40/73 bis 48/73, 50/73, 54/73 bis 56/73, 111/73, 113/73 und 114/73, Suiker Unie u. a./Kommission, Slg. 1975, 1663, Randnr. 620). [58] Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, [wie aus dem Tenor ersichtlich].

Zur zweiten Frage

[59] Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob nationale Rechtsvorschriften, nach denen die Kompetenz zur Festlegung der Wiederverkaufspreise eines Erzeugnisses bei einem Ministerium und die Befugnis zur Verteilung der Erzeugung auf die Unternehmen bei einem Konsortium mit Zwangsmitgliedschaft der Erzeuger liegen, im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 EG so verstanden werden können, dass sie Spielraum für Wettbewerb lassen, der durch selbständige Verhaltensweisen dieser Unternehmen verhindert, eingeschränkt oder verfälscht werden kann. [60] Vorab ist zum einen darauf hinzuweisen, dass das CIF der Autorità zufolge nur bis 1994 ein Konsortium mit Zwangsmitgliedschaft der Erzeuger war. Das Decreto-legge Nr. 331/1993 hat die Mitgliedschaft der Unternehmen im CIF nämlich anscheinend auf eine freiwil-lige Grundlage gestellt. [61] Unter diesen Umständen ist es Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob seine zweite Frage sich nur auf den Zeitraum vor dem Inkrafttreten des Decreto-legge oder auch auf den Zeitraum danach bezieht. [62] Zum anderen ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof im Rahmen eines Verfahrens nach Artikel 234 EG, der auf einer klaren Trennung der Aufgaben zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, nur befugt ist, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Ge-meinschaftsvorschrift zu äußern (vgl. Urteil vom 2. Juni 1994 in der Rechtssache C-30/93, AC-ATEL Electronics, Slg. 1994, I-2305, Randnr. 16). Er ist weder befugt, das Gemein-schaftsrecht auf den Ausgangsrechtsstreit anzuwenden (vgl. Urteil vom 10. Juli 1980 in den verbundenen Rechtssachen 253/78 und 1/79 bis 3/79, Giry und Guerlain u. a., Slg. 1980, 2327, Randnr. 6), noch den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zu würdigen. [63-65] [...][66] Zur Beantwortung der zweiten Frage muss zunächst geprüft werden, ob nationale Rechtsvorschriften wie diejenigen des Ausgangsverfahrens die Möglichkeit eines Wettbe-werbs bestehen lassen, der noch durch selbständige Verhaltensweisen der Unternehmen ver-

Rechtsprechung

Layout_Heft 3.indd 445 19.06.2004, 16:25:57

Page 75: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004446

hindert, eingeschränkt oder verfälscht werden kann; bejahendenfalls muss sodann festge-stellt werden, ob die etwaigen zusätzlichen Einschränkungen, die den Unternehmen zur Last gelegt werden, nicht in Wirklichkeit dem betreffenden Mitgliedstaat zuzurechnen sind. [67] Erstens ist daran zu erinnern, dass die Möglichkeit, eine bestimmte wettbewerbswidri-ge Verhaltensweise vom Anwendungsbereich des Artikels 81 Absatz 1 EG deswegen auszu-schließen, weil sie den betreffenden Unternehmen durch bestehende nationale Rechtsvor-schriften vorbeschrieben wurde oder weil diese jegliches Wettbewerbsverhalten von ihrer Seite ausschlossen, vom Gerichtshof nur eingeschränkt anerkannt worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Oktober 1980 in den verbundenen Rechtssachen 209/78 bis 215/78 und 218/78, Van Landewyck u. a./Kommission, Slg. 1980, 3125, Randnrn. 130 bis 134, vom 20. März 1985 in der Rechtssache 41/83, Italien/Kommission, Slg. 1985, 873, Randnr. 19, und vom 10. Dezember 1985 in den verbundenen Rechtssachen 240/82 bis 242/82, 261/82, 262/82, 268/82 und 269/82, Stichting Sigarettenindustrie u. a./Kommission, Slg. 1985, 3831, Randnrn. 27 bis 29). [68] Zweitens ist daran zu erinnern, dass der Preiswettbewerb nicht die einzige wirksame Form des Wettbewerbs und auch nicht diejenige Form ist, die unter allen Umständen absolu-ten Vorrang erhalten müsste (vgl. Urteil vom 25. Oktober 1977 in der Rechtssache 26/76, Metro/Kommission, Slg. 1977, 1875, Randnr. 21). [69] Folglich schließt die vorherige Festsetzung des Verkaufspreises für Zündhölzer durch den italienischen Staat als solche nicht jede Möglichkeit eines Wettbewerbsverhaltens aus. Der Wettbewerb kann – wenn auch eingeschränkt – über anderen Faktoren erfolgen. [70] Drittens ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren streitigen italienischen Rechtsvorschriften zwar dem CIF, einem Konsortium mit Zwangsmitgliedschaft der Erzeu-ger, die Befugnis zur Verteilung der Erzeugung auf die Mitgliedsunternehmen gewähren, jedoch weder die Kriterien noch die Modalitäten, nach denen die Verteilung erfolgen soll, festlegen. Wie im Übrigen der Generalanwalt in Nummer 7 seiner Schlussanträge ausge-führt hat, scheint das Handelsmonopol des CIF bereits 1993 aufgehoben worden zu sein, als das an Nichtmitglieder des Konsortiums gerichtete Verbot der Herstellung und des Verkaufs von Zündhölzern in Italien beseitigt wurde. [71] Unter diesen Umständen kann der verbleibende Wettbewerb zwischen den Mitgliedsun-ternehmen über das sich aus der gesetzlichen Verpflichtung selbst ergebende Maß hinaus verfälscht werden. [72] Insoweit hat die von der Autorità durchgeführte Untersuchung anscheinend ein System dauerhafter und vorübergehender Übertragungen von Produktionsquoten sowie Vereinba-rungen über die zwischen den Unternehmen erfolgten Übertragungen der Fertigung, d. h. Vereinbarungen, die im Gesetz nicht vorgesehen seien, aufgedeckt. [73] Die Kommission hat überdies auf eine den Einfuhren vorbehaltene dauerhafte Quote von ungefähr 15 % verwiesen. Diese Quote sei nicht durch die nationalen Rechtsvorschriften festgelegt, so dass das CIF insoweit frei entschieden habe. [74] Die Vereinbarung zwischen CIF und Swedish Match, aufgrund deren letztere erhebliche Mengen von Zündhölzern zur Vermarktung in Italien durch das CIF habe liefern können, nachdem sie sich verpflichtet habe, nicht unmittelbar auf dem italienischen Markt tätig zu werden, sei Ausdruck des freien unternehmerischen Willens des CIF. [75] Es ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob dieses Vorbringen begründet ist. [76] Viertens und letztens ergibt sich aus den Akten nicht, dass die Entscheidungen des CIF, wie die in den Randnummern 70 bis 74 des vorliegenden Urteils angeführten, infolge des

Rechtsprechung

Layout_Heft 3.indd 446 19.06.2004, 16:25:58

Page 76: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

447EuR – Heft 3 – 2004

Handelns einer Behörde der Anwendung des Artikels 81 Absatz 1 EG entzogen wären. [77] Zum einen sind 45 Mitglieder des Quotenaufteilungsausschusses Vertreter der Herstel-ler, die durch die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften in keiner Weise daran gehin-dert werden, im ausschließlichen Interesse der Hersteller tätig zu werden. Dieser Ausschuss, der mit einfacher Mehrheit entscheidet, kann Beschlüsse gegen die Stimme seines Vorsitzen-den – der einzigen Person, die eine im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe wahrnimmt – fassen, so dass er den Wünschen der Mitgliedsunternehmen nachkommen kann. [78] Überdies haben die Behörden offenbar keine effektive Möglichkeit zur Kontrolle der Entscheidungen des Quotenaufteilungsausschusses. [79] Zum anderen hat die von der Autorità durchgeführte Untersuchung anscheinend erwie-sen, dass die Aufgabe der Verteilung der Produktion zwischen den Mitgliedsunternehmen in Wirklichkeit nicht vom Quotenaufteilungsausschuss, sondern vom Quotenüberwachungs-ausschuss, der ausschließlich aus Mitgliedern des CIF besteht, auf der Grundlage von Ver-einbarungen zwischen den Mitgliedsunternehmen wahrgenommen wird. [80] Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, [wie aus dem Tenor ersichtlich].

Rechtsprechung

Layout_Heft 3.indd 447 19.06.2004, 16:25:58

Page 77: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004448 Rechtsprechung

Zuordnung des Zwecks einer Abfallverbringung (Verwertung oder Beseitigung) – Hauptverwendung als Brennstoff oder andere Mittel

der Energieerzeugung

Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 7 Absätze 2 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 259/93 des Rates vom 1. Februar 1993 zur Überwachung der Verbringung von Abfällen in der, in die und aus der Europäi-schen Gemeinschaft verstoßen, dass sie unberechtigte Einwände gegen bestimmte Ver-bringungen von Abfällen in andere Mitgliedstaaten zur Hauptverwendung als Brenn-stoff erhoben hat.

Urteil des Gerichtshofs vom 13.02.2003 (Vertragsverletzungsverfahren) Kommission/Bundesrepublik Deutschland, Rs. C-228/00

URTEIL

[1] Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat [...] gemäß Artikel 226 EG Klage erhoben auf Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Ver-pflichtungen aus Artikel 7 Absätze 2 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 259/93 des Rates vom 1. Februar 1993 zur Überwachung der Verbringung von Abfällen in der, in die und aus der Europäischen Gemeinschaft (ABl. L 30, S. 1, im Folgenden: Verordnung) verstoßen hat, dass sie unberechtigte Einwände gegen bestimmte Verbringungen von Abfällen in andere Mitgliedstaaten zur Hauptverwendung als Brennstoff erhoben hat.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

Die Richtlinie 75/442/EWG

[2] Wesentliche Zielsetzung der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle (ABl. L 194, S. 39) in der Fassung der Entscheidung 96/350/EG der Kommission vom 24. Mai 1996 (ABl. L 135, S. 32, im Folgenden: Richtlinie) ist der Schutz der menschli-chen Gesundheit sowie der Umwelt gegen nachteilige Auswirkungen der Sammlung, Beför-derung, Behandlung, Lagerung und Ablagerung von Abfällen. In der vierten Begründungs-erwägung der Richtlinie heißt es: Die Aufbereitung von Abfällen sowie die Verwendung wiedergewonnener Materialien ist im Interesse der Erhaltung der natürlichen Rohstoffquel-len zu fördern. [3] Die Richtlinie definiert in Artikel 1 Buchstabe e Beseitigung als alle in Anhang II A auf-geführten Verfahren und in Artikel 1 Buchstabe f Verwertung als alle in Anhang II B aufge-führten Verfahren. [4] Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie bestimmt: [...][5] Anhang II A – Beseitigungsverfahren – der Richtlinie nennt unter D 10 die Verbrennung an Land. [6] Anhang II B – Verwertungsverfahren – der Richtlinie führt unter R 1 die Hauptverwen-dung als Brennstoff oder andere Mittel der Energieerzeugung an.

Layout_Heft 3.indd 448 19.06.2004, 16:25:58

Page 78: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

449EuR – Heft 3 – 2004Rechtsprechung

Die Verordnung

[7] Die Verordnung regelt namentlich die Überwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfällen zwischen Mitgliedstaaten. [8] Sie definiert in Artikel 2 Buchstabe i Beseitigung als Beseitigung im Sinne des Artikels 1 Buchstabe e) der Richtlinie 75/442/EWG und in Artikel 2 Buchstabe k Verwertung als Verwertung im Sinne des Artikels 1 Buchstabe f) der Richtlinie 75/442/EWG. [9] Titel II – Verbringung von Abfällen zwischen Mitgliedstaaten – der Verordnung ent-hält u. a. zwei Abschnitte, von denen der eine in den Artikeln 3 bis 5 die Verbringung von zur Beseitigung bestimmten Abfällen und der andere in den Artikeln 6 bis 11 die Verbrin-gung von zur Verwertung bestimmten Abfällen behandelt. Das für die zweite Gruppe von Abfällen vorgesehene Verfahren ist weniger streng als das für die erste Gruppe vorgesehe-ne.[10] Gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung notifiziert der Hersteller oder der Besitzer von Abfällen, der beabsichtigt, zur Verwertung bestimmte Abfälle des Anhangs III der Ver-ordnung (Gelbe Abfallliste) von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat zu ver-bringen und/oder sie durch einen oder mehrere andere Mitgliedstaaten durchzuführen, dies der zuständigen Behörde am Bestimmungsort und übermittelt den zuständigen Behörden am Versandort und den zuständigen Transitbehörden sowie dem Empfänger eine Kopie des Notifizierungsschreibens. [11] Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung legt die Frist sowie die Bedingungen und Modali-täten fest, die von den zuständigen Behörden am Bestimmungsort und am Versandort so-wie der für die Durchfuhr zuständigen Behörde bei der Erhebung von Einwänden gegen eine notifizierte geplante Verbringung von zur Verwertung bestimmten Abfällen eingehal-ten werden müssen. Nach dieser Vorschrift sind die Einwände auf Artikel 7 Absatz 4 zu stützen. [12] Artikel 7 Absatz 4 Buchstabe a der Verordnung sieht vor:

Deutsches Recht

[13] Am 19. Juni 1995 und 8. Dezember 1995 erließen das Umweltministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und am 24. März 1995 das Umweltministerium des Landes Baden-Württemberg Rundschreiben zur Verbringung von Abfällen in andere Mitgliedstaaten zur Verbrennung in der Zementindustrie.[14] Diese Rundschreiben stellen Unterscheidungskriterien dafür auf, ob eine Abfallverbrin-gung eine Verwertungs- oder eine Beseitigungsmaßnahme darstellt.[15] Diese Kriterien orientieren sich an den allgemeinen Kriterien des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes vom 27. September 1994 (BGBl. 1994 I, S. 2705) zur Abgrenzung der energetischen Verwertung von der thermischen Behandlung, d. h. der Beseitigung, bei rein innerstaatlichen Vorgängen. [16] So fallen nach den in Randnummer 13 des vorliegenden Urteils erwähnten Rundschrei-ben nur solche Abfälle unter das in R 1 des Anhangs II B der Richtlinie 75/442 genannte Verfahren, – deren Hauptzweck auf eine Verwendung als Brennstoff gerichtet ist; – die einen Mindestheizwert von 11 000 kJ/kg aufweisen; – bei deren Verbrennung ein Feuerungswirkungsgrad von mindestens 75 % erreicht wird; – deren Verunreinigungen eine schadlose Verwertung erwarten lassen und

Layout_Heft 3.indd 449 19.06.2004, 16:25:58

Page 79: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004450 Rechtsprechung

– die die vorgenannten Parameter erreichen, ohne dass es dazu einer Vermischung/Konditionierung mit hochbrennbaren Abfällen bedarf.

[17] Die deutsche Regierung hat außerdem erklärt, dass sich auch die Länder Niedersachsen und Rheinland-Pfalz bei der Bestimmung der Kriterien zur Unterscheidung zwischen Ver-wertung und Beseitigung bei der Verbrennung von Abfällen am Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz orientiert hätten.

Vorverfahren

[18] Auf eine bei ihr eingereichte Beschwerde hin forderte die Kommission die Bundesrepu-blik Deutschland mit Schreiben vom 3. Juli 1997 auf, sich binnen zwei Monaten zu dem Vorwurf zu äußern, die deutschen Behörden hätten dadurch gegen Artikel 7 Absätze 2 und 4 der Verordnung verstoßen, dass sie gegen die Verbringung von Abfällen nach Belgien Ein-wände mit der Begründung erhoben hätten, es handele sich um zu beseitigende Abfälle und nicht, wie von der notifizierenden Person angegeben, um zu verwertende Abfälle. Nach Auf-fassung der Kommission hätten die betreffenden Abfälle dem Hauptzweck nach als Brenn-stoff in der belgischen Zementindustrie verwendet und daher tatsächlich verwertet werden sollen, so dass die zuständigen Behörden nur gemäß Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung Ein-wände gegen ihre Verbringung hätten erheben können. [19] In der nach einer Verlängerung der Antwortfrist am 30. Dezember 1997 übermittelten Antwort auf dieses Mahnschreiben machte die Bundesrepublik Deutschland geltend, dass die streitigen Abfälle, da der Hauptzweck ihrer Verbrennung nach den verschiedenen Krite-rien nicht in der Energiegewinnung gesehen werden könne, nicht Gegenstand eines Verwer-tungsverfahrens nach R 1 des Anhangs II B der Richtlinie, sondern eines einfachen Beseiti-gungsverfahrens nach D 10 des Anhangs II A dieser Richtlinie seien. [20] Da die Kommission diese Antwort nicht für zufrieden stellend hielt, richtete sie mit Schreiben vom 19. Februar 1999 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Bundes-republik Deutschland, in der sie eine weitere bei ihr eingereichte, die Verbringung von Ab-fällen nach Belgien betreffende Beschwerde erwähnte und ihre Auffassung wiederholte, dass die streitigen Abfallverbringungen zum einen tatsächlich Verwertungsverfahren beträ-fen und die von den zuständigen deutschen Behörden zur Einordnung eines Abfallbehand-lungsverfahrens angewandten Kriterien zum anderen gegen Gemeinschaftsrecht verstießen. Abschließend stellte die Kommission fest, dass die Bundesrepublik Deutschland ihres Er-achtens gegen Artikel 7 Absätze 2 und 4 der Verordnung verstoßen habe, und forderte sie auf, dieser mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen zwei Monaten nach ihrer Be-kanntgabe nachzukommen. [21] Nach einem Antrag auf Verlängerung dieser Frist übermittelte die Bundesrepublik Deutschland der Kommission ihre Antwort mit Schreiben vom 23. Juli 1999. In dieser Ant-wort wiederholte Deutschland im Wesentlichen sein früheres Vorbringen. Es betonte, dass die nationalen Behörden die Möglichkeit haben müssten, die Kriterien zur Abgrenzung der Be-seitigungs- und Verwertungsverfahren bei der Verbrennung von Abfällen näher zu bestim-men, wenn dazu auf Gemeinschaftsebene keine klaren Kriterien festgelegt worden seien. [22] Die Kommission hat daraufhin die vorliegende Klage erhoben.

Layout_Heft 3.indd 450 19.06.2004, 16:25:58

Page 80: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

451EuR – Heft 3 – 2004Rechtsprechung

Zur Zulässigkeit

[23] Die Bundesrepublik Deutschland erhebt eine Einrede der Unzulässigkeit. Die Kommis-sion habe den Verfahrensgegenstand weder im Vorverfahren noch in der Klageschrift so genau konkretisiert, dass sich die Beklagte gegen die vorgebrachten Rügen habe verteidigen können. [24] [...][25] Hierzu ist auf die ständige Rechtsprechung hinzuweisen, nach der das Vorverfahren dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit geben soll, seinen gemeinschaftsrechtlichen Ver-pflichtungen nachzukommen und sich gegen die Rügen der Kommission wirksam zu vertei-digen (vgl. u. a. Urteile vom 10. Mai 2001 in der Rechtssache C-152/98, Kommission/Niederlande, Slg. 2001, I-3463, Randnr. 23, und vom 15. Januar 2002 in der Rechtssache C-439/99, Kommission/Italien, Slg. 2002, I-305, Randnr. 10). [26] Daraus folgt zum einen, dass der Gegenstand einer Klage nach Artikel 226 EG durch das dort vorgesehene Vorverfahren eingegrenzt wird (Urteil Kommission/Niederlande, Randnr. 23). Daher muss die Klage auf die gleichen Gründe und das gleiche Vorbringen ge-stützt sein wie die mit Gründen versehene Stellungnahme (vgl. u. a. Urteil vom 18. Juni 1998 in der Rechtssache C-35/96, Kommission/Italien, Slg. 1998, I-3851, Randnr. 28). [27] Zum anderen muss die mit Gründen versehene Stellungnahme eine zusammenhängen-de und ausführliche Darstellung der Gründe enthalten, aus denen die Kommission zu der Überzeugung gelangt ist, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen eine seiner Verpflichtun-gen aus dem Vertrag verstoßen hat (vgl. u. a. Urteil vom 4. Dezember 1997 in der Rechtssa-che C-207/96, Kommission/Italien, Slg. 1997, I-6869, Randnr. 18). [28] Diesen Erfordernissen ist im vorliegenden Fall genügt. [29] Die Kommission hat nämlich sowohl im Vorverfahren als auch in ihrer Klageschrift klar ausgeführt, dass sie der Bundesrepublik Deutschland zur Last legt, durch die Erhebung unberechtigter Einwände gegen bestimmte Verbringungen von Abfällen in einen anderen Mitgliedstaat zur Hauptverwendung als Brennstoff gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 7 Absätze 2 und 4 der Verordnung verstoßen zu haben. Die Kommission hat dargelegt, dass sie sich dabei auf die Verwaltungspraxis bestimmter Länder beziehe, und die Daten be-stimmter von den zuständigen deutschen Behörden erlassener Einzelentscheidungen sowie den Zeitpunkt des Erlasses der als Grundlage dieser Verwaltungspraxis dienenden Rund-schreiben durch diese Behörden angegeben. [30] Im Vorverfahren hat die deutsche Regierung das Bestehen dieser Verwaltungspraxis nicht bestritten, sondern vorgetragen, dass diese den Bestimmungen der Verordnung ent-spreche. [31] Infolgedessen ist, obwohl die Kommission die behördlichen Einzelentscheidungen, auf die sie sich bezogen hat, weder vorgelegt noch durch detaillierte Angaben bestimmt hat, da-von auszugehen, dass sie die Bundesrepublik Deutschland in die Lage versetzt hat, ihre Ver-teidigungsmittel gegenüber den Rügen der Kommission wirkungsvoll geltend zu machen. [32] Die Klage ist daher zulässig.

Begründetheit

[33] Vorab ist festzustellen, dass alle zuständigen Behörden, denen eine beabsichtigte Abfall-verbringung notifiziert wird, nach der Regelung der Verordnung prüfen müssen, ob die von der notifizierenden Person vorgenommene Zuordnung der Verordnung entspricht und Ein-

Layout_Heft 3.indd 451 19.06.2004, 16:25:58

Page 81: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004452 Rechtsprechung

wände gegen die Verbringung erheben müssen, wenn diese Zuordnung falsch ist (Urteil vom 27. Februar 2002 in der Rechtssache C-6/00, ASA, Slg. 2002, I-1961, Randnr. 40). [34] Wenn der Verbringungszweck ihrer Auffassung nach in der Notifizierung falsch einge-stuft wurde, muss die am Versandort zuständige Behörde ihren Einwand gegen die Verbrin-gung auf diese unzutreffende Zuordnung stützen, ohne auf eine der speziellen Vorschriften der Verordnung Bezug zu nehmen, die festlegen, welche Einwände die Mitgliedstaaten ge-gen die Verbringung von Abfällen erheben können (Urteil ASA, Randnr. 47).[35] Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung, nach dem die zuständigen Behörden der Mitglied-staaten einer Verbringung von Abfall zur Verwertung nur in den in Absatz 4 dieser Vor-schrift abschließend aufgeführten Fällen entgegentreten können, hindert somit weder diese Behörden daran, Einwände gegen eine bestimmte Verbringung mit der Begründung zu erhe-ben, dass sie in Wirklichkeit Abfälle zur Beseitigung betreffe, noch verwehrt er es den Mit-gliedstaaten, in allgemeinen Entscheidungen Kriterien zur Abgrenzung eines Verwertungs-verfahrens von einem Beseitigungsverfahren festzulegen. [36] Eine solche Verwaltungspraxis steht jedoch nur dann mit Artikel 7 Absätze 2 und 4 der Verordnung in Einklang, wenn die Kriterien, die dort zur Abgrenzung von Abfallbeseiti-gung und Abfallverwertung aufgestellt werden, den Kriterien entsprechen, die in denjenigen Bestimmungen der Verordnung festgelegt sind, auf die Artikel 2 Buchstaben i und k der Ver-ordnung für die Definition dieser Begriffe verweist. [37] Ob die Bundesrepublik Deutschland durch die fragliche Verwaltungspraxis gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 7 Absätze 2 und 4 der Verordnung verstoßen hat, richtet sich also danach, ob die Einwände, die die zuständigen deutschen Behörden gegen bestimmte Abfallverbringungen in einen anderen Mitgliedstaat erhoben haben, sowie die Rundschrei-ben, die die allgemeinen Kriterien aufstellen, anhand deren diese Einwände erhoben wur-den, in Einklang mit der Abgrenzung von Beseitigungsverfahren und Verwertungsverfahren in den Anhängen II A und II B der Richtlinie stehen. [38] Die Kommission ist der Auffassung, dass die Verwendung eines Abfallgemisches als Brennstoff in Zementöfen unter das Verwertungsverfahren R 1 des Anhangs II B der Richt-linie falle. [39] Nach Ansicht der deutschen Regierung betreffen die in Rede stehenden Abfallverbrin-gungen Abfälle zur Verbrennung an Land nach D 10 des Anhangs II A der Richtlinie und somit Beseitigungsverfahren im Sinne der Richtlinie. [40] Hierzu ist zu sagen, dass die Hauptverwendung als Brennstoff oder andere Mittel der Energieerzeugung nach R 1 des Anhangs II B der Richtlinie ein Abfallverwertungsverfah-ren darstellt. [41] Diese Bestimmung erfasst die Verwendung von Abfällen als Brennstoff in Zementöfen, wenn – zum einen – Hauptzweck des fraglichen Verfahrens die Verwendung der Abfälle als Mittel der Energieerzeugung ist. Der Begriff der „Hauptverwendung“ in R 1 des An-hangs II B der Richtlinie impliziert nämlich, dass das dort genannte Verfahren im Wesent-lichen dazu dient, die Abfälle für einen sinnvollen Zweck, nämlich die Energieerzeugung, einzusetzen. [42] Zum anderen fällt die Verwendung von Abfällen als Brennstoff in Zementöfen dann unter das in R 1 des Anhangs II B der Richtlinie genannte Verfahren, wenn die Bedingun-gen, unter denen dieses Verfahren durchzuführen ist, die Annahme zulassen, dass es tat-sächlich ein Mittel der Energieerzeugung ist. Das setzt voraus, dass durch die Verbrennung der Abfälle mehr Energie erzeugt und erfasst wird als beim Verbrennungsvorgang ver-braucht wird und dass ein Teil des bei dieser Verbrennung gewonnenen Energieüberschusses

Layout_Heft 3.indd 452 19.06.2004, 16:25:59

Page 82: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

453EuR – Heft 3 – 2004Rechtsprechung

tatsächlich genutzt wird, und zwar entweder unmittelbar in Form von Verbrennungswärme oder nach Umwandlung in Form von Elektrizität. [43] Zum dritten ergibt sich aus dem Begriff „Haupt“verwendung in R 1 des Anhangs II B der Richtlinie, dass die Abfälle hauptsächlich als Brennstoff oder andere Mittel der Energie-erzeugung verwendet werden müssen. Dies bedeutet, dass der größere Teil der Abfälle bei dem Vorgang verbraucht und der größere Teil der freigesetzten Energie erfasst und genutzt werden muss. [44] Diese Auslegung entspricht dem Verwertungsbegriff der Richtlinie. [45] Entscheidend dafür, dass eine Abfallverwertungsmaßnahme vorliegt, ist nach Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie sowie nach ihrer vierten Begründungserwägung näm-lich, dass es ihr Hauptzweck ist, die Abfälle für einen sinnvollen Zweck einzusetzen, also andere Materialien zu ersetzen, die sonst für diesen Zweck hätten eingesetzt werden müssen, und dadurch natürliche Rohstoffquellen zu erhalten (Urteil ASA, Randnr. 69). [46] Die Verbrennung von Abfällen stellt daher eine Verwertungsmaßnahme dar, wenn es ihr Hauptzweck ist, die Abfälle für einen sinnvollen Zweck, nämlich zur Energieerzeugung einzusetzen und dadurch eine Primärenergiequelle zu ersetzen, die sonst für diesen Zweck hätte eingesetzt werden müssen. [47] Erfüllt die Verwendung von Abfällen als Brennstoff die in den Randnummern 41 bis 43 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen, fällt sie somit unter das in R 1 des Anhangs II B der Richtlinie genannte Verwertungsverfahren, ohne dass andere Kriterien wie der Heizwert der Abfälle, der Schadstoffgehalt der verbrannten Abfälle oder die Frage der Vermischung der Abfälle herangezogen werden dürften. [48] Auch wenn ein bestimmtes Verfahren, bei dem Abfälle als Brennstoff verwendet wer-den, als Verwertungsverfahren eingestuft werden kann, können die zuständigen Behörden am Versandort und am Bestimmungsort jedoch in den in Artikel 7 Absatz 4 Buchstabe a der Verordnung genannten Fällen Einwände gegen die im Hinblick auf dieses Verfahren durch-geführte Verbringung erheben. [49] Namentlich können die betreffenden Behörden nach dem fünften Gedankenstrich dieser Vorschrift einer Verbringung von Abfällen zur Verwertung entgegentreten, wenn der Anteil an verwertbarem und nicht verwertbarem Abfall, der geschätzte Wert der letztlich verwert-baren Stoffe oder die Kosten der Verwertung und die Kosten der Beseitigung des nicht ver-wertbaren Anteils eine Verwertung unter wirtschaftlichen und ökologischen Gesichtspunk-ten nicht rechtfertigen. [50] Dabei können die Behörden insbesondere Kriterien wie die in Randnummer 47 des vor-liegenden Urteils genannten heranziehen, um im Einzelfall darzutun, dass die Vorausset-zungen des Artikels 7 Absatz 4 Buchstabe a fünfter Gedankenstrich der Verordnung für die Erhebung von Einwänden gegen eine bestimmte Abfallverbringung erfüllt sind. [51] Im vorliegenden Fall genügt die Verwaltungspraxis der zuständigen deutschen Behör-den den Anforderungen der Verordnung, wie sie oben dargelegt worden sind, nicht. [52] Im Rahmen dieser Verwaltungspraxis haben die zuständigen deutschen Behörden näm-lich Einwände gegen die Verbringung von Abfällen, die in der belgischen Zementindustrie als Brennstoff verwendet werden sollten, mit der Begründung erhoben, dass diese Verbrin-gung im Hinblick auf eine Beseitigungsmaßnahme und nicht im Hinblick auf eine Verwer-tungsmaßnahme erfolgen solle, ohne dass diese Einwände dadurch gerechtfertigt gewesen wären, dass eine der in den Randnummern 41 bis 43 des vorliegenden Urteils genannten Vo-raussetzungen nicht erfüllt gewesen wäre. [53] Obwohl die betreffenden Abfälle in Belgien als Brennstoff verwendet werden sollten,

Layout_Heft 3.indd 453 19.06.2004, 16:25:59

Page 83: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004454 Rechtsprechung

wo sie bei der Befeuerung von Zementöfen Primärenergiequellen ersetzen sollten, lehnten es die zuständigen deutschen Behörden ab, die fraglichen Verbringungsvorgänge als Verwer-tungsverfahren nach R 1 des Anhangs II B der Richtlinie einzustufen, und begründeten dies allein damit, dass die betreffenden Maßnahmen bestimmte allgemeine Kriterien der von ihnen erlassenen Rundschreiben, wie z. B. das Kriterium des Mindestheizwerts des Abfalls, nicht erfüllten. [54] Wie sich aus Randnummer 47 des vorliegenden Urteils ergibt, sind diese Kriterien für die Entscheidung, ob die Verwendung von Abfällen als Brennstoff in einem Zementofen ei-ne Beseitigungs- oder eine Verwertungsmaßnahme im Sinne der Richtlinie und der Verord-nung darstellt, nicht relevant. [55] Es ist daher festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 7 Absätze 2 und 4 der Verordnung verstoßen hat, dass sie unbe-rechtigte Einwände gegen bestimmte Verbringungen von Abfällen in andere Mitgliedstaaten zur Hauptverwendung als Brennstoff erhoben hat.

Layout_Heft 3.indd 454 19.06.2004, 16:25:59

Page 84: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

455EuR – Heft 3 – 2004Rechtsprechung

Höchstbeträge für die Kostenübernahme für Arzneimittel

Zusammenschlüsse von Krankenkassen wie der AOK Bundesverband, der Bundesver-band der Betriebskrankenkassen (BKK), der Bundesverband der Innungskranken-kassen, der Bundesverband der landwirtschaftlichen Krankenkassen, der Verband der Angestelltenkrankenkassen e.V., der Verband der Arbeiter-Ersatzkassen, die Bundes-knappschaft und die See-Krankenkasse sind keine Unternehmen oder Unternehmens-vereinigungen im Sinne des Artikels 81 EG, wenn sie Festbeträge festsetzen, bis zu de-ren Erreichen die Krankenkassen die Kosten von Arzneimitteln übernehmen.

Urteil des Gerichtshofs vom 16.03.2004 (Vorabentscheidungsersuchen des OLG Düsseldorf und des BGH), AOK Bundesverband u.a./Ichthyol-Gesellschaft Cordes u.a., verb. Rs. C-264/01, C-306/01, C-354/01 und C-355/01

URTEIL

[1] Das Oberlandesgericht Düsseldorf und der Bundesgerichtshof haben dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG mehrere Fragen nach der Auslegung der Artikel 81 EG, 82 EG und 86 EG zur Vorabentscheidung vorgelegt. [...][2] Diese Fragen stellen sich in mehreren Rechtsstreitigkeiten zwischen dem AOK Bundes-verband, dem Bundesverband der Betriebskrankenkassen (BKK), dem Bundesverband der Innungskrankenkassen, dem Bundesverband der landwirtschaftlichen Krankenkassen, dem Verband der Angestelltenkrankenkassen e.V., dem Verband der Arbeiter-Ersatzkassen, der Bundesknappschaft und der See-Krankenkasse (im Folgenden: Kassenverbände) einerseits und den Arzneimittel herstellenden Pharma-Unternehmen Ichthyol-Gesellschaft Cordes, Hermani & Co. (C-264/01), Mundipharma GmbH (C-306/01), Gödecke GmbH (C-354/01) und Intersan, Institut für pharmazeutische und klinische Forschung GmbH (C-355/01), (im Folgenden: Pharma-Unternehmen) wegen der Festsetzung von Festbeträgen für die Beteili-gung der Krankenkassen an den Kosten von Arzneimitteln und Pflegematerial.

Tatsächlicher und rechtlicher Rahmen

Wirtschaftlicher und sozialer Kontext

[3] Aus den Vorlagebeschlüssen des Bundesgerichtshofes geht hervor, dass nach den Fest-stellungen der Bundesregierung in Deutschland die Ausgaben in der gesetzlichen Kranken-versicherung deutlich schneller gestiegen sind als die für die Bemessung der Beiträge und damit für die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung relevanten Einkommen. Dieser Anstieg sei zurückzuführen auf mangelnden Wettbewerb zwischen den Leistungsan-bietern im Bereich der Gesundheitsfürsorge, ein unterentwickeltes Bewusstsein bei den Ver-sicherten für die Behandlungs- und Arzneimittelkosten und die fehlende Möglichkeit der Krankenkassen, auf die Auswahl der Medikamente, für die die gesetzliche Krankenversi-cherung die Kosten übernehme, Einfluss zu nehmen. Der deutsche Gesetzgeber habe daher eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um diese Mängel zu beheben; zu diesen Maßnahmen gehörten u.a. die Festsetzung von Festbeträgen für die Übernahme der Arzneimittelkosten durch diese Kassen (im Folgenden: Festbeträge).

Layout_Heft 3.indd 455 19.06.2004, 16:25:59

Page 85: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004456 Rechtsprechung

Festbeträge und gesetzliche Krankenversicherung

[4] Nach den Vorlagebeschlüssen weist das System der Festsetzung der Festbeträge folgende wesentliche Aspekte auf.[5] Das System gehört zur gesetzlichen Krankenversicherung, in der die große Mehrheit der Bevölkerung versichert ist. Die gesetzliche Krankenversicherung wird von den Krankenkas-sen getragen, die rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung sind. Sie soll die Gesundheit der Versicherten erhalten, wiederherstellen oder ihren Gesund-heitszustand verbessern.[6] Abhängig Beschäftigte sind grundsätzlich in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert. Die Ausnahmen betreffen im Wesentlichen abhängig Beschäftigte, deren Einkommen ein gesetzlich festgelegtes Niveau übersteigt, und abhängig Beschäftigte, die, wie die Beamten, einer gesetzlichen Sonderregelung unterliegen. Selbständige können sich unter bestimmten Voraussetzungen freiwillig versichern. Die Versicherungspflicht ermög-licht die Schaffung eines Solidaritätsverhältnisses zwischen den Versicherten.[7] Die Leistungen der Krankenkassen werden durch Beiträge finanziert, die von den Versi-cherten und ihren Arbeitgebern zu im Wesentlichen gleichen Teilen entrichtet werden. Die Höhe der Beiträge hängt hauptsächlich vom Einkommen des Versicherten und dem von je-der Krankenkasse festgelegten Beitragssatz ab.[8] Die Krankenkassen konkurrieren miteinander hinsichtlich des Beitragssatzes, um Pflichtmitglieder und freiwillig Versicherte zu gewinnen. Nach dem Gesetz können die Mit-glieder ihre Krankenkasse sowie ihren behandelnden Arzt oder das Krankenhaus, in dem sie sich behandeln lassen, frei wählen.[9] Die gesetzliche Krankenversicherung beruht auf einem Sachleistungssystem und nicht auf der Erstattung der den Mitgliedern entstandenen Kosten. Die Leistungen sind hinsicht-lich der zu den Pflichtleistungen gehörenden Behandlungskategorien im Wesentlichen iden-tisch und variieren lediglich bei den freiwilligen zusätzlichen Behandlungsleistungen. Bei den Arzneimitteln trägt der Patient die Rezeptgebühren, während die Krankenkasse in den Grenzen der nach dem Gesetz festgesetzten Festbeträge der abgebenden Apotheke den Preis der Arzneimittel zahlt. Liegt der Preis des Arzneimittels unter dem Festbetrag oder stimmt er mit diesem überein, so zahlt die Kasse den vollen Preis. Überschreitet dagegen der Preis diesen Betrag, zahlt der Versicherte die Differenz zwischen dem Festbetrag und dem Ver-kaufspreis des Arzneimittels.[10] Die Krankenkassen stehen in einem Solidaritätsverhältnis zueinander, in dessen Rah-men ein Ausgleich zwischen den Kassen stattfindet, um die finanziellen Unterschiede aus-zugleichen, die sich aus dem unterschiedlichen Umfang der versicherten Risiken ergeben (Risikostrukturausgleich). So tragen die Krankenkassen, die die kostengünstigsten Risiken versichern, zur Finanzierung der Krankenkassen bei, die die kostenträchtigeren Risiken ver-sichern.[11] Die Krankenkassen sind je nach betroffenem Tätigkeitsbereich in mehrere Kassenarten gegliedert. Sie sind auf Landesebene zu Landesverbänden zusammengeschlossen, die auf Bundesebene zu Bundesverbänden vereinigt sind. Gibt es in einem bestimmten Tätigkeits-bereich nur eine Krankenversicherung, nimmt diese zugleich die Funktion eines Spitzenver-bands wahr.[12] Mit dem Gesundheits-Reformgesetz vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I S. 2477) erließ der Gesetzgeber mit dem Fünften Buch des Sozialgesetzbuches – Gesetzliche Krankenversi-cherung – (SGBV) den §35, durch den die Kosten im Gesundheitswesen beschränkt werden

Layout_Heft 3.indd 456 19.06.2004, 16:25:59

Page 86: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

457EuR – Heft 3 – 2004Rechtsprechung

sollten. Diese Vorschrift stellt die Regeln für die Festsetzung der Festbeträge auf, die sich wie folgt zusammenfassen lassen:[13] Auf einer ersten Stufe bestimmt der Bundesausschuss für Ärzte und Krankenkassen (im Folgenden: Bundesausschuss) – ein aus Vertretern der Ärzte und Kassen der gesetzli-chen Krankenversicherung bestehendes Selbstverwaltungsorgan – die Gruppen von Arznei-mitteln, für die Festbeträge festzusetzen sind. Dabei werden die Gruppen aus Präparaten mit den gleichen Wirkstoffen, mit vergleichbaren Wirkstoffen oder mit vergleichbarer therapeu-tischer Wirkung gebildet. Mit seiner Auswahl muss der Bundesausschuss sicherstellen, dass die Therapiemöglichkeiten bei der Behandlung von Erkrankungen nicht eingeschränkt wer-den und den Ärzten hinreichende Behandlungsalternativen verbleiben.[14] Die Arzneimittelgruppen müssen in der Regel Präparate konkurrierender Hersteller einbeziehen. Bevor der Bundesausschuss entscheidet, hat er die von den Arzneimittelherstel-lern, der medizinischen Wissenschaft und den Berufsvertretungen der Apotheker entsandten Sachverständigen zu hören und ihre Stellungnahmen zu berücksichtigen. Seine Entscheidun-gen muss er dem Bundesgesundheitsministerium vorlegen. Sie werden nur wirksam, wenn das Bundesministerium sie genehmigt oder nicht innerhalb von zwei Monaten beanstandet.[15] Auf einer zweiten Stufe setzen die Kassenverbände gemeinsam und einheitlich die Fest-beträge für die Arzneimittel der so definierten Gruppen fest. Diese Beträge müssen eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche sowie in der Qualität gesicherte Versorgung gewährleisten. Sie müssen unter Ausschöpfung aller Wirtschaftlichkeitsreserven der Arznei-mittelhersteller festgesetzt werden, einen wirksamen Preiswettbewerb auslösen und auf die-se Weise möglichst preisgünstige Versorgungsmöglichkeiten bieten. Die Festbeträge werden in der Regel unter Berücksichtigung der Angebote verschiedener Hersteller festgesetzt. Sie müssen auf die niedrigsten Apothekenabgabepreise gestützt sein.[16] Die Festbeträge sind mindestens einmal im Jahr zu überprüfen und in geeigneten Zeit-abständen an eine veränderte Marktlage anzupassen.[17] Gelingt es den Kassenverbänden nicht, die Festbeträge festzusetzen, so entscheidet der Minister.[18] Klagen gegen die Entscheidungen, mit denen die Festbeträge festgesetzt werden, kön-nen sich nur gegen die Beträge als solche und nicht gegen die vom Bundesausschuss getrof-fene Auswahl der Arzneimittelgruppen richten.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rechtssachen C-246/01 und C-306/01

[19] Die Rechtssachen C-264/01 und C-306/01 betreffen zwei mittelständische Pharma-Un-ternehmen mit Sitz in Hamburg (Deutschland), die Ichthyol-Gesellschaft Cordes, Hermani & Co. (im Folgenden: Ichthyol) und die Mundipharma GmbH (im Folgenden: Mundiphar-ma).[20] Ichthyol produziert und vertreibt Arzneimittel mit dem arzneilichen Wirkstoff „Ammo-niumbituminosulfonat“, der in der Hautmedizin und zur Therapie von Arthrose und Arthri-tis verwendet wird. Nach den Akten wird der deutsche Markt der Ammoniumbituminosul-fonat enthaltenden Arzneimittel zu fast 90% von den von Ichthyol hergestellten Produkten bestimmt. Mundipharma produziert und vertreibt morphinhaltige Schmerzmittel.[21] 1998 beschlossen die Kassenverbände eine Anpassung der Festbeträge bestimmter Arz-neimittel, von der auch diese beiden Pharma-Unternehmen betroffen sind.

Layout_Heft 3.indd 457 19.06.2004, 16:25:59

Page 87: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004458 Rechtsprechung

[22] Ichthyol und Mundipharma nehmen deshalb die Kassenverbände auf Unterlassung der Anwendung der sie betreffenden Festbeträge und auf Ersatz des entstandenen Schadens in Anspruch.[23] Das im ersten Rechtszug angerufene Landgericht gab den Klagen dieser beiden Phar-ma-Unternehmen u.a. gestützt auf Artikel 81 Absatz 1 EG statt. Gegen diese Urteile legten die Kassenverbände beim vorlegenden Gericht Berufung ein mit dem Antrag, die Klagen abzuweisen[24] Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: [...]

Rechtssachen C-354/01 und C-355/01

[25] Die Rechtssache C-354/01 betrifft die Gödecke GmbH, die Arzneimittel vertreibt, die den vom Bundesgesundheitsamt monographierten Wirkstoff Diltiazem-HCl2 enthalten, der in verschiedenen Arzneimitteln verwendet wird.[26] Die Rechtssache C-355/01 betrifft die Intersan, Institut für pharmazeutische und klini-sche Forschung GmbH, die Arzneimittel vertreibt, die den vom Bundesgesundheitsamt mo-nographierten Wirkstoff Ginkgo-biloba Trockenextrakt enthalten, der u.a. zur Behandlung von Leistungsstörungen bei demenziellen Syndromen verwendet wird.[27] Für die in diesen beiden Rechtssachen in Rede stehenden Wirkstoffe beschlossen die Kassenverbände am 14.Februar 1997 neue Festbeträge, die deutlich unter den bisherigen Be-trägen lagen. Da diese Beträge im folgenden Jahr nochmals herabgesetzt wurden, erhoben die beiden Pharma-Unternehmen Klage gegen die Entscheidungen der Kassenverbände.[28] Das im ersten Rechtszug angerufene Landgericht wies die Klagen ab, mit denen die betreffenden Pharma-Unternehmen in erster Linie Unterlassung der Anwendung der Festbe-träge und Feststellung einer Ersatzpflicht der Kassenverbände für den aus den Festsetzungen erwachsenen Schaden begehrt hatten. Das Oberlandesgericht änderte auf Berufung diese Entscheidungen ab und verurteilte die Kassenverbände im Wesentlichen antragsgemäß. Ge-gen diese Entscheidungen legten die Kassenverbände Revision ein, mit der sie die vollstän-dige Abweisung der Klagen begehren.[29] Der Bundesgerichtshof hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fra-gen zur Vorabentscheidung vorgelegt: [...][30] Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofes vom 26. Oktober 2001 sind die Rechts-sachen C-264/01, C-306/01, C-354/01 und C-355/01 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

Vorbemerkungen

[31] Der Bundesgerichtshof und das Oberlandesgericht Düsseldorf möchten mit ihren Fragen vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob die Wettbewerbsvorschriften des EG-Vertrags Zusammenschlüsse von Krankenkassen wie die Kassenverbände daran hindern, Festbeträge festzusetzen, bis zu deren Erreichen die Krankenkassen die Kosten von Arzneimitteln über-nehmen. Der Bundesgerichtshof möchte ferner wissen, ob bei Bejahung dieser Frage An-sprüche gegen diese Zusammenschlüsse auf Beseitigung und auf Ersatz des durch die An-wendung der Festbeträge entstandenen Schadens bestehen.[32] Die vorlegenden Gerichte ersuchen im Wesentlichen um Beantwortung der folgenden vier Fragen:

Layout_Heft 3.indd 458 19.06.2004, 16:26:00

Page 88: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

459EuR – Heft 3 – 2004Rechtsprechung

1. Sind Zusammenschlüsse von Krankenkassen wie die in den Ausgangverfahren in Rede stehenden Kassenverbände als Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen im Sinne des Artikels 81 EG anzusehen, wenn sie Festbeträge festsetzen, bis zu deren Erreichen die Krankenkassen die Kosten von Arzneimitteln übernehmen?

2. Falls diese erste Frage zu bejahen ist, verstoßen diese Zusammenschlüsse gegen Artikel 81 EG, wenn sie Entscheidungen zur Festsetzung dieser Beträge erlassen?

3. Falls diese zweite Frage zu bejahen ist, gilt für diese Entscheidungen die Befreiung nach Artikel 86 Absatz 2 EG?

4. Falls ein Verstoß gegen die Wettbewerbsvorschriften des EG-Vertrags vorliegt, bestehen gegen diese Zusammenschlüsse Ansprüche auf Beseitigung und auf Schadensersatz?

Zur ersten Frage

[33] Diese Frage betrifft die Begriffe „Unternehmen“ oder „Unternehmensvereinigung“ im Sinne der Wettbewerbsvorschriften des EG-Vertrags und den mit ihnen zusammenhängen-den Begriff der „wirtschaftlichen Tätigkeit“. Sie bezieht sich auf die Zusammenschlüsse von Krankenkassen wie die Kassenverbände sowie auf die Krankenkassen selbst.

Erklärungen der Beteiligten

[34] Die Kassenverbände und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften machen geltend, dass die Tätigkeiten der Krankenkassen keine wirtschaftlichen Tätigkeiten darstell-ten; das Gleiche gelte für die Tätigkeiten der Kassenverbände. Diese Einheiten seien somit keine Unternehmen im Sinne des Artikels 81 EG.[35] Die Krankenkassen nähmen eine rein soziale Aufgabe ohne Gewinnerzielungsabsicht wahr, die darin bestehe, die Versicherten unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Situation und ihrem Gesundheitszustand gegen Krankheit zu versichern. Ziel der Kassenverbände sei es, den Fortbestand des Gesundheitssystems sicherzustellen.[36] Die Funktionsweise der Krankenkassen basiere auf dem Grundsatz der Solidarität. Die-ser beruhe auf der Mitgliedschaft von ungefähr 90% der Bevölkerung und komme dadurch zum Ausdruck, dass zwischen den Krankenkassen ein finanzieller Ausgleich stattfinde. Die Höhe der Mitgliedsbeiträge sei nicht an die versicherten Risiken geknüpft, und die Leistun-gen seien von der Beitragshöhe unabhängig.[37] Die Tätigkeit der Kassenverbände stehe unter staatlicher Aufsicht. Wenn sie nicht in der Lage seien, die Festbeträge für die Kostenübernahme für Arzneimittel festzusetzen, setze an ihrer Stelle der Staat diese Beträge selbst fest.[38] Die Pharma-Unternehmen sind dagegen der Auffassung, dass die Krankenkassen und die Kassenverbände Unternehmen und Unternehmensvereinigungen seien, die eine wirt-schaftliche Tätigkeit ausübten.[39] Die Krankenkassen konkurrierten stark miteinander in den folgenden drei Bereichen: bei der Beitragshöhe, dem Leistungsangebot und der Verwaltung und Organisation ihrer Dienstleistungen.[40] Die Beitragshöhe werde von jeder Kasse festgelegt, wobei sich jede Kasse bemühe, ei-nen Beitragssatz anzubieten, der so niedrig wie möglich sei, u.a. durch Reduzierung ihrer Verwaltungsausgaben. Der Unterschied zwischen den Beitragssätzen der verschiedenen Krankenkassen sei teilweise erheblich. So habe am 1. Januar 2002 der höchste Satz um ein Drittel über dem niedrigsten gelegen.

Layout_Heft 3.indd 459 19.06.2004, 16:26:00

Page 89: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004460 Rechtsprechung

[41] Die Leistungen würden zwar teilweise durch die Vorschriften des SGBV normiert, den Krankenkassen verblieben aber Spielräume im Bereich der freiwilligen Zusatzleistungen, die u.a. die Rehabilitation, die alternativen Heilmethoden und Naturheilverfahren oder Vor-sorgemaßnahmen bei bestimmten chronischen Krankheiten wie Diabetes oder Asthma be-träfen.[42] Die Krankenkassen konkurrierten auch hinsichtlich der Verwaltung und Organisation ihrer Tätigkeit; einige von ihnen legten den Schwerpunkt auf ihre örtliche Präsenz durch ein dichtes Netz von Geschäftsstellen, während andere demgegenüber der Kommunikation über Telefon und Internet Vorrang einräumten.[43] Die Krankenkassen bedienten sich im Allgemeinen intensiver Werbe- und Marketing-maßnahmen. Der Anteil der wechselnden Mitglieder am Gesamtbestand während der letzten drei Jahre habe zwischen 3% und 5% pro Jahr gelegen. Außerdem könnten die Krankenkas-sen von der Aufsichtsbehörde geschlossen werden, wenn ihre Leistungsfähigkeit nicht mehr auf Dauer gesichert sei.[44] Daraus folge, dass die Versicherungstätigkeit der Krankenkassen einschließlich ihrer Tätigkeit des Arzneimittelkaufs wirtschaftlicher Art sei.

Würdigung durch den Gerichtshof

[45] Für die Beantwortung dieser Frage ist zunächst zu prüfen, ob Einrichtungen wie die Krankenkassen der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland Unternehmen sind; sodann ist zu untersuchen, ob Zusammenschlüsse, die diese Einrichtungen vertreten, wie die Kassenverbände, als Unternehmensvereinigungen anzusehen sind, wenn sie die Festbeträge festsetzen.[46] Hierzu ist daran zu erinnern, dass der Begriff des Unternehmens im Rahmen des Wett-bewerbsrechts jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung umfasst (Urteile vom 23. April 1991 in der Rechtssache C-41/90, Höfner und Elser, Slg.1991, I-1979, Randnr. 21, und vom 22. Januar 2002 in der Rechtssache C-218/00, Cisal, Slg. 2002, I-691, Randnr. 22).[47] Im Bereich der sozialen Sicherheit hat der Gerichtshof entschieden, dass bestimmte Ein-richtungen, die mit der Verwaltung gesetzlicher Kranken- und Rentenversicherungssysteme betraut sind, einen rein sozialen Zweck verfolgen und keine wirtschaftliche Tätigkeit ausü-ben. Dies ist der Fall bei Krankenkassen, die nur die Gesetze anwenden und keine Möglich-keit haben, auf die Höhe der Beiträge, die Verwendung der Mittel und die Bestimmung des Leistungsumfangs Einfluss zu nehmen. Denn ihre auf dem Grundsatz der nationalen Soli-darität beruhende Tätigkeit wird ohne Gewinnerzielungsabsicht ausgeübt, und die Leistun-gen werden von Gesetzes wegen und unabhängig von der Höhe der Beiträge erbracht (Urteil vom 17. Februar 1993 in den Rechtssachen C-159/91 und C-160/91, Poucet und Pistre, Slg. 1993, I-637, Randnrn. 15 und 18).[48] Der Gerichtshof hat entschieden, dass eine Einrichtung, die kraft Gesetzes mit einem System der Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten betraut ist, wie das italienische Instituto nazionale per l‘assicurazione contro gli infortuni sul lavoro (Staatliche Unfallversicherungsanstalt), kein Unternehmen im Sinne der Wettbewerbsvorschriften des EG-Vertrags ist, weil die Höhe der Leistungen und der Beiträge letztlich vom Staat festgelegt wird (Urteil Cisal, Randnrn. 43 bis 46).[49] Dagegen sind andere Einrichtungen, die gesetzliche Systeme der sozialen Sicherheit verwalten und nur einen Teil die in Randnummer 47 dieses Urteils genannten Merkmale

Layout_Heft 3.indd 460 19.06.2004, 16:26:00

Page 90: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

461EuR – Heft 3 – 2004

aufweisen, nämlich fehlende Gewinnerzielungsabsicht, eine soziale Tätigkeit, die einer staatlichen Regelung unterliegt, die u.a. Solidaritätsanforderungen stellt, als Unternehmen angesehen worden, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben (Urteile vom 16. November 1995 in der Rechtssache C-244/94, Fédération française des sociétés d‘assurance u.a., Slg. 1995, I-4013, Randnr. 22, und vom 21. September 1999 in der Rechtssache C-67/96, Albany, Slg. 1999, I-5751, Randnrn. 84 bis 87).[50] Demgemäß hat der Gerichtshof in Randnummer 17 des Urteils Fédération française des sociétés d‘assurance u.a. festgestellt, dass die fragliche Einrichtung, die ein System der Zu-satzrentenversicherung verwaltete, eine wirtschaftliche Tätigkeit im Wettbewerb mit den Lebensversicherungsunternehmen ausübte und dass die Betroffenen die für sie günstigste Finanzanlage wählen konnten. In den Randnummern 81 und 84 des Urteils Albany, das ei-nen Zusatzrentenfonds betrifft, der auf einem Pflichtmitgliedschaftssystem beruhte und für die Festlegung der Beitragshöhe und des Leistungsumfangs einen Solidaritätsmechanismus anwendete, hat der Gerichtshof indessen hervorgehoben, dass der Fonds die Höhe der Beiträ-ge und der Leistungen selbst bestimmte und nach dem Kapitalisierungsprinzip arbeitete. Der Gerichtshof ist daher zu dem Schluss gelangt, dass ein solcher Fonds eine wirtschaftliche Tätigkeit im Wettbewerb mit den Versicherungsunternehmen ausübt.[51] Es ist festzustellen, dass die Krankenkassen der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland wie die Einrichtungen, um die es in der Rechtssache Poucet und Pistre ging, an der Verwaltung des Systems der sozialen Sicherheit mitwirken. Sie nehmen insoweit eine rein soziale Aufgabe wahr, die auf dem Grundsatz der Solidarität beruht und ohne Gewinn-erzielungsabsicht ausgeübt wird.[52] Besonders hervorzuheben ist, dass die Krankenkassen gesetzlich verpflichtet sind, ih-ren Mitgliedern im Wesentlichen gleiche Pflichtleistungen anzubieten, die unabhängig von der Beitragshöhe sind. Die Krankenkassen haben somit keine Möglichkeit, auf diese Leis-tungen Einfluss zu nehmen.[53] Der Bundesgerichtshof weist hierzu in seinen Vorlagebeschlüssen darauf hin, dass die Krankenkassen zu einer Art Solidargemeinschaft zusammengeschlossen seien, die es ihnen ermögliche, untereinander einen Kosten- und Risikoausgleich vorzunehmen. So erfolge nach den §§ 265ff. SGBV ein Ausgleich zwischen den Krankenkassen mit den niedrigsten Ge-sundheitsausgaben und den Krankenkassen, die kostenträchtige Risiken versicherten und deren Ausgaben im Zusammenhang mit diesen Risiken am höchsten seien.[54] Die Krankenkassen konkurrieren somit weder miteinander noch mit den privaten Ein-richtungen hinsichtlich der Erbringung der im Bereich der Behandlung oder der Arzneimit-tel gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen, die ihre Hauptaufgabe darstellt.[55] Aus diesen Merkmalen folgt, dass die Krankenkassen den Einrichtungen gleichen, um die es in den Rechtssachen Poucet und Pistre sowie Cisal ging, und dass ihre Tätigkeit nicht wirtschaftlicher Art ist.[56] Der Spielraum, über den die Krankenkassen verfügen, um ihre Beitragssätze festzule-gen und einander einen gewissen Wettbewerb um Mitglieder zu liefern, zwingt nicht zu ei-ner anderen Betrachtung. Wie sich nämlich aus den vor dem Gerichtshof abgegebenen Er-klärungen ergibt, hat der Gesetzgeber bei den Beiträgen ein Wettbewerbselement eingeführt, um die Krankenkassen zu veranlassen, im Interesse des ordnungsgemäßen Funktionierens des deutschen Systems der sozialen Sicherheit ihre Tätigkeit nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit auszuüben, d.h., so effizient und kostengünstig wie möglich. Die Verfol-gung dieses Zieles ändert nichts an der Natur der Tätigkeit der Krankenkassen.

Rechtsprechung

Layout_Heft 3.indd 461 19.06.2004, 16:26:00

Page 91: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004462

[57] Da die Tätigkeit von Einrichtungen wie den Krankenkassen nicht wirtschaftlicher Art ist, sind sie keine Unternehmen im Sinne der Artikel 81 EG und 82 EG.[58] Es lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass die Krankenkassen und die sie vertretenden Einheiten, d.h. die Kassenverbände, außerhalb ihrer Aufgaben rein sozialer Art im Rahmen der Verwaltung des deutschen Systems der sozialen Sicherheit Geschäftstätigkeiten ausüben, die keinen sozialen, sondern einen wirtschaftlichen Zweck haben. In diesem Fall wären die von ihnen zu treffenden Entscheidungen möglicherweise als Beschlüsse von Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen anzusehen.[59] Daher ist zu prüfen, ob die Festsetzung der Festbeträge durch die Kassenverbände zu den von den Krankenkassen wahrgenommenen Aufgaben rein sozialer Art gehört oder ob sie über diesen Rahmen hinausgeht und eine Tätigkeit wirtschaftlicher Art darstellt.[60] Nach Ansicht der Pharma-Unternehmen erlassen die Kassenverbände, wenn sie die Festbeträge festsetzen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen, die wirtschaftlicher Art sind.[61] Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Kassenverbände, wie sich aus den Akten ergibt, mit der Festsetzung der Festbeträge nur einer Pflicht nachkommen, die ihnen § 35 SGBV auferlegt, um den Fortbestand des deutschen Systems der sozialen Sicherheit sicher-zustellen. So regelt diese Vorschrift ausführlich die Einzelheiten der Festsetzung dieser Be-träge und bestimmt, dass die Kassenverbände gewisse Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsge-bote beachten müssen. Das SGBV sieht auch vor, dass der zuständige Minister die Festbeträ-ge festsetzt, wenn es den Kassenverbänden nicht gelingt, sie festzusetzen.[62] Nur die konkrete Höhe der Festbeträge wird nicht durch das Gesetz vorgegeben, son-dern von den Kassenverbänden unter Berücksichtigung der vom Gesetzgeber festgelegten Kriterien entschieden. Außerdem verfügen die Kassenverbände dabei zwar über ein gewis-ses Ermessen, dieses bezieht sich jedoch auf den Höchstbetrag, bis zu dem die Krankenkas-sen die Kosten von Arzneimitteln übernehmen und der einen Bereich darstellt, in dem die Krankenkassen nicht miteinander konkurrieren.[63] Daraus ergibt sich, dass die Kassenverbände bei der Festsetzung dieser Festbeträge kein eigenes Interesse verfolgen, das sich vom rein sozialen Zweck der Krankenkassen trennen ließe. Vielmehr kommen die Kassenverbände mit dieser Festsetzung einer Pflicht nach, die vollständig zur Tätigkeit der Krankenkassen im Rahmen der deutschen gesetzlichen Kran-kenversicherung gehört.[64] Somit ist festzustellen, dass die Kassenverbände mit der Festsetzung der Festbeträge nur eine Pflicht im Rahmen der Verwaltung des deutschen Systems der sozialen Sicherheit erfüllen, die ihnen das Gesetz auferlegt, und dass sie nicht als Unternehmen handeln, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben.[65] Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass Zusammenschlüsse von Krankenkas-sen wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kassenverbände keine Unterneh-men oder Unternehmensvereinigungen im Sinne des Artikels 81 EG sind, wenn sie Festbe-träge festsetzen, bis zu deren Erreichen die Krankenkassen die Kosten von Arzneimitteln übernehmen.[66] In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage sind die übrigen von den nationalen Ge-richten vorgelegten Fragen nicht zu beantworten.

Rechtsprechung

Layout_Heft 3.indd 462 19.06.2004, 16:26:00

Page 92: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

463EuR – Heft 3 – 2004

KLEINERE BEITRÄGE, BERICHTE UND DOKUMENTE

Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen – Begriffliche und dogmatische Klärungen

Von Heiko Sauer, Düsseldorf *

Zwischen dem europäischen Gemeinschaftsrecht und dem Recht der Welthandelsorganisati-on (WTO) kommt es vermehrt zu Konflikten. Streitbeilegungsverfahren im Rahmen der WTO haben gezeigt, dass das Recht der EG häufig nicht im Einklang mit den sie bindenden Vor-gaben des Welthandelsrechts steht. Da der Europäische Gerichtshof es in ständiger Recht-sprechung ablehnt, Sekundärrecht am Maßstab des WTO-Rechts zu prüfen, können weder die Mitgliedstaaten noch Einzelne einen dagegen verstoßenden Gemeinschaftsrechtsakt vor dem EuGH zu Fall bringen. Dadurch kommt es nicht nur zu materiellen Rechtskonflikten, sondern auch zu Widersprüchen zwischen den unterschiedlichen Streitbeilegungsverfahren, wenn im WTO-Rahmen die Rechtswidrigkeit einer bestimmten Gemeinschaftsmaßnahme festgestellt worden ist. Können zumindest in einem solchen Fall Widersprüche vermieden und die innergemeinschaftlichen Rechtsschutzpositionen gestärkt werden? Mit dieser Frage sind die Wirkungen der WTO-Streitbeilegungsentscheidungen im Gemeinschaftsrecht ange-sprochen, die angesichts der Änderungsresistenz der Haltung des EuGH zu den WTO-Ab-kommen zuletzt verstärkt erörtert worden sind. Mit den bislang vorgestellten Ansätzen kann jedoch die Pflicht des EuGH zur Aufhebung eines Rechtsakts, dessen Verstoß gegen Welt-handelsrecht im WTO-Rahmen festgestellt worden ist, nicht hergeleitet werden. Angesetzt wird deshalb hier bei der zentralen Bestimmung zu den innergemeinschaftlichen Wirkungen von Völkervertragsrecht, Art. 300 Abs. 7 EGV. Sie begründet eine Rechtspflicht des EuGH, Streitbeilegungsentscheidungen durch Kassation welthandelsrechtswidriger Rechtsakte um-zusetzen. Andeutungen des Gerichtshofs in Richtung einer weiteren Ausnahme zur Ableh-nung der WTO-Abkommen als Prüfungsmaßstab im jüngsten Biret-Urteil1 lassen es nicht mehr als ausgeschlossen erscheinen, dass er einen solchen Ansatz aufgreift.

I. Einführung: die innergemeinschaftlichen Wirkungen völkerrechtlicher Verträge

Zur Klärung der rechtlichen und auch begrifflichen Grundlagen ist zunächst allgemein auf die gemeinschaftsinternen Wirkungen völkerrechtlicher Verträge einzugehen2. Die Gemein-schaft besitzt nach Art. 281 EGV Rechtspersönlichkeit und kann so in ihrem Kompetenzbe-reich3 völkerrechtliche Verträge abschließen. An diese sog. Gemeinschaftsabkommen ist die

* Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für deutsches und ausländisches öffentliches Recht, Völker- und Europarecht der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Prof. Dr. R. Alexander Lorz, LL.M.). Ich danke Herrn Professor Lorz für seine sehr hilfreichen Anmerkungen zu diesem Beitrag.

1 EuGH, Urt. v. 30.9.2003, Rs. C-94/02 P, Biret & Cie, Rn. 54 ff., abrufbar unter http://www.curia.eu.int. 2 Dazu A. Wünschmann, Geltung und gerichtliche Geltendmachung völkerrechtlicher Verträge im Gemein-

schaftsrecht, 2003, S. 49 ff.; A. Ott, GATT und WTO im Gemeinschaftsrecht, 1997, S. 68 ff.; und K. Schmalen-bach, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV-/EGV-Kommentar, 2. Aufl. 2002, Art. 300 Rn. 48 ff.

3 Art. 300 EGV regelt das Verfahren und die Rechtswirkungen, ist aber keine Kompetenznorm. Neben den ex-pliziten Außenkompetenzen (z.B. Art. 133 Abs. 1 EGV) ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH, dass die Gemeinschaft auf der Grundlage einer Binnenkompetenz auch nach außen tätig werden kann (Grundsatz der Parallelität von Innen- und Außenkompetenzen; grundlegend EuGH, Rs. 22/70, AETR, Slg. 1971, 263 (Rn. 15 ff.); zur Rechtsprechung H.G. Krenzler, in: E. Grabitz/M. Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Bd. IV, E1 (1999) Rn. 33 ff.).

Layout_Heft 3.indd 463 19.06.2004, 16:26:00

Page 93: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004464

EG als Verband nach allgemeinen Grundsätzen völkerrechtlich gebunden. Über die Wirkun-gen von Völkerrecht in der internen Rechtsordnung muss die Gemeinschaft wie jedes andere Völkerrechtsubjekt selbst entscheiden. Hierzu bestimmt Art. 300 Abs. 7 EGV: „Die nach Maßgabe dieses Artikels geschlossenen Abkommen sind für die Organe der Gemeinschaft und für die Mitgliedstaaten verbindlich.“ Mit dieser Bestimmung wird nicht allein der völ-kerrechtliche Grundsatz pacta sunt servanda wiederholt, sondern angeordnet, dass die Ver-träge auch als Bestandteile der Gemeinschaftsrechtsordnung gelten sollen4, also die interne Geltung des Völkervertragsrechts5 festgelegt6. Dies hat der Gerichtshof in ständiger Recht-sprechung anerkannt, indem er die Gemeinschaftsabkommen als „integrierende Bestandtei-le der Gemeinschaftsrechtsordnung“7 ansieht. Sie gelten innergemeinschaftlich im Rang zwischen Primärrecht und Sekundärrecht, was sich einerseits aus der erforderlichen Verein-barkeit mit dem EG-Vertrag (Art. 300 Abs. 6, 7 EGV) und andererseits aus der Bindung der EG-Organe an die Gemeinschaftsabkommen bei der Ausübung ihrer Hoheitsgewalt ergibt8. Doch welche weiteren internen Wirkungen kommen den Gemeinschaftsabkommen auf-grund dieser Geltung zu? Letztere bestimmt nur, dass, nicht aber, wie sie in der Gemein-schaftsrechtsordnung gelten sollen. Können völkervertragsrechtliche Bestimmungen das Handeln der EG-Organe inhaltlich determinieren? Und können Einzelne dann völkerrechts-konformes Handeln verlangen und gegebenenfalls einklagen? Im Rahmen der Diskussion um diese Fragen herrscht eine außergewöhnliche begriffliche Verwirrung9. Hier wird fol-gendes Konzept zugrunde gelegt: Gemeinschaftsabkommen müssen von den Organen der Gemeinschaft stets beachtet werden, weil sie als Bestandteile der Gemeinschaftsrechtsord-nung unmittelbar gelten. Sie können das Handeln der EG-Organe aber nur dann inhaltlich determinieren, wenn sie unmittelbar anwendbar sind. Im Gegensatz zu anderen Stimmen bezeichnet also die unmittelbare Anwendbarkeit richtigerweise eine rein objektiv-rechtliche Wirkung, da sie allein nach der Regelungsdichte einer Rechtsnorm fragt10. Ob sich darüber hinaus Einzelne auf Völkervertragsrecht berufen können, ist dagegen eine Frage des indivi-

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

4 Auf die Frage der näheren rechtsdogmatischen Einordnung des Art. 300 Abs. 7 EGV (Transformator, Gel-tungsbefehl etc.) soll ebenso wenig eingegangen werden wie auf das dahinter stehende (monistische oder dua-listische) Konzept der Gemeinschaftsrechtsordnung, da ihre Erörterung zur Lösung praktischer Probleme nichts beitragen kann (dazu stellvertretend Schmalenbach (Fn. 2), Art. 300 Rn. 56 ff. m.w.N.).

5 Zur internen Geltung von Völkergewohnheitsrecht EuGH, Rs. C-162/96, Racke, Slg. 1998, I-3655 (Rn. 41 ff.). 6 Ganz überwiegende Auffassung, s. A. Epiney, Zur Stellung des Völkerrechts in der EU, EuZW 1999, S. 5 (6);

Schmalenbach (Fn. 2), Art. 300 EGV Rn. 48; Wünschmann (Fn. 2), S. 58/59; anders C. Tomuschat, in: H.v.d. Groeben/J. Thiesing/C.-D. Ehlermann (Hrsg.), EUV-/EGV-Kommentar, 5. Aufl. 1997, Art. 228 (a.F.) Rn. 56.

7 So die oft wiederholte Wendung in EuGH, Rs. 181/73, Haegemann, Slg. 1974, 449 (Rn. 5).8 Allg. Meinung, s. nur M. Herdegen, Europarecht, 4. Aufl. 2002, Rn. 442; H. Krück, in: J. Schwarze (Hrsg.),

EU-Kommentar, 2000, Art. 300 Rn. 51; Schmalenbach (Fn. 2), Art. 300 Rn. 77.9 Dies konstatieren auch W. Meng, Gedanken zur Frage unmittelbarer Anwendung von WTO-Recht in der EG,

in: U. Beyerlin u.a. (Hrsg.), FS für R. Bernhardt, 1995, S. 1063 (1065); T.v. Danwitz, Der EuGH und das Wirt-schaftsvölkerrecht – ein Lehrstück zwischen Europarecht und Politik, JZ 2001, S. 721 (722). Eingehend zu Terminologiefragen A. Bleckmann, Begriff und Kriterien der innerstaatlichen Anwendbarkeit völkerrechtli-cher Verträge, 1970, S. 112 ff.

10 Im Ergebnis ebenso P. Hilpold, Die EU im GATT/WTO-System, 1999, S. 167; K. Ritgen, Geltung und An-wendbarkeit völkerrechtlicher Verträge – Das TRIPS-Abkommen in der Gemeinschaftsrechtsordnung, in: G. Bauschke u.a. (Hrsg.), Pluralität des Rechts – Regulierung im Spannungsfeld der Rechtsebenen, 2003, S. 117 (121); Meng (Fn. 9), S. 1069; v. Danwitz (Fn. 9), S. 722. Gleichsetzung von unmittelbarer Anwendbarkeit und Einklagbarkeit aber z.B. bei G.G. Sander, Wirkungen des Weltwirtschaftsrechts auf supranationale und natio-nale Rechtsordnungen am Beispiel des GATT, in: Bauschke, ebda., S. 95; A.v. Bogdandy/T. Makatsch, Kollisi-on, Koexistenz oder Kooperation? Zum Verhältnis von WTO-Recht und europäischem Außenwirtschaftsrecht in neueren Entscheidungen, EuZW 2000, S. 261 (266); Tomuschat (Fn. 6), Art. 228 (a.F.) Rn. 61.

Layout_Heft 3.indd 464 19.06.2004, 16:26:01

Page 94: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

465EuR – Heft 3 – 2004

dualbegünstigenden Gehalts der fraglichen Bestimmung. Für diese Wirkung wird der Klar-heit halber der Begriff der Einklagbarkeit gewählt11. Unmittelbar anwendbar ist eine völkervertragsrechtliche Bestimmung dann, wenn sie hin-reichend bestimmt und unbedingt ist, was durch Auslegung der einzelnen Bestimmungen eines Abkommens zu ermitteln ist12; eine Norm, für die dies zu verneinen ist, kann aufgrund ihrer begrenzten Regelungsintensität keine konkreten Vorgaben für das Gemeinschaftshan-deln machen. Eine unmittelbare Anwendung im Gemeinschaftsrechtsrahmen scheidet aber von vornherein aus, wenn die Vertragsparteien sie auf völkerrechtlicher Ebene wirksam aus-geschlossen haben13. Darüber hinaus bedarf es weiterer Voraussetzungen, damit sich der Einzelne vor dem EuGH auf Völkervertragsrecht berufen kann. Dazu muss der einzelnen Bestimmung ein individualbegünstigender Charakter zu entnehmen sein, was ebenfalls durch Auslegung zu ermitteln ist14. Beruft sich dagegen ein Mitgliedstaat vor dem Gerichts-hof auf Bestimmungen eines Gemeinschaftsabkommens, müssen diese nur unmittelbar an-wendbar sein, damit der Gerichtshof sie im Rahmen seiner Entscheidungsfindung heranzie-hen kann. Dass es weiterer Voraussetzungen nicht bedarf15, ergibt sich aus der privilegierten Stellung der Mitgliedstaaten im gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem, die auch einen Ausgleich dafür darstellt, dass einzelne Staaten im Rat überstimmt werden können.

II. Der EuGH und das WTO-Recht

Der Gerichtshof verweigert sich den durch Art. 300 Abs. 7 EGV vorgezeichneten Konse-quenzen im Bereich der internen Wirkungen des WTO-Rechts. War die jahrzehntelange ständige Rechtsprechung zur Ablehnung einer Prüfung des Gemeinschaftsrechts am Maß-stab des früheren GATT 194716 neben der vom EuGH angeführten großen Flexibilität und

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

11 Vielfach wird auch von unmittelbarer Wirkung gesprochen (so z.B. Wünschmann (Fn. 2), S. 47/48); problema-tisch an diesem Begriff ist seine unterschiedliche Verwendung teilweise für objektive, teilweise für subjektive Wirkungen.

12 So auch der Gerichtshof, s. nur EuGH, Rs. 104/81, Kupferberg, Slg. 1982, 3662 (Rn. 22 ff.). Der EuGH hält dabei selbst die unmittelbare Anwendbarkeit und Einklagbarkeit nicht hinreichend deutlich auseinander. Dass für die unmittelbare Anwendbarkeit mehr als diese inhaltliche Konkretisierung nicht verlangt werden kann, ergibt sich aus Art. 300 Abs. 7 EGV, wonach die EG-Organe an die Gemeinschaftsabkommen gebunden sind.

13 Zu einem Ausschluss auf der völkerrechtlichen Ebene konnte aber nicht die Begründungserwägung in dem das WTO-Übereinkommen genehmigenden Ratsbeschluss (Beschluss des Rates 94/800/EG v. 22.12.1994, ABl. (EG) 1994, L 336, S. 1), wonach die WTO-Abkommen nicht so angelegt sind, dass sie unmittelbar vor dem Gerichtshof angeführt werden können, führen. Auch innergemeinschaftlich ist sie irrelevant, weil ein Sekun-därrechtsakt nicht die primärrechtlich durch Art. 300 Abs. 7 EGV vorgegebenen Wirkungen ändern kann (ebenso im Ergebnis Schlussanträge GA Tesauro, Rn. 23 ff., zu EuGH, Rs. C-53/96, Hermès, Slg. 1998, I-3603 ff.; Schlussanträge GA Saggio, Rn. 19 ff., zu EuGH, Rs. C-149/96, Portugal/Rat (Textilimporte), Slg. 1999, I-8395 ff.; M.J. Hahn, in: Calliess/Ruffert (Fn. 2), Art. 133 Rn. 170; v. Bogdandy/Makatsch (Fn. 10), S. 265; anders Tomuschat (Fn. 6), Art. 228 (a.F.) Rn. 67, 71).

14 Es geht dabei nicht um eine Anwendung der deutschen Schutznormlehre. Der Rechtsprechung des EuGH so-wohl zur individuellen Betroffenheit im Rahmen des Art. 230 Abs. 4 EGV (EuGH, Rs. 11/82, Piraiki-Patraiki, Slg. 1985, 207 (Rn. 31); Rs. C-152/88, Sofrimport, Slg. 1990, I-2477 (Rn. 11)) als auch zur Einklagbarkeit von Gemeinschaftsabkommen (EuGH, Rs. 87/75, Bresciani, Slg. 1976, 129 (Rn. 15, 26); Rs. 104/81, Kupferberg, Slg. 1982, 3641 (Rn. 27)) sind klare Anhaltspunkte zu entnehmen, dass es um die Frage einer individuellen Begünstigung geht. Zu den Einzelheiten Wünschmann (Fn. 2), S. 212 ff.

15 Ganz überwiegende Auffassung und der Hauptkritikpunkt an der EuGH-Rechtsprechung, s. Hahn (Fn. 13), Art. 133 Rn. 179 ff.; Schmalenbach (Fn. 2), Art. 300 Rn. 58; v. Bogdandy/Makatsch (Fn. 10), S. 268; Epiney (Fn. 6), S. 11.

16 Ausgangspunkt war EuGH, verb. Rs. 21-24/72, International Fruit Company, Slg. 1972, 1219 (Rn. 10 ff.); aus-führlich zur damit begonnenen Rechtsprechungslinie für das GATT 1947 Ott (Fn. 2), S. 129 ff.; und K.J. Kuil-wijk, The European Court of Justice and the GATT Dilemma: Public Interests versus Individual Rights?, 1996, S. 91 ff.

Layout_Heft 3.indd 465 19.06.2004, 16:26:01

Page 95: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004466

Geschmeidigkeit der GATT-Rechtsordnung noch durch die atypische Rechtsstellung der Gemeinschaft im Rahmen des GATT17 erklärlich, lassen sich diese Erwägungen heute zur Stützung der Judikatur nicht mehr anführen. Denn mit der Gründung der Welthandelsorga-nisation ist die Gemeinschaft selbst – neben den Mitgliedstaaten – WTO-Mitglied und damit Partei der multilateralen Abkommen zum Welthandelsrecht geworden; daher gelten die WTO-Abkommen nach Art. 300 Abs. 7 EGV auch innergemeinschaftlich und gehen dem Sekundärrecht vor. Zudem ist mit der Institutionalisierung der WTO eine wesentliche Ver-rechtlichung des Welthandelssystems erfolgt, die sich insbesondere an der stark gerichtsähn-lichen Ausgestaltung des Streitbeilegungsverfahrens zeigt18. Angesichts dessen war die erste Entscheidung des EuGH zu den innergemeinschaftlichen Wirkungen des WTO-Rechts mit Spannung erwartet worden.Der Gerichtshof setzt jedoch im Ergebnis seine alte Rechtsprechung fort19. Er differenziert nicht zwischen einzelnen Wirkweisen wie der unmittelbaren Anwendbarkeit und der Ein-klagbarkeit, sondern qualifiziert das WTO-Recht in toto als eine Rechtsmasse, anhand derer die Rechtmäßigkeit von Gemeinschaftsrecht nicht beurteilt werden könne. Es soll daher we-der auf Antrag Einzelner noch in von Mitgliedstaaten angestrengten Verfahren als paramèt-re de légalité20 zur Verfügung stehen. Allerdings wird dieses Ergebnis mit neuen Argumen-ten belegt: Neben dem Verweis auf den angeblichen Handlungsspielraum der EG-Organe bei der Beilegung von Handelskonflikten im Besonderen und in der noch immer verhand-lungsgeprägten WTO-Rechtsordnung im Allgemeinen, der nicht durch eine Prüfung von Gemeinschaftsrecht am Maßstab des Welthandelsrechts eingeschränkt oder zunichte ge-macht werden dürfe, geht es dem Gerichtshof offensichtlich vor allem um ein Gegenseitig-keitsargument21. Da wichtige Handelspartner der EG eine Direktwirkung des WTO-Rechts ablehnten, könne es durch ihre Zulassung im Gemeinschaftsrecht zu einem Ungleichgewicht der Verpflichtungen der WTO-Mitglieder und zu einer Benachteiligung der Gemeinschaft kommen22. Der EuGH will also den Gemeinschaftsorganen nicht mehr an Rechtsgehorsam abverlangen, als nach dem Recht der anderen Vertragsparteien eingeklagt werden kann. Freilich verkennt der Gerichtshof beim Rekurs auf dieses ohnehin mehr wirtschaftspoliti-sche denn rechtliche Argument23, dass in anderen Rechtsordnungen die Frage der internen Wirkungen oft nicht durch eine mit Art. 300 Abs. 7 EGV vergleichbare klare Anordnung präjudiziert sein wird.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

17 Dazu ausführlich G.M. Berrisch, Der völkerrechtliche Status der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im GATT, 1992; sowie Ott (Fn. 2), S. 111 ff.; zusammenfassend W. Weiß/C.W. Herrmann, Welthandelsrecht, 2003, Rn. 114 ff.

18 Dazu A. Lowenfeld, International Economic Law, 2002, 151 ff.; E.-U. Petersmann, The GATT/WTO Dispute Settlement System, 1997, 177 ff.; S. Ohloff, Streitbeilegung in der WTO, in: H.-J. Prieß/G.M. Berrisch (Hrsg.), WTO-Handbuch, 2003, S. 677 ff.; P.-T. Stoll/F. Schorkopf, WTO, 2002, Rn. 416 ff.; Weiß/Herrmann (Fn. 17), Rn. 250 ff.

19 Zuerst EuGH, Rs. C-149/96, Portugal/Rat (Textilimporte), Slg. 1999, I-8395 (Rn. 34 ff., 47).20 Dies explizit befürwortend die zum vorstehend genannten Urteil ergangenen Schlussanträge GA Saggio,

Rn. 18 ff.21 Ausführliche Würdigung bei A. Ott, Der EuGH und das WTO-Recht: Die Entdeckung der politischen Gegen-

seitigkeit – altes Phänomen oder neuer Ansatz?, EuR 2003, S. 504 ff. 22 Rn. 42 ff. des Urteils (Fn. 19). Näher zum Gegenseitigkeitsgrundsatz vor allem v. Danwitz (Fn. 9), S. 725 ff.23 Dieser Kritik hat sich jetzt auch ausdrücklich GA Alber angeschlossen. Es heißt in seinen Schlussanträgen v.

15.5.2003 zum Rechtsmittelverfahren Biret & Cie (Fn. 1) in Rn. 102: „Darüber hinaus ist hervorzuheben, dass es sich auch bei dem Gegenseitigkeitsargument eher um ein handelspolitisches Argument handelt, das durch das Etikett des Gegenseitigkeitsprinzips in ein rechtliches Gewand gekleidet wird.“

Layout_Heft 3.indd 466 19.06.2004, 16:26:01

Page 96: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

467EuR – Heft 3 – 2004

Nachdem das erste hierzu ergangene Urteil eine Nichtigkeitsklage Portugals betroffen hatte, stellte der EuGH in Folgeentscheidungen unmissverständlich klar, dass sich auch Einzelne auf WTO-Recht nicht berufen können24. Allerdings gelten die in der früheren Rechtspre-chung hierzu entwickelten Ausnahmen auch für das WTO-Recht fort. Das betrifft zum ei-nen das Gebot der völkerrechtskonformen Auslegung25; dies kann allerdings die unmittelba-re Anwendung nicht ersetzen, weil es einerseits eine offene Sekundärrechtsnorm erfordert und andererseits nur eine „bestmögliche“ Berücksichtung des Völkerrechts verlangt. Verein-facht gesagt: Es kann klar völkerrechtswidriges Gemeinschaftsrecht nicht völkerrechtskon-form machen. Zum anderen hält der EuGH explizit an seiner in den Entscheidungen Fediol und Nakajima26 ergangenen Rechtsprechung zur ausnahmsweisen Prüfung am Maßstab des Welthandelsrechts fest. Diese erfolgt, wenn ein Gemeinschaftsrechtsakt auf WTO-Recht verweist oder eine bestimmte im WTO-Rahmen übernommene Verpflichtung umsetzt. Al-lerdings wendet der Gerichtshof auch diese ohnehin von erheblichen Unsicherheiten – und damit von einer großen „Freiheit“ des EuGH – gekennzeichneten Ausnahmen äußerst rest-riktiv an27. Dem folgend hat das EuG festgestellt, dass die Änderung eines Rechtsakts auf-grund einer Streitbeilegungsentscheidung keinen „Nakajima-Fall“ begründe28. Die Ausnah-men sind daher zwar im Ergebnis zu begrüßen, stellen aber weder in ihrer praktischen Handhabung noch in ihrer theoretischen Fundierung einen Ausgleich für den grundsätzli-chen Ausfall des WTO-Rechts als Rechtmäßigkeitsmaßstab dar. Es bleibt damit bei der „in-ternen Immunität“29 von Gemeinschaftsrecht gegenüber WTO-rechtlichen Vorgaben, es sei denn, die EG-Organe dokumentieren eine Art freiwillige Selbstverpflichtung zu welthan-delsrechtskonformem Handeln – zu Recht ist diese Situation auch als „Transformation à la carte“ kritisiert worden30. Dabei hat sich der Gerichtshof auch von einer zuvor ergangenen Streitbeilegungsentschei-dung, die Verstöße von Gemeinschaftsrecht gegen WTO-Recht förmlich festgestellt hatte, im Verfahren über den gleichen Rechtsakt nicht beeindrucken lassen31. Nicht nur ging er auf diese Feststellungen teilweise überhaupt nicht ein; er hielt auch trotz der von der Klägerin explizit angeführten WTO-Entscheidungen die eigene Rechtsprechung zu den internen Wir-kungen des WTO-Rechts zwischenzeitlich für so klar, dass er meinte, mittels eines begrün-

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

24 EuGH, verb. Rs. C-300/98 u. C-392/98, Dior & Assco, Slg. 2000, I-11307 (Rn. 44); Rs. C-307/99, OGT Frucht-handelsgesellschaft, Slg. 2001, I-3159 (Rn. 25/26).

25 EuGH, Rs. C-53/96, Hermès, Slg. 1998, I-3606 (Rn. 28).26 EuGH, Rs. 79/87, Fediol III, Slg. 1989, I-1781 (Rn. 18 ff.); Rs. C-69/89, Nakajima, Slg. 1991, I-2069 (Rn. 28

ff.).27 GA Alber nennt in seinen Schlussanträgen zum Rechtsmittelverfahren Biret & Cie (Fn. 23), Rn. 55, 61, nur ein

weiteres Urteil, in dem die Ausnahmen zum Tragen kamen (EuGH, Rs. C-76/00 P, Petrotub, Slg. 2003, I-79 (Rn. 55 ff.)).

28 EuG, Rs. T-18/99, Cordis, Slg. 2001, II-913 (Rn. 59); Rs. T-30/99, Bocchi, Slg. 2001, II-947 (Rn. 64); und Rs. T-52/99, Port, Slg. 2001, II-981 (Rn. 59).

29 J.M. Beneyto, The EU and the WTO: Direct Effect of the New Dispute Settlement System?, EuZW 1996, S. 295 (298).

30 So Schmalenbach (Fn. 2), Art. 300 Rn. 58.31 EuGH, Rs. C-307/99, OGT Fruchthandelsgesellschaft, Slg. 2001, I-3159 (Rn 25/26). Im Rechtsmittelverfahren

Atlanta konnte der Gerichtshof eine Stellungnahme hierzu aufgrund prozessualer Besonderheiten des Falles noch vermeiden (EuGH, Rs. C-104/97 P, Atlanta, Slg. 1999, I-6983 (Rn. 17 ff.). Auch vor dem EuG war eine Anführung einer WTO-Verletzungen durch Gemeinschaftsrecht feststellenden WTO-Entscheidung bisher er-folglos (s. neben den Urteilen in Fn. 28 vor allem EuG, Rs. T-254/97, Fruchthandelsgesellschaft Chemnitz, Slg. 1999, II-2743 (Rn. 26 ff.); Rs. T-210/00, Biret & Cie, Slg. 2002, II-47 (Rn. 76 ff.); und Urt. v. 6.3.2003, Rs. T-56/00, Dole, Slg. 2003, II-577 (Rn. 74).

Layout_Heft 3.indd 467 19.06.2004, 16:26:02

Page 97: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004468

deten Beschlusses ohne mündliche Verhandlung nach Art. 104 § 3 seiner Verfahrensordnung entscheiden zu können32. Damit ist die feststehende Rechtsprechung förmlich zementiert worden. Überdies hätte der EuGH die innergemeinschaftliche Irrelevanz der WTO-Streit-beilegungsentscheidungen kaum deutlicher dokumentieren können. Allerdings deuten so-gleich darzustellende Aussagen des Gerichtshofs im Biret-Urteil33 darauf hin, dass es in Zukunft partiell zu einer größeren innergemeinschaftlichen Bedeutung dieser Streitbeile-gungsentscheidungen kommen könnte. Bevor die Wirkungen dieser Entscheidungen in der Gemeinschaftsrechtsordnung im Folgenden näher untersucht werden, sind aber ihre völker-rechtlichen Konsequenzen zu klären.

III. Völkerrechtliche Wirkungen von WTO-Streitbeilegungsentscheidungen Auf das im Dispute Settlement Understanding (DSU)34 geregelte und vielfach umfassend erörterte Streitbeilegungsverfahren soll nicht erneut näher eingegangen werden. Hier geht es nur um die Frage, welche völkerrechtlichen Konsequenzen einer abschließenden Verfahren-sentscheidung zu entnehmen sind. Damit ist ein Bericht eines panels oder des Appellate Body gemeint, der vom Dispute Settlement Body (DSB)35 angenommen worden ist; zu einer solchen Annahme kommt es, wenn diese nicht einstimmig, also auch mit den Stimmen der Streitparteien, abgelehnt worden ist (negatives Konsensprinzip36). Was folgt nun aus einem angenommenen Bericht für die Streitpartei, für die eine Verletzung von WTO-Recht festge-stellt wurde? Klar ist zunächst: Es fehlt auch im Rahmen der WTO an einer wirklichen Voll-streckungsmöglichkeit der obsiegenden Vertragspartei37 – dies ist in der Völkerrechtsord-nung aber keine Besonderheit. Das Fehlen der Möglichkeit zur zwangsweisen Durchsetzung einer Entscheidung sagt noch nichts über ihre Rechtswirkungen aus, will man nicht auf-grund einer verfehlten Gleichsetzung von Normativität und Durchsetzbarkeit den Recht-scharakter des Völkerrechts allgemein in Frage stellen38. Eine explizite Anordnung der Entscheidungswirkungen, vergleichbar etwa mit Art. 94 Abs. 1 der UN-Charta, enthält das DSU nicht. Einzelne Bestimmungen sind daher auf implizite Aussagen zu untersuchen.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

32 Zu Recht kritisch dazu die Urteilsanmerkung von E. Stieglitz, EuZW 2001, S. 530 (531). Zu der Verfahrensart näher M. Pechstein/C. Koenig/C. Sander, EU-/EG-Prozessrecht, 2. Aufl. 2002, Rn. 152.

33 S. schon oben Fn. 1.34 Das Dispute Settlement Understanding gehört zu den nach Art. II Abs. 2 WTOÜ für alle Mitglieder geltenden

multilateralen Abkommen im WTO-Rahmen. 35 Der DSB ist das zentrale Organ im Streitbeilegungsverfahren (Art. 2 DSU). Er setzt panels ein, nimmt Berich-

te an, überwacht ihre Durchführung und kann zu Gegenmaßnahmen autorisieren (näher Stoll/Schorkopf (Fn. 18), Rn. 431 ff.).

36 S. Art. 16 Abs. 4, 17 Abs. 14 DSU. Die Umkehrung des früheren Konsensprinzips und die dadurch bedingte fast automatische Annahme eines Berichts ist zentrales Element der neuen quasi-gerichtsförmigen Ausgestal-tung des Streitbeilegungsverfahren (dazu A. Weber/F. Moos, Rechtswirkungen von WTO-Streitbeilegungsent-scheidungen im Gemeinschaftsrecht, EuZW 1999, S. 229 (231); M. Herdegen, Internationales Wirtschafts-recht, 3. Aufl. 2002, § 7 Rn. 59: „tiefgreifender Wandel des Welthandelssystems mit der Akzentverschiebung vom Ringen um den politischen Konsens hin zur justizförmigen Entscheidung“; Ohloff (Fn. 18), Rn. 2/3; P.J. Kuijper, The New WTO Dispute Settlement System, JWT 29 (1995), S. 49 (63), spricht gar von einem „virtu-ally complete judicial system“).

37 Hierauf stellt aber z.B. J. Hippler Bello, The WTO Dispute Settlement Understanding: Less is More, AJIL 90 (1996), S. 416/417, entscheidend ab („The WTO has no jailhouse, no bail bondsmen, no blue helmets, no trun-cheons or tear gas.“) und stellt fest, den angenommenen Berichten komme keine völkerrechtlich bindende Rechtswirkung zu.

38 So treffend W. Schroeder/P. Schonard, Die Effektivität des WTO-Streitbeilegungssystems, RIW 2001, S. 658 (660).

Layout_Heft 3.indd 468 19.06.2004, 16:26:02

Page 98: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

469EuR – Heft 3 – 2004

Nach Art. 19 Abs. 1 DSU sollen panel oder Appellate Body, falls sie einen Verstoß gegen Welthandelsrecht feststellen, „empfehlen“, dass die entsprechende Vertragspartei die Verein-barkeit mit WTO-Recht herstellt. Kommt den vom DSB angenommenen Berichten also hin-sichtlich der Abhilfe des Rechtsverstoßes nur empfehlende Wirkung zu? Gegen eine solche Schlussfolgerung sprechen zahlreiche Hinweise im DSU. Das Hauptziel des Streitbeile-gungsverfahrens liegt nach Art. 3 Abs. 7 DSU regelmäßig darin, die Aufhebung von gegen Welthandelsrecht verstoßenden Maßnahmen sicherzustellen. Ferner müssen die Streitpartei-en angenommene Berichte „bedingungslos akzeptieren“ (Art. 17 Abs. 14 DSU). Es heißt zudem in Art. 21 Abs. 1 DSU: „Prompt compliance with the rulings of the DSB is essential in order to ensure effective resolution of disputes to the benefit of all Members.“ Entschei-dende Bedeutung dürfte Art. 22 DSU zukommen, der sich mit der Entschädigung und der Aussetzung von Zugeständnissen, einer vom DSB zu autorisierenden Gegenmaßnahme, be-fasst39. Diese Reaktionsmöglichkeiten werden teilweise als Argument gegen eine aus ange-nommenen Berichten folgende Rechtspflicht zur Aufhebung rechtswidriger Maßnahmen angeführt: Die Möglichkeit, eine Entschädigung zu vereinbaren bzw. das Risiko autorisier-ter Gegenmaßnahmen zeigten gerade, dass Alternativen zur Abstellung der Rechtsverstöße vorgesehen seien40. Diese Auffassung verkennt allerdings den klaren Wortlaut von Art. 22 Abs. 1 DSU, der unmissverständlich zum Ausdruck bringt, dass Entschädigung und Ausset-zung als vorübergehende Maßnahmen nur dann in Betracht kommen, wenn es zunächst nicht zur Abstellung der Rechtsverstöße kommt, diese aber nicht ersetzen können; damit hat die verletzende Vertragspartei gerade kein Wahlrecht zwischen der Aufhebung rechtswidri-ger Maßnahmen und einer Entschädigung41. Im Ergebnis bedeutet das, dass aus WTO-Streitbeilegungsentscheidungen eine völkerrechtliche Verpflichtung der Vertragsparteien folgt, festgestellte Verletzungen des Welthandelsrechts abzustellen, ihr internes Recht also in Konformität mit WTO-Recht zu bringen42.

IV. WTO-Entscheidungen im Gemeinschaftsrecht

1. Problemaufriss

Warum wird nun gerade bei den Streitbeilegungsentscheidungen, gewissermaßen also beim sekundären WTO-Recht, angesetzt, um eine stärkere innergemeinschaftliche Relevanz des Welthandelsrechts zu erreichen? Wäre nicht eher bei der Haltung des EuGH zu den WTO-Abkommen, also zum primären Recht der Welthandelsorganisation, anzusetzen? Der An-satzpunkt bei den Entscheidungen des Streitbeilegungsverfahrens ist aus mehreren Gründen von besonderer Bedeutung. Zum einen wird die undifferenzierte Position des Gerichtshofs

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

39 Auch der Gerichtshof rekurriert auf diese Bestimmung, um erneut den Verhandlungscharakter der WTO-Rechtsordnung zu begründen (EuGH, Rs. C-149/96, Portugal/Rat (Textilimporte), Slg. 1999, I-8395 (Rn. 38 ff.)); er vernachlässigt dabei allerdings allzu sehr, dass eine im Verhandlungsweg erreichte Entschädigungslö-sung explizit nur als vorübergehende in Betracht kommt.

40 So z.B. Bello (Fn. 37), S. 417/418; J. Sack, Von der Geschlossenheit und den Spannungsfeldern in einer Welt-ordnung des Rechts, in: EuZW 1997, S. 650.

41 So auch ausdrücklich Weiß/Herrmann (Fn. 17), Rn. 309. 42 J.H. Jackson, The WTO Dispute Settlement Understanding – Misunderstandings of the Nature of Legal Obli-

gation, AJIL 91 (1997), S. 63; G.A. Zonnekeyn, The Status of WTO Law in the Community Legal Order: Some Comments in the Light of the Portuguese Textiles Case, ELRev. 25 (2000), S. 293 (301); Schroeder/Schonard (Fn. 38), S. 660; Weiß/Herrmann (Fn. 17), Rn. 309; Lowenfeld (Fn. 18), S. 156; Stoll/Schorkopf (Fn. 18), Rn. 482.

Layout_Heft 3.indd 469 19.06.2004, 16:26:02

Page 99: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004470

zum WTO-Recht sicher zu Recht kritisiert. Sie wäre durch die vorstehend skizzierte Unter-suchung der einzelnen Bestimmungen auf ihre unmittelbare Anwendbarkeit und Einklag-barkeit hin zu ersetzen. Auch dieser differenzierende Ansatz kann aber Rechtskonflikte zwischen Welthandelsrecht und Gemeinschaftsrecht nicht ausschließen, da er nicht stets zur Prüfung am Maßstab des WTO-Rechts43 und noch seltener zu dessen individueller Einklag-barkeit führen wird. Demgegenüber ist das Ergebnis eines Streitbeilegungsverfahrens bei der Feststellung von Rechtsverstößen hinsichtlich der daraus folgenden Verpflichtung immer so klar, dass es sich zu einer Heranziehung im Verfahren vor dem EuGH besonders eignet. Überdies führt eine Entscheidung, mit der der Gerichtshof einen Gemeinschaftsrechtsakt bestätigt, dessen Verstoß gegen Welthandelsrecht zuvor förmlich festgestellt worden ist, stets zu einem besonders gravierenden Konflikt, weil sich die Entscheidungswirkungen wider-sprechen: Während die WTO-Entscheidung zur Aufhebung des Rechtsakts verpflichtet, folgt aus der ihn bestätigenden EuGH-Entscheidung die Pflicht der EG-Organe und der Mit-gliedstaaten, diesen bis zu seiner Aufhebung weiterhin anzuwenden und zu befolgen. Zwar hindert die Bestätigung durch den EuGH die anderen Gemeinschaftsorgane nicht daran, die WTO-Entscheidung durch eine Änderung der Rechtslage umzusetzen. Dementsprechend zwingt der Gerichtshof die Gemeinschaft nicht zum Rechtsbruch. Doch wird die Bestäti-gung des relevanten Rechtsakts durch den EuGH regelmäßig dazu führen, dass die Gemein-schaftsorgane sich nicht (mehr) zum Handeln aufgefordert sehen: Die ausfallende Prüfung am Maßstab des WTO-Rechts wirkt wie eine Bestätigung der Vereinbarkeit mit ihm. Die abstrakte Konfliktlage zwischen Gemeinschaftsrecht und WTO-Recht kulminiert dadurch in einem konkreten Konflikt zwischen EuGH und WTO-Streitbeilegung. Daraus folgt wie-derum ein Konflikt der Gemeinschaft und vor allem der EG-Mitgliedstaaten zwischen ge-meinschaftsrechtlicher und völkerrechtlicher Pflicht: Völkerrechtlich besteht die Pflicht zur Aufhebung des Rechtsakts, die unabhängig von der internen Kompetenzverteilung im Au-ßenverhältnis Gemeinschaft und Mitgliedstaaten trifft44. Bei nicht fristgemäßer Erfüllung der Pflicht droht eine völkerrechtliche Haftung durch vom DSB autorisierte Gegenmaßnah-men nach Art. 22 Abs. 2 DSU. Gemeinschaftsrechtlich sind dagegen EG-Organe und Mit-gliedstaaten zur Weiteranwendung des Rechtsakts verpflichtet. Diese Situation erklärt, wa-rum der Frage, ob der Gerichtshof die WTO-Streitbeilegungsentscheidungen berücksichti-gen muss, zentrale Bedeutung zukommt. Über eine solche sogleich näher zu erläuternde Pflicht zur „Berücksichtigung“ könnten die besonders gravierenden Konfliktlagen vermie-den werden. Klar ist damit bereits, um welche Art von Berücksichtigung es geht: Es stellt sich die Frage, ob eine Rechtspflicht des Gerichtshofs besteht, in einem Verfahren über einen Gemeinschaftsrechtsakt, dessen Verstoß gegen WTO-Recht im Rahmen des Streitbeile-gungsverfahrens festgestellt worden ist, diesen aufzuheben.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

43 Dabei ist auch Folgendes zu beachten: Unmittelbare Anwendbarkeit und Einklagbarkeit hängen von der inner-gemeinschaftlichen Geltung ab. Bestimmungen gemischter Abkommen – der Gerichtshof hatte festgestellt, dass die EG nicht aus eigener Kompetenzfülle dem WTOÜ beitreten könne; Lücken beständen insbesondere im Bereich von GATS und TRIPS (EuGH, Gutachten 1/94, WTOÜ, Slg. 1994, I-5267 (Rn. 98, 105)) –, die klar nicht in den Kompetenzbereich der Gemeinschaft fallen, werden nach verbreiteter Auffassung nicht zu Be-standteilen der Gemeinschaftsrechtsordnung (Ritgen (Fn. 10), S. 122/123; Ott (Fn. 2), S. 213/214; Tomuschat (Fn. 6), Art. 228 (a.F.) Rn. 77). Sie kommen daher als innergemeinschaftlicher Rechtmäßigkeitsmaßstab von vornherein nicht in Betracht; freilich wird die exakte Kompetenzabgrenzung häufig Schwierigkeiten berei-ten.

44 Bei gemischten Abkommen wie dem WTOÜ haften Gemeinschaft und Mitgliedstaaten völkerrechtlich grund-sätzlich für die Einhaltung und Durchführung des gesamten Abkommens (s. Schmalenbach (Fn. 2), Art. 300 Rn. 26 m.w.N.).

Layout_Heft 3.indd 470 19.06.2004, 16:26:03

Page 100: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

471EuR – Heft 3 – 2004

2. Positionen des Schrifttums

Angesichts der skizzierten Konfliktlage verwundert es nicht, dass die innergemeinschaftli-chen Rechtswirkungen von WTO-Streitbeilegungsentscheidungen in der jüngeren Vergan-genheit verstärkt erörtert worden sind45. Auffällig ist dabei, dass hinsichtlich der genauen Wirkung einer Streitbeilegungsentscheidung oft nicht hinreichend differenziert wird. Teils wird von einer Bindung des EuGH, teils von einer (manchmal nicht weiter definierten) „un-mittelbaren Wirkung“46 der WTO-Entscheidung gesprochen, teils wird auch beides in einem Atemzug genannt47. Während eine Bindung des Gerichtshofs an eine Streitbeilegungsent-scheidung von diesem in jedem die gleiche Maßnahme betreffenden Verfahren von Amts wegen berücksichtigt werden müsste, soll die unmittelbare Wirkung wohl danach fragen, ob der Einzelne sich auf die WTO-Entscheidung berufen kann. Beide Wirkweisen sollen aber gleichermaßen begründen können, dass der Gerichtshof den beanstandeten Gemeinschafts-rechtsakt aufgrund seines förmlich festgestellten Verstoßes gegen WTO-Recht aufheben muss. Neben den überwiegenden Stimmen, die eine Bindung mehr als rechtspolitisches Postulat denn als rechtlich begründbares Ergebnis formulieren48, wird im Schrifttum für eine Bin-dung des EuGH an WTO-Streitbeilegungsentscheidungen zumeist auf das EWR-Gutachten des EuGH49 rekurriert50. In diesem Gutachten zur Vereinbarkeit des geplanten EWR-Ab-kommens mit primärem Gemeinschaftsrecht war auch die Zulässigkeit der Unterwerfung der Gemeinschaft unter die Jurisdiktion des geplanten EWR-Gerichtshofs zu prüfen. Sie wurde vom EuGH im Ergebnis als unzulässig angesehen, weil dem EWR-Gerichtshof auch die Auslegung von mit EWR-Bestimmungen im Wesentlichen wortgleichen Vorschriften des EG-Vertrages zukommen sollte, die Kompatibilität dieser Auslegung mit der Rechtspre-chung des EuGH aber nicht gesichert war; dadurch sah dieser die Autonomie der Gemein-schaftsrechtsordnung als gefährdet an51. Allerdings hält der Gerichtshof die Unterwerfung der EG unter die Jurisdiktion eines im Rahmen eines völkerrechtlichen Vertrages geschaffe-nen Gerichtshofs grundsätzlich für zulässig – seinen Entscheidungen soll Bindungswirkung für die Gemeinschaft und ihre Organe, also auch den EuGH, zukommen können. Es heißt dazu: „Sieht aber ein internationales Abkommen ein eigenes Gerichtssystem mit eigenem Gerichtshof vor, der für die Regelung von Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien die-

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

45 S. z.B. G.A. Zonnekeyn, The Status of Adopted Panel and Appellate Body Reports in the European Court of Justice and the European Court of First Instance, JWT 34 (2000), S. 93 ff.; N. Lavranos, Die Rechtswirkungen von WTO panel reports im Europäischen Gemeinschaftsrecht sowie im deutschen Verfassungsrecht, EuR 1999, S. 289 ff.; Piet Eeckhout, The Domestic Legal Status of WTO Agreements: Interconnecting Legal Sys-tems, CMLR 34 (1997), S. 11 (48 ff.); T. Cottier, Dispute Settlement in the World Trade Organization: Charac-teristics and Structural Implications for the European Union, CMLR 35 (1998), S. 325 (369 ff.); Weber/Moos (Fn. 36), S. 229 ff.; Beneyto (Fn. 29), S. 295 ff.

46 Zum Problem dieses Begriffs s. schon Fn. 11. 47 So z.B. C. Schmid, Immer wieder Bananen: Der Status des GATT/WTO-Rechts im Gemeinschaftsrecht, NJW

1998, S. 190 (196); Lavranos (Fn. 45), S. 297. Differenzierend dagegen G.M. Berrisch/H.-G. Kamann, WTO-Recht im Gemeinschaftsrecht – (k)eine Kehrtwende des EuGH, EWS 2000, S. 89 (96); Eeckhout (Fn. 45), S. 53; und insbesondere Weber/Moos (Fn. 36), S. 231 ff., die beides getrennt prüfen.

48 So z.B. Schmid (Fn. 47), S. 196; Cottier (Fn. 45), S. 369 ff.; Beneyto (Fn. 29), S. 299; sehr vorsichtige Befür-wortung einer Bindungswirkung auch bei Berrisch/Kamann (Fn. 47), S. 97.

49 EuGH, Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6079 ff.50 Vor allem Zonnekeyn (Fn. 45), S. 98 ff.; Eeckhout (Fn. 45), S. 51 ff.; Weber/Moos (Fn. 36), S. 231 ff.; und Wü-

schmann (Fn. 2), S. 130 ff.51 Näher dazu Wünschmann (Fn. 2), S. 128 ff. Der Gerichtshof betont, dass aufgrund der Abkommensverpflich-

tung zur einheitlichen Auslegung die Interpretation des EWR-Gerichtshof unzulässige Präjudizwirkung für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH entfalte.

Layout_Heft 3.indd 471 19.06.2004, 16:26:03

Page 101: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004472

ses Abkommens und damit für die Auslegung seiner Bestimmungen zuständig ist, so sind die Entscheidungen dieses Gerichtshofs für die Organe der EG einschließlich des Gerichts-hofs verbindlich.“52 Diese Aussage zur Bindung des EuGH wird im Schrifttum auf die WTO-Entscheidungen angewendet. Da die in der Aussage aufgestellten Voraussetzungen durch das WTO-Streitbeilegungssystem erfüllt würden53, sei der Gerichtshof an die dort ergehenden Entscheidungen zur Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsrechtsakten gebun-den. Zur Untermauerung der „unmittelbaren Wirkung“ der WTO-Entscheidungen werden die vom Gerichtshof üblicherweise für eine unmittelbare Anwendbarkeit aufgestellten Kriterien, die hinreichende Bestimmtheit und Unbedingtheit, auf die Entscheidungen angewendet und ihr Vorliegen – nach eingehender Analyse vor allem des Art. 22 DSU – bejaht54. Es wird auch auf die als parallel angesehene Rechtsprechung des EuGH zur Einklagbarkeit von As-soziationsratsbeschlüssen verwiesen55, um das Ergebnis zu stützen56. Teilweise wird dabei die Ablehnung der unmittelbaren Anwendbarkeit und Einklagbarkeit der WTO-Abkommen in der Gemeinschaftsrechtsordnung durch den Gerichtshof ausdrücklich nicht als Hinde-rungsgrund für eine solche Wirkung des WTO-Sekundärrechts angesehen57.

3. Einwände

Den dargestellten Ansätzen fehlt es jedoch noch an begrifflicher und dogmatischer Genau-igkeit. Aus diesem Grund wird auch nicht erkannt, dass sie das eigentlich erwünschte Ergeb-nis, nämlich eine Pflicht zur Kassation des gegen WTO-Recht verstoßenden Rechtsakts, nicht begründen können. Übersehen wird, dass eine solche Rechtspflicht des EuGH aus zwei Elementen besteht: Erstens müsste er eine Prüfung am Maßstab des WTO-Rechts vorneh-men. Zweitens müsste er bei der dann erforderlichen Auslegung der welthandelsrechtlichen Bestimmungen an das Ergebnis der WTO-Entscheidung gebunden sein. Es ist daher zu un-genau, von einer „Bindung“ des EuGH an die Streitbeilegungsentscheidungen zu sprechen. Zwar wird im Ergebnis diese Bindung wohl zumeist als Kassationspflicht verstanden58. Die-

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

52 Rn. 39 des Gutachtens (Fn. 49).53 Ausführliche Prüfung vor allem bei Weber/Moos (Fn. 36), S. 232 ff., die im Ergebnis einen hinreichenden ge-

richtsförmigen Charakter der WTO-Streitbeilegung konstatieren. 54 Auch hier nehmen Weber/Moos (Fn. 36), S. 234/235, eine gründliche Untersuchung vor. Sie führen zu Recht

die vorübergehende Möglichkeit von Kompensationsleistungen nach Art. 22 Abs. 1, 2 DSU als mögliches Ge-genargument gegen die Unbedingtheit der aus der WTO-Entscheidung folgenden Pflicht an. Da aber ihrer Umsetzung eindeutige Priorität zukomme, sei eine hinreichende Bestimmtheit und Unbedingtheit im Ergebnis gegeben.

55 EuGH, Rs. C-192/89, Sevince, Slg. 1990, I-3461 (Rn. 26); Rs. C-237/91, Kus, Slg. 1992, I-6781 (Rn. 36). Dazu C. Vedder, Rechtswirkungen von Assoziationsratsbeschlüssen, EuR 1994, S. 202 ff.

56 So das Hauptargument von Lavranos (Fn. 45), S. 296 ff. Überzeugend gegen die Vergleichbarkeit von Assozi-ationsratsbeschlüssen und WTO-Entscheidungen Zonnekeyn (Fn. 45), S. 98.

57 Lavranos (Fn. 45), S. 297. Bei Eeckhout (Fn. 45), S. 53, heißt es: „Where a violation is established the binding character of the agreement and the principle of legality should in my view trump any lack of direct effect.“ Andere verweisen im Gegenteil darauf, dass die Einklagbarkeit von WTO-Entscheidungen vor dem EuGH angesichts seiner Rechtsprechung zu den WTO-Abkommen nicht in Betracht komme (H.-J. Prieß/G.M.Berrisch, Die Geltung und Durchsetzung des WTO-Rechts im Gemeinschaftsrecht, in: dies. (Fn. 18), S. 751 (Rn. 26); Berrisch/Kamann (Fn. 47), S. 96/97). Auch Beneyto (Fn. 29), S. 298/299, untersucht eine Pflicht des EuGH zur Berücksichtigung des Auslegungsergebnisses nur unter der Prämisse, dass dieser aus-nahmsweise die Berufung auf das WTO-Recht zulässt.

58 Anders Wünschmann (Fn. 2), S. 136, die konsequent von einer bloßen Auslegungsbindung ausgeht, da sie der Auffassung ist, die Rolle der WTO-Entscheidungen hänge trotz der EuGH-Bindung letztlich von der Maßstäb-lichkeit der WTO-Abkommen selbst ab.

Layout_Heft 3.indd 472 19.06.2004, 16:26:03

Page 102: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

473EuR – Heft 3 – 2004

se allerdings wird man aus den Grundsätzen des EWR-Gutachtens nicht herleiten können59. Denn aus dem Zusammenhang der in diesem Gutachten getroffenen Aussagen wird deut-lich, dass der EuGH dort mit seiner „Bindung“ keine Umsetzungspflicht, sondern eine Aus-legungsbindung meint. In dem Gutachten ging es um eine Präjudizierung der vom EuGH vorzunehmenden Auslegung und Anwendung des EG-Vertrags durch den geplanten EWR-Gerichtshof. Eine Auslegungsbindung des EuGH an WTO-Entscheidungen über die EWR-Grundsätze erscheint daher vertretbar. Da sie aber nichts darüber aussagt, warum der EuGH überhaupt ausnahmsweise am Maßstab des WTO-Rechts prüfen sollte, kann sie das erfor-derliche Ergebnis nicht erzielen. Die Befürworter einer unmittelbaren Wirkung der Streitbeilegungsentscheidungen in der Gemeinschaftsrechtsordnung legen überzeugend dar, dass solche Entscheidungen ihrer Na-tur nach einer unmittelbaren Anwendung in der Gemeinschaftsrechtsordnung fähig sind. Es bleibt aber die Frage, warum Einzelne sich auf einen solchen an die WTO-Mitglieder adres-sierten Bericht sollten berufen können; es dürfte schwer fallen, solchen Berichten eine indi-viduelle Begünstigung zu entnehmen. Vor allem aber wird nicht begründet, warum die Be-rufung eines Einzelnen auf eine solche Entscheidung, so sie möglich sein sollte, den Ge-richtshof ausnahmsweise zur Aufhebung des beanstandeten Rechtsakts verpflichtet, obwohl doch eine Prüfung am Maßstab des WTO-Rechts grundsätzlich gar nicht stattfindet. Im Ergebnis ist daher festzuhalten: Die bisher im Schrifttum entwickelten Ansätze können das von ihren Urhebern befürwortete Ergebnis nicht tragen. Sie begründen überzeugend ei-ne Pflicht zur Berücksichtigung des im WTO-Rahmen gefundenen Auslegungsergebnisses, machen damit aber den zweiten Schritt vor dem ersten, der Prüfung am Maßstab der als ver-letzt festgestellten Bestimmungen der WTO-Abkommen. Letztere lässt sich zwar sicherlich überzeugend begründen, wie es auch der hier vertretenen Auffassung entspricht. Diese Be-gründung ist allerdings unabhängig von einer ergangenen WTO-Entscheidung und ange-sichts der feststehenden Rechtsprechung des EuGH derzeit leider von begrenzter praktischer Relevanz. Anstelle einer Kombination der Prüfung am Maßstab des WTO-Rechts und einer Auslegungsbindung an die WTO-Entscheidung muss daher nach einer anderen Möglichkeit gesucht werden, die Kassationspflicht des EuGH herzuleiten.

4. Die jüngste Rechtsprechungsentwicklung: das Biret-Urteil als neuer Ausnahmefall?

Ein von Generalanwalt Alber in seinen Schlussanträgen zum Rechtsmittelverfahren Biret vertretener Ansatz geht dahin, primäres WTO-Recht aufgrund seiner Konkretisierung durch die Streitbeilegungsentscheidung für ausnahmsweise unmittelbar anwendbar zu halten60: Der Einzelne soll sich in einem auf Art. 288 Abs. 2 EGV gestützten Schadenersatzprozess gegen die Gemeinschaft auf die Verletzung von WTO-Recht als schädigende Handlung be-rufen können, wenn die Verletzung im WTO-Streitbeilegungsverfahren festgestellt, von der Gemeinschaft aber nicht fristgemäß abgestellt worden ist. Allerdings wird ausdrücklich dar-auf hingewiesen, dass aufgrund dieses Ansatzes zwar Schadenersatz, nicht aber die Beseiti-

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

59 Es ist überhaupt überraschend, dass eine rechtlich hergeleitete Begründung oft durch den bloßen Verweis auf eine Äußerung des EuGH ersetzt wird und so die Passage des EWR-Gutachtens im Grunde primärrechtliche Relevanz erhält.

60 GA Alber, Schlussanträge zum Rechtsmittelverfahren Biret & Cie (Fn. 23), Rn. 70 ff., zusammenfassend Rn. 114.

Layout_Heft 3.indd 473 19.06.2004, 16:26:03

Page 103: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004474 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

gung des rechtswidrigen Gemeinschaftsrechtsakts verlangt werden könne61. Erstaunlicher-weise haben diese Schlussanträge den Gerichtshof offensichtlich doch bewogen, die gegenü-ber der Prüfung von Gemeinschaftsrecht am Maßstab des WTO-Rechts äußerst restriktive Linie zu überdenken. Noch im Atlanta-Urteil hatte es geheißen: „Die WTO-Entscheidung steht notwendig und unmittelbar mit dem Klagegrund eines Verstoßes gegen Bestimmungen des GATT im Zusammenhang [...]. Diese Entscheidung könnte nämlich nur berücksichtigt werden, wenn die unmittelbare Wirkung des GATT im Rahmen eines auf die Rechtsunwirk-samkeit der Bananenmarktordnung gerichteten Rechtsmittelgrundes vom Gerichtshof fest-gestellt worden wäre.“62 Doch als sich das Gericht erster Instanz nun auf diese klare Aussage stützt, erklärt der EuGH, sie sei „ohne Belang“, da der entsprechende Rechtsmittelgrund im Atlanta-Verfahren bereits wegen Verspätung als unzulässig zurückgewiesen worden sei63. Damit scheint sich der Gerichtshof von dem Ansatz, nach dem die fehlende Prüfung am Maßstab der WTO-Abkommen selbst auch die fehlende Beachtlichkeit der auf diese gestütz-ten Streitbeilegungsentscheidungen nach sich zieht, zu verabschieden. Den folgenden Erör-terungen lässt sich vielmehr entnehmen, dass eine Berufung auf WTO-Streitbeilegungsent-scheidungen nach Ablauf der Umsetzungsfrist in Betracht kommt und dazu führt, dass auch der Gerichtshof am Maßstab des als verletzt gerügten WTO-Rechts prüft. Es ist möglich, dass der EuGH damit eine weitere Ausnahme zur fehlenden Maßstäblichkeit des Welthandelsrechts für das Sekundärrecht zulässt; da aber im konkreten Fall der von der Klägerin erlittene Schaden unzweifelhaft noch vor der abschließenden Entscheidung im WTO-Rahmen und erst recht vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist eingetreten war, konnte ihre Berufung auf diese Entscheidung keinen Erfolg haben64. Daher ist dem Urteil des Ge-richtshofs nicht zweifelsfrei zu entnehmen, ob tatsächlich eine neue Ausnahme eingeführt wird und ob diese zur Aufhebung des Rechtsakts oder, was wahrscheinlicher ist, lediglich zum Schadenersatz führt, wie Generalanwalt Alber betont hat65. Die weitere Entwicklung bleibt damit abzuwarten; allerdings spricht schon die Tatsache, dass es sich um eine der sel-tenen Plenarentscheidungen handelt, dafür, die ein partielles „Einlenken“ des Gerichtshofs andeutenden Ausführungen als wohl überlegt anzusehen. Auch wenn eine solche Entwick-

61 Diese auch an anderer Stelle (z.B. A. Reinisch, Entschädigung für die unbeteiligten „Opfer“ des Hormon- und Bananenstreits nach Art. 288 II EG?, EuZW 2000, S. 42 ff.; B. Schoißwohl, Haftung der Gemeinschaft für WTO-Rechtsverletzungen ihrer Organe: Doktrin der „Nichtverantwortung“?, ZEuS 2001, S. 689 ff.; P. Royla, WTO-Recht – EG-Recht: Kollision, Justiziabilität, Implementation, EuR 2001, S. 495 (508 ff.); und jüngst S. Hörmann/G. Göttsche, Die Haftung der EG für WTO-Rechtsverletzungen – Neue Tendenzen in der EuGH-Rechtsprechung?, RIW 2003, S. 689 ff.) erörterte Haftung der Gemeinschaft für Verstöße gegen WTO-Recht, die nach der Rechtsprechungslinie des EuGH ausscheidet, weil sie die individuelle Einklagbarkeit des Welt-handelsrechts voraussetzt, wäre zwar als Schritt in die richtige Richtung zu begrüßen, da sie den Druck auf die Gemeinschaft erhöht, rechtskonform zu handeln; unmittelbar kann sie jedoch den dargestellten Konflikt nicht beseitigen.

62 EuGH, Rs. C-104/97 P, Atlanta, Slg. 1999, S. I-6983 (Rn. 20).63 S. Rn. 62 des Urteils (Fn. 1).64 Im panel-Verfahren und auch im Rechtsmittelverfahren war festgestellt worden, dass die Einfuhrverbote ge-

genüber hormonbehandeltem Rindfleisch vor allem aus den USA und Kanada gegen das SPS-Übereinkommen (Agreement on the Application of Sanitary and Phytosanitary Measures) verstoßen (WT/DS26/R/USA v. 18.8.1997, European Community, Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones), Complaint by the United States, Report of the Panel; und WT/DS48/R/CAN v. 18.8.1997, European Community, Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones), Complaint by Canada, Report of the Panel). Der Bericht des Appellate Body (WT/DS26/AB/R bzw WT/DS48/AB/R v. 16.1.1998, European Community, Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones), Report of the Appellate Body) wurde am 13.2.1998 vom Dispute Settlement Body angenommen, der Gemeinschaft wurde eine Umsetzungsfrist bis zum 13.5.1999 ein-geräumt (alle Dokumente sind abrufbar unter http://www.wto.org).

65 GA Alber, Schlussanträge zum Rechtsmittelverfahren Biret & Cie (Fn. 23), Rn. 94.

Layout_Heft 3.indd 474 19.06.2004, 16:26:04

Page 104: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

475EuR – Heft 3 – 2004Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

lung im Ergebnis unbedingt zu begrüßen wäre, müsste sich allerdings die zur Prüfungsmaß-stäblichkeit zusätzlich erforderliche Einklagbarkeit des WTO-Rechts wiederum nach den einzelnen in Rede stehenden WTO-Bestimmungen richten und käme daher nicht stets in Betracht. Überdies ist bisher kein überzeugender Grund dafür vorgetragen worden, dass (erst) die Feststellung der Verletzung von Welthandelsrecht im WTO-Rahmen dazu führt, dass der Gerichtshof diesen Maßstab bei seiner Rechtmäßigkeitsprüfung zugrunde zu legen hat. Es bleibt damit die Frage, wie eine Berücksichtigung von WTO-Streitbeilegungsent-scheidungen durch den EuGH überzeugend begründet werden kann.

5. Eigener Lösungsansatz: Umsetzungspflicht des EuGH

In der Diskussion um die innergemeinschaftlichen Wirkungen der WTO-Entscheidungen ist ein entscheidender normativer Ansatzpunkt bisher vernachlässigt worden – Art. 300 Abs. 7 EGV. Diese Bestimmung stellt den Ausgangspunkt zur Klärung aller internen völkerver-tragsrechtlichen Wirkungen dar. Sie trifft allerdings explizit keine Aussage dazu, ob auch das auf einem Abkommen beruhende Sekundärrecht, also Organbeschlüsse, Streitbeile-gungsentscheidungen etc., integrierter Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung wird. Der EuGH hat diese Frage, die vor allem im Zusammenhang mit den Beschlüssen von auf-grund von Assoziierungsabkommen eingesetzten Assoziationsräten relevant wurde, grund-sätzlich bejaht66. Ob die in dieser Judikatur aufgestellten Voraussetzungen auch für WTO-Streitbeilegungsentscheidungen gelten, die mit Assoziationsratsbeschlüssen nur bedingt vergleichbar sind, bedarf indes keiner näheren Erörterung. Vielmehr sei noch einmal auf die unmittelbare rechtliche Konsequenz des Art. 300 Abs. 7 EGV verwiesen: Durch seine Anordnung der innergemeinschaftlichen Geltung der Gemein-schaftsabkommen wird jede die EG im Außenverhältnis treffende völkervertragsrechtliche Verpflichtung zu einer auch gemeinschaftsrechtlichen Pflicht, die im Innenverhältnis nach dem klaren Wortlaut der Norm an die Gemeinschaftsorgane adressiert ist. Die hier relevante völkerrechtliche Pflicht ist nicht eine im Einzelnen aus dem sekundären WTO-Recht folgen-de Pflicht; es geht vielmehr um die allgemeine, wie oben dargelegt aus dem DSU folgende völkerrechtliche Pflicht der Gemeinschaft zur Umsetzung der WTO-Entscheidungen. Diese Pflicht bedeutet, dass die Gemeinschaft Verstöße von EG-Recht gegen WTO-Recht, die in einem Streitbeilegungsverfahren, an dem sie beteiligt war, festgestellt worden sind, inner-halb der ihr nach Art. 21 Abs. 3 DSU zugestandenen Frist durch Aufhebung der rechtswid-rigen Maßnahme abzustellen hat. Diese aus dem DSU folgende völkerrechtliche Umset-zungspflicht wird über Art. 300 Abs. 7 EGV zu einer gemeinschaftsrechtlichen Pflicht, die die EG-Organe und damit auch den Gerichtshof trifft. Die daraus folgende Konsequenz ist ebenso einfach wie zielführend: Wenn in einem WTO-Streitbeilegungsverfahren Verstöße von Gemeinschaftsrecht gegen Welthandelsrecht festgestellt worden sind, die Frist zur Behe-bung dieser Verstöße ergebnislos verstrichen ist und es anschließend zu einem gegen den gleichen Rechtsakt gerichteten Verfahren vor dem EuGH67 kommt, trifft den Gerichtshof die auf Art. 300 Abs. 7 EGV beruhende gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur Kassation dieses Rechtsakts, da er der ihn innergemeinschaftlich treffenden Umsetzungspflicht nicht anders nachkommen kann.

66 S. nochmals die Nachweise in Fn. 55.67 Nichts anderes gilt für das Gericht erster Instanz.

Layout_Heft 3.indd 475 19.06.2004, 16:26:04

Page 105: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004476 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Der Schlüssel zur Bestimmung der innergemeinschaftlichen Rechtswirkungen der WTO-Streitbeilegungsentscheidungen liegt also in Art. 300 Abs. 7 EGV, einer Bestimmung, die in diesem Zusammenhang bisher zu Unrecht vernachlässigt wurde. Die auf ihr beruhende „Transformation“68 der die EG völkerrechtlich treffenden Umsetzungspflicht in eine ge-meinschaftsrechtliche Pflicht der EG-Organe verhindert den oben aufgezeigten gravieren-den Konflikt zwischen einer Verletzungen feststellenden WTO-Entscheidung und einer den verletzenden Gemeinschaftsrechtsakt bestätigenden EuGH-Entscheidung. Ist die Umset-zungsfrist ohne eine Behebung der Rechtsverstöße abgelaufen, muss der Gerichtshof die verletzende Maßnahme aufheben. Darin kann kein Verstoß gegen das institutionelle Gleich-gewicht69 in der Gemeinschaft gesehen werden, da die Umsetzungspflicht des EuGH nur dann eingreift, wenn die primär zur Umsetzung berufenen rechtssetzenden Organe ihrer Pflicht innerhalb der ihnen eingeräumten Frist nicht nachgekommen sind. Wer der Auffas-sung sein sollte, dass die hier vertretene Kassationspflicht des EuGH mit der Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung und ihres Rechtsschutzsystems unvereinbar ist70, sei darauf verwiesen, dass diese Pflicht auf der Anordnung in Art. 300 Abs. 7 EGV beruht, die ihrer-seits primärrechtlichen Rang hat und überdies selbst Ausfluss der Autonomie der Gemein-schaftsrechtsordnung ist.

IV. Schlussbemerkung

Der EuGH ist in seiner Rechtsprechung zum Welthandelsrecht spätestens nach der Grün-dung der WTO vom rechten Weg abgekommen. Wie es nun auch offen von Generalanwälten formuliert wird71, hat der Gerichtshof aus wirtschaftspolitischen Gründen einen Sonderweg zur weitgehenden innergemeinschaftlichen Irrelevanz des WTO-Rechts eingeschlagen, der es den EG-Organen weitgehend freistellt, ob sie WTO-Recht befolgen wollen oder nicht. Dies ist in einer Rechtsgemeinschaft bedauerlich und trägt der Tatsache, dass auch die WTO-Rechtsordnung rechtskonformes Handeln anstelle ökonomischer Machtkämpfe för-dern will, nicht hinreichend Rechnung. Es hat auch nichts mit institutionellem Gleichgewicht zu tun, wenn der Gerichtshof hier das Feld komplett den anderen EG-Organen überlässt und dabei im vertikalen Verhältnis die Mitgliedstaaten rechtsschutzlos stellt und in für sie unent-rinnbare Pflichtenkollisionen stürzt72. Dennoch muss aus rechtspraktischer Sicht die Rechtsprechung des Gerichtshofs zunächst als Datum hingenommen werden. Es stellt sich dann die Frage, wie die besonders gravierenden Rechtskonflikte vermieden werden können – es geht um Schadensbegrenzung. Verhindert werden muss dabei aus den angeführten Gründen vor allem, dass der Gerichtshof sich in Widerspruch zu einer zuvor ergangenen WTO-Streitbeilegungsentscheidung setzt, wozu freilich eine Aufforderung an den EuGH wenig beitragen wird. Nach der hier vertretenen Auffassung kann eine rechtliche Pflicht des Gerichtshofs zur Umsetzung einer WTO-Ent-scheidung rechtlich überzeugend derzeit nur aufgrund von Art. 300 Abs. 7 EGV begründet

68 Der Begriff ist hier untechnisch zu verstehen und soll keine Assoziationen zur Transformationslehre wecken.69 Dazu stellvertretend B.W. Wegener, in: Calliess/Ruffert (Fn. 2), Art. 220 Rn. 31 m.w.N. zur Rechtsprechung.70 S. dazu nochmals das EWR-Gutachten des EuGH (Fn. 49), Rn. 30 ff.71 S. das Zitat von GA Alber in Fn. 23.72 Die Gefahr einer Kollision der völkerrechtlichen Pflicht zur Beseitigung des Rechtsverstoßes mit der gemein-

schaftsrechtlichen Pflicht zu seiner Befolgung könnte nur durch eine Klagemöglichkeit der Mitgliedstaaten ausgeräumt werden, die der Gerichtshof aber wie dargelegt ablehnt.

Layout_Heft 3.indd 476 19.06.2004, 16:26:04

Page 106: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

477EuR – Heft 3 – 2004Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

73 Treffend stellt R. Uerpmann, Völkerrechtliche Nebenverfassungen, in: A. v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 339 (370), zur Rechtsprechung des Gerichtshofs zum WTO-Recht fest: „Damit entsteht das Bild einer Europäischen Gemeinschaft, die einem Souveränitätsdenken verhaftet ist, das moderne Staaten längst überwunden haben.“

74 S. oben Fn. 31.

werden. Dieser Ansatz hat allerdings – das soll hier nicht verschwiegen werden – durchaus einen rechtspraktischen Nachteil: Er beruht auf einer Bestimmung, die der EuGH im Be-reich des Welthandelsrechts ohnehin weitgehend vernachlässigt, was erst zu den dargestell-ten Rechtsprechungslinien führen konnte. Das macht allerdings die hier erfolgte Darlegung einer Kassationspflicht des EuGH vor allem deshalb nicht wertlos, weil sich die von Art. 300 Abs. 7 EGV angeordneten Wirkungen durchaus voneinander trennen lassen. Das bedeutet, dass der Gerichtshof an seiner grundsätzlichen Rechtsprechung zu den WTO-Abkommen festhalten kann – etwa, weil das Reziprozitätsargument zwar nicht die innergemeinschaftli-che Geltung, aber jede weitere interne Wirkung verhindert – und dennoch die auf der glei-chen Bestimmung beruhende Kassationspflicht anerkennen kann. Noch im Fall von über-zeugend festgestellten Rechtsverletzungen auf die fehlende Gegenseitigkeit der Verpflich-tungen abzustellen, ist einer Integrationsgemeinschaft wie der EG unwürdig73. Die völlige Ignorierung der WTO-Entscheidungen durch den EuGH im OGT-Beschluss74 weckte nicht die Hoffnung, dass sich der Gerichtshof alsbald auf den hier vorgestellten An-satz einlassen könnte. Doch scheinen die hier (erneut) vorgetragenen Bedenken gegenüber der Rechtsprechung endlich auch den Gerichtshof erreicht zu haben – dies lässt sich aller-dings erst dann mit Sicherheit feststellen, wenn der EuGH den noch recht vagen Worten im Biret-Urteil demnächst Taten folgen lässt. Freilich wären diese nur im Ergebnis zu begrü-ßen, entbehren sie doch einer tragfähigen dogmatischen Grundlage. Der Gerichtshof sollte bei der Anerkennung der innergemeinschaftlichen Wirkungen nicht auf halber Strecke ste-hen bleiben, sondern die hier dargestellte aus Art. 300 Abs. 7 EGV folgende Kassations-pflicht anerkennen. Deutet der EuGH Bereitschaft an, von seiner bisher feststehenden Recht-sprechung auch nur ein Stück weit abzurücken, ist Überzeugungsarbeit aus dem Schrifttum um so stärker gefragt; schon die leise Hoffnung auf eine Korrektur der EuGH-Rechtspre-chung zum WTO-Recht wenigstens bei im WTO-Streitbeilegungsverfahren festgestellten Rechtsverstößen der Gemeinschaft ist Ansporn genug für diese und weitere rechtsdogmati-sche Überlegungen. Greift der Gerichtshof sie auf, wäre das nicht nur ein ermunterndes Bei-spiel für das Zusammenwirken von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis; der EuGH leistete damit auch einen entscheidenden Beitrag für das störungsfreie Zusammenwirken der beiden involvierten überstaatlichen Regime, das für alle Beteiligten der Integrationsprozesse auf Dauer nur Vorteile hätte.

Layout_Heft 3.indd 477 19.06.2004, 16:26:04

Page 107: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004478 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Die Geschichte der Fusionskontrollverordnung als ein Beispiel der Europäischen Normsetzung

Von Kyrill Farbmann, Mülheim/Ruhr

I. Einleitung

Die geschichtliche Entwicklung der Fusionskontrolle in Europa enthält einen Vorrat an Denkkonzepten, mit deren Hilfe aktuelle Problemstellungen in eine klärende Distanz ge-bracht und im Hinblick auf Lösungsmöglichkeiten neu beleuchtet werden können.Aktuelle Diskussionen sind immer auch zugleich Teil einer Rezeptionsgeschichte, zu deren Verständnis die geschichtliche Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft beitragen kann. Man muss hierbei freilich den engen Zusammenhang von Konzentrationskontrolle und den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Zeitverhältnissen im Auge behalten. Ein angemes-senes Verständnis der Fusionskontrolle ergibt sich nicht aus einer, von ihren Entstehungs- und Verwendungszusammenhängen losgelösten, Versenkung in reine Gedankenwelten. Die Entwicklung der Fusionskontrolle in Europa ist sehr eng mit der Entstehung und dem Ablauf der europäischen Integration verbunden; es handelt sich um einen langen und sowohl von Erfolgen als auch von Rückschlägen gekennzeichneten Prozess.

II. Die Verträge

Die ersten Normen, welche die Konzentrationen in Europa regelten, wurzelten auf dem kurz nach der Beendigung des 2. Weltkrieges entstandenen Konzept des Franzosen Jean Monnet von 1950, das der damalige französische Außenminister Schuman aufgriff („Schuman-Plan“). Der Grundgedanke war, die deutsche Produktion von Kohle und Stahl, der eine er-hebliche wirtschaftliche und militärische Bedeutung beigemessen wurde, unter eine interna-tionale Kontrolle zu bringen1. Dadurch sollte die Bedrohung des europäischen Friedens durch ein wieder erstarkendes Deutschland vermieden werden.2 Angesichts des aufkom-menden „Ost-West-Konfliktes“ und der negativen Erfahrungen mit dem Versailler Vertrag erschien ein solches Vorgehen nur dann friedenssichernd und erfolgversprechend, wenn Deutschland gemeinsam mit den anderen europäischen Staaten in ein supranationales Sys-tem eingegliedert würde.3 So kam es am 18.04.1951 in Paris zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, sog. „Montanunion“) zwischen Deutschland, Frankreich, Italien und den Benelux-Staaten.Die Pariser Verträge beinhalten in Art. 66 des Vertrages über die Gründung der Europäi-schen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS-Vertrag) eine detaillierte Regelung von Konzentrationen, die jedoch ausschließlich die Kohle- und Stahlindustrie betrifft, da der EGKS-Vertrag sich nur darauf bezieht. Nach Art. 66 § 1 S. 1 EGKS-Vertrag ist für die Kon-zentrationen unabhängig von der Größe der beteiligten Unternehmen und ohne Anknüpfung an Aufgreifschwellen ausschließlich die Gemeinschaft zuständig.

1 Loibl, Europarecht, 1999, S. 1.2 Wilmowsky, JURA 1992, S. 337.3 Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union – Rechtsordnung und Politik, 4. Aufl. 1993, S. 33;

Rexin, in: Lilge, Deutschland 1945-1963, 1967, S. 79.

Layout_Heft 3.indd 478 19.06.2004, 16:26:05

Page 108: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

479EuR – Heft 3 – 2004Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Die Gründe für eine ausführliche Regelung waren die bereits eingetretene Konzentrations- und Kartellbildung gerade in den betroffenen Sektoren von Kohlenförderung und Stahler-zeugung und das Misstrauen der Nachkriegszeit gegenüber einer zu großen wirtschaftlichen Macht.4 Hinzu kam die Dezentralisationspolitik der Alliierten und die Erkenntnis, dass ge-rade die industrielle Konzentration eine entscheidende Rolle bei der Kriegführung hatte.5 Die Konzentrationskontrolle im EGKS-Vertrag war daher sowohl ökonomisch sinnvoll als auch politisch gewünscht.6 Schon 1954 wurden jedoch durch die Entscheidung der Hohen Behörde7 Nr. 25/54 Ausnah-men von der Anmeldepflicht aufgrund der Größe der beteiligten Unternehmen eingeführt.8 Die Pläne zur Förderung der wirtschaftlichen Integration, insbesondere zur Schaffung eines Gemeinsamen Marktes, führten zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durch den EWG-Vertrag und der Europäischen Atomgemeinschaft durch den EAG-Vertrag, die am 25.3.1957 in Rom unterzeichnet wurden und am 1.1.1958 in Kraft getreten sind.9 Die Verträge von Rom enthielten keine ausdrückliche Regelung über die Fusionskontrolle, die den Pariser Verträgen vergleichbar gewesen wäre.Die ökonomische Realität der damaligen Zeit sprach gegen eine europaweite Fusionsrege-lung, da die Firmenzusammenschlüsse überwiegend innerstaatlich und nicht europäisch waren; außerdem wollten die einzelnen Staaten so ein wichtiges wirtschaftpolitisches In-strument nicht aus den Händen geben.10

Darüber hinaus war die europäische Industrie in den 1950ern noch wenig konzentriert, und es wurde generell angenommen, dass „concentrations would enable companies to take ad-vantage of economies of scale in an enlarged market“.11

„It must be said that the merger issue was not high on anyone‘s agenda in Europe in mid-1950‘s. National competition policy, where it existed, was not overly concerned with mergers and the EEC’s founding Treaty reflected that situation“.12

Ob hinter der legislativen Untätigkeit der Gründervater der Europäischen Union die Absicht lag, die kriegsgeschädigte Europäische Industrie wieder zu beleben und einen mit den USA vergleichbaren Industrialisierungsgrad zu ermöglichen13 oder die Fusionskontrolle einfach außer Acht gelassen wurde, ist umstritten und lässt sich heute nicht genau beantworten.Zwar wurden im Spaak-Bericht von 195514 zur Vorbereitung der Römischen Verträge Über-legungen über mögliche Regelungen einer Zusammenschlusskontrolle erörtert, jedoch blie-ben diese unberücksichtigt.15

4 Wirtz, Legalität und ökonomische Realität, 2000, S. 241.5 Rexin, in: Lilge (Fn. 3), S. 76 f.6 Bos/Styck/Wytnick/Ridyard, Concentration Control in the European Community, 1992, S. 29; Heyden, ECLR

1991, Nr. 4, S. 161; Overbury, Proceedings of the 19-th Annual Fordham Corporate Law Institute, 1992, S. 558-560.

7 Zentrales Exekutivorgan der EGKS mit der Befugnis, verbindliche Entscheidungen ohne Einfluss der Mit-gliedsstaaten zu treffen.

8 ABl. EGKS 1954, S. 346.9 Fischer, Europarecht, 3. Aufl. 2001, S. 8.10 Wirtz (Fn. 4), S. 242.11 Rodford, European Access 1990, Nr. 3, S. 17.12 Britain, The development of Merger Control in EEC Competition Law, 1991, S. 23 f.13 Schwartz, YJIL 1993, Vol. 18, S. 613.14 Bericht über den Entwurf von Gemeinschaftsverträgen zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemein-

schaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom).15 Wirtz (Fn. 4), S. 241.

Layout_Heft 3.indd 479 19.06.2004, 16:26:05

Page 109: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004480 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

In den 1960er Jahren begann in Europa ein durch die wachsende Wirtschaft hervorgerufener „Merger-Boom“;16 so hat sich zum Beispiel die jährliche Zahl der Fusionen zwischen 1962 und 1970 um den Faktor 3,5 erhöht.17 Die Folge des Merger-Booms war die Änderung der politischen Einstellung zu den Fusionsprozessen. Die Fragen, inwiefern die bestehenden Re-gelungen über den Wettbewerb auf die Fusionen angewendet werden können,18 sowie ob und welche eigenen Regelungen der Fusionskontrolle erforderlich sind, gehörten untrennbar zu diesem Prozess.Von den schon bestehenden Rechtsgrundlagen kamen vor allem Art. 85 EGV a.F.19 und Art. 86 EGV a.F.20 in Betracht.

III. Das Konzentrationsmemorandum – 1966

Ob eine Fusionskontrolle über Art. 85 EGV a.F. und 86 EGV a.F. möglich ist, wurde sehr lange Zeit kontrovers diskutiert.Als Erster äußerte sich der Kommissar von Goeben vor dem Europäischen Parlament über die mögliche Anwendbarkeit dieser Artikel zu Zwecken der Zusammenschlusskontrolle.21 Die von der Kommission eingesetzten Expertengruppen (Professoren aus den Mitgliedsstaa-ten) bestätigten diese Möglichkeit und machten bedeutende prinzipielle Aussagen.22 Die Gutachter hielten Art. 85 EGV a.F. für anwendbar, wenn die Konzentration zwei Rechtsper-sönlichkeiten bestehen lässt und der Anteilserwerb im Rahmen einer gemeinsamen Über-einkunft geschieht. Art. 86 EGV a.F. sollte hiernach anwendbar sein, wenn die Unternehmenskonzentration un-mittelbar auf einen Missbrauch der durch sie erlangten marktbeherrschenden Stellung ab-zielt oder wenn der Zusammenschluss eine Folge der marktbeherrschenden Stellung ist.Entgegen der Ansicht der Experten stellte die Kommission 1966 ihr Konzentrationsmemo-randum mit den Eckpunkten für eine europäische Fusionskontrolle vor.23 Hierbei verfolgte die Kommission eine grundlegende Trennung zwischen Marktverhalten und den strukturel-len Marktveränderungen.Nach Ansicht der Kommission ist Art. 86 EGV a.F. potentiell auf Konzentrationen anwend-bar; Art. 85 EGV a.F. ist dagegen gleichzeitig zu weit und zu eng24. Zu weit ist der Art. 85 EGV a.F. im Hinblick darauf, dass sich diese Norm als eine Bestimmung herausstellen könn-te, die jeden Zusammenschluss erfasst und daher ein Hindernis für viele Fusionen sein könnte. Zugleich könne sich Art. 85 Abs. 3 EGV a.F. zum Einfallstor für industriepolitische Erwägungen entwickeln und damit eine zu weitreichende Regelung darstellen.Daher ist für die Anwendbarkeit des Art. 85 EGV a.F. nicht nur ein Eigentümerwechsel er-forderlich, sondern auch eine Verhaltensabstimmung zwischen den an der Konzentration beteiligten Unternehmen.

16 Cowman, Effective E.C. Merger Control, 2002, S. 23.17 Dritter Wettbewerbsreport der Europäischen Kommission, 1974, Punkt 25.18 Cowman (Fn. 16), S. 24.19 Verbot wettbewerbshindernder Vereinbarungen und Verhaltensweisen (heute Art. 81 EG). 20 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (heute Art. 82 EG).21 Cowman (Fn. 16), S. 25.22 Das Ergebnis der Professorengruppen ist im „Le problème de la concentration dans le Marchè Commun“,

Brussel, 1966 Études CEE Serie Concurrence, No. 3 veröffentlicht.23 Memorandum on the Concentration of the Enterprises in the Common Market, EEC Competition Series Study

No. 3.24 Schwartz, YJIL 1993, Vol. 18, S. 614.

Layout_Heft 3.indd 480 19.06.2004, 16:26:05

Page 110: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

481EuR – Heft 3 – 2004Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Weiterhin führte die Kommission aus, dass das Erfordernis einer Übereinkunft zwischen den Unternehmen in Art. 85 EGV a.F. zu rechtlichen Problemen bei der Erfassung von Anteilser-werbern auf dem Kapitalmarkt führe: Art. 85 Abs. 2 EGV a.F. habe eine rigide Nichtigkeits-sanktion und zudem sei Art. 85 Abs. 3 EGV a.F. schwierig auf die strukturellen Veränderun-gen anzuwenden. Außerdem sei er überhaupt nicht für die Fusionskontrolle konzipiert.25

Offensichtlich war die Begründung der Kommission rechtlich sehr schwach und sollte nur den politischen Willen der Kommission bestätigen. Die Erleichterung der grenzüberschrei-tenden Fusionen war 1966 im Interesse der Gemeinschaft. Die Kommission behielt sich auch Änderungen vor, was politisch sicherlich ein sehr geschickter Schritt war, insbesondere we-gen der gerade stattfindenden „Politik des Leeren Stuhls“ durch Charles de Gaulle, die es für die Kommission unmöglich machte, ihre Kompetenzen eigenmächtig auszuweiten26. Jedoch bedeutete die Nichtanwendbarkeit von Art. 85 EGV a.F., dass objektiv betrachtet kei-ne wettbewerbsrechtliche Hürde für grenzüberschreitende Unternehmensstrategien vorlag. Da aber die Kommission 1966 Art. 86 EGV a.F. für anwendbar erklärte, war die rechtliche Situation sehr unsicher.27

Der anstehende Beitritt von Großbritannien, Irland und Dänemark beschleunigte die Ent-wicklung der Konzentrationskontrolle: die Abschlusserklärung des Gipfels von Paris von 1972 enthält eine Aufforderung an die Kommission, einen Entwurf für einen Konzentrati-onsmechanismus in der EG vorzulegen28. Jedoch fand der 1973 präsentierte Entwurf der Fusionskontrollverordnung keine Zustimmung im Ministerrat.

IV. Continental Can Urteil des EuGH - 1973

Eine Kehrtwende in der europäischen Fusionspolitik brachte das Continental Can Urteil des EuGH aus dem Jahre 1973.29 Hierbei ging es um den angestrebten Kauf der Aktienpakete von anderen Betreibern durch die Continental Can Company in New York und ihre Europä-ische Tochtergesellschaft Europemballge, deren Stellung auf dem europäischen Markt im Bereich Leichtmetallverpackung und Metalldecken für die Konservenindustrie durch den Kauf erheblich verstärkt worden wäre.Nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofes liegt der Missbrauch einer marktbe-herrschenden Stellung im Sinne des Art. 85 EGV a.F. dann vor, wenn ein Unternehmen in einer marktbeherrschenden Stellung diese Stellung in der Weise verstärkt, dass die Marktbe-herrschung einen solchen Grad erreicht, dass der Wettbewerb erheblich gebunden ist.30 Der Europäische Gerichtshof stellte außerdem klar, dass der perfekte Wettbewerb gar nicht das Ziel der Gemeinschaft ist.Nach der Ansicht des EuGH greift Art. 86 EGV a.F. nicht bei strukturellen Veränderungen, die den Wettbewerb nicht erheblich beschränken. Jedoch ist 86 EGV a.F. anwendbar, wenn eine marktbeherrschende Stellung vorliegt, die so dominant ist, dass kritische Marktstruktu-ren entstehen, die die Aufrechterhaltung des wirksamen Wettbewerbs in der Gemeinschaft gefährden und damit Vertragsziele umgangen werden .31

25 Wirtz (Fn. 4), S. 243.26 Aufgrund von Einstimmigkeitserfordernis infolge der Luxemburger Vereinbarung, vgl. Loibl (Fn. 1), S. 11.27 Schwartz, YJIL 1993, Vol. 18, S. 615.28 Cowman (Fn. 16), S. 26.29 EuGH Rs. 6/72 (Europemballage und Continental Can) Slg. 1973, 243 ff.30 EuGH Rs. 6/72 (Europemballage und Continental Can) Slg. 1973, 243, Grund 26.31 Kerber, Die Europäische Fusionskontrollpraxis und die Wettbewerbskonzepte der EG, 1994, S. 6; Schröter, in:

Groeben/Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Band 2 /I, 5. Aufl. 1999, Art. 86, Rn. 219 ff.

Layout_Heft 3.indd 481 19.06.2004, 16:26:05

Page 111: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004482 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Der EuGH machte jedoch die Einschränkung, dass Art. 86 EGV a.F. keine ausdrücklichen Vorschriften über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen beinhaltet.32

In der Folgezeit verdeutlichte der EuGH durch mehrere Urteile,33 dass die Eingriffsschwelle des Art 86 EGV a.F. hoch ist.In der Entscheidung Hofmann/La Roche führt der EuGH aus, dass obwohl die marktbeherr-schende Position alleine nicht ausreichend ist, sie jedoch ein Indikator dafür ist, dass eine marktbeherrschende Stellung vorliegt. Das Verhalten eines Unternehmens ist erst dann marktbeherrschend, wenn es eine Struktur erzeugt, durch die der Wettbewerb geschwächt wird.34

Die Kommission prüfte mehrere Zusammenschlüsse auf Grundlage von Art. 86 EGV a.F., untersagte jedoch keinen. Daher hat sich 86 EGV a.F. als Instrument der Fusionskontrolle nicht als sehr wirkungsvoll erwiesen. Mit Hinblick auf das Erfordernis des Bestehens der marktbeherrschenden Stellung schon vor der fraglichen Operation und die Notwendigkeit, dass die Zusammenschlussinitiative von dem dominanten Unternehmen ausgeht, konnte Art. 86 EGV a.F. keine wirksame Kontrolle gewährleisten.Die Schwäche der Anwendung war außerdem, dass Art. 86 EGV a.F. keine Ausnahmemög-lichkeit vorsah35 und keine vorherige Anzeige erforderlich machte, um die Konzentration rechtswirksam schon vor dem Zusammenschluss prüfen und genehmigen zu können. Auch die Anwendung von Verordnung 17 über die Entflechtung bereits vollzogener Zusammen-schlüsse war problematisch.36

Sowohl die Continental Can Entscheidung als auch die weiteren Urteile des EuGH hatten eine erhebliche Unsicherheit in der Wirtschaft zur Folge.37

Im Zigaretten-Urteil (Philip Morris Urteil) erklärt der EuGH, dass Art. 86 EGV a.F. auf den Erwerb von Minderheitsbeteiligungen an einen Wettbewerber anwendbar ist, wenn dem Er-werber dadurch ermöglicht wird, das Wettbewerbsverhalten des Unternehmens zu koordi-nieren38 und bestätigte die Möglichkeit, Art. 85 EGV a.F. auf Konzentrationen anzuwen-den.39

Hierbei stellte der EuGH in der Erwägung Nr. 37 fest, dass eine Akquisition als Mittel die-nen könne, das wirtschaftliche Verhalten des Unternehmens so zu beeinflussen, dass der Wettbewerb verfälscht oder beschränkt wird. Der EuGH hat jedoch einschränkend ausge-führt, dass Art. 85 EGV a.F. mindestens zwei Unternehmen voraussetzt und daher die Un-ternehmen nach der Akquisition zumindest augenscheinlich zusammen bleiben müssen.40

Nach dem Urteil gab es enge und weite Interpretationen, und die Meinungen waren unein-heitlich.41 Auch danach ist es dem EuGH nicht gelungen, die Rechtsunsicherheit zu beseiti-

32 EuGH Rs. 6/72 (Europemballage und Continental Can) Slg. 1973, 243; Zäch, Wettbewerbsrecht der Europäi-schen Union – Praxis von Kommission und Gerichtshof, 1994, S. 358; Elland, ECLR 1987, 167 f.; Goyder, EC Competition Law, 2. Aufl. 1993, S. 386 ff.

33 Z.B. EuGH Rs. 85/76 (Hoffmann-La Roche) Slg. 1979, 461 ff.34 Z.B. EuGH Rs. 85/76 (Hoffmann-La Roche) Slg. 1979, 461 ff, 463.35 Downes/Ellison, Legal Control of Mergers in the EC, 1991, S. 7 f.; Bishop, in: Bishop/Kay, European Mergers

and Merger Policy, 1993, S. 303 f.; Schwartz, YJIL 1993, Vol. 18, S. 622; Whish, Competition Law, 2001, S. 703; Collins, YJIL 1992, Vol. 17, S. 274.

36 Cowman (Fn. 16), S. 28.37 Wirtz (Fn. 4), S. 245.38 EuGH Rs. 142/84 und 156/84 (Bat und Reynolds) Slg. 1987, 4568.39 Gassner, Grundzüge des Kartellrechts, 1999, S. 183; Kerber (Fn. 31), S. 6.40 Downes/Ellison (Fn. 35), S. 21 f.41 Cowman (Fn. 16), S. 28.

Layout_Heft 3.indd 482 19.06.2004, 16:26:06

Page 112: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

483EuR – Heft 3 – 2004Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

gen. So war es immer noch unklar, auf welche Konzentrationen welche Artikel anwendbar sind. Ein weiterer Faktor war das bereits erwähnte Fehlen des zwingenden Anmeldeverfah-rens, das die administrative Kontrolle schwierig machte. Schließlich handelte es sich um ein langwieriges Verwaltungsverfahren und die Fusionen brauchen schnelle Entscheidungen.42

Zu dieser Zeit gewannen auch die Art. 92 und 94 EGV a.F. (jetzt Art. 87 und 89 EG) für die Fusionskontrolle an Bedeutung, indem sie den Verkauf staatlicher Unternehmen unter Wert verhindern.43

Diese Maßnahmen zusammen genommen (Art. 85, 86, 92, 94 EGV a.F.) gaben der Kommis-sion ein erhöhtes politisches Potential, das jedoch immer noch viele Schwächen aufwies. Daher verfolgte die Kommission in den folgenden Jahren das Ziel, sich durch eine Ratsver-ordnung die umfassenden kontrollrechtlichen Befugnisse zu verschaffen.

V. Fusionskontrollverordnung - 1989

Der Entwurf der Fusionskontrollverordnung aus dem Jahre 1973 wurde nach dem ersten Aufruf auf dem Pariser Gipfel in 1972 verfasst.44 Doch dieser Vorschlag wurde äußerst kri-tisch aufgenommen. Der im Ministerrat gescheiterte Entwurf führte zu einer 16 Jahre dau-ernden Diskussion. Die auf der Praxis der Kommission basierende Fusionskontrollverordnung, die seit der Con-tinental Can Entscheidung entwickelt wurde, musste die nationalen Eigeninteressen der Mit-gliedsstaaten in kompromissfähigen Detailregelungen unterbringen.45 Die lange Verhinde-rung der Übereinkunft resultierte vor allem daraus, dass die Wettbewerbspolitik essentielle nationale Wirtschaftsinteressen betrifft; kein Staat wollte auf nationale Beihilfen und öffent-liches Beschaffungswesen verzichten; jeder Mitgliedsstaat hat seine eigenen wirtschaftspo-litischen Vorstellungen; niemand wollte die mit der Entscheidung über die Fusionen zusam-menhängende Macht abgeben.46

Die große Uneinigkeit zwischen den Wettbewerbsbehörden und den zuständigen Ministern der einzelnen Staaten bezog sich vor allem auf die Regelungen des Anwendungsbereiches (unter anderem die Schwellenwerte) und die Beurteilungskriterien für die Vereinbarkeit mit dem gemeinsamen Markt. Umstritten war auch das Verfahren, vor allem, ob die Zusammen-schlusskontrolle präventiv sein darf (danach Art. 7 FKVO – modifizierte Prävention) und die Abgrenzung der Entscheidungszuständigkeit von Kommission und Mitgliedsstaaten.Ein wichtiges Ereignis für die Europäische Integration war die Verabschiedung der Einheit-lichen Europäischen Akte (EEA) am 28.02.1986, die am 01.07.1987 in Kraft getreten ist. Durch sie wurde die „Verwirklichung eines europäischen Binnenmarktes“ als Vertragsziel in den EWGV aufgenommen.47 Die EEA brachte außerdem einen erheblichen Kompetenzzu-wachs für die Gemeinschaft.48

42 Wirtz (Fn. 4), S. 246.43 Downes/Ellison (Fn. 35), S. 26.44 Punkt 7 der Abschlusserklärung des Gipfels von Paris: Aufruf, einen Entwurf für einen Konzentrationsmecha-

nismus in der EG vorzulegen.45 Schwartz, YJIL 1993, Vol. 18, S. 609 f.; Callister, CILJ, 1991, Vol. 24, S. 97 ff; Frey, The Public Choice View

of international political economy, in: Vaubel/Vilett (Hrsg.) The political economy of international Organisati-ons, 1991, S. 7 ff.

46 Hölzer, in: Montagon, European Competition Policy, 1990, S. 11 f.; Downes/Ellison (Fn. 35), S. 32 f.; Schwartz, YJIL 1993, Vol. 18, S. 623 ff; Reynolds, JWTL 1988, Vol. 17, S. 421.

47 Vgl. Art. 14 EG.48 Fischer (Fn. 9), S. 11.

Layout_Heft 3.indd 483 19.06.2004, 16:26:06

Page 113: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004484 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Die Bedeutung der EEA für die europäische Fusionskontrollordnung wird uneinheitlich ge-sehen. Man findet Stimmen in der Literatur, die diese als Auslöser der FKVO sehen;49 man-che Autoren verneinen diesen Zusammenhang.50

1987 hat Kommissar Sutherland in einer Rede vor dem Europäischen Parlament angedeutet, dass Art. 85 EGV a.F. zu Zwecken einer umfassenden Konzentrationskontrolle anwendbar ist.51 Von vielen Kreisen wurde diese Andeutung jedoch als Drohung gesehen; viele haben dies so verstanden, dass die Kommission verstärkt auf Art. 85, 86 EGV a.F. zurückgreifen wird, falls der Ministerrat nicht bald eine Verordnung verabschiede.1988 finden wieder ernsthafte Gespräche über die FKVO im Rahmen des EG-Binnenmarkt-programms statt; die Kommission legt mehrere veränderte Vorschläge vor.52 Der Vorsitz Frankreichs im Rat und die bevorstehende Wiedervereinigung Deutschlands haben dazu beigetragen, dass die FKVO im Dezember 1989 angenommen wurde und am 21.9.1990 in Kraft treten konnte.53

VI. Überarbeitung der Fusionskontrollverordnung - 1997

Schon bald nach der Verabschiedung der Fusionskontrollverordnung stellte sich das Pro-blem, das schon bei der Vorbereitung bekannt war: Die Verordnung „emerged only as a re-sult of political compromise as to its provisions“54 and „was a fruit of a true political compro-mise“.55 Schon bei der Verabschiedung der FKVO wurde geregelt, dass diese in 3 Jahren überarbeitet werden soll. Jedoch wurde die Überarbeitung 1993 noch um 3 Jahre verscho-ben, da die Kommission es für sinnvoll hielt, mehr Erfahrung auf dem Gebiet der Fusionen, sowohl auf der Europäischen Ebene als auch auf der Ebene der einzelnen Staaten, zu sam-meln. Die Verschiebung war auch unbedingt erforderlich, da es abzusehen war, dass die Diskrepanzen zwischen den einzelnen Staaten, die auch die Entstehung der FKVO gehindert hatten, immer noch unüberbrückbar waren.„Some national authorities were simply afraid that they would lose even more of their remai-ning authority to the EU Commission and therefore rejected revisions, especially of the turn-over thresholds, that serve as the main tool after which a first appraisal of the community-wide effect is made and through this a determination of which authority will be competent to deal with the respective case, EU or national.“56

1996 hat die Kommission ein Grünbuch mit einem Vorschlag der Überarbeiteten FKVO be-schlossen, dazu wurden mehrere Änderungsvorschläge gemacht. Daneben wurde mehrere Themen zur öffentlichen Diskussion freigegeben und die Leser wurden aufgefordert, zu den einzelnen Problemen Stellung zu nehmen.Dieser Prozess endete 1997 mit einer überarbeiteten FKVO, die am 1.März 1998 in Kraft getreten ist.57

49 Cowman (Fn. 16), S. 29.50 Davidow, CJTL 1991, Vol. 29, S. 15. 51 Elland, ECLR 1987, S. 168.52 Zu den einzelnen Entwürfen Ruppelt, WuW 1989, S. 187 ff.53 Reynolds, IFLR 1990, S. 33 f; Schwartz, YJIL 1993, Vol. 18, S. 652.54 Kassamali, ECLR 1996, Vol. 21, S. 89 f.55 Broberg, ECLR 2002, S. 429, 433.56 Hirsch, JILP 1995, S. 43, 47.57 Verordnung (EG) Nr. 1310/97 des Rates v. 30.6.1997, ABl 1997 Nr. L 180, S. 1.

Layout_Heft 3.indd 484 19.06.2004, 16:26:06

Page 114: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

485EuR – Heft 3 – 2004Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Die Kontrollbefugnisse der Kommission wurden gestärkt, das Verfahren wurde vereinfacht und beschleunigt; man hat versucht, das Problem der Mehrfachanmeldungen zu lösen.Jedoch erreichten viele Änderungen nicht ihr Ziel (so zum Beispiel gelang es Art. 1 Abs. 3 FKVO nicht, die Mehrfachkontrollen zu vermeiden), so dass es schon bald klar wurde, dass eine neue Überarbeitung erforderlich sein würde.

VII. Die neue Fusionskontrollverordnung – VO 139/2004

Am 28.6.2000 legte die Kommission einen Bericht über die praktischen Erfahrungen mit der FKVO vor.58 In diesem Bericht stellte die Kommission fest, dass der 1997 neu eingefügte Art. 1 Abs. 3 FKVO das Problem der Mehrfachanmeldungen nicht gelöst hat. Hierbei geht es um Verfahren von Unternehmen, die sich in mehr als zwei Mitgliedsstaaten anmelden müssen, aber die Umsatzgrenze nicht erreichen. Die Bewältigung dieses Phäno-mens, welches zu extrem hohen Kosten und Zeitverlusten führt, wurde als das vorrangigste Ziel einer Reform der europäischen Zusammenschlüsse postuliert59 und hatte die Reform der FKVO ausgelöst.Bei der aktuellen umfassenden Modernisierung der Europäischen Fusionskontrolle60 handelt es sich um die grundlegendste Überarbeitung seit 12 Jahren.61 Es sollen nicht nur die techni-schen und verfahrensrechtlichen Fragen geändert, sondern auch die neuen wettbewerbspo-litischen Grundlagen der europäischen Fusionskontrolle62 eingearbeitet werden.Die Notwendigkeit einer grundlegenden Änderung ergab sich aus den gewandelten wirt-schaftlichen und politischen Bedingungen sowohl auf europäischer als auch auf globaler Ebene; die FKVO soll Herausforderungen begegnen, die sich aus „weltweiten Fusionen, der Währungsunion, der Marktintegration, der Erweiterung der Europäischen Union und der Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit anderen zuständigen Behörden ergeben würden“.63

Ein weiterer Auslöser der Reformen war die zunehmende Anzahl der Zusammenschlüsse mit globaler Dimension und die zunehmende Komplexität der Zusammenschlüsse.64

Ein zusätzlicher Druck zur Neufassung der FKVO ergab sich aus den Niederlagen der Kom-mission vor dem EuGH in drei Verfahren65 und der daraus resultierenden Kritik, dass die Kommission nicht in der Lage sei, die Fusionskontrolle wirksam durchzuführen.Die Diskussion um die Globalisierung und der Wunsch nach einer Annäherung zwischen den Fusionskontrollbehörden der USA und der EU66 als auch die Verbesserung der Zusam-menarbeit und der Konvergenz mit den anderen führenden Kartellrechtsordnungen der Welt67 ist besonders aktuell, da die Kommission Anfang 2002 den Zusammenschluss GE /

58 Bericht an den Rat über die Anwendung der in der Fusionskontrollverordnung vorgesehenen Schwellenwerte, KOM (2000) 399 endg.; zu dem Bericht ausführlich Baron, WuW 1997, S. 579, 583.

59 Bartosch/Nollau, EuZW 2002, S. 197.60 Drautz, WuW 2002, S. 444 .61 Klees, EuZW 2003, S. 197.62 Bischke/Mäger, EWS 2003, S. 97; Drautz, WuW 2002, S. 444.63 Grünbuch über die Revision der Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates v. 11.12.2001, KOM (2001) 745/6

endg., S. 4.64 Drautz, WuW 2002, S. 444; Broberg, ECLR 2002, S. 429.65 EuG Rs. 342/99 (Airtours/First Choice) Slg. II, 2002, 2592; EuG Rs. 310/01 (Schneider/Legrand) Slg. II, 2002,

4075; EuG Rs. 05/02 (Tetra Laval/Sidel) Slg. II, 2002, 4389. Zu den Urteilen Ehlermann/Völcker, EuZW 2003, 1.

66 Drautz, WuW 2002, S. 444.67 Drautz, WuW 2002, S. 444.

Layout_Heft 3.indd 485 19.06.2004, 16:26:07

Page 115: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004486 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Honeywell untersagte,68 obwohl die US-amerikanischen Kartellbehörden diesen Zusam-menschluss vorher erlaubt haben.69

Außerdem ist die Entwicklung stark durch die schlechte wirtschaftliche Lage und sehr schwache Konjunktur in vielen europäischen Ländern beeinflusst.70

Am 11.12.2001 veröffentlichte die Kommission das zweite Grünbuch über die Revision der Verordnung 4064/8971 und hat die interessierten Kreise aufgefordert, zu dem Vorschlag schriftlich Stellung zu nehmen. Die Aufforderung fand außerordentlich starke Resonanz. Über hundert Zuschriften kamen aus den Kartellbehörden und Ministerien der Mitglieds-staaten, Wirtschaftsverbänden, Unternehmen und der Anwaltschaft.72 Besonders kontrover-se Diskussionen rief das Problem der Mehrfachanmeldungen hervor. Für die Anwaltschaft, die das Grünbuch begrüßte, bedeutete der Vorschlag der Kommission eine Arbeitsentlas-tung; jedoch befürchteten die nationalen Kartellbehörden einen Kompetenzverlust.73 Neben der lebhaften Auseinandersetzung um die Mehrfachanmeldungen, wurde die Zuständig-keitsverteilung zwischen der Kommission und den Behörden viel diskutiert.74

Grünbuch, Ursprungsentwurf und Eingaben mündeten im Kommissionsentwurf vom 12.12.2002, der die Verordnung 4064/89 ersetzen sollte und vom Europäischen Parlament am 9.10.2003 bestätigt wurde. Am 20. Januar 2003 hat der Rat die Fusionskontrollverord-nung75 beschlossen. Eingebettet ist die neue Fusionskontrollverordnung in ein Bündel von Maßnahmen im Rah-men des Reformpakets auf dem Gebiet des europäischen Wirtschafts- und Kartellrechts. Gleichzeitig erscheint ein Mitteilungsentwurf der Kommission über die Kontrolle horizonta-ler Zusammenschlüsse gemäß der FKVO, dessen Ziel es ist, die Analyse von Fusionsfällen nachvollziehbarer und berechenbarer zu machen.76 Außerdem wird eine Durchführungsver-ordnung zu Art. 81 und 82 EG erlassen. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch das zeitnahe Erscheinen der neuen Kartell-verfahrensverordnung (1/200377), die das europäische Kartellrecht grundlegend reformier-te.Weiterhin folgen viele nichtlegislative Maßnahmen zur Reorganisation der Generaldirektion Wettbewerb der europäischen Kommission, die für die Fusionskontrolle zuständig ist. So wird Position eines Chefökonomen in der Generaldirektion Wettbewerb geschaffen. Ferner wird die der Mitarbeiterstab des für die Verteidigungsrechte der Unternehmen und ein faires Verfahren zuständigen Anhörungsbeauftragten vergrößert. Auch die Akteneinsicht wird vereinfacht und schon früher als bisher ermöglicht.78

68 Entscheidung der Kommission vom 3.2.2002, Fall Nr. COMP/M. 2220 (GE / Honeywell).69 Bischke/Mäger, EWS 2003, S. 97.70 Bundesministerium für Wirtschaft, Monatsberichte zur wirtschaftlichen Lage in der BRD, Faktum, 2000,

2001, 2002. 71 Grünbuch über die Revision der Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates v. 11.12.2001, KOM (2001) 745/6

endg.72 Teil der Stellungnahmen bei der www.europa.eu.int/comm/competition/mergers/review/comments.html ver-

öffentlicht.73 Arhold, EWS 2002, S. 449.74 Klees, EuZW 2003, S. 197.75 VO 139/2004.76 Bischke/Mäger, EWS 2003, S. 97.77 Weitbrecht, EuZW 2003, S. 69.78 Beschluss der Kommission über das Mandat von Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfah-

ren, ABl. 2001, Nr. L 162, S. 1 ff.

Layout_Heft 3.indd 486 19.06.2004, 16:26:07

Page 116: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

487EuR – Heft 3 – 2004

79 Verordnung (EG) Nr. 1 / 2003 des Rates zur Durchführung der in Art. 81 und Art. 82 EG niederlegten Wettbe-werbsregeln, ABl. Nr. L 1 v. 4.1.2003, S. 1.

80 Vgl. z.B. Handelsblatt v. 24.10.2003, S. 12.

Sowohl die neuen Fusionskontrollverordnung als auch die anderen legislativen und nichtle-gislativen Maßnahmen sollen am 1.5.2004 in Kraft treten und somit genau am Tag des Bei-tritts der 10 neuen Staaten in die Europäische Union.79

Die neue Fusionskontrollverordnung soll nicht nur die Fusionen in Europa regeln, sondern auch ein Vorbild für die anderen Fusionskontrollmechanismen der Welt sein.

VIII. Fazit

Mittlerweile unumstritten ist die Notwendigkeit der Fusionskontrolle auf der europäischen Ebene. Die Praxis der Kommission auf diesem Gebiet hat sich bewährt und verstetigt, so dass inzwischen für die Beteiligten eine ausreichende Rechtssicherheit eingetreten ist. Die Entscheidungsvoraussetzungen, -maximen und -abläufe sind kalkulierbar und transparent. Begleitet wird diese Praxis durch rege Diskussionen in den Fachkreisen, die auch der Fort-entwicklung des Fusionsrechts dient, um zukünftige Fehlentwicklungen vorzubeugen und auch in der Rechtsfortentwicklung von einer Reaktion zu einer Gestaltung zu kommen.Jedoch gibt es immer noch und immer wieder Schwierigkeiten und Probleme.80

Um die Probleme zu beschreiben, zu analysieren und sie einer Lösung zuzuführen, bedarf es außer institutioneller Garantien auch eines gemeinsamen Willens zur Kompromissbildung. Die Fusionskontrolle in Europa versucht Ordnung in komplexe wirtschaftliche Zusammen-hänge zu bringen; ihr Funktionieren hängt von einer Vielzahl von Variablen ab.Dass sie trotz dieser Komplexität, allen Rückschlägen und Verhandlungsschwierigkeiten zum Trotz, in die von der Einheitlichen Europäischen Akte vorgegebene Richtung zielt, lässt alles in allem Raum für begründete Hoffnung.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Layout_Heft 3.indd 487 19.06.2004, 16:26:07

Page 117: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004488

Europarechtlicher effet utile und deutsches AGB-Recht– Verkürzte Kündigungsfristen des Herstellers nach der neuen Kfz-GVO –

Von Ingo Brinker und Michael Meyer, München

I. Einleitung

Am 01.10.2002 trat die neue Gruppenfreistellungsverordnung für den Kfz-Vertrieb VO 1400/20021 (Kfz-GVO) in Kraft. Die neue Verordnung enthält detaillierte Vorgaben für Kfz-Hersteller, wie diese ihre Vertriebssysteme zu organisieren haben, damit sie von der Freistellungswirkung der GVO profitieren. Weichen die Händlerverträge von diesen Vorga-ben ab, droht die zivilrechtliche Unwirksamkeit der Vereinbarungen.Die neue VO 1400/2002 löst die Vorgängerregelung in der VO 1475/1995 ab2. Dieser Über-gang ist mit erheblichen Rechtsänderungen verbunden. So enthält die VO 1400/2002 z. B. ein Verbot der Kombination von selektivem und Alleinvertrieb. Ein solches Mischsystem war nach der VO 1475/1995 ausdrücklich zulässig. Nach der neuen Rechtslage müssen sich die Hersteller entweder für ein (qualitativ oder quantitativ) selektives oder alternativ ein ex-klusives Vertriebssystems entscheiden. Darüber hinaus hebt die VO 1400/2002 die bisher übliche Verknüpfung zwischen Vertriebs- und Kundendienstvertrag auf. Händler haben zu-künftig ein Wahlrecht, ob sie zusätzlich als Werkstatt tätig werden wollen oder nicht. Dane-ben wird es zukünftig auch reine Werkstattverträge geben, d. h. Werkstätten ohne ein eigen-ständiges Vertriebsrecht. Ein weiterer Schwerpunkt der neuen GVO liegt in der Erleichterung des Mehrmarkenver-triebs. Der Vertrieb mehrerer Marken war einem Händler bislang nur im Falle der räumli-chen Trennung des Vertriebs bei getrennter Geschäftsführung und getrennten Unternehmen sowie bei separatem Verkaufspersonal zulässig, solange keine Verwechslungsgefahr be-stand. Nach der neuen Rechtslage darf ein Hersteller nur noch verlangen, dass der Händler die Fahrzeuge seiner Marke in einem dieser Marke vorbehaltenen Teil des Verkaufsraums ausstellt, um eine Verwechslung der Marken zu vermeiden. Eine weitere Änderung sieht die Abschaffung der sog. Standortklauseln spätestens zum 01.10.2005 vor, die es Händlern in selektiven Vertriebssystemen verbietet, zusätzliche Geschäftsstellen an anderen Orten zu eröffnen. Um in den Genuss einer Freistellung zu kommen, muss ein Vertragshändler- bzw. Werkstattvertrag schließlich ausdrücklich vorsehen, dass der Händler bzw. die Werkstatt Rechte und Pflichten aus dem Vertrag übertragen können. Damit wird dem Händler- bzw. Werkstattvertrag erstmals ein eigenständiger wirtschaftlicher Wert zugesprochen.

II. Ausgangslage

Die meisten Kfz-Vertriebssysteme, die unter dem Regime der VO 1475/1995 geschaffen wurden, standen nicht im Einklang mit der VO 1400/2002. Spätestens mit Ablauf des Über-gangszeitraums am 30.09.2003 mussten sie der neuen Rechtslage angepasst sein. Es stellt sich die Frage, in welcher Form Kfz-Hersteller dies tun konnten, insbesondere welche Fris-ten die Hersteller beachten müssen, wenn sie ihr Vertriebssystem im Zuge der Anpassung

1 ABl. Nr. L 203 vom 01.08.2002, S. 30.2 ABl. Nr. L 145 vom 29.06.1995, S. 25.

Layout_Heft 3.indd 488 19.06.2004, 16:26:07

Page 118: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

489EuR – Heft 3 – 2004Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

ihrer Vertriebsorganisation an die VO 1400/2002 neu organisieren wollen. Die ordentliche Kündigungsfrist beträgt nach Art. 5 Abs. 2 Ziff. 2 VO 1475/1995 zwei Jahre. Sie verkürzt sich im Falle des Art. 5 Abs. 3 VO 1475/1995 (sog. Strukturänderungskündigung) auf ein Jahr, „falls sich die Notwendigkeit ergibt, das Vertriebsnetz insgesamt oder zu einem wesent-lichen Teil umzustrukturieren“. Eine für die Praxis bedeutsame, in Literatur und Rechtspre-chung bislang noch nicht abschließend geklärte Frage ist, ob sich ein Hersteller im Zuge der durch das In-Kraft-Treten der VO 1400/2002 anstehenden Änderungen auf die verkürzte einjährige Kündigungsfrist berufen darf3. Dies ist jüngst in zahlreichen Feststellungsklagen, die gekündigte Händler gegen Kfz-Hersteller erhoben haben, bezweifelt worden.

III. Die Äußerungen der EU-Kommission

Ausgangspunkt der Überlegungen ist der 19. Erwägungsgrund zur VO 1475/1995. Danach besteht das Recht zur außerordentlichen Kündigung mit der verkürzten einjährigen Kündi-gungsfrist, um „die Entwicklung anpassungs- und leistungsfähiger Strukturen nicht zu hem-men“. Dieses Ziel legt die Annahme nahe, dass die verkürzte Kündigungsfrist der Realisie-rung eines durch die fortschreitende Entwicklung entstandenen Änderungsbedarfs dient. Wenn die Einführung der VO 1400/2002 notwendigerweise die Anpassung des Vertriebs-systems eines Herstellers mit sich bringt, darf diese Entwicklung nicht durch die überlange ordentliche Kündigungsfrist von 24 Monaten gehemmt werden. Daraus folgt, dass die zwölf-monatige Kündigungsfrist gerade für solche Fälle gedacht ist, in denen Hersteller ihr Ver-triebssystem der rechtlichen Entwicklung anpassen müssen. Neben den Erwägungsgründen sind die Ausführungen der Kommission in ihrem Leitfaden über die Anwendung der VO 1400/20024 von Bedeutung. Unter Frage 20 stellt die Kommis-sion fest:

„Die Tatsache, dass die Geltungsdauer der [VO 1475/1995] am 30.09.2002 endet und sie durch eine neue Verordnung ersetzt wird, bedeutet noch nicht, dass ein Vertriebsnetz um-gestaltet werden muss. Nach dem In-Kraft-Treten der Verordnung kann ein Fahrzeugher-steller dennoch beschließen, sein Netz zu einem wesentlichen Teil umzustrukturieren.“

Diese Hinweise der Kommission sind ergebnisoffen. Ihnen lässt sich nicht eindeutig entneh-men, ob das In-Kraft-Treten der VO 1400/2002 eine Strukturänderungskündigung rechtfer-tigt. Klar ist nur, dass allein die Tatsache des In-Kraft-Tretens der neuen GVO noch kein Grund für eine Umstrukturierung und damit auch für die Inanspruchnahme der kurzen Kündigungsfrist ist. Ein genereller Ausschluss gilt nur für Kündigungen aus Anlass des Übergangs zur neuen GVO, wenn dadurch keine tatsächlichen strukturellen Änderungen im Vertriebssystem nötig werden. Die Kommission trägt damit dem Gedanken Rechnung, dass unter der VO 1475/1995 die Wahl eines Vertriebssystems möglich war, das auch mit den Vorgaben der VO 1400/2002 übereinstimmt. Beispielsweise sind rein selektive Vertriebssysteme sowohl nach alter und neuer Rechtslage zulässig. Einer Umstrukturierung bedarf es dann tatsächlich

3 Bejahend: Wendel, ZRP 2002, S. 1395 ff., S. 1400 f.; Roniger/Hemetsberger, Kfz-Vertrieb neu, Wien 2003, S. 147; Pfeffer, NJW 2002, S. 2910 ff., S. 2913; verneinend: Schütz, GK 5. Aufl. 2002, EG-Gruppenfreistellung – Branchenregelungen – Kfz-Vertrieb, Art. 3, Rn. 31; Creutzig, EuZW 2002, S. 560 ff., 563; Reckmann, WuW 2003, S. 752ff., S. 755 f.

4 Abgedruckt bei Schütz, a.a.O.

Layout_Heft 3.indd 489 19.06.2004, 16:26:07

Page 119: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004490 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

nicht. Solche Fälle sollen nach dem Willen der Kommission keine Strukturänderungskündi-gung (anlässlich des In-Kraft-Tretens der VO 1400/2002) rechtfertigen. Für den Fall einer dagegen notwendig gewordenen und tatsächlich durchgeführten Umstrukturierung schließt allerdings auch die Kommission eine Kündigungsmöglichkeit ausdrücklich nicht aus („es sei denn, es erfolgt eine Umstrukturierung des Händlernetzes“). In den Mittelpunkt rückt damit die einzelfallabhängige Frage, ob durch das In-Kraft-Treten der VO 1400/2002 tatsächlich ein individueller Umstrukturierungsbedarf entstanden ist. Ergänzend führt die Kommission im Leitfaden zur VO 1475/1995 (Dok. IV/9509/95/DE) in der Antwort zu Frage 16 aus:

„Die Möglichkeit einer vorzeitigen Kündigung wurde vorgesehen, um dem Hersteller eine flexible Anpassung an Veränderungen in den Vertriebsstrukturen zu ermöglichen. Ein Umstrukturierungsbedarf kann sich auf Grund des Verhaltens von Wettbewerbern oder sonstiger wirtschaftlicher Entwicklungen ergeben, wobei letzte unabhängig davon sind, ob sie auf interne Entscheidungen des Herstellers oder auf äußere Einflüsse wie z. B. die Schließung eines Unternehmens mit einem Personalbestand in einem bestimm-ten Gebiet zurückzuführen sind. In Anbetracht der Vielzahl der möglichen Sachverhalte ist es nicht möglich, alle denkbaren Gründe aufzählen.“

Auch diese Ausführungen der Kommission stehen der Möglichkeit einer Strukturände-rungskündigung nicht entgegen. Die Kommission nennt als Ursache für einen Umstruktu-rierungsbedarf das Verhalten von Wettbewerbern bzw. sonstige interne oder äußere wirt-schaftliche Entwicklungen. Zwar könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass eine neue Rechtslage unter keine dieser beiden Kategorien zu subsumieren sei. Gerade im Hinblick auf die weitere Äußerung der Kommission, dass es nicht möglich sei, alle denkbaren Umstruk-turierungsgründe aufzuzählen, würde dies aber offensichtlich zu kurz greifen. Vielmehr haben Rechtsänderungen in aller Regel auch wirtschaftliche Auswirkungen. Ein Gegensatz „wirtschaftliche vs. rechtliche Umstrukturierungsgründe“ kann deshalb nicht konstruiert werden5. Ob der Übergang zur neuen Rechtslage unter der VO 1400/2002 auch mit wirt-schaftlichen Auswirkungen verbunden ist, lässt sich nur im Einzelfall danach bestimmen, ob tatsächlich wirtschaftlich relevante Umstrukturierungen stattgefunden haben.

IV. Stellungnahme

Ein tatsächlicher Umstrukturierungsbedarf i. S. d. Art. 5 Abs. 2 Ziff. 2 VO 1475/1995 wird sich in den weitaus meisten Fällen der Umstellung eines Vertriebssystems auf die Erforder-nisse der VO 1400/2002 ergeben. Dies hat im Wesentlichen zwei Gründe:

1. Faktischer Zwang zur Umgestaltung der Vertriebssysteme

Nahezu alle Kfz-Hersteller haben von der unter der VO 1475/95 erlaubten Kombination von exklusivem und selektivem Vertrieb Gebrauch gemacht6. Die Anzahl der zugelassenen Händler stand dabei in einem direkten Zusammenhang mit den jeweiligen Vertragsgebieten.

5 So im Ergebnis auch das OLG München in einem Urteil [Az. U (K) 5664/03, nicht veröffentlicht] vom 26.02.2004. Das OLG München teilt im Wesentlichen die hier vertretene Auffassung.

6 Vgl. Funk, Kfz-Vertrieb und Kartellrecht, Berlin 2002, S. 31.

Layout_Heft 3.indd 490 19.06.2004, 16:26:08

Page 120: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

491EuR – Heft 3 – 2004Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Auf diese Wechselwirkung stützte sich nicht nur die Anzahl der insgesamt zu vergebenden Händlerverträge, sondern auch die wirtschaftlichen Kalkulationsgrundlagen der Hersteller überhaupt. Den Händlern wurde im exklusiven System bisher die sog. Marktverantwortung in ihrem Vertragsgebiet übertragen. Dadurch wurde sichergestellt, dass in jedem Marktver-antwortungsgebiet Absatz und Kundendienst intensiv gefördert und das jeweilige Marktpo-tenzial optimal ausgeschöpft wurde. Die flächendeckende Marktdurchdringung beruhte gerade auf diesen exklusiven Vertriebselementen. Die Kombinationsmöglichkeit von selek-tiven und exklusiven Vertriebselementen war der Dreh- und Angelpunkt jeglicher struktu-reller Überlegungen im Kfz-Vertrieb unter der VO 1475/1995.Dieser auf der alten Rechtslage basierenden Kalkulationsgrundlage wird durch das In-Kraft-Treten der VO 1400/2002 der Boden entzogen. Eine Kombination von selektiven und exklu-siven Elementen ist fortan nicht mehr möglich. Fast alle Hersteller mussten sich statt dessen entscheiden, ob sie ein (qualitativ oder quantitativ) selektives oder ein exklusives Vertriebs-system einrichten. In diesem, in der Praxis häufigsten Fall ist ein tatsächlicher Änderungs-bedarf gegeben. Eine stärkere strukturelle Änderung als die Änderung der „Spielregeln“, nach denen Vertragspartner ausgewählt werden dürfen, ist kaum denkbar. Insbesondere der Wegfall der bisherigen Vertrags- und Marktverantwortungsgebiete macht eine neue Grund-konzeption der Verkaufsstrategie erforderlich. Eine systematische Marktdurchdringung ist mit den bisherigen Methoden nicht mehr möglich. Sie muss auf ein völlig neues Fundament gestellt werden. Die Hersteller haben alleine wegen des Wegfalls der Kombinationsmöglich-keit von selektiven und exklusiven Elementen ihr bisheriges Vertriebssystem in entscheiden-den Punkten zu überdenken und von Grund auf neu zu ordnen. Eine Strukturänderungskün-digung ist schon deshalb gerechtfertigt. Dieses Argument gewinnt noch an Bedeutung, wenn der Hersteller weitere Änderungen in seinem Vertriebssystem vornimmt, die durch die neue Rechtslage bedingt sind. Beispiels-weise führen die Aufgabe der Standortklausel und die Verstärkung des Mehrmarkenver-triebs zu einem erheblich höheren Wettbewerb der Händler untereinander. Weiter verstärkt wird dieser Effekt durch die Neuregelung, wonach die Rechte und Pflichten eines Werkstatt- bzw. Vertriebsvertrages auf einen Dritten übertragen werden können. Der bislang übliche, in der Regel kleine Ein-Marken-Händler wird sich einem gewaltigen Wettbewerbsdruck ausge-setzt sehen. Es ist zu erwarten, dass sich auf Dauer einige finanzstarke Händler zu Lasten kleinerer Betriebe durchsetzen werden. Die Herausbildung großer Händlerketten ist damit vorhersehbar. Man wird kaum bezweifeln können, dass die hierdurch verstärkte Gegen-macht auf der Händlerseite eine strukturell andere Ausgangslage in Vertragsverhandlungen schafft. Zusätzlich muss ein Hersteller bei der Neuorganisation eines Händlernetzes den Wegfall der Einheit zwischen Vertriebsvertrag und Werkstattvertrag berücksichtigen. Da er sich in Zu-kunft nicht mehr darauf verlassen kann, dass ein bestimmter von ihm autorisierter Händler auch Werkstattleistungen anbietet, wird es sich in Zukunft ein Händler zwei Mal überlegen, mit wem er einen Vertriebsvertrag abschließt. Überhaupt beurteilt sich der Abschluss eines Servicevertrages unter der VO 1400/2002 unabhängig vom Abschluss eines Händlervertra-ges. Beide werden in der Praxis nach unterschiedlichen Kriterien vergeben werden müssen. Bei Händlerverträgen werden aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten zukünftig weit über-wiegend quantitative Selektionskriterien herangezogen werden, ohne dass dadurch Zulas-sungsansprüche einzelner Händler entstehen könnten. Dagegen wird auf Grund der hohen Marktanteile im Servicebereich ausschließlich eine qualitative Selektion in Frage kommen. Dies hat zur Folge, dass ein Betrieb, der diese qualitativen Standards erfüllt, erstmals einen

Layout_Heft 3.indd 491 19.06.2004, 16:26:08

Page 121: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004492 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Anspruch auf Anerkennung als Vertragswerkstatt hat. Dadurch wird erstmals eine selbst-ständige Kalkulation des tatsächlichen Bedarfs an Vertragswerkstätten nötig7. Dies steht nicht im Widerspruch zur Auffassung der Kommission, wonach das In-Kraft-Tre-ten der neuen GVO noch keine Umstrukturierung bedeutet. Denn der Leitfaden geht davon aus, dass unter der VO 1475/1995 kein Zwang zu einer Kombination von exklusiven und se-lektiven Vertriebselemente bestand. Die Hersteller konnten auch ein anderes Vertriebssys-tem (z.B. ein rein quantitativ selektives) wählen. In diesem Fall kann der Übergang zur neuen Kfz-GVO keine strukturelle Kündigung rechtfertigen, da solche Systeme auch unter der neuen GVO zulässig sind. Die Kommission musste von diesem allgemeinen Ansatz aus-gehen, während sich in der Praxis weitgehend das Kombinationsmodell durchgesetzt hat. Hinzu kommt, dass die Kommission als Grund für einen Umstrukturierungsbedarf die Schließung eines Unternehmens mit einem großen Personalbestand in einem bestimmten Gebiet nennt. Wenn eine strukturbedingte Kündigung hierauf gestützt werden kann, so muss dies erst recht für den Fall gelten, dass ein Hersteller auf Grund einer veränderten Rechtslage sein Händlervertriebssystem insgesamt verkleinern will. Denn diese Verkleine-rung ist mit der Schließung nicht nur eines, sondern mehrerer Unternehmen verbunden.

2. Unverhältnismäßig lange ordentliche Kündigungsfrist

Unter Einberechnung der Übergangsfrist mussten die Vertriebssysteme der Hersteller spä-testens am 01.10.2003 den Vorgaben der VO 1400/2002 entsprechen. Rechnet man von die-sem Zeitpunkt 24 Monate zurück, hätte ein Hersteller spätestens am 30.09.2001 eine Kündi-gung gegenüber dem betroffenen Händler aussprechen müssen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Hersteller allerdings gar nicht in der Lage, eine Kündigung auszusprechen. Denn am 30.09.2001 existierte nicht einmal ein Entwurf der VO 1400/2002. Erst am 05.02.2002 hat die Kommission der interessierten Öffentlichkeit einen ersten Entwurf offiziell vorgestellt8. Die Verordnung selbst datiert vom 01.08.2002. Den Herstellern war es am 30.09.2001 schlichtweg unmöglich, eine neue Vertriebsstruktur zu planen. Es gab keine verbindlichen Vorgaben, die für eine Umstrukturierung hätten herangezogen werden können. Die Herstel-ler konnten am 30.09.2001 deshalb gar keine Kündigung aussprechen. Das war ihnen frühes-tens im August 2002 möglich. Die 24-monatige Kündigungsfrist würde die Hersteller folglich dazu zwingen, Vertriebsver-träge, die mit der VO 1400/2002 nicht vereinbar sind, bis mindestens August 2004, d. h. über den Übergangszeitraum hinaus, aufrecht zu erhalten. Eine solche Rechtslage wäre wider-sprüchlich. Die VO 1475/1995 kann von einem Hersteller kein Verhalten fordern, das nach der neuen Rechtslage verboten ist. Sinn und Zweck der VO 1400/2002, den Wettbewerb un-ter den Händlern zu fördern, wären auf den Kopf gestellt. Die alten Händlerverträge, die nach Auffassung der Kommission zu keinem ausreichenden Wettbewerb geführt haben, wä-

7 Im Ergebnis ebenso OLG München, a.a.O.: „gravierende Änderungen für den Automobilvertrieb“. Das OLG geht davon aus, „dass allein der Wegfall der Kombination aus exklusiven und selektiven Vertrieb [...] nicht ohne eine wesentliche Änderung des Vertragsinhalts bewältigt werden [könne]“. Auch der Verzicht der Her-steller auf alle mit der VO 1400/2002 nicht mehr vereinbaren Vertragsklauseln komme nicht in Frage. Die dem Hersteller obliegende Wahl des Vertriebsnetzes wäre dadurch erschwert, „wenn nicht sogar auf nicht absehba-re Zeit blockiert“. Damit entfällt ein vermeintlicher Vorrang einer Vertragsanpassung gegenüber der struktur-bedingten Kündigung.

8 ABl. Nr. C 67 vom 16.03.2002, S. 2.

Layout_Heft 3.indd 492 19.06.2004, 16:26:08

Page 122: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

493EuR – Heft 3 – 2004Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

ren (zu Lasten des Wettbewerbs) länger anwendbar als die Kommission ausdrücklich vorge-sehen hat. Dieser Normwiderspruch lässt sich nur dadurch auflösen, dass den Herstellern eine kürzere Kündigungsfrist als 24 Monaten eingeräumt wird9.

V. Kein Verstoß gegen § 307 Abs. 1 BGB

1. Rechtsprechung des LG München I

Anderer Auffassung war das Landgericht München I in einem Urteil vom 04.09.200310 unter Berufung auf § 307 Abs. 1 BGB n. F. (§ 9 AGBG a. F.). Es gab dem Antrag eines Händlers auf Erlass einer einstweiligen Verfügung auf Fortsetzung der Vertragsbeziehungen mit der Begründung statt, die Klausel eines Vertriebsvertrages, die es dem Hersteller ermögliche, alleine auf Grund der Änderung seiner Vertriebsstrukturen eine außerordentliche Kündi-gung auszusprechen, verstoße gegen § 307 Abs. 1 BGB. Das Landgericht München I sah darin einseitig zu Gunsten des Herstellers ausgestaltete Kündigungsgründe, die den berech-tigten Interessen der Händler zuwider liefen. Unabhängig von den Regelungen des EG-Kar-tellrechts verbiete daher bereits das nationale Vertragsrecht eine Strukturänderungskündi-gung.Diese Auffassung kann nicht überzeugen. Sie beruht ausschließlich auf der Anwendung und Auslegung nationaler Vorschriften des Privatrechts ohne sich damit auseinanderzusetzen, ob diese überhaupt anwendbar sind. Richtigerweise hätte sich das Landgericht München I mit der Frage beschäftigen müssen, in welchem normenhierarchischen Verhältnis § 307 Abs. 1 BGB zum EG-Recht, insbesondere zu den Gruppenfreistellungsverordnungen des EG-Kar-tellrechts steht. Es hätte zu dem Ergebnis kommen müssen, dass § 307 Abs. 1 BGB auf Grund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts bei einem (auch indirekten) Kon-flikt mit den Bestimmungen des EG-Kartellrechts nicht angewandt werden darf.

2. Reichweite des Grundsatzes vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts

Direkte Konflikte zwischen europäischem und nationalem Kartellrecht hat der EuGH schon seit langem zu Gunsten des EG-Kartellrechts entschieden11. Noch weiter gehend räumt Art. 3 Abs. 2 der neuen, ab 01.05.2004 geltenden, Kartellverordnung 1/200312 den Vorschrif-ten des EG-Kartellrechts ganz eindeutig den Vorrang vor Bestimmungen des nationalen Kartellrechts ein. Die hier interessierende und vom LG München I entschiedene Frage ge-hört nicht hierher. Sie ist nicht von einem Konflikt zweier Kartellrechtsordnungen, sondern von einem indirekten Konflikt zwischen EG-Kartellrecht und (materiellem) nationalem Zi-vil- und Vertragsrecht gekennzeichnet. Vielmehr geht es hier um die Frage, ob das EG-Kar-tellrecht quasi als Querschnittsregelung auch verbindliche Vorgaben für das nationale (Ver-trags-) Recht enthält. Diese Frage kann in der hier gegebenen Situation nur bejaht werden.

9 Im Ergebnis ähnlich Wendel, WRP 2002, S. 1395, 1401.10 Az.: 3 O 13622/03, nicht veröffentlicht. Das Urteil in der Hauptsache wurde vom OLG München in dem bereits

in Fußnote 5 zitierten Urteil [Az. U (K) 5664/03, nicht veröffentlicht] vom 26.02.2004 aufgehoben. 11 Grundlegend EuGH Rs. 14/68 (Walt Wilhelm) Slg. 1969, 1ff.; EuGH verb. Rs. 253/78 und 1 bis 3/79 (Giry und

Guerlain) Slg. 1980, 2327, Rn 15ff. Danach sind europäisches und deutsches Kartellrecht zwar grundsätzlich parallel anwendbar; die Anwendung des nationalen Kartellrechts darf aber die einheitliche Anwendung und volle Wirksamkeit des EG-Kartellrechts nicht beeinträchtigen.

12 ABl. EG 2003 L 1/1ff.

Layout_Heft 3.indd 493 19.06.2004, 16:26:08

Page 123: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004494 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Der EuGH hat ausdrücklich entschieden, dass das EG-Kartellrecht am allgemeinen Anwen-dungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht teilnimmt13. Der Vorrang des EG-Kartellrechts vor dem nationalen Kartellrecht ist lediglich Ausdruck dieses allge-meinen Rechtssatzes und gilt gegenüber widersprechenden nationalen Akten nach ganz herrschender Auffassung insbesondere auch und gerade für Gruppenfreistellungen14, im Kfz-Vertrieb damit für die VO 1475/1995 und die VO 1400/2002. Die Gruppenfreistellungs-verordnungen sind unmittelbar anwendbares Recht in den Mitgliedstaaten15. Folge dieser unmittelbaren Anwendbarkeit ist u.a. die Verpflichtung der nationalen Gerichte, die Grup-penfreistellungsverordnungen durchzusetzen und möglicherweise kollidierende Bestimmun-gen des nationalen Rechtes unangewendet zu lassen16. Der Vorrang der Wettbewerbsregelungen des EG-Kartellrechts folgt unmissverständlich aus der Verpflichtung des Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Art. 3 lit. b), 81 Abs. 3 EG, wonach die Mitglied-staaten alle Maßnahmen zu unterlassen haben, welche die Verwirklichung des Wettbewerbs im Binnenmarkt gefährden könnten. Diese Verpflichtung gilt auch für die nationalen Ge-richte. Es ist ihnen verwehrt, unter Berufung auf eine angeblich ein bestimmtes Verhalten untersagende nationale Verbotsnorm eine ausdrückliche Freistellung der Kommission vom Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG anzugreifen17. Aus diesem Grund hat die Kommission bereits in einer Bekanntmachung aus dem Jahr 1993 festgestellt, dass die nationalen Gerich-te an die Freistellungsentscheidungen der Kommission – einschließlich der Gruppenfreistel-lungen – gebunden sind. Sie haben daher die betreffende Absprache als rechtmäßig und zi-vilrechtlich voll wirksam zu behandeln, ohne dass es einer Einzelfallentscheidung der Kom-mission bedarf18. Diese Verpflichtung ergibt sich auch aus dem Gebot zur Beachtung der vollen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts (sog. effet-utile-Rechtsprechung)19. Den Grundsatz der vollen Wirksamkeit hatte der EuGH bereits herangezogen, um den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht zu rechtfertigen20. Das effet-utile-Prinzip reicht aber darüber hinaus und erstreckt sich nicht nur auf direkte und unmittelbare Kollisi-onsfälle, sondern auch auf indirekte. Der effet-utile-Grundsatz wurde vom EuGH zunächst nur auf direkte Kollisionsfälle ange-wandt. Indirekte Kollisionen blieben zunächst weitgehend unbeanstandet. Diese ließ der EuGH zunächst mit dem Argument zu, dass Ungleichheiten in Kauf genommen werden müssten, solange eine abschließende Harmonisierung des jeweils betroffenen Bereiches aus-stehe21. Die Situation einer indirekten Kollision ergibt sich immer, wenn Gemeinschaftsrecht

13 St. Rspr.; EuGH Rs. 14/68 (Walt Wilhelm) Slg. 1969, 1ff.14 Bechtold, Kartellgesetz, 3. Auflage 2002, Einführung, Rn. 65; Rehbinder, in: Immenga/Mestmäcker, EG-Wett-

bewerbsrecht, Bd. 1, 1997, Einleitung Rn. 24 ff.; Eilmansberger, in: Streinz, EUV/EGV, vor Art. 81 EG, Rn. 5; Weiß, in: Calliess/Ruffert, Kommentar zu EG-/EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002, Art. 81 EG, Rn. 23; Wiedemann, in: Handbuch des Kartellrechts, § 6, Rn. 6.

15 EuGH Rs. C-234/89 (Delimitis) Slg. 1991, I-935 ff., Rn. 45, 46.16 EuGH Rs. 106/77 (Simmenthal II) Slg. 1978, S. 629 ff. Rn. 14 ff; Darüber hinaus hat der EuGH in einer Reihe

von Urteilen entschieden, dass eine Vorschrift des nationalen Rechtes nicht angewendet werden dürfe, wenn diese EG-rechtliche Sachverhalte ungünstiger behandele oder die Durchsetzung des EG-Rechts unmöglich bzw. übermäßig erschweren würde, vgl. EuGH Rs. C-312/93 (Peterbroeck) Slg. 1995, I-4599 ff., Rn. 12; Rs. C-6/99 und C-9/90 (Francovich) Slg. 1991, I, 5357 ff., Rn. 43; EuGH Rs. 123/87 und 330/87 (Jeunehomme) Slg. 1988, S. 4517 ff., Rn. 17.

17 Vgl. zu dieser Frage auch Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 269ff.18 Bekanntmachung über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der Mitgliedstaaten

bei der Anwendung der Artikel 85 und 86 des EWG-Vertrages, ABl. EG 1993 C 39/6ff, 9.19 Nettesheim, Gedächtnisschrift für Grabitz, München 1995, S. 447, 459 ff.20 EuGH Rs. 14/68 (Walt Wilhelm) Slg. 1969, 1, 14.21 EuGH Rs. 33/76 (Rewe) Slg. 1976, 1989.

Layout_Heft 3.indd 494 19.06.2004, 16:26:09

Page 124: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

495EuR – Heft 3 – 2004

und nationales Recht zwar nicht in direktem Widerspruch zueinander stehen, die Anwen-dung des nationalen Rechts des Gemeinschaftsrechts aber mittelbar beeinträchtigen kann. Diese Konstellation griff der EuGH insbesondere zu Beginn der 1990er-Jahre vermehrt auf. Er wies wiederholt darauf hin, bei der Anwendung des nationalen Rechts sei darauf zu ach-ten, dass die Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch nationales Recht bzw. durch des-sen Anwendung nicht unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden dürfe22.

3. Rechtsprechung des BGH

In diesem Zusammenhang ist ergänzend auf Entscheidungen des BGH hinzuweisen, die die-ser bezüglich der Auslegung von Vorschriften des deutschen Kartellrechts erlassen hat. Die-sen Entscheidungen lässt sich als allgemeine Leitlinie entnehmen, dass das EG-Kartellrecht und seine Wertungen immer zu berücksichtigen sind, wenn nach deutschem Recht unbe-stimmte Rechtsbegriffe auszulegen sind23. In seiner Entscheidung „Pauschalreisen II“24 entschied der BGH, dass Vorschriften des GWB, im konkreten Fall ging es um § 18 GWB a. F., stets im Hinblick auf die Vorschriften des EG-Vertrages ausgelegt werden müssten. Der BGH führte wörtlich aus:

„[Die] Kartellbehörde [darf] Ausschließlichkeitsbindungen, die das Europäische Ge-meinschaftsrecht zulässt, nicht für unwirksam erklären und im Rahmen einer nach § 18 anzustellenden Interessenabwägung nicht Interessen als schutzwürdig werten, die gegen Art. 85 oder 86 EGV verstoßen. Insoweit gilt für § 18 GWB nichts anderes als für die Interessenabwägung im Rahmen von § 26 GWB.“

In seinem Vorlagebeschluss im Verfahren „Hersteller-Leasing“ stellte der BGH fest25:

„Eine unbillige Behinderung [i. S. v. § 26 Abs. 2 GWB a. F.] der Händler könnte [...] nur dann verneint werden, wenn das durch die Untersagungsverfügung beanstandete Verhal-ten [...] nicht gegen die Wettbewerbsvorschriften des Europäischen Gemeinschaftsrecht verstößt. Denn eine gegen diese Vorschriften verstoßende Behinderung wäre in jedem Fall auch als unbillige Behinderung zu behandeln. Umgekehrt könnte eine unbillige Be-hinderung [...] nur bejaht werden, wenn EWG-Recht nicht einer solchen Untersagungs-verfügung entgegensteht.“

Die Kartellbehörde darf nach dieser Rechtsprechung des BGH einen Missbrauch i. S. v. § 18 GWB a. F. bzw. eine unbillige Behinderung i. S. v. § 26 GWB a. F. nur feststellen, wenn sie die Wertung des EG-Rechts ausreichend berücksichtigt. Dieselbe Verpflichtung trifft selbst-verständlich auch die Gerichte. Bei der Interessenabwägung im Rahmen von § 26 Abs. 2 GWB a. F. (= § 20 GWB n. F.) sind die spezifischen Interessen der Beteiligten zu ermitteln und zueinander ins Verhältnis zu setzen. Die Interessen der beteiligten Unternehmen können aber nur berücksichtigt werden, wenn sie nicht gegen gesetzliche Vorschriften oder rechtli-

22 EuGH Rs. C-217/88 (Kommission / Bundesrepublik Deutschland) Slg. 1990, I-2879; EuGH Rs. C-465/93 (At-lanta / Bundesamt für Ernährung) NJW 1996, 1333; allgemein hierzu Schwarze, Festschrift für Börner, Köln 1992, S. 389, 393 ff.

23 Brinker, WuW 1996, S. 549, 550.24 BGH, NJW 1993, S. 2445, 2446.25 BGH, LM EWG-Vertrag Nr. 31 Bl. 4.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Layout_Heft 3.indd 495 19.06.2004, 16:26:09

Page 125: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004496

che Wertungen verstoßen. Diese Verpflichtung, keinen gegen Rechtsvorschriften verstoßen-den Gesichtspunkt in die Abwägung einzustellen, betrifft selbstverständlich nicht nur deut-sche Regelungen. Auch die unmittelbar anwendbaren Vorschriften des EG-Rechtes sind zu berücksichtigen. Dieser Ansatz ist nicht nur im Rahmen der Interessenabwägung i. S. v. § 26 Abs. 2 GWB a. F. von Bedeutung. Er ist auch bei der Anwendung von anderen, vergleichba-ren Vorschriften zu beachten, bei denen unbestimmte Rechtsbegriffe auszulegen sind26. Diese Verpflichtung bezieht sich nicht nur auf die Anwendung nationaler Kartellrechtsvor-schriften, sondern generell auf Generalklauseln des deutschen Rechtes. Der Vorrang des EG-Kartellrechts gilt also nicht nur gegenüber nationalem Kartellrecht, sondern auch gegen-über jeglichen entgegenstehenden nationalen Regelungen. Diese dürfen nicht im Wider-spruch zu Normen des EG-Kartellrechts ausgelegt werden.

4. Vorrang des Gemeinschaftsrechts und § 307 Abs. 1 BGB

Die nationalen Gerichte sind nach diesen Vorgaben verpflichtet, § 307 Abs. 1 BGB auf Kün-digungsgründe, die Art. 5 Abs. 3 VO 1475/1995 explizit für zulässig erklärt, nicht anzuwen-den, selbst wenn sie der Auffassung sind, § 307 Abs. 1 BGB stehe der Zulässigkeit dieser Kündigungsgründe entgegen. Wollte man der Auffassung des Landgerichts München I fol-gen und § 307 Abs. 1 BGB ungeachtet der gemeinschaftsrechtlichen Gruppenfreistellungen anwenden, wäre die einheitliche Durchsetzung des EG-Kartellrechts in Frage gestellt. Nach der VO 1475/1995 sind Strukturänderungskündigungen mit einer verkürzten Kündigungs-frist ausdrücklich freigestellt und damit erlaubt. Diese explizite Erklärung des Gemein-schaftsgesetzgebers darf nicht durch das nationale Recht und erst recht nicht durch ausle-gungsbedürftige Generalklauseln wie die des § 307 Abs. 1 BGB unterlaufen werden. Ande-renfalls würden je nach Existenz und Auslegung nationaler Bestimmungen wie § 307 Abs. 1 BGB trotz eindeutiger gemeinschaftsrechtlicher Regelung unterschiedliche Kündigungs-gründe und -fristen im Kfz-Vertrieb gelten. Sinn und Zweck der VOen 1475/1995 und 1400/2002, einheitliche Wettbewerbsverhältnisse im Gemeinsamen Markt herbei zu führen, wä-ren nicht zu realisieren. Dieses Ergebnis kann allenfalls in Frage gestellt werden, wenn Art. 5 Abs. 3 VO 1475/1995 gleichzeitig einen Bereich mitregelt, der nicht mehr der Kompetenz der EU-Institutionen unterliegt. In Betracht kommt hier das grundsätzlich im Zuständigkeitsbereich der Mitglied-staaten verbliebene allgemeine Privatrecht. Dabei ist aber zum einen zu beachten, dass die vertragsrechtliche Generalklausel des § 307 Abs. 1 BGB in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 1993/13 eine gemeinschaftsrechtliche Vorlage hat27. § 307 Abs. 1 BGB regelt also keinen Bereich, der alleine und ausschließlich in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fällt. Im Übri-gen ist bei der Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 1993/13 anerkannt, dass vertrags-rechtliche Wertungen zu berücksichtigen sind. Als solche werden insbesondere auch die wettbewerbsrechtlichen Gruppenfreistellungsverordnungen angesehen28. Das Landgericht München I hätte bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 307 Abs. 1 BGB folglich be-

26 So bereits Odersky, Festschrift für Everling, Bd. II, Baden-Baden 1995, S. 1001, 1002; ebenso Brinker, WuW 1996, 549, 550.

27 Vgl. Basedow, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Aufl. 2001, § 9 AGB, Rn. 6.28 So ausdrücklich Basedow, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Aufl. 2001, § 9 AGB,

Rn. 6.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Layout_Heft 3.indd 496 19.06.2004, 16:26:09

Page 126: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

497EuR – Heft 3 – 2004Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

rücksichtigen müssen, dass die VO 1475/95 Strukturänderungskündigungen unter einer verkürzten Kündigungsfrist von einem Jahr gestattet. Es hätte richtigerweise zu dem Ergeb-nis kommen müssen, dass von vornherein kein Konflikt zwischen dem EG-Kartellrecht und § 307 Abs. 1 BGB besteht.Zum anderen haben vertikale Vertriebsvereinbarungen zwischen Unternehmen, die in den Anwendungsbereich des EG-Kartellrechts fallen, stets zugleich vertragsrechtlichen Charak-ter. Art. 81 Abs. 1 EG setzt solche „Vereinbarungen“ zwischen Unternehmen gerade voraus. Es ist der Regelfall, dass sich Bestimmungen der Gruppenfreistellungsverordnungen auch vertragsrechtlich auswirken. Die GVO impliziert quasi eine Freistellung von Bestimmungen des allgemeinen Vertragsrechts wie § 307 Abs. 1 BGB, unabhängig vom Vorliegen deren Voraussetzungen. Eine Kompetenzüberschreitung durch Art. 5 Abs. 3 VO 1475/1995 ist un-ter keinem Gesichtspunkt denkbar.

VI. Ergebnis

Der Übergang zur neuen VO 1400/2002 rechtfertigt für sich gesehen noch keine Kündigung bestehender Händlerverträge mit einer verkürzten Kündigungsfrist von 12 Monaten. Sollte ein Hersteller allerdings unter Geltung der VO 1475/1995 rechtmäßigerweise ein Vertriebs-system unterhalten haben, das sowohl exklusive als auch selektive Vertriebselemente bein-haltete, führt die auf Grund der neuen Rechtslage erforderlich werdende Neuorganisation des Vertriebsnetzes automatisch zu einem Umstrukturierungsbedarf. Eine Strukturände-rungskündigung mit einer verkürzten Kündigungsfrist von zwölf Monaten ist in diesem Fall zulässig. Es ist kaum ein Fall denkbar, der eine stärkere Strukturveränderung mit sich bringt als der Übergang von einem Kombinations-Vertriebssystem zu einem rein selektiven oder exklusiven Vertriebssystem. Zudem wäre die Einhaltung der Kündigungsfrist von 24 Mona-ten gar nicht möglich gewesen und würde die Hersteller zu einem rechtlich unzulässigen Verhalten zwingen. Schließlich gehen die Erwägungsgründe zur VO 1475/1995 von der An-wendbarkeit der kurzen Kündigungsfrist aus, um Vertriebssysteme bei einer Entwicklung der Rahmenbedingungen anpassungsfähig zu halten. § 307 Abs. 1 BGB steht der Möglich-keit einer Strukturveränderungskündigung nicht entgegen. Zum einen besteht schon kein Konflikt zwischen EG-Kartellrecht und nationalem Vertragsrecht, zum anderen müsste im Falle eines solchen Konfliktes § 307 Abs. 1 BGB zu Gunsten des Gemeinschaftsrechts un-angewendet bleiben.

Layout_Heft 3.indd 497 19.06.2004, 16:26:09

Page 127: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004498

REZENSIONEN

Christian Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, Ein Rechtsrahmen für Stabili-tät in der Wirtschafts- und Währungsunion, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 2002, kart., 250 S.

Die Bonner Dissertation, betreut von Matthias Herdegen, greift ein wichtiges und aktuelles Thema auf. Ihr Titel ist allerdings ungenau, folgt damit aber der inzwischen weithin übli-chen, verkürzten Bezeichnung des Gegenstandes. Will man den Inhalt der Arbeit ausführli-cher und damit genauer skizzieren, dann handelt es sich um eine Untersuchung der in Art. 104 EGV und dem Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit gere-gelten gemeinschaftsrechtlichen Haushaltdisziplin und des 1997 als Ergänzung und Konkre-tisierung hinzugekommenen Stabilitäts- und Wachstumspakts.Als Teilbereich der allgemeinen Wirtschaftspolitik ist die Haushaltspolitik nicht wie die Währungspolitik vergemeinschaftet worden. Die Kompetenzen liegen nach wie vor bei den Mitgliedstaaten. Die gemeinschaftsrechtlichen Regelungen zur Wirtschafts- und Finanzpo-litik (Art. 98 ff. EGV) begründen daher keine Wirtschaftsunion, die sich mit der seit 1999 bestehenden Währungsunion vergleichen ließe. Sie bilden aber, wie der Untertitel des anzu-zeigenden Werkes ausdrückt, einen Rechtsrahmen, der mithelfen soll, die Stabilität der Eu-ro-Währung auf dieser Flanke abzusichern. Der Verfasser führt im ersten Kapitel durchaus kenntnisreich in die Thematik ein, erläutert kurz die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge und macht insgesamt die Wechselbeziehungen zwischen Haushaltspolitik und Währungssta-bilität deutlich. Die gemeinschaftsrechtliche Haushaltsdisziplin ist das Instrument, das die Parteien des Vertragswerks von Maastricht vorsahen, um stabilitätsschädliche Wirkungen einer unsoliden Finanzpolitik zu vermeiden oder abzuwehren. Gerade die frühere Bundesre-gierung hielt dieses Instrument aber noch nicht für ausreichend. Auf ihre Initiative kam es dann 1997 zum Stabilitäts- und Wachstumspakt. Konow gibt im zweiten Kapitel einen inte-ressanten Überblick über die Entstehungsgeschichte. Der französische Anteil an dem (teil-weise gescheiterten) Versuch, den Stabilitätspakt durch einen Wachstumspakt zu ergänzen und damit zu verwässern, findet allerdings keine Erwähnung.Im dritten Kapitel geht es um die Einordnung des Stabilitäts- und Wachstumspakts in das gemeinschaftsrechtliche Normgefüge. Konow erkennt die Preisstabilität zu Recht als Ausle-gungsmaxime auch im Bereich der Vorschriften über die Haushaltsdisziplin. Es folgen Überlegungen zu den primärrechtlichen Grundlagen für die beiden Verordnungen des Pak-tes. Erwägenswert, wenn auch recht problematisch und deshalb weiterhin diskussionsbe-dürftig erscheint der vom Verfasser angenommene Status der Verordnung auf der Basis von Art. 104 Abs. 14 UAbs. 2 EGV als Sekundärrecht im Range von Primärrecht (S. 60 ff.). In der Konsequenz soll die Verordnung 1467/97 daher z.B. dem auf der Grundlage von Art. 269 EGV ergangenen Eigenmittelbeschluss vorgehen können. Der Eigenmittelbeschluss erlaubt m.E. die in der Verordnung vorgesehene Zuweisung der nach Art. 104 Abs. 11 EGV ver-hängten Geldbußen an die anderen Mitgliedstaaten nicht. Vielmehr müssten diese Mittel in den Gemeinschaftshaushalt fließen. Konow, der sowohl die Verordnung 1467/97 als auch die Eigenmittelbeschlüsse als Recht im Range von Primärrecht versteht, verweist demgegenüber darauf, dass die Verordnung dem Eigenmittelbeschluss von 1994 „als lex specialis und lex posterior vorgeht“ (S. 179 Fn. 764). Das mag auf der Grundlage seiner Annahmen korrekt sein, überzeugt mich aber noch nicht. Jedenfalls die lex-posterior-Regel greift nämlich seit dem Ergehen des jüngsten Eigenmittelbeschlusses im Jahr 2000 nicht mehr.

Layout_Heft 3.indd 498 19.06.2004, 16:26:10

Page 128: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

499EuR – Heft 3 – 2004

Das dritte Element des Stabilitäts- und Wachstumspakts, die zeitlich vorangehende Ent-schließung des Europäischen Rates, ordnet der Autor auch aus meiner Sicht korrekt als rechtlich zwar unverbindlich, politisch jedoch von eminenter Bedeutung ein. Nicht folgen möchte ich indes der Ansicht, das in der Entschließung vorgegebene Ziel „eines nahezu aus-geglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushalts“ sei ebenfalls rechtlich unver-bindlich (S. 69). Anders als Konow meint, dürfte die mehrfache Erwähnung dieses Ziels in den Ratsverordnungen 1466 und 1467/97 nämlich dessen Verrechtlichung bewirkt haben. Das kann Auswirkungen bis auf die innerstaatliche Verteilung eventueller Sanktionen ha-ben.Im zentralen Kapitel 4 analysiert der Autor die Ausgestaltung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Er geht sehr vielen Fragen nach, die Art. 104 EGV, das Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit und die drei Elemente des Stabilitäts- und Wachstumspakts aufwerfen. Konow setzt sich intensiv mit den bisher vertretenen Ansichten auseinander und spart nicht mit deutlicher Kritik. Mich überzeugt allerdings z.B. seine Behauptung nicht, die Entscheidung über das „Ob“ von Sanktionen treffe der Rat bereits auf der Basis von Art. 104 Abs. 9 EGV und nicht erst nach Art. 104 Abs. 11 EGV (S. 167 ff.). Nach Abs. 9 setzt der Rat einen Mitgliedstaat mit der Maßgabe in Verzug, „innerhalb einer bestimmten Frist Maßnahmen für den nach Auffassung des Rates zur Sanierung erforderlichen Defizitabbau zu treffen“. Konow ver-steht das so, dass der Rat gleichzeitig bestimmte Sanktionen i.S.v. Abs. 11 androht und damit bereits über das „Ob“ dieser Sanktionen entscheidet. Abs. 9 meint jedoch mit „Maßnahmen“ nicht die Sanktionen des Abs. 11, sondern Maßnahmen, die der betroffene Mitgliedstaat zum Defizitabbau treffen soll. Schon deshalb erscheint die Auslegung fraglich. Selbst wenn der Rat mit der Inverzugsetzung aber Zwangsmaßnahmen androhte, bliebe die Entscheidung über den tatsächlichen Einsatz der Sanktionen einem Beschluss nach Abs. 11 vorbehalten.Auch sonst wird man die vorgetragenen Ansichten nicht stets teilen müssen. Dennoch liegt das besondere Verdienst dieser Arbeit aber gerade darin, die vielen unbestimmten Rechtsbe-griffe etwa in den Ausnahmeklauseln des Art. 104 Abs. 2 EGV mit Hinweis auf die volks-wirtschaftlichen Zusammenhänge einer meist sorgfältig begründeten und oft überzeugenden Auslegung zugeführt zu haben. Ebenso hilfreich sind die Ansätze, die vorhandenen Ermes-sensspielräume auszuloten und im Hinblick auf den Zweck der Regelungen teilweise einzu-schränken. Dadurch wird die Abgrenzung zwischen rechtlicher Bindung und politischem Entscheidungsspielraum klarer. Insoweit dürfte jeder, der sich bisher mit Art. 104 EGV be-schäftigt hat, Anlass finden, seine Meinung zu Einzelfragen zu überdenken. Und wer sich künftig der europäischen Haushaltsdisziplin zuwendet, tut gut daran, dieses Buch nicht zu übersehen. Vermisst habe ich allerdings eine ausführlichere Bewertung der Beschlüsse von 1998, mit denen die Entscheidungen über das Bestehen übermäßiger Defizite in Italien und Belgien aufgehoben wurden. Mir erscheint nach wie vor fraglich, ob diesen beiden Staaten damit im Ergebnis zu Recht die Euro-Reife bescheinigt wurde.Das abschließende fünfte Kapitel gibt einen eher beschreibenden Überblick über das multi-laterale Überwachungsverfahren nach Art. 99 EGV, das im Zusammenhang mit und teilwei-se im Dienste der Haushaltsdisziplin steht. Eine Zusammenfassung in zehn Thesen rundet die Bearbeitung ab. Im Anhang finden sich die einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Vor-schriften. Das ist hilfreich, wird doch nicht jeder Leser die Ratsverordnungen oder die Ent-schließung des Europäischen Rates von Amsterdam zur Hand haben.

Ulrich Häde, Frankfurt (Oder)

Rezensionen

Layout_Heft 3.indd 499 19.06.2004, 16:26:10

Page 129: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004500

BIBLIOGRAPHIE

Zusammengestellt von der Schriftleitung der Zeitschrift Europarecht unter Mitarbeit von Florian Gröblinghoff

Bücher und Zeitschriften

Abkürzungsverzeichnis

AG............................................. Die Aktiengellschaft

AgrarR...................................... Agrarrecht

AJDA........................................ L’Actualité Juridique Droit Administratif

ALJ ........................................... Antitrust Law Journal

AÖR.......................................... Archiv des Öffentlichen Rechts

ArbRB ...................................... Arbeitsrechts-Berater

AuA .......................................... Arbeit und Arbeitsrecht

AuR........................................... Arbeit und Recht

AVR .......................................... Archiv des Völkerrechts

BayVBl ..................................... Bayerische Verwaltungsblätter

BB............................................. Betriebsberater

Blätter ....................................... Blätter für deutsche und internationale Politik

CDE .......................................... Cahiers de Droit Européen

CMLR....................................... Common Market Law Review

CRI ........................................... Computer und Recht International

Verw ......................................... Die Verwaltung

DB............................................. Der Betrieb

DS ............................................. DER STAAT

DÖD.......................................... Der Öffentliche Dienst

DÖV.......................................... Die Öffentliche Verwaltung

DVBl......................................... Deutsches Verwaltungsblatt

EIPR.......................................... European Intellectual Property Review

EJIL .......................................... European Journal of International Law

ELF ........................................... The European Legal Forum

ELRev....................................... European Law Review

EuGRZ ..................................... Europäische Grundrechtszeitung

EurUP....................................... Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht

EuZW ....................................... Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

EWS.......................................... Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht

GewArch .................................. Gewerbearchiv

GPR........................................... Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht

GRUR....................................... Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht

GRUR int.................................. Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht international

IHR ........................................... Internationales Handelsrecht

inte ............................................ integration

IPG............................................ Internationale Politik und Gesellschaft

Iprax.......................................... Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts

Layout_Heft 3.indd 500 19.06.2004, 16:26:10

Page 130: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

501EuR – Heft 3 – 2004

JA .............................................. Juristische Arbeitsblätter

JB.............................................. Juristische Blätter

JCMS ........................................ Journal of Common Market Studies

Jura ........................................... Jura

JuS............................................. Juristische Schulung

JR.............................................. Juristische Rundschau

JRP............................................ Journal für Rechtspolitik

JZ .............................................. Juristenzeitung

Kreditwesen ............................. Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen

KritJ.......................................... Kritische Justiz

KritV......................................... Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

LIEI........................................... Legal Issues of Economic Integration

MDR......................................... Monatsschrift für Deutsches Recht

MJECL ..................................... Maastricht Journal of European and Comparative Law

MJIL......................................... Maastricht Journal of International Laws

MRM ........................................ MenschenRechtsMagazin

NdsVBl ..................................... Niedersächsische Verwaltungsblätter

NILR......................................... Netherlands International Law Review

NJ.............................................. Neue Justiz

NJB ........................................... Nederlands Juristenblad

NJIL.......................................... Nordic Journal of International Law

NJW.......................................... Neue Juristische Wochenschrift

NUR.......................................... Natur und Recht

NVwZ ....................................... Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

NWVBl .................................... Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter

NZA.......................................... Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht

ÖJ .............................................. Österreichische Juristenzeitung

OR............................................. Osteuropa Recht

ÖZÖR ....................................... Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht

RabelsZ..................................... Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht

RdA........................................... Recht der Arbeit

RdE........................................... Recht der Energiewirtschaft

RDIDC ..................................... Revue de Droit international et de droit comparé

RdW.......................................... Recht der Wirtschaft

RIW .......................................... Recht der Internationalen Wirtschaft

RL ............................................. Recht der Landwirtschaft

RMCUE ................................... Revue du marché commun et de l’Union Européenne

RTDE........................................ Revue Trimestrielle Droit Européen

RuP ........................................... Recht und Politik

SächsVBl .................................. Sächsische Verwaltungsblätter

SEW.......................................... Tijdschrift voor Europees en economisch recht

SZIER....................................... Schweizer Zeitschrift für Internationales und Europäisches Recht

ThürVBl ................................... Thüringer Verwaltungsblätter

UPR .......................................... Umwelt und Planungsrecht

VerwArch ................................. Verwaltungsarchiv

VergabeR.................................. Zeitschrift für Vergaberecht

VN ............................................ Vereinte Nationen

VR............................................. Verwaltungsrundschau

WiVerw .................................... Wirtschaftsverwaltung

Bibliographie

Layout_Heft 3.indd 501 19.06.2004, 16:26:10

Page 131: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004502

WRP ......................................... Wettbewerb in Recht und Praxis

WuW......................................... Wirtschaft und Wettbewerb

ZaöRV....................................... Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

ZAR.......................................... Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik

ZEUP........................................ Zeitschrift für Europäisches Privatrecht

ZEUPR ..................................... Zeitschrift für Europäisches Umwelt und Planungsrecht

ZfU ........................................... Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht

ZLW.......................................... Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht

ZNER ....................................... Zeitschrift für neues Energierecht

ZRP........................................... Zeitschrift für Rechtspolitik

ZUM ......................................... Zeitschrift für Urheber und Medienrecht

ZUR.......................................... Zeitschrift für Umweltrecht

ZvglRWis.................................. Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft

ZWR ......................................... Zeitschrift für Wasserrecht

,

Bibliographie

Layout_Heft 3.indd 502 19.06.2004, 16:26:10

Page 132: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

503EuR – Heft 3 – 2004

I. Zeitschriften

Allgemeines zur Integration-Vertrag von Nizza – Richtlinien

Aalberts, Tanja E.The Future of Sovereignty in Multilevel Governance Europe, JCMS 2004, S. 23-46

Ahrens, Gerlind, Die Reform des EU-Beamtenstatus – eine unendliche Geschichte vor dem Abschluss?, NV-wZ 2004, S. 445-447

Eberlein, Burkard/Kerwer, Dieter, New Governance in the EU, JCMS 2004, S. 121-142

Geerlings, Jörg, Das Statut der europäischen Parteien. Neuerungen im europäischen Parteienrecht nach dem Vertrag von Nizza, RuP 2004, S. 38-41

Haupt, Stefan, Die EG-Richtlinie „Urheberrecht in der Informationsgesellschaft“ und Konsequenzen für die Nutzung von Werken im Schulunterricht gem. § 52a UrhG, ZUM 2004, S. 104-112

Lamy, Pascal, Europe and the Future of Economic Go-vernance, JCMS 2004, S. 5-22

Lanfermann, Georg, Vorschlag der EU-Kommission zur Modernisierung der EU-Prüferrichtlinie, DB 2004, S. 609-613

Lefebvre, Maxime, Une union franco-allemande: pour quoi faire ? RMCUE 2004, S. 77-82

Lord, Christopher/Magnette, Paul, Creative Disagree-ment about Legitimacy in the EU, JCMS 2004, S. 183-202

Muffat-Jeandet, Danièle, OPA : l’histoire d’une directi-ve européenne-Le rejet de la proposition de 1989 et de ses versions révisées, RMCUE 2004, S. 111-117

Nowak, Carsten, Informations- und Dokumentenzu-gangsfreiheit in der EU. Neuere Entwicklungen und Perspektiven, DVBl 2004, S. 272-281

Reufels, Martin J./Laufen, Stephan, Abschlusszwang und Kündigungsverbote von Kfz-Vertragshändlerver-trägen nach der VO (EG) 1400/2002, WuW 2004, S. 392-398

Reuter, Thomas, The Framework Agreement between the European Space Agency and the European Com-munity: A Significant Step Forward?, ZLW 2004, S. 56-65

Schönberger, Christoph, Die Europäische Union als Bund. Zugleich ein Beitrag zur Verabschiedung des

Staatenbund-Bundesstaat-Schemas, AÖR 2004, S. 81-120

Schroeder, Werner, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, S. 180-186

Schulte-Nölke, Hans/Busch, Christoph W., Der Vor-schlag der Kommission für eine Richtlinie über unlau-tere Geschäftspraktiken KOM (2003) 356 endg., ZEuP 2004, S. 99-117

Wagner, Christean, EU-Förderung der Embryonenfor-schung?, NJW 2004, S. 917-919

Walter, Tonio, Entwurf einer Richtlinie zur sprachli-chen Gestaltung europarechtlicher Texte, NJW 2004, S. 582-584

Zypries, Brigitte, Rechtspolitik in der Europäischen Union: Rückblick und Ausblicke, RuP 2004, S. 3-12

Verfassungs- und Verwaltungsrecht-Grundrechte – Konvent

Hölscheidt, Sven/Putz, Iris, Die Konventsverfassung, JA 2004, S. 262-264

Jacobs, T.J.M., De Europese Grondwet in de wacht ge-zet, NJB 2004, S. 366-376

Kerth, Yvonne, Die Geltendmachung der Gemein-schaftsgrundrechte im Wege des Individualrechts-schutzes, JA 2004, S. 340-344

Lang, John Temple, Declarations, regional authorities, subsidiarity, regional policy measures and the Consti-tutional Treaty, ELRev 2004, S. 94-105

Moussis, Nicolas, Réussir la Constitution: l’adopter, puis l’adapter à la majorité, RMCUE 2004, S. 151-153

Peters, Anne, European democracy after the 2003 Con-vention, CMLR 2004, S. 37-85

Schliesky, Utz, Die künftige Gestalt des europäischen Mehrebenensystems. Die Stellung von Ländern und Kommunen im Entwurf eines Vertrages über eine Ver-fassung für Europa, NdsVBl. 2004, S. 57-63

Schröder, Meinhard, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europä-ische Verfassung, JZ 2004, S. 8-13

Schwarze, Jürgen, Das wirtschaftsverfassungsrechtli-che Konzept des Verfassungsentwurfs des Europäi-schen Konvents – zugleich eine Untersuchung der Grundprobleme des europäischen Wirtschaftsrechts, EuZW 2004, S. 135-140

Bibliographie

Layout_Heft 3.indd 503 19.06.2004, 16:26:10

Page 133: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004504

Rechtsverhältnisse zwischen EG und Mitglied-staaten – Kompetenzen

Büdenbender, Ulrich, Die Bedeutung der Verbrauchs-güterkaufrichtlinie für das deutsche Kaufrecht nach der Schuldrechtsreform, ZEuP 2004, S. 36-58

Busse, Christian, Die Verteilung von EU-Finanzmit-teln auf die deutschen Bundesländer. Zugleich ein Bei-trag zum Dreiklang der Einnahmen- und Ausgabenzu-ständigkeit im deutschen Finanzverfassungsrecht, DÖV 2004, S. 93-103

Buzelay, Alain, Analyse de la réforme du système des retraites en France en regard de celles conduites en Eu-rope, RMCUE 2004, S. 82-89

Chaltiel, Florence, L’européanisation de la responsibi-lité administrative-À propos de l’arrêt du Conseil d’État du 30 juillet 2003, Association pour le dévelop-pement de l’aquaculture en région Centre et autres, RMCUE 2004, S. 106-111

Courtial, Jean, La responsabilité du fait de l’activité des juridictions de l’ordre administratif : un droit sous influence européenne ?, AJDA 2004, S. 423-431

Dünchheim, Thomas, Die Einwirkungen des Europa-rechts auf die verwaltungsprozessuale Normabwehr-, Normerlass- und Normergänzungsklage, DÖV 2004, S. 137-146

Franck, Jens-Uwe, Zur Widerrufsbelehrung im Fern-absatz. Gleichzeitig ein Beitrag zu Fragen der Europa-rechtskonformität des deutschen Fernabsatzrechts, JR 2004, S. 45-50

Gernoth, Jan P., Das deutsche Handelsregister – tele-kommunitative Steinzeit im Zeichen des europäischen Wettbewerbs, BB 2004, S. 837-844

Kluth, Winfried, Die Haftung der Mitgliedstaaten für gemeinschaftsrechtswidrige höchstrichterliche Ent-scheidungen. Schlussstein im System der gemein-schaftsrechtlichen Staatshaftung. Zugleich ein Plädoyer für eine zeitgemäße Reform des deutschen Staatshaf-tungsrechts. Zugleich Anmerkung zu EuGH, Rs. C-224/01, DVBl 2004, S. 393-403

Koenig, Christian/Braun, Jens-Daniel, Rückgriffsan-sprüche des Bundes bei einer Haftung für Verstöße der Bundesländer gegen Gemeinschaftsrecht, NJ 2004, S. 97-103

Komninos, Assimakis P., Article 234 EC and National Competition Authorities in the era of decentralisation, ELRev 2004, S. 106-114

Schroeder, Werner, Nationale Maßnahmen zur Durch-

führung von EG-Recht und das Gebot der einheitlichen Wirkung. Existiert ein Prinzip der „nationalen Verfah-rensautonomie“?, AÖR 2004, S. 3-38

Spreen, Holger, Wachsende Zuständigkeiten von Bund und EU-Sind die Bundesländer noch zu retten?, ZRP 2004, S. 47-49

Wagner, Rolf, EG-Kompetenz für das Internationale Privatrecht in Ehesachen?, RabelsZ 2004, S. 119-153

Internationale Organisationen und ihre Beziehungen zur EG

Lell, Otmar, Die neue Kennzeichnungspflicht für gen-technisch hergestellte Lebensmittel – ein Verstoß ge-gen das Welthandelsrecht?, EuZW 2004, S. 108-112

Beziehungen zu Drittländern-Beitritt/Osterweiterung – Zollunion

Allemand, Frédéric, L’élargissement de l’Union écono-mique et monétaire : enjeux et risques, RMCUE 2004, S. 153-160

Bailey, David/de Propris, Lisa, EU Pre-Accession Aid and Capacity-Building in the Candidate Countries, JCMS 2004, S. 77-98

Daugbjerg, Carsten/Swinbank, Alan, The CAP and EU Enlargement, JCMS 2004, S. 99-120

Evtimov, Erik, Die bulgarische Verfassung im Lichte des Beitritts zur Europäischen Union, ZÖR 2004, S. 53-100

Günther, Philipp H./Beyerlein, Thorsten, Die Auswir-kungen der Ost-Erweiterung der Europäischen Union auf die Grenzbeschlagnahme im gewerblichen Rechts-schutz, WRP 2004, S. 452-454

Hippel, Eike von, Beitritt der Türkei zur Europäischen Union?, RuP 2004, S. 13-17

Kraus, Margit/Schwager, Robert, EU Enlargement and Immigration, JCMS 2004, S. 165-182

Mahler, Claudia/Toivanen, Reetta, Die Erweiterung der Europäischen Union: Eine Chance für nationale und ethnische Minderheiten?, MRM 2004, S. 63-71

Nidobitek, Matthias, Völker- und europarechtliche Grundfragen des EU-Beitrittsvertrages, JZ 2004, S. 369-375

Plnar, Hamdi, Zur Erschöpfung der Rechte an geisti-gem Eigentum zwischen den Mitgliedstaaten der Euro-päischen Union und der Türkei, GRURint 2004, S. 101-106

Bibliographie

Layout_Heft 3.indd 504 19.06.2004, 16:26:11

Page 134: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

505EuR – Heft 3 – 2004

Yakemtchouk, Romain, L’Union européenne et la pro-tection des minorités nationales en Lettonie et en Esto-nie, RMCUE 2004, S. 160-169

Wettbewerbspolitik – Staatliche Beihilfen – Öffentliche Unternehmen – Freier Warenverkehr – Wirtschaftsrecht

Berg, Werner, Die neue EG-Fusionskontrollverord-nung. Praktische Auswirkungen der Reform, BB 2004, S. 561-569

Dolde, Klaus-Peter/Porsch, Winfried, Öffentliche Fi-nanzierung von Infrastrukturanlagen und europäisches Wettbewerbsrecht, ZLW 2004, S. 3-22

Dopfer, Jaqui/Führ, Martin/Hafkesbrink, Joachim/Halstrick-Schwenk, Marianne/Scheuer, Markus, Rück-nahmeverpflichtung für Elektro- und Elektronikaltge-räte-Grenzüberschreitender Direktvertrieb und seine Berücksichtigung bei der Umsetzung der EG-Richtli-nie, ZfU 2004, S. 47-78

Favret, Jean-Marc, Le renforcement du rôle des autori-tés nationales dans la mise en œuvre du droit commu-nautaire de la concurrence : le règlement du Conseil n° 1/2003 du 16 décembre 2002, AJDA 2004, S. 177-186

Fischer, Hans Georg, Öffentliche Aufträge im Span-nungsfeld zwischen Vergaberecht und europäischem Beihilferecht, VergabeR 2004, S. 1-16

Fouquet, Thierry, Chronique des aides publiques-(Pre-mier semestre 2003), RMCUE 2004, S. 117-124

Jennert, Carsten, Finanzierung und Wettbewerb in der Daseinsvorsorge nach Altmark Trans, NVwZ 2004, S. 425-431

Knauff, Matthias, Die Reform des europäischen Verga-berechts, EuZW 2004, S. 141-144

Koenig, Christian/Haratsch, Andreas, Die Wiederge-burt von Art. 86 Abs. 2 EG in der RAI-Entscheidung der Europäischen Kommission, ZUM 2004, S. 122-124

Laget, Stéphane, Les pouvoirs du juge national et le „aides» non notifiées à la Commission, AJDA 2004, S. 298-305

Quellmalz, Jens Holger, Die Justiziabilität des Art. 81 Abs. 3 EG und die nichtwettbewerblichen Ziele des EG-Vertrages, WRP 2004, S. 461-470

Freizügigkeit – Arbeits- und Sozialrecht

Atkinson, Anthony B./Marlier, Eric/Nolan, Brian, Indi-cators and Targets for Social Inclusion in the EU, JCMS 2004, S. 47-76

Hanlon, James, Pensions integration in the European Union, ELRev 2004, S. 74-93

Kort, Michael, Zwischen Marktmacht und Regulie-rung: Wohin steuert das europäische Arbeitsrecht ?, JZ 2004, S. 267-276

Schwark, Eberhard, Globalisierung, Europarecht und Unternehmensmitbestimmung im Konflikt, AG 2004, S. 173-180

Skidmore, Paul, The European Employment Strategy and labour law: a German case-study, ELRev 2004, S. 52-73

Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungs- und Kapitalverkehr-Europäisches Gesellschafts-recht

Brand, Oliver, Das Kollisionsrecht und die Niederlas-sungsfreiheit von Gesellschaften, JR 2004, S. 89-96

Eidenmüller, Horst, Mobilität und Restrukturierung von Unternehmen im Binnenmarkt-Entwicklungspers-pektiven des europäischen Gesellschaftsrechts im Schnittfeld von Gemeinschaftsgesetzgeber und EuGH, JZ 2004, S. 24-33

Gkoutzinis, Apostolos, Free movement of services in the EC Treaty and the law of contractual obligations relating to banking and financial services, CMLR 2004, S. 119-175

Pechstein, Matthias/Kubicki, Philipp, Dienstleistungs-freiheit im Baugewerbe für polnische Handwerker, EuZW 2004, S. 167-172

Rehberg, Markus, Inspire Art: Europäische Niederlas-sungsfreiheit zwischen „Missbrauch“ und nationalem Regelungsanspruch, (Zugleich Anmerkung zu EuGH, Rs. C-167/01), ELF 2004, S. 1-8

Steuern – Währungs- und Finanzpolitik

Asmussen, Jörg/Mai, Stefan/Nawarth, Axel, Zur Wei-terentwicklung der EU-Finanzmarktintegration, Kre-ditwesen 2004, S. 98-204

Friedrich, Hans-Jürgen/Steinbach, Michael, Gestal-tung Euro-Zahlungsverkehr, Kreditwesen 2004, S. 196-197

Bibliographie

Layout_Heft 3.indd 505 19.06.2004, 16:26:11

Page 135: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004506

Hausner, Karl Heinz, Der Bankenmarkt in der Euro-päischen Union, Kreditwesen 2004, S. 267-270

Krebs, Hans-Joachim/Bödefeld, Axel, Europarechts-widrig: § 50c EStG – Der Kreis der rechtswidrigen Vorschriften weitet sich, BB 2004, S. 407-411

Kunold, Uta/Schlitt, Michael, Die neue EU-Prospek-trichtlinie. Inhalt und Auswirkungen auf das deutsche Kapitalmarktrecht, BB 2004, S. 501-512

Lavranos, Nikolaos, The limited, functional indepen-dence of the ECB, ELRev 2004, S. 115-123

Palm, Ulrich, Der Bruch des Stabilitäts- und Wachs-tumspakts, EuZW 2004, S. 71-75

Umwelt-, Agrar- und Energiepolitik, Gesund-heits- und Verbraucherschutz

Adam, Valérie/Bianchi, Daniel, La PAC à l’heure du découplage-Une « dernière » reforme du soutien à l’agriculture européenne, RMCUE 2004, S. 89-106

Adolf, Jörg/Berg, Karlheinz, Die Umsetzung der EU-Emissionshandels-Richtlinie aus der Perspektive eines globalen Energie-Konzerns, EurUP 2004, S. 2-10

David, Carl-Heinz, Territorialer Zusammenhalt: Kom-petenzzuwachs für die Raumordnung auf europäischer Ebene oder neues Kompetenzfeld? – Rechtliche und politische Implikationen des Vertragsentwurfs einer europäischen Verfassung, DÖV 2004, S. 146-155

Döring, Thomas/Ewringmann, Dieter, Europäischer CO2-Emissionshandel, nationale Gestaltungsspielräu-me bei der Vergabe von Emissionsberechtigungen und EU-Beihilfenkontrolle, ZfU 2004, S. 27-46

Gassner, Wolfgang, Europarechtswidrigkeit der Organ-schaftsbesteuerung. Österreich ersetzt Organschaft durch eine neue Gruppenbesteuerung, DB 2004, S. 841-843

Jazra Bandarra, Nelly, Ècolution du cadre commu-nautaire réglementaire pour les organismes génétique-ment modifiés (II), RMCUE 2004, S. 196-177

Lettl, Tobias, Der lauterkeitsrechtliche Schutz vor irre-führender Werbung in Europa, GRUR int 2004, S. 85-96

Millett, Thimothy, Community plant variety rights-ex-tent of the information that a holder may claim from a farmer about his use of the “agricultural exemption”, ELRev 2004, S. 124-131

Schneider, Jens-Peter/ Prater, Janine, Das europäische Energierecht im Wandel. Die Vorgaben der EG für die Reform des EnWG, RdE 2004, S. 57-64

Schnitger, Arne, Verstoß der Wegzugsbesteuerung (§ 6 AStG) und weiterer Entstrickungsnormen des deut-schen Ertragsteuerrechts gegen die Grundfreiheiten des EG-Vertrags. Auswirkungen der Rs. Lasteyrie du Saillant auf den deutschen Rechtskreis, (Zugleich An-merkung zu EuGH, Rs. C-9/02), BB 2004, S. 804-813

Westermann, Bernhard, Zur Europarechtswidrigkeit des § 9 Abs. 2 UStG – Einschränkung der Optionsmög-lichkeiten für Umsätze aus Vermietung und Verpach-tung, DB 2004, S. 782-785

Urheberrecht-Markenrecht – Patentrecht

Berlit, Wolfgang, Die Europäisierung des Markenrechts durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-hofs, EWS 2004, S. 113-117

Beyerlein, Thorsten, Prozessuale Probleme der Klage auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit einer Gemeinschaftsmarke vor den Gemeinschaftsmarken-gerichten (Art. 96 GMV), WRP 2004, S. 302-305

Meister, Herbert E., Von den Signa zur Gemeinschafts-marke (2): Markenwesen und Gewerblicher Rechts-schutz, WRP 2004, S. 305-323

Renck, Andreas/Petersenn, Morten, Das Ende dreidi-mensionaler Marken in der EU? Eine Untersuchung der Entscheidungspraxis aus Luxemburg, insbesondere der Entscheidung des EuGH v. 08.04.2003 – Rs. C-53/01 bis C-55/1 – in Sachen Linde AG, Winward Industries Inc. und Rado Uhren AG sowie des Schutzumfangs dreidimensionaler Marken seit Linde, (zugleich An-merkung), WRP 2004, S. 440-452

Europäisches Zivilrecht und Strafrecht

Albrecht, Achim, Die Neuregelung des europäischen und internationalen Insolvenzrechts – Ein Überblick, RdW 2004, S. 1-6

Baier, Helmut, Die Bekämpfung der Kinderpornogra-fie auf der Ebene von Europäischer Union und Europa-rat, ZUM 2004, S. 39-51

Basedow, Jürgen, Ein optionales Europäisches Ver-tragsgesetz – opt-in, opt-out, wozu überhaupt?, ZEuP 2004, S. 1-4

Caracciolo, Eugenia/Masselot, Annick, Under con-struction: EU family law, ELRev 2004, S. 32-51

Handig, Christian, Europäisches Vertragsrecht, ÖJZ 2004, S. 130-134

Koschtial, Ulrike, Die Freihaltebedürftigkeit wegen besonderer Form im europäischen und deutschen Mar-kenrecht, GRUR int 2004, S. 106-112

Bibliographie

Layout_Heft 3.indd 506 19.06.2004, 16:26:11

Page 136: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

507EuR – Heft 3 – 2004

Magnus, Ulrich, Ein einheitliches Deliktsrecht für Eu-ropa?, EWS 2004, S. 105-113

Patti, Salvatore, Kritische Anmerkungen zum Entwurf eines europäischen Vertragsgesetzbuches, ZEuP 2004, S. 118-131

Peers, Steve, Mutual recognition and criminal law in the European Union: Has the Council got it wrong?, CMLR 2004, S. 5-36

Pfeiffer, Thomas, Auf dem Weg zu einem Europäischen Vertragsrecht, EWS 2004, S. 98-105

Scholz, Oliver, Die Einführung elektronischer Han-delsregister im Europarecht, EuZW 2004, S. 172-176

Wagner, Gerhard, Ersatz immaterieller Schäden: Be-standsaufnahme und europäische Perspektiven, JZ 2004, S. 319-331

GASP/ESPV/Justiz und Inneres

Hill, Christopher, EU Foreign Policy since 11 Septem-ber 2001, JCMS 2004, S. 143-164

Yazicioglu, Ümit, Asylpolitik in der Europäischen Uni-on, RuP 2004, S. 42-46

Menschenrechte

Esser, Robert, Grenzen für verdeckte Ermittlungen gegen inhaftierte Beschuldigte aus dem europäischen nemo-tenetur-Grundsatz. Zugleich Anmerkung zu EGMR, (Allan v. Vereinigtes Königreich), JR 2004, S. 98-107

Faßbender, Kurt, Lebensschutz am Lebensende und Europäische Menschenrechtskonvention. Anmerkung zu EGMR, EuGRZ 2002, 234, Jura 2004, S. 115-120

Kolb, Angela, Die Entscheidung des EGMR zum Bo-denreformeigentum und ihre Folgen, (Zugleich Anmer-kung zu EGMR, (Jahn u. a. / Deutschland)), NJ 2004, S. 145-149

Meyer-Ladewig, Jens, Menschenwürde und Europäi-sche Menschenrechtskonvention, NJW 2004, S. 981-984

Telekommunikationsrecht

Bavasso, Antonio F., Electronic communications: A new paradigm for European regulation, CMLR 2004, S. 87-118

Zeiss, Christopher/Günther, Markus, LKW-Maut und Europarecht-Wettbewerbsverzerrung auf dem Telema-tikmarkt durch Toll Collect, EuZW 2004, S. 103-107

Rechtsprechung – EuGH, EuG-Vollstreckung – Rechtsschutz

Blobel, Felix, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-433/01 (Freistaat Bayern/Jan Blijdenstein: besondere Zustän-digkeiten; Unterhaltsverpflichtung; Regressklage einer öffentlichen Einrichtung aus übergegangenem Recht des Unterhaltsberechtigten), ELF 2004, S. 46-50

Cavallini, Joel, Chronique de jurisprudence de la Cour de justice des Communautés européennes-Les libertés de circulation : marchandises, capitaux, prestation des services et établissement (juillet 2002 à juin 2003-IV. Liberté d’établissement, RMCUE 2004, S. 124 –130

Cuniberti, Gilles, Action déclaratoire et droit judiciaire européen, JDI 2004, S. 77-88

Danwitz, Thomas von, Zur gemeinschaftsrechtlichen Haftung für judikatives Unrecht-Anmerkungen zu EuGH Rs. C-224/01 Köbler, JZ 2004, S. 295-303

Dautzenberg, Norbert, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-364/01 (Bei Berechnung der Erbschaftsteuer darf die Verpflichtung zur Übertragung einer unbeweglichen Sache an den wirtschaftlichen Eigentümer nicht nur dann berücksichtigt werden, wenn der Erblasser im Belegenheitsstaat wohnte), EWS 2004, S. 129-131

Deininger, Rainer, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-167/01 (Inspire Art), ELF 2004, S. 17-19

Doerfert, Carsten, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-57/00 P (Staatliche Beihilfen für die Wirtschaft bestimmter, von der Teilung Deutschlands betroffener Gebiete), JA 2004, S. 285-287

Fardet, Christophe, Le « réexamen » des décisions du tribunal de première instance, RMCUE 2004, S. 184-193

Fechner, Frank, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-101/01(Verarbeitung personenbezogener Daten im Inter-net), JZ 2004, S. 246-248

Frenz, Walter, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-453/00 (Rücknahme eines gemeinschaftsrechtswidrigen belas-tenden Verwaltungsakts), DVBl 2004, S. 375-376

Granger, Marie-Pierre F., When governments go to Luxembourg… : the influence of governments on the Court of Justice, ELRev 2004, S. 3-31

Hänlein, Andreas, Der Bereitschaftsdienst deutscher Krankenhausärzte auf dem Prüfstand des EuGH. An-merkung zu EuGH, Rs. C-151/02 (Landeshauptstadt Kiel/Norbert Jäger), ELF 2004, S. 60-64

Bibliographie

Layout_Heft 3.indd 507 19.06.2004, 16:26:12

Page 137: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004508

Holtkamp, Werner, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-340/01 (Betriebsübergang, Funktionsnachfolge ade?), AuA 2004, S. 45-46

Hösch, Ulrich, DocMorris. Anmerkung zu EuGH, Rs. C-322/01, GewArch 2004, S. 98-101

Horn, Norbert, Deutsches und europäisches Gesell-schaftsrecht und die EuGH-Rechtsprechung zur Nie-derlassungsfreiheit – Inspire Art, NJW 2004, S. 893-901

Hübner, Alexander, Anmerkung zu: EuGH, Rs. C-448/01 (Vergabefremde Kriterien; wirtschaftlichstes Ange-bot; Pflicht zur Aufhebung der Ausschreibung), Verga-beR 2004, S. 47-49

Jaeger, Thomas, Nachträgliche Beihilfengenehmigung und der Rechtsschutz von Konkurrenten vor nationalen Gerichten. Zugl. Anmerkung zu: EuGH, Rs. C-261/01, C-262/01, EuZW 2004, S. 78-80

Karpenschif, Michael, Définition du pouvoir adjudica-teur par la Cour de justice des Communautés européen-nes, AJDA 2004, S. 526-533

Kleinert, Jens/Probst, Peter, Endgültiges Aus für steu-erliche Wegzugsbeschränkungen bei natürlichen und juristischen Personen. Anmerkung zu EuGH, Rs. C-9/02 (de Lasteyrie du Saillant), DB 2004, S. 673-675

Lorenz, Moritz, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-535/01 (Das „Olli-Mattila“-Urteil des EuGH zum Recht auf Zugang zu Dokumenten des Rats der Europäischen Union und der EG-Kommission), NVwZ 2004, S. 436-438

Meinel, Norbert, Die Auslegungsmethoden des EuGH, VR 2004, S. 89-93

Metzger, Axel, Anmerkung zu: EuGH, Rs. C-473/00 (Europäischer Verbraucherschutz, Effektivitätsgrund-satz und nationale Ausschlussfristen), ZEuP 2004, S. 154-163

Opitz, Marc, Anmerkung zu: EuGH, Rs. C-421/01 (Nebenangebote und Änderungsvorschläge; Min-destanforderungen, Zuschlagskriterien), VergabeR 2004, S. 54-56

Rosenfeld, Andreas, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-2/01 P, C-3/01 P (Nachweis einer (konkludenten) Kartell-vereinbarung zur Unterbindung von Paralleleinfuhren in Vertriebsnetzen, Adalat; Bundesverband der Arznei-mittel-Importeure e. V. und Kommission der Europäi-schen Gemeinschaften, andere Verfahrensbeteiligte; Bayer AG und European Federation of Pharmaceutical Industries’Associations), RIW 2004, S. 298-300

Schäfer, Peter, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-224/01 (Schadensersatzpflicht der Mitgliedstaaten umfasst auch offenkundige Verstöße letztinstanzlicher nationa-ler Gerichte gegen das Gemeinschaftsrecht), JA 2004, S. 283-285

Schabel, Thomas, Anmerkung zu: EuGH, Rs. C-252/01 (Vertragsverletzungsverfahren; Ausschreibungs-pflicht bei Vertragsverlängerung /-änderung; militäri-sche Sicherheitsmaßnahmen), VergabeR 2004, S. 60-61

Schlosser, Peter, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-433/01 (Freistaat Bayern ./. Jan Blijdenstein; Zuständigkeit nach EG-Recht bei Gläubigerwechsel), JZ 2004, S. 408-409

Schroeder, Hans-Patrick, Anmerkung zu: EuGH, Rs. C-320/03 R (Aussetzung des Lkw-Fahrverbots bis zum Abschluss des einstweiligen Anordnungsverfahrens), EuZW 2004, S. 180-182

Steinberg, Philipp, Die „Wienstrom“-Entscheidung des EuGH, (Anmerkung zu: EuGH, Rs. C-448/01), EuZW 2004, S. 76-78

Steinle, Christian, Kartellgeldbußen gegen Konzernun-ternehmen nach dem „Aristrain“-Urteil des EuGH, (Zugleich Anmerkung zu EuGH, Rs. C-196/99 P), EWS 2004, S. 118-124

Thiele, Christian, Anderweitige Rechtshängigkeit im Europäischen Zivilprozessrecht: Rechtssicherheit vor Einzelfallgerechtigkeit. Anmerkung zu EuGH, Rs. C-116/02 , RIW 2004, S. 285-289

Thouvenin, Jean-Marc, Chronique de concurrence : jurisprudence de l’année 2002, RMCUE 2004, S. 177-184

Wattel, Peter J., Köbler, CILFIT and Welthgrove: We can’t go on meeting like this, CMLR 2004, S. 177-190

Werner, Jan, Der Zugang zum Personenbeförderungs-gewerbe im Lichte aktueller Entwicklungen in der Rechtsprechung, (Zugleich Anmerkung zu EuGH, Rs. C-280/00 – (Altmark Trans) und BVerwG, 3 C 46.02), GewArch 2004, S. 89-98

II. Monographien

Allgemeines zur Integration-Vertrag von Nizza – Richtlinien

Beneyto Pérez, José María/Pernice, Ingolf (Hrsg.)The Government of Europe: Which Institutional De-sign for the European Union?, Nomos Verlagsgesell-schaft mbH, Baden-Baden 2004, 125 S.

Bibliographie

Layout_Heft 3.indd 508 19.06.2004, 16:26:12

Page 138: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

509EuR – Heft 3 – 2004

Bruckmann, Wolfgang, Die grundgesetzlichen Anfor-derungen an die Legitimation der Europäischen Uni-onsgewalt, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. u.a. 2004, 410 S.

Christiansen, Thomas/Piattoni, Simona (Ed.), Infor-mal Governance in the European Union, Edward Elgar Publishing, Cheltenham 2004, 288 S.

Graue, Bettina, Der deutsche und europäische öffentli-che Dienst zwischen rechtlicher und faktischer Gleich-berechtigung der Geschlechter, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. u.a. 2004, 778 S.

Haller, Michael, Pressevertrieb und Informationsfrei-heit in Europa, Nomos Verlagsgesellschaft mbH, Ba-den-Baden 2004, 180 S.

Kellerbauer, Manuel, Von Maastricht bis Nizza – Neu-formen differenzierter Integration in der Europäischen Union, Duncker & Humblot, Berlin 2004, 279 S.

Riemann, Frank, Die Transparenz der Europäischen Union-Das neue Recht auf Zugang zu Dokumenten von Parlament, Rat und Kommission, Duncker & Humblot, Berlin 2004, 331 S.

Schulze, Reiner (Hrsg.), Europäisches Genossenschaft (SCE), Nomos Verlagsgesellschaft mbH, Baden-Baden 2004, 289 S.

Wrantjen, Andreas/Wonka, Arndt (Hrsg,), Governance in Europe, Nomos Verlagsgesellschaft mbH, Baden-Baden 2004, 163 S.

Organe – Kompetenzen – EPZ

Guckelberger, Annette, Der Europäische Bürgerbeauf-tragte und die Petitionen zum Europäischen Parlament, Duncker & Humblot, Berlin 2004, 172 S.

Koch, Michael H., Die Externalisierungspolitik der Kommission-Zulässigkeit und Grenzen mittelbarer Ge-meinschaftsverwaltung, Nomos Verlagsgesellschaft mbH, Baden-Baden 2004, 207 S.

Verfassungs- und Verwaltungsrecht-Grundrechte – Konvent

Gebauer, Jochen, Die Grundfreiheiten des EG-Vertra-ges als Gemeinschaftsgrundrechte, Duncker & Hum-blot, Berlin 2004, 454 S.

Hill, Hermann/Pitschas, Rainer (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht, Duncker & Humblot, Berlin 2004, 476 S.

Mehl, Matthias, Die Anwendung des Subsidiaritäts-prinzips auf dem Gebiet der Europäischen Verkehrspo-litik, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. u.a. 2004, 198 S.

Miccù, Robert/Pernice, Ingolf (Hrsg.), The European Constitution in the Making, Nomos Verlagsgesell-schaft mbH, Baden-Baden 2004, 184 S.

Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfas-sungsrecht (Hrsg.), Die europäische Verfassung im globalen Kontext, Nomos Verlagsgesellschaft mbH, Baden-Baden 2004, 136 S.

Internationale Organisationen und ihre Beziehungen zur EG

Osteneck, K., Die Umsetzung von UN-Wirtschafts-sanktionen durch die Europäische Gemeinschaft, Springer Verlag, Heidelberg 2004, 579 S.

Beziehungen zu Drittländern-Beitritt/Osterweiterung – Zollunion

Baier-Allen, Susanne, Exploring the Linkage between EU Accession and Conflict Resolution: The Cyprus Case, Nomos Verlagsgesellschaft mbH, Baden-Baden 2004, 251 S.

Wettbewerbspolitik – Staatliche Beihilfen – Öffentliche Unternehmen – Freier Warenverkehr – Wirtschaftsrecht

Breloer, Carolin Eva, Europäische Vorgaben und das deutsche Vergaberecht, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. u.a. 2004, 165 S.

Buchtova, Katerina, Marktstrukturelle Kriterien bei der kartellrechtlichen Beurteilung vertikaler Bindungen im europäischen und im tschechischen Kartellrecht, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. u.a. 2004, 303 S.

Dinger, Felix, The Future of Liner Conferences in Eu-rope – A critical analysis of agreement in liner shipping under current European competition law, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. u.a. 2004, 207 S.

Gross, Ivo, Das Europäische Beihilfenrecht im Wandel, Nomos Verlagsgesellschaft mbH, Baden-Baden 2004, 270 S.

Middelschulte, Dirk, Öffentliche Aufträge als Gegen-stand des EG-Beihilfenrechts – Voraussetzungen und Folgen der subventionsrechtlichen Kontrolle von Ver-gaben und öffentlichen Aufträgen, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. u.a. 2004, 190 S.

Richter, Julia, Gatekeeper Positionen in der europäi-schen Fusionskontrolle, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. u.a. 2004, 265 S.

Schäfer, Alexander, Öffentliche Belange im Auftrags-wesen und Europarecht, Duncker & Humblot, Berlin 2004, 572 S.

Bibliographie

Layout_Heft 3.indd 509 19.06.2004, 16:26:12

Page 139: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

EuR – Heft 3 – 2004510

Freizügigkeit – Arbeits- und Sozialrecht

Böhm, Verena, Die betriebliche Altersversorgung in Deutschland und das Recht der Arbeitnehmer auf Freuizügigkeit in Europa, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. u.a. 2004, 174 S.

Mohr, Jochen, Schutz vor Diskriminierungen im Euro-päischen Arbeitsrecht, Duncker & Humblot, Berlin 2004, 395 S.

Willhöft, Cord, Tendenzen zu einem europäischen Ge-sundheitsdienstmarkt, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. u.a. 2004, 205 S.

Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungs- und Kapitalverkehr-Europäisches Gesellschafts-recht

Bertram, Oliver, Die sozialversicherungsrechtliche Ge-währleistung der Niederlassungsfreiheit der Freien Berufe in Europa, Nomos Verlagsgesellschaft mbH, Baden-Baden 2004, 257 S.

Umwelt-, Agrar- und Energiepolitik, Gesund-heits- und Verbraucherschutz

Bärenz, Christian, Zum Einfluss des Gemeinschafts-rechts auf das Steuerbilanzrecht, Duncker & Humblot, Berlin 2004, 270 S.

Kühne, Gunther (Hrsg.), Berg- und Energierecht im Zugriff europäischer Regulierungstendenzen, Nomos Verlagsgesellschaft mbH, Baden-Baden 2004, 135 S.

Europäisches Zivilrecht und Strafrecht

Haas, Ulrich/Süß, Rembert (Hrsg.), Erbrecht in Euro-pa, Nomos Verlagsgesellschaft mbH, Baden-Baden 2004, 900 S.

Scherber, Nina, Europäische Grundpfandrechte in der nationalen und internationalen Insolvenz im Rechts-vergleich, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. u.a. 2004, 189 S.

Staak, Kai S., Der deutsche Insolvenzverwalter im eu-ropäischen Insolvenzrecht – Eine Analyse der EG-Ver-ordnung Nr. 1345/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren unter besonderer Berücksich-tigung der Person des deutschen Insolvenzverwalters, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. u.a. 2004, 226 S.

Völkerrecht – Internationales Privatrecht

Krugmann, Michael, Der Grundsatz der Verhältnismä-ßigkeit im Völkerrecht, Duncker & Humblot, Berlin 2004, 136 S.

Schweitzer, Michael/Weber, Albrecht, Handbuch der Völkerrechtspraxis der Bundesrepublik Deutschland, Nomos Verlagsgesellschaft mbH, Baden-Baden 2004, 862 S.

GASP/ESPV/Justiz und Inneres

Apap, Joanna (Ed.) Justice and Home Affaire in the EU, Edward Elgar Publishing, Cheltenham 2004, 360 S.

Koch, Katja, Handelspräferenzen der Europäischen Gemeinschaft für Entwicklungsländer, Peter Lang Ver-lag, Frankfurt/M. u.a. 2004, 275 S.

Rechtsprechung – EuGH, EuG-Vollstreckung-Rechtsschutz

Napp, Marcus Ernst, Das Streithilfeverfahren vor dem Gerichtshof und dem Gericht erster Instanz der Euro-päischen Gemeinschaften im Vergleich zum deutschen Zivilprozessrecht – Zur Einführung einer erzwungenen Intervention in das Gemeinschaftsrecht, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. u.a. 2004, 164 S.

Bibliographie

Layout_Heft 3.indd 510 19.06.2004, 16:26:12

Page 140: E 21002 F EUROPARECHT · Fortsetzung Inhaltsverzeichnis Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungs-entscheidungen –

511EuR – Heft 3 – 2004

Die Zeitschrift EUROPARECHT erscheint sechsmal im Jahr. Schriftleitung: Armin Hatje und Ingo Brinker. Redaktionsanschrift: Prof. Dr. Armin Hatje, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld, Telefon: (0521) 106 44 12, Telefax: (0521) 106 60 37; RA Dr. Ingo Brinker LL.M., c/o Gleiss Lutz Hootz Hirsch, Prinzregentenstraße 50, 80538 München.

© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden. Printed in Germany.

Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vor-herigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzun-gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISSN 0531-2485

Bezugsbedingungen: Erscheinungsweise sechsmal jährlich; Abonnementspreis jährlich 116,- Euro inkl. Jah-res-CD-ROM (inkl. MwSt.) zuzüglich Porto und Versandkosten (zuzüglich MwSt.); Preis des Einzelheftes 23,- Euro (inkl. MwSt.); Bestellungen nehmen der Buchhandel und der Verlag entgegen; Abbestellungen vierteljährlich zum Jahresende. Zahlung jeweils im voraus an Nomos Verlagsgesellschaft, Postscheckk. Karlsruhe 736 36-751 und Stadtsparkasse Baden-Baden, Konto 5-002 266.Verlag und Anzeigenannahme: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG.Postfach 10 03 10, D-76484 Baden-Baden, Telefon (07221) 21 04-0, Telefax 21 04 27.

Beilagenhinweis: Dieser Ausgabe liegt ein Prospekt der Nomos Verlagsgesellschaft bei. Wir bitten freund-lichst um Beachtung.

Layout_Heft 3.indd 511 19.06.2004, 16:26:12