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[eBook] Jamgön Kongtrul Rinpoche -- Wie die Mitte des wolkenlosen Himmels (Marpa-Verlag 1989, Buddhismus, German-Deutsch)

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Jamgön Kongtrul Rinpoche

Wie die Mitte des wolkenlosen Himmels…

Der Mahamudra-Weg der tibetisch-buddhistischen Kagyü-Schule

Marpa - Verlag

Hinweise für die Aussprache Bei allen Sanskrit- und tibetischen Wörtern gilt:

c und ch = tsch; j = dsch; sh = sch.

Dieses Buch ist S.H. dem 17. Gyalwa Karmapa gewidmet

Aus dem Tibetischen übersetzt und herausgegeben von Tina & Alex Draszczyk

© 1989 bei Marpa Verlag, Verein zur Förderung der Karma Kagyü Tradition Fleischmarkt 16, A-1010 Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung,: Elfi Plakolm Druck: Wiener Verlag, Himberg

Satz: Druckreif, Linz

ISBN 3-900969-00-0

Scanned 2003 by David Lehmann

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Inhalt Vorwort der Übersetzer ............................................................................5 Der Vajragesang vom 1. Jamgön Kongtrul Rinpoche..............................9 Kommentar vom 3. Jamgön Kongtrul Rinpoche....................................21

Einleitung............................................................................................21 Grundlage-Mahamudra.......................................................................29 Weg-Mahamudra ................................................................................48 Frucht-Mahamudra .............................................................................82 Fragen und Antworten ........................................................................91

Anhang I: Kurze Geschichte der Inkarnationen von Jamgön Kongtrul Rinpoche ..............................................................113

Der 1. Jamgön Kongtrul Rinpoche, Lodrö Thaye (1813-1899) .......113 Der 2. Jamgön Kongtrul Rinpoche, Khyentse Öser (1904-1953) ....115 Der 3. Jamgön Kongtrul Rinpoche, Lodrö Chökyi Senge Tenpe Gocha.....................................................................................115

Anhang II: Anmerkungen zu den einleitenden Versen des Vajra-Gesanges ............................................................................116

Glossar ..................................................................................................118

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Vorwort der Übersetzer Im Oktober 1987 besuchte S.E. Jamgön Kongtrul Rinpoche die Kagyü-Zentren in Österreich und hielt während dieser Zeit auch ein Seminar in den Bergen bei Salzburg ab.

Thema dieses Kurses war ein Vajra-Gesang von Lodrö Thaye, dem 1. Jamgön Kongtrul Rinpoche, den er als spontanen Ausdruck seiner Mahamudra-Erfahrung gesungen hatte. Dieser Gesang ist im Kagyü-Gur-Dzö, dem "Schatz der Kagyü-Gesänge", enthalten.

Mit dem Vajra-Gesang als Grundlage gab S.E. Jamgön Kongtrul Rinpoche einerseits einen Überblick über Mahamudra, das Herz der Kagyü-Lehren, und andererseits sehr praktische Ratschläge für all jene, die den Mahamudra-Weg als den ihren sehen.

Aufgrund des Interesses, das von vielen Seiten für diese Belehrungen gezeigt wurde, entschlossen wir uns nach Rücksprache mit S.E. Jamgön Kongtrul Rinpoche, die mündlichen Vorträge in Form eines Buches herauszugeben. Wir hoffen, dadurch vielen einen Einblick in den durch die Kagyü-Schule unversehrt überlieferten Schatz der Mahamudra-Lehre zu ermöglichen. Gleichzeitig sei darauf hingewiesen, dass es für die tatsächliche Mahamudra-Praxis unerlässlich ist, die mündlichen Unterweisungen von einem Lehrer zu empfangen, der in einer authentischen Übertragungslinie steht.

Abschliessend möchten wir hier S.E. Jamgön Kongtrul Rinpoche unsere tiefe Dankbarkeit für die vorliegenden Belehrungen und für seine unermessliche Aktivität zum Ausdruck bringen. Ausserdem danken wir all jenen, die zur Fertigstellung dieses Buches beigetragen haben.

Möge durch die Inspiration der Kagyü-Linie die Mahamudra-Verwirklichung schnell erlangt werden, und mögen alle Wesen das Glück erfahren, nach dem sie streben. Tina & Alex. Draszczyk

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Jamgön Kongtrul Rinpoche mit seinem Lehrer, S.H. dem 16. Karmapa

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"Wann immer wir Belehrungen erhalten oder lesen, ist eine vollkommen reine innere Haltung sehr wichtig. Drei Fehler, die anhand eines Gefässes erklärt werden, sollte man vermeiden:

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Der erste Fehler besteht darin, unaufmerksam zu sein; dies

wird mit einem umgedrehten Gefäss verglichen, das das keine Flüssigkeit aufnehmen kann.

Der zweite Fehler ist, sich die Bedeutung nicht einzuprägen;

dies entspricht einem Gefäss mit einem Loch im Boden, aus dem die Flüssigkeit, die hineingelangt, wieder hinausfliesst.

Der dritte Fehler besteht darin, von störenden Gefühlen

abgelenkt zu sein; dies wird mit einem Gefäss verglichen, in dem Gift enthalten ist, so dass jede Flüssigkeit, die man hineingiesst, vergiftet wird.

Wir sollten also von diesen drei Fehlern frei sein und eine reine

Einstellung, d.h. Bodhicitta, den Erleuchtungsgeist, entwickeln." Jamgön Kongtrul Rinpoche

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Lodrö Thaye, der 1. Jamgön Kongtrul Rinpoche

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Der Vajragesang vom 1. Jamgön Kongtrul Rinpoche

Der glorreiche, edle Lama Lodrö Thaye oder Karma Ngag-wang Yönten Gyamtso, der vom Siegreichen unter anderem im Samadhirajasutra vorhergesagt wurde, sang diese Vajra-Doha, als er die Erkenntnis von Mahamudra verwirklichte:

"Das selbstentstandene, spontane Lied vom Erlangen einer bloss oberflächlichen Gewissheit in Sichtweise und Meditation der unvergleichlichen Dagpo Kagyü"

Dorje Chang, der grosse Strahlende, dem die acht Qualitäten zugeschrieben werden, wird von Gewöhnlichen wie mir in einem menschlichen Körper gesehen.

"Lotus" genannter, segensreicher Schützer, ich bitte Dich, auch nicht für einen Augenblick von dem achtblättrigen Lotus-Palast meines Herzens getrennt zu sein.

Obwohl ich nicht das Glück hatte, Erkenntnis und gleichzeitig Befreiung zu erlangen, habe ich den Segen erhalten, zumindest meine eigene Natur zu erkennen.

Die Sorge um die acht Dharmas verringerte sich, und ich erfasste vollkommen den ruhmreichen Dharmakaya, das Klare Licht, indem ich mein Bewusstsein mit Deinem Geist vereinte.

Inmitten der Gedanken entdeckte ich Nicht-Denken, und fr ei von Konzepten ging die Weisheit auf. In der freudigen Einsicht, ein Liniensohn der Dagpo- Buddhas zu sein, bin ich von dem Wunsch erfüllt, zu sprechen.

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Im Westen, in Uddiyana, der geheimen Schatzkammer der Dakinis, öffnete der Mahasiddha Tilo den Schatz der drei Juwelen.

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Im Norden, in der Einsiedelei der berauschend schönen Blumen, manifestierte der gelehrte Mahapandita Naro das Zeichen der Verwirklichung, Einheit von Prana und Geist. Im Süden, im Land der Heilkräuter, dem Trowo-Tal, begründete der von Hevajra ausgestrahlte Übersetzer den Ursprung des Stroms aller Siddhas. Im Westen, in der verschneiten Latschi-Bergkette, verwirklichte der Lachende Vajra, der höchste unter den Wesen, in einem Leben den Zustand der Einheit. Im Osten, im Reinen Land Dagla Gampo, verwirklichte der ehrwürdige Arzt, der zweite Buddha, den Samadhi der zehn Stufen.

Die Scharen der Siddhas der vier Grossen und acht Kleinen verwirklichten in den Zentren von Körper, Rede und Geist die Lebenskraft von Mahamudra und konnten nicht anders, als Buddhaschaft erlangen. Begabt mit der anziehenden Kraft des Bodhicitta konnten sie nicht anders, als den Wesen helfen. Durch das vollkommene Erlangen des tiefgründigen Schatzes der beiden Ansammlungen konnten sie nicht anders, als den Sambhogakaya verwirklichen. Durch das umfassende Verständnis, dass mit dem Erkennen des Einen alles befreit ist, konnten sie nicht anders, als die grosse Prophezeiung erfüllen. Als Liniensöhne dieser reichen Väter besitzen sie von Natur aus den grossartigen Schatz früheren Karmas. Wie Kinder von Schneelöwinnen und grossen Garudas besitzen sie kraft ihrer Abstammung von Natur aus vollkommene Fähigkeiten. Als Schüler der Überlieferungslinie der Kagyü-Siddhas ist kraft des Segens ihre Meditation von Natur aus entwickelt.

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Stupide Meditierende dieses schlechten Zeitalters rühmen sich der vielen Jahre der Härte, sind stolz auf ihr Verharren in Untätigkeit und prahlen mit ertragenem Leid. Sie sind anderen gegenüber herablassend, ichbezogen, vergeuden viele Gedanken über andere und berechnen ihre Verwirklichung der Stufen und Wege.

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Sie haben den hervorragenden Dharma nicht und tragen auch nicht den Namen eines Siddha.

Doch durch die hervorragenden Kernunterweisungen der vorbildlichen Linie wird die Weisheit des letztendlichen Mahamudra gesehen.

Grundlage-Mahamudra ist die Sichtweise, die Dinge zu verstehen wie sie sind. Weg-Mahamudra ist die Erfahrung der Meditation. Frucht-Mahamudra ist, Buddha im eigenen Geist zu erkennen.

Ich selbst bin unbedeutend, mein Lama aber ist gut. Obwohl ich im schlechten Zeitalter geboren wurde, habe ich grosses Glück. Zwar besitze ich wenig Ausdauer, die Kernunterweisungen aber sind tiefgründig.

Was das Grundlage-Mahamudra betrifft, so ist es in bei-dem: in der Wirklichkeit und der Illusion.

Es gibt keine Trennung in Samsara und Nirwana.

Es ist Freisein von den Extremen der Übertreibung und Geringschätzung.

Nicht aus Ursachen entstanden, durch Bedingungen nicht verändert, wird durch Illusion nichts verschlechtert und durch Erkenntnis nichts verbessert. Es ist niemals Illusion, niemals Befreiung.

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Da nirgendwo eine Essenz vorhanden ist, ist der Ausdruck ungehindert, und alles erscheint. Wie der Raum durchdringt es ganz Samsara und Nirwana.

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Eigen-klare Bewusstheit und das Alaya-Bewusstsein, die Basis aller Illusion und Befreiung. Die Natur des bewussten Aspekts dieses neutralen Zu-stands ist Leerheit, deren Eigenschaft Klarheit.

Untrennbar sind sie die Quintessenz der Bewusstheit.

Raum, als Ding nicht fassbar, klarer Kristall, makellos und kostbar, Eigen-Bewusstheit und Eigen-Klarheit, wie das Licht der Butterlampe. In Worten nicht ausdrückbar, wie die Erfahrung eines Taubstummen. Um er schieierte, klare Weisheit, Klares Licht, Dharmakaya, Sugatagarbha, seit jeher rein und spontan. Niemand kann es durch Beispiele zeigen oder in Worte fassen, welche es auch sein mögen. Es ist der Raum der Phänomene, geistigen Vorstellungen unerträglich.

Hat man sich anfangs hierin Gewissheit verschafft, sollte man alle Zweifel abschneiden.

Wer mit Sichtweise Meditation übt, ist wie ein Garuda, der sich erhaben durch den Raum schwingt, ohne Furcht und Sorge. Wer ohne Sichtweise meditiert, ist wie ein Blinder, der in einer Ebene umherirrt, ohne Sicherheit darin, ob der Weg richtig ist oder nicht. Wer aber nur die Sichtweise besitzt, ohne meditieren zu können, gleicht einem Reichen, den sein Geiz fesselt: Er gibt weder sich noch anderen die benötigte Frucht. Beides miteinander zu verbinden ist die edle Tradition

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Der Aspekt der Unwissenheit dieses neutralen Zustands besteht darin, aus fünf Gründen die eigene Natur nicht zu erkennen.

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Aus dem Ozean der von sich aus vorhandenen Unwissenheit bewegen sich die illusorischen Wogen des Haftens am Ich. Bewusstheit wird zum Ich, Eigen-Ausdruck zu Objekten; die Gewohnheitsmuster von Subjekt und Objekt festigen sich. Dadurch wird Karma angesammelt und kommt zur völligen Reife. Der Kreis des Wasserrads von Samsara dreht sich, aber selbst im Drehen ist seine Natur makellos; selbst in seiner Erscheinung entbehrt es jeglicher Wirklichkeit.

Blosses Erscheinen ist bereits das Strahlen der drei Kayas.

Nicht-Entstanden ist die Natur des Entstandenen, dieses Nicht-Entstandene ist endlos. Zwischen diesen beiden, die nicht zwei sind, gibt es kein Bestehen.

Aus dem schwer zu beschreibenden Geist erscheinen die mannigfachen Wunder von Samsara und Nirwana. Sie als in sich selbst befreit zu erkennen, ist die höchste Sichtweise. Wird dies erkannt, ist alles Soheit. Gibt es weder Abwehren noch Erlangen, ist dies die ursprüngliche Natur. Geht man jenseits des konzepthaften Geistes, ist man am Ziel.

Was das Weg-Mahamudra betrifft:

Geist und die Welt der Erscheinungen sind Mahamudra: dem Geist inhärent ist der Dharmakaya, den Erscheinungen inhärent ist das Dharmakaya-Licht.

Treffen der Segen des glorreichen Lama und das eigene Karma zusammen, erkennt man die eigene Natur wie einen alten Bekannten.

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Lange Erklärungen bringen zwar nicht viel, Anfänger brauchen jedoch einiges:

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Man sollte damit aufhören, Gedanken über Vergangenes und Zukünftiges willkommen zu heissen oder zu verdrängen.

Im gegenwärtigen Bewusstseinsaugenblick liegt die ungeschaffene ursprüngliche Natur.

Meditation sollte ohne die geringste Spur von Überlegen sein. Nicht für einen Augenblick sollte man zerstreut in Illusion abgleiten.

Nicht-Zerstreutheit, Nicht-Meditation und Nicht-Erschaffen sind der Kernpunkt. Frisch, gelöst und klar verweilt man gesammelt im Raum der drei Tore zur Befreiung und baut die richtige Achtsamkeit auf. In dem beständigen Üben, den Geist zwischen Anspannung und Lockerlassen im Gleichgewicht zu halten, beruhigt man die drei Arten von Gedanken: die feinen, die fassbaren und die groben. Verweile im Zustand des in sich selbst ruhenden, ungeschaffenen Geistes.

Die vier Stufen der Erfahrung entstehen eine nach der anderen. Die Sonne des Klaren Lichtes erstrahlt überall. Die Wurzel der Mahamudra-Meditation ist geschaffen.

Ohne sie ist unser Gerede von hoher Erkenntnis wie das Bauen eines Hauses ohne Fundament. Übertriebenes Anhaften ist das Werk von Mara.

Meist werden jene, die wenig wissen, aber ausdauernd sind, von scheinbaren Tugenden getäuscht und führen sich selbst und andere auf den Weg zu niederen Bereichen. Selbst gute Erfahrungen wie Freude, Klarheit und Nicht-konzepthaftigkeit sind Ursache für Samsara, wenn man an ihnen haftet.

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Wenn du mit Hingabe dein Herz bestärkst, trifft in der Bewusstheit Stein auf Knochen, und der Segen der Linie der Erkenntnis wird übertragen.

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Gleite nicht ab in die vier Arten des Abgleitens, verfalle nicht in die drei Irrtümer, gehe jenseits der vier Freuden, befreie dich von den drei Bedingungen, verwirkliche durch die drei Arten der Entwicklung, sei unberührt vom Geist der drei Grossen.

Dies ist die selbstentstandene nicht mit Erfahrungen vermischte Natur. Wie die Mitte des wolkenlosen Himmels kann man die Eigen-Bewusstheit und Eigen-Klarheit nicht in Worte fassen. Die nichtbegriffliche Weisheit, jenseits von Beispielen, ist die Nacktheit des gewöhnlichen Bewusstseins.

Ohne Bezeichnung und Vorstellung wird es klar als Dhar-makaya gesehen.

Die Erscheinungen der sechs Ansammlungen, die wie der Mond im Wasser sind, erstrahlen im Zustand der Weisheit. Was auch immer erscheint, ist der ursprüngliche, ungeschaffene Zustand. Alles, was entsteht, ist die Natur von Mahamudra. Die Welt der Erscheinungen ist der Dharmakaya, Grosse Freude.

Die beiden - Shine, Ruhen in sich selbst, und Lhagthong, Sehen des nicht Sichtbaren -, sollten nicht getrennt, sondern in Ruhe, Bewegung und Bewusstheit vereint werden.

Es gibt keine Konzepte, keine Illusion, die aufzugeben wären. Es gibt keine spirituelle Praxis von Gegenmittel, die anzuwenden wäre. Die Zeit des spontanen Erlangens wird kommen.

Ist diese Erkenntnis erlangt, gibt es nichts mehr, was nicht Meditation wäre.

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An der Schwelle zum Freisein von Aufgeben und Erlangen ist sogar Meditation nicht vorhanden.

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Für Anfänger aber, die unfähig sind, ihre haarfeinen Konzepte aufzulösen, ist Meditation wichtig: Durch Meditation entsteht Erfahrung; Erfahrung erstrahlt als Schmuck der Bewusstheit.

Der besondere Weg unterteilt sich in die vier Yogas:

"Einspitzigkeit" ist, die Natur des Geistes zu erkennen. Die Natur von Mahamudra ist Einheit, der Raum der Phänomene, frei von Aufgeben und Erlangen.

Mit der jugendlichen reinen Freude ist es die riesige Wonne der Weisheit. Sie ist in die kleine, mittlere und grosse Stufe unterteilt: Man sieht das Sich-Abwechseln von Freude und Klarheit, man meistert das Verweilen im Samadhi, und Erfahrung erscheint ununterbrochen als Klares Licht.

"Frei-von-Einbildungen" ist die Erkenntnis, dass der Geist wurzellos ist. Sie ist in die kleine, mittlere und grosse Stufe unterteilt: Man erkennt, dass Entstehen, Vergehen und Bestehen, alle drei, leer sind, man wird frei vom Ursprung des Haftens an Erscheinung und Leerheit, man durchschneidet die eingebildeten Zweifel bezüglich aller Phänomene.

"Ein-Geschmack" ist das Vermischen der Erscheinungen mit dem Geist. Er ist in die kleine, mittlere und grosse Stufe unterteilt: Die in den zweien zusammengefassten Phänomene vermischen sich zu einem Geschmack, Erscheinung und Geist werden wie Wasser, das in Wasser fliesst,

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aus dem einen Geschmack entstehen die verschiedenen Weisheiten.

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"Nicht-Meditation" ist das Sich-Er'schöpfen aller geistigen Konzepte. Sie ist in die kleine, mittlere und grosse Stufe unterteilt: Man ist frei von Meditation und Meditierendem, die Gewohnheiten der konzepthaften Verdunkelungen werden allmählich gereinigt, Mutter- und Sohn-Klar'es-Licht verschmelzen miteinander, und die Dharmadhatu-Weisheit durchdringt den Raum.

Kurz zur Meditation:

Den Geist verweilen lassen, solange man es wünscht, und die Natur des gewöhnlichen Bewusstseins sehen, ist "Ein-spitzigkeit". Das Fehlen einer Grundlage erkennen, ist "Frei-von-Einbildungen". Alles dualistische Haften an Phänomenen durch Bewusstheit befreien, ist "Ein-Geschmack". Alle herkömmlichen Vorstellungen von Meditation und Meditierendem überwinden und das Sich-Er schöpfen der Gewohnheitsmuster wird "Nicht-Meditation" genannt.

So haben die mächtigen Yogis der Goldenen Kette der Kagyüs von Naro und Maitri bis zu dem ehrwürdigen Lama Pema Wangchen, das Königreich des Dharmakaya der Nicht-Meditation erreicht. Sie haben die Finsternis der beiden Verdunkelungen im Raum gereinigt, die grosse Kraft der zwei Arten der Weisheit ausgedehnt und den Schatz geöffnet, der den Wesen, die den Raum erfüllen, nützt.

Frei von Zweifel ruhen wir in dieser Zuflucht.

In dieser Weise stützt sich in der Kagyü-Linie einer auf den anderen.

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Sie ist nicht allein für ihre Worte berühmt, sondern für deren Bedeutung.

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Bitte führt selbst einen gewöhnlichen Rohling wie mich, der die Merkmale Eurer Linie trägt, schnell in das Reich der Nicht-Meditation. Mitfühlender, bereite meinen Konzepten ein Ende!

Zum Frucht-Mahamudra folgende Worte: Die Grundlage ist, in die innewohnenden drei Kayas eingeführt zu werden. Durch den Weg, der im Erfassen des Kernpunkts von Sichtweise und Meditation besteht, wird die Frucht der Verwirklichung der makellosen drei Kayas erlangt.

Der Natur nach Dharmakaya, leer und frei von Einbildungen, dem Ausdruck nach Sambhogakaya, von sich aus klar, der Kraft nach Nirmanakaya, mannigfach und ungehindert; dies ist es, was alles durchdringt. Es ist der Ei gen-Ausdruck des Mitgefühls, jenseits von Gedanken.

Aufgrund von Weisheit gibt es kein Verweilen in Samsara, aufgrund von Mitgefühl kein Verweilen in Nirwana, spontan wird mühelose Buddha-Aktivität vollbracht.

Die Klarheit von Grundlage und Weg, Mutter und Sohn, verschmelzen miteinander. Grundlage und Frucht umschliessen einander, Buddha wird im eigenen Geist entdeckt, die Fundgrube dessen, was notwendig und erwünscht ist, eröffnet sich von selbst. Wie wunderbar und phantastisch! Da in der Mahamudra-Sichtweise Theoretisieren nicht anwendbar ist, wirf künstliche Vorstellungen weit von dir weg. Da es in der Mahamudra-Meditation kein Festhalten an bestimmten Gedanken gibt, vermeide gekünstelte Meditation. Da es im Mahamudra-Verhalten keinen Bezugspunkt für das Handeln gibt,

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sei frei von jeglichen Vorstellungen über Handeln und Nicht-Handeln. Da es im Frucht-Mahamudra keine neue Verwirklichung zu erlangen gibt, wirf Hoffnungen, Sorgen und Wünsche weit von dir weg.

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Dies ist das Tiefgründige im Geist aller Kagyüs. Es ist der einzige Weg, den die Siegreichen und ihre Söhne beschreiten. Es ist die Methode, die den Kreislauf der Illusion von Samsara umkehrt.

Es ist der Dharma, der in einem Leben zur Buddhaschaft führt. Es ist die Quintessenz aller Sutra- und Tantra-Belehrungen.

Möge ich gemeinsam mit allen Menschen, mit allen Wesen, die den Raum erfüllen, Erkenntnis und gleichzeitig Befreiung erlangen und damit höchstes Mahamudra verwirklichen.

Um nicht das Siegel aller Lehren zu brechen, habe ich, Yönten Gyamtso Lodrö Thaye, ein Untertan von Pema, der ich nur als Vajra-Halter, als Ausdruck der vollendeten Weisheit, der Leerheit mit allen höchsten Eigenschaften, erscheine, in Künsang Dechen Ösel Ling, an der linken Seite des dritten Devikoti, Tsadra Rinchen Drag (Anm. der Übers.: Retreatstelle vom 1. Jamgön Kongtrul Rinpoche bei Palpung, Osttibet), dies gesprochen. Shubam.

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Khyentse Öser, der 2. Jamgön Kongtrul Rinpoche

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Kommentar vom 3. Jamgön Kongtrul Rinpoche

Einleitung Die indischen Mahasiddhas drückten ihre innere Erkenntnis häufig in Form von Gesängen, so genannten Dohas oder Vajra-Gesängen, aus. Die Meister der Kagyü-Überlieferung führten diese Tradition in Tibet fort. Eine sehr bekannte Sammlung solcher Gesänge ist der "Kagyü-Gur-Dzö", der "Schatz der Kagyü-Gesänge".

Buddha Shakyamuni gab zahllose Belehrungen, in denen er verschiedene Wege aufzeigte. Das Ziel all dieser Lehren ist die Erkenntnis der letztendlichen Wirklichkeit, der Natur unseres Geistes.

Unter all den von Buddha gelehrten Annäherungsweisen an diese Erkenntnis gilt Mahamudra als die hervorragendste. So haben die früheren Meister der Kagyü-Tradition - allein kraft der Methode des Mahamudra-Weges - innerhalb eines Lebens vollkommene Verwirklichung erlangt.

Sie behielten ihre Erkenntnis jedoch nicht nur für sich, sondern verliehen ihrer inneren Verwirklichung in Form von Gesängen Ausdruck. Diese Gesänge sind daher keine gewöhnlichen Lieder, die geschrieben oder komponiert werden. Sie entstehen auch nicht aus einem bestimmten Grund oder für einen bestimmten Zweck.

Das Besondere an ihnen ist, dass sie der spontane Ausdruck aller inneren Erfahrung sind. Ein solcher Gesang vermittelt die vollkommene Bedeutung von Mahamudra und allem, was damit zusammenhängt - sei es die Sichtweise, das Verhalten oder die Meditation. Es geht dabei also um die vom vollendeten Buddha dargelegten endgültigen Lehren, die Lehren über die letztendliche Wirklichkeit. Deshalb werden die Dohas auch nach dem unzerstörbaren, unveränderlichen Vajra benannt.

Die Vajra-Gesänge des Kagyü-Gur-Dzö stammen von früheren Kagyü-Meistern. Rezitieren wir sie heute, sollten wir uns dabei auf körperlicher, verbaler und geistiger Ebene ganz darauf einstellen,

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um den vollen Nutzen aus der Rezitation zu ziehen: Auf der Ebene des Körpers achten wir dabei auf die entsprechende Kleidung, z.B. darauf, die drei Dharma-Roben zu tragen, wenn wir Gelübde haben; bei unserer Rede achten wir darauf, die Melodie vollkommen richtig zu singen und die einzelnen Wörter genau auszusprechen; geistig konzentrieren wir uns auf jedes Wort und

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verinnerlichen dessen Bedeutung. Man rezitiert somit nicht einfach den Text, sondern bezieht voll Achtsamkeit die drei Ebenen von Körper, Rede und Geist in das Lesen des Vajra-Gesanges mit ein.

Vajra-Gesänge helfen dem Praktizierenden, drei Arten von Hindernissen zu überwinden: einerseits Hindernisse auf der äusseren Ebene, andererseits auf der inneren - d.h. Störungen, die mit den Kanälen, Energiewinden und Tropfen zusammenhängen -, und ebenso Hindernisse, die unsere geistige Vertiefung, unsere Meditation, beeinträchtigen. Mahamudra, der Weg der Kagyüs, wird hauptsächlich auf der Grundlage von Vertrauen und Hingabe praktiziert. Durch das Lesen von Vajra-Gesängen werden die drei Arten des Vertrauens, das Vertrauen der Überzeugung, des Strebens und das reine Vertrauen, sowie Hingabe entwickelt.

Indem wir uns die Beispiele unserer Lehrer vor Augen halten, entsteht in uns die Gewissheit, dass wir selbst ebenso wie sie den Weg praktizieren und Verwirklichung erlangen können.

Vajra-Gesänge enthalten überdies, wie bereits erwähnt, die gesamte Bedeutung aller Lehren Buddhas: die Belehrungen über Leerheit und das Entstehen in Abhängigkeit, über das kostbare Bodhicitta, die Erkenntnis der Einheit von Leerheit und Mitgefühl, über den Einen Geschmack, d.h. die Einheit von Samsara und Nirwana, über Vergänglichkeit, den ständigen Wandel aller Dinge und vieles mehr.

Gelingt es uns daher, die Bedeutung des Gesanges wirklich zu verstehen und umzusetzen, dann richten wir uns dadurch mit Körper, Rede und Geist auf den Weg des Dharma aus, gehen diesen Weg, und unendlicher Nutzen entsteht.

Die Essenz der zahllosen Lehren Buddhas ist die Erklärung über die Buddha-Natur: das Klare Licht, das dem Geist eines

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jeden Wesens innewohnt. Solange wir unsere Buddha-Natur nicht erkennen, erleben wir die Illusion von Samsara. Verwirklichen wir aber das in uns liegende Buddha-Potential, ist dies Buddhaschaft. Buddha gab alle Belehrungen als Methoden, mit deren Hilfe wir unsere Illusion überwinden und die wahre Natur des Geistes erkennen können, wobei die Mahamudra-Lehre, die als "Weg der Befreiung" bezeichnet wird, den Höhepunkt all seiner Lehren darstellt.

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Was ist unter Mahamudra zu verstehen? Mahamudra besteht grundsätzlich aus drei Aspekten, nämlich Grundlage, Weg- und Frucht-Mahamudra:

Grundlage-Mahamudra ist die Einheit der beiden Wirklichkeiten: der relativen und der letztendlichen. Es ist das Freisein von den beiden Extremen, nämlich dem Glauben an beständiges, wahres Vorhandensein und der nihilistischen Anschauung des Nicht-Vorhandenseins der Phänomene.

Weg-Mahamudra besteht in der Einheit von Methode und Weisheit. Ohne in die Extreme von Nihilismus oder den Glauben an die Beständigkeit der Erscheinungen zu verfallen, und ohne Weisheit oder Methode zu vernachlässigen, werden die beiden Arten von Ansammlung angehäuft: die Ansammlung von objektbezogenem Verdienst und die von bezugsfreier Weisheit. Der Weg besteht demnach in der Einheit dieser beiden Ansammlungen.

Frucht-Mahamudra ist das Freisein von den beiden Extremen von Samsara und Nirwana. Es beruht auf dem Grundlage-Mahamudra, d.h. der Einheit der beiden Wirklichkeiten, und dem Weg-Mahamudra, d.h. der Einheit der beiden Ansammlungen. Es ist jener Zustand, der zwischen den drei Bereichen von Samsara und der Befreiung - also Nirwana - keinen Unterschied kennt. Die Verwirklichung der Einheit von Dharmakaya und Form-Kayas ist Frucht-Mahamudra.

Mahamudra umfasst demnach die drei Aspekte: Grundlage, Weg und Frucht. Damit wird deutlich, dass es nichts gibt, was darin nicht enthalten wäre: Es umfasst alles, ausgehend von dem Zustand der Illusion über den Weg bis hin zum Erlangen der

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vollkommenen Buddhaschaft. In anderen Worten bedeutet Mahamudra die Verwirklichung der Natur des eigenen Geistes.

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Das tibetische Wort für Mahamudra ist "Chag Gya Chenpo": "Chag" bezeichnet die in jeder Hinsicht vollkommene Leerheit, "Gya Chenpo", "die grosse Weite", bezieht sich auf die alles umfassende, der Leerheit innewohnende Weisheit. Diese Bezeichnung bringt zum Ausdruck, dass die Tiefe und Weite von Mahamudra alles umfasst. Mahamudra ist der "Weg der Befreiung", der höchste aller Wege, der schnellste und tiefgründigste Weg zur Buddhaschaft.

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Der glorreiche, edle Lama Lodrö Thaye oder Karma Ngag wang Yönten Gyamtso1), der vom Siegreichen unter anderem im Samadhirajasutra vorhergesagt wurde, sang diese Vajra-Doha, als er die Erkenntnis von Mahamudra verwirklichte:

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(Fussnoten siehe Anhang II) "Das selbstentstandene, spontane Lied vom Erlangen einer bloss oberflächlichen Gewissheit in Sichtweise und Meditation der unvergleichlichen Dagpo Kagyü2)" Dorje Chang3), der grosse Strahlende, dem die acht Qualitäten4) zugeschrieben werden, wird von Gewöhnlichen wie mir in einem menschlichen Körper gesehen. "Lotus"5) genannter, segensreicher Schützer, ich bitte Dich, auch nicht für einen Augenblick von dem achtblättrigen Lotus-Palast6) meines Herzens getrennt zu sein. Obwohl ich nicht das Glück hatte, Erkenntnis und gleichzeitig Befreiung7) zu erlangen, habe ich den Segen erhalten, zumindest meine eigene Natur zu erkennen. Die Sorge um die acht Dharmass8) verringerte sich, und ich erfasste vollkommen den ruhmreichen Dharmakaya9), das Klare Licht, indem ich mein Bewusstsein mit Deinem Geist vereinte. Inmitten der Gedanken entdeckte ich Nicht-Denken, und frei von Konzepten ging die Weisheit auf. In der freudigen Einsicht, ein Liniensohn der Dagpo- Buddhas10) zu sein, bin ich von dem Wunsch erfüllt, zu sprechen. Im Westen, in Uddiyana11), der geheimen Schatzkammer der Dakinis12), öffnete der Mahasiddha Tilo13) den Schatz der drei Juwelen14).

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Im Norden, in der Einsiedelei der berauschend schönen Blumen, manifestierte der gelehrte Mahapandita Naro15)

das Zeichen der Verwirklichung, Einheit von Prana16)

und Geist. Im Süden, im Land der Heilkräuter, dem Trowo-Tal, begründete der von Hevajra ausgestrahlte Übersetzer17)

den Ursprung des Stroms aller Siddhas. Im Westen, in der verschneiten Latschi-Bergkette, verwirklichte der Lachende Vajra18), der höchste unter den Wesen, in einem Leben den Zustand der Einheit. Im Osten, im Reinen Land Dagla Gampo, verwirklichte der ehrwürdige Arzt19), der zweite Buddha, den Samadhi der zehn Stufen.

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Die Scharen der Siddhas der vier Grossen und acht Kleinen20)

verwirklichten in den Zentren von Körper, Rede und Geist die Lebenskraft von Mahamudra und konnten nicht anders, als Buddhaschaft erlangen. Begabt mit der anziehenden Kraft des Bodhicitta21) konnten sie nicht anders, als den Wesen helfen. Durch das vollkommene Erlangen des tiefgründigen Schatzes der beiden Ansammlungen22) konnten sie nicht anders, als den Sambhogakaya23) verwirklichen. Durch das umfassende Verständnis, dass mit dem Erkennen des Einen alles befreit ist, konnten sie nicht anders, als die grosse Prophezeiung24) erfüllen. Als Liniensöhne dieser reichen Väter besitzen sie von Natur aus den grossartigen Schatz früheren Karmas. Wie Kinder von Schneelöwinnen und grossen Garudas besitzen sie kraft ihrer Abstammung von Natur aus vollkommene Fähigkeiten. Als Schüler der Überlieferungslinie der Kagyü-Siddhas ist kraft des Segens ihre Meditation von Natur aus entwickelt. Stupide Meditierende dieses schlechten Zeitalters rühmen sich der vielen Jahre der Härte, sind stolz auf ihr Verharren in

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Untätigkeit und prahlen mit ertragenem Leid. Sie sind anderen gegenüber herablassend, ichbezogen, vergeuden viele Gedanken über andere und berechnen ihre Verwirklichung der Stufen und Wege25).

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Sie haben den hervorragenden Dharma nicht und tragen auch nicht den Namen eines Siddha. Doch durch die hervorragenden Kernunterweisungen der vorbildlichen Linie26) wird die Weisheit des letztendlichen Mahamudra gesehen. Grundlage-Mahamudra ist die Sichtweise, die Dinge zu verstehen wie sie sind. Weg-Mahamudra ist die Erfahrung der Meditation. Frucht-Mahamudra ist, Buddha im eigenen Geist zu erkennen. Ich selbst bin unbedeutend, mein Lama aber ist gut. Obwohl ich im schlechten Zeitalter geboren wurde, habe ich grosses Glück. Zwar besitze ich wenig Ausdauer, die Kernunterweisungen aber sind tiefgründig.

Die Doha, um die es in diesem Buch geht, wurde von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye, dem 1. Jamgön Kongtrul Rinpoche, gesungen, als er die Erkenntnis von Mahamudra erlangte.

Der erste Teil, die Lobpreisungen an Dorje Chang sowie an die Linienhalter Tilopa, Naropa, Marpa, Milarepa und Gampopa, wird im folgenden nicht näher erläutert, da die Belehrungen ganz auf das Kernthema der Doha, nämlich Mahamudra, abzielen. Dies umfasst die Erklärungen zum Grundlage-, Weg-, und Frucht-Mahamudra.

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Jamgön Kongtrul Rinpoche

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Grundlage-Mahamudra Was Grundlage-Mahamudra betrifft, so ist es in beidem: in der Wirklichkeit und der Illusion. Was bedeutet Grundlage-Mahamudra? "Wirklichkeit" bezieht sich auf die Grundlage, d.h. die Natur aller Phänomene; "Illusion" - der tibetische Begriff für "Illusion" bedeutet: "das, was nicht der Natur entspricht" - bezieht sich auf den Zustand, in dem wir uns befinden, solange wir die Natur der Phänomene nicht erkannt haben. Es gibt also diese beiden Zustände. Im "Juwelenornament der Befreiung" von Gampopa heisst es in diesem Zusammenhang, dass die grundlegende Natur aller Wesen von sich aus rein und frei von Illusion ist. Wir jedoch erkennen unsere grundlegende Natur nicht und leben deshalb im Zustand der Illusion. Die Illusion aber ist der Natur des Geistes nicht inhärent, da diese in sich rein, frei von Illusion und jeglichem Makel ist. Die Illusion besteht lediglich darin, dass wir bislang unsere eigentliche Natur nicht erkannt haben. Diese zu erkennen ist Buddhaschaft, welche somit nicht als etwas Neues erworben wird, sondern das Erkennen von etwas seit jeher Vorhandenem bedeutet. Kurz gesagt, Grundlage-Mahamudra ist in beidem enthalten, in der Wirklichkeit und in der Illusion: in der eigentlichen Natur, die frei von Illusion ist, einerseits und im Nicht-Erkennen dieser wahren Natur andererseits; dieser Aspekt zeigt sich in verschiedenen illusionären Auffassungen, beispielsweise im Glauben, Dinge seien wahrhaft existent oder überhaupt nicht vorhanden. Es gibt keine Trennung in Samsara und Nirwana. Samsara und Nirwana sind in ihrer letztendlichen Natur voneinander nicht getrennt. Dennoch sehen wir sie als

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Gegensätze: Wir erleben die Illusion von Samsara und deshalb auch die entsprechende Frucht - all unser Leid. Samsara ist für uns leidvoll und schlecht, und daher ist es für uns wichtig, uns aus Samsara zu befreien und das Leid zu überwinden.

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Auf der anderen Seite erscheint uns Nirwana, das Freisein von Illusion und Leid, als ein Zustand, der Samsara entgegengesetzt und überlegen ist, als Zustand der Befreiung, den es zu erlangen gilt. In unserer Illusion erscheinen uns Samsara und Nirwana als getrennte Zustände - Samsara als etwas Schlechtes, Nirwana dagegen als ein erstrebenswerter positiver Zustand. In letztendlicher Hinsicht, gemäss der eigentlichen Natur, gibt es diese Trennung zwischen Samsara als Illusion und Nirwana als Zustand der Befreiung von Illusion jedoch nicht. Samsara ist seiner eigentlichen Natur nach Leerheit, nur erscheint es uns, da wir die Leerheit nicht erkennen, in der Form von Samsara, in der Form von Leid. Nirwana ist das Freisein von jeglicher Illusion, von jeglichem Leid. Hierin besteht der einzige Unterschied zu Samsara, da die Natur von Nirwana - ebenso wie die von Samsara - Leerheit ist. Demnach sind in letztendlicher Hinsicht Samsara und Nirwana nicht voneinander zu trennen: beide sind von Natur aus Leerheit. Daher heisst es auch im Text: "Es gibt keine Trennung in Samsara und Nirwana", also in ein Samsara, das aufzugeben, und ein Nirwana, das zu verwirklichen wäre. Es (das Grundlage-Mahamudra) ist Freisein von den Extremen der Übertreibung und Geringschätzung. Die grundlegende Natur aller Phänomene ist frei von allen extremen Seinsweisen, wie z.B. Vorhandensein, NichtVorhandensein etc., da die letztendliche Natur der Wirklichkeit die Einheit von Leerheit und Klarheit ist. Wir aber missverstehen dies, und der klare Aspekt des Geistes erscheint uns als die gesamte Welt der relativen Erscheinungen. Da wir deren wahre Natur nicht erfassen, haben wir bestimmte Vorstellungen von der Seinsweise der Erscheinungen: Entweder

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halten wir sie für etwas Dauerhaftes, immerwährend Vorhandenes - leben also im Glauben an Beständigkeit, oder wir negieren das Erscheinen der Dinge, glauben, sie seien überhaupt nicht existent, und verfallen damit in das nihilistische Extrem.

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Solange wir die natürliche Einheit von Leerheit und Klarheit nicht verstehen, halten wir an einer dieser Auffassungen fest und können uns daher von unserer Einbildung, die Dinge seien wirklich vorhanden bzw. nicht vorhanden, es gäbe ein Ich und etwas anderes etc., nicht lösen. Die Phänomene der relativen Welt entstehen nur in Abhängigkeit. Gerade weil alle Erscheinungen durch das Entstehen in Abhängigkeit in Erscheinung treten, sind sie weder existent noch nicht-existent. Weder das Extrem des Glaubens an Beständigkeit noch jenes des Nihilismus treffen also zu. Da wir jedoch die Bedeutung von Entstehen in Abhängigkeit nicht verstehen, halten wir an extremen Anschauungen fest. Der 3. Karmapa Rangjung Dorje beschreibt dies in seinem Mahamudra-Gebet: "Alle Phänomene sind Projektionen des Geistes. Der Geist ist als Geist nicht vorhanden, er ist seinem Wesen nach leer. Er ist leer, und doch manifestiert er alles, ungehindert. Mögen wir durch genaues Untersuchen die grundlegende Wurzel finden." Wo liegt - im Zusammenhang mit dem Erscheinen der Dinge - die Illusion? Könnte es sein, dass die aussen erscheinenden Dinge die Illusion sind, die Illusion also in den Phänomenen liegt? Die in Erscheinung tretenden Dinge sind jedoch nicht die Illusion, da die Phänomene aus der Klarheit des Geistes erscheinen. Es ist das ungehinderte Spiel des Geistes, Dinge zu manifestieren. Wenn nun alle Erscheinungen aus dem Geist entstehen, könnte man annehmen, dass die Illusion in der Natur des Geistes liegt.

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Das ist jedoch auch nicht der Fall, da der Geist von Natur aus Leerheit ist.

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Während die Natur des Geistes Leerheit ist, entstehen alle Dinge völlig ungehindert und mannigfaltig. Dies ist die grundlegende Natur des Geistes, das Grundlage-Mahamudra: Unser Geist ist seiner Natur nach leer; ungehindert entstehen daraus alle Erscheinungen. Aus der ungehinderten Leerheit des Geistes kann sich die Vielfalt der Erscheinungen unbegrenzt manifestieren. Die Art und Weise, wie sich die Dinge manifestieren, ist die des Entstehens in Abhängigkeit auf relativer Ebene, das untrennbar von der Leerheit des Geistes, der letztendlichen Ebene, ist. Leerheit und Entstehen in Abhängigkeit sind damit eine Einheit, sie widersprechen einander nicht; dies ist das Freisein von extremen Seinsweisen. Die Illusion besteht somit weder in der Tatsache, dass die Dinge erscheinen, noch darin, dass der Geist sie manifestiert, sondern im Missverstehen der Leerheit und Klarheit des Geistes. Nicht aus Ursachen entstanden, durch Bedingungen nicht verändert, wird durch Illusion nichts verschlechtert und durch Erkenntnis nichts verbessert. Es ist niemals Illusion, niemals Befreiung. Die Natur des Geistes, das Grundlage-Mahamudra, ist also frei von den verschiedenen Extremen. Sie ist nicht aus Ursachen entstanden, wie dies z.B. bei äusseren Phänomenen der Fall ist, die ja aufgrund von bestimmten Ursachen in Erscheinung treten. Ebenso wird sie durch Bedingungen nicht verändert, im Gegensatz zu äusseren Dingen, die aufgrund verschiedener Einflüsse ihre Erscheinung ändern. All dies trifft auf die Natur des Geistes nicht zu. Auch Illusion oder Erkenntnis beeinflussen die Natur des Geistes nicht. Solange diese nämlich nicht erkannt wird, befindet man sich zwar im Zustand der Illusion, was jedoch nicht bedeutet, dass die

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grundlegende Natur des Geistes dadurch verwirrt oder verschlechtert wäre. Die Grundnatur ist immer die gleiche.

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Hat man sich aus der Illusion befreit und die Natur des Geistes vollkommen erkannt, so hat sich an dieser Natur selbst nichts verbessert, sie hat keine neuen, vorher nicht vorhandenen Qualitäten bekommen. Die Natur des Geistes selbst ist demnach niemals von Illusion verwirrt; daher gibt es - was die Natur des Geistes betrifft - auch keine Befreiung von Illusion. Da nirgendwo eine Essenz vorhanden ist, ist der Ausdruck ungehindert, und alles erscheint. Wie der Raum durchdringt es ganz Samsara und Nirwana. Die Natur des Geistes ist nicht von Ursachen und Bedingungen abhängig, sie besteht nicht aus irgendwelchen Substanzen, wie es bei äusseren Dingen der Fall ist. Deshalb ist der Ausdruck des Geistes ungehindert, alles kann entstehen. Obwohl die Natur des Geistes aus nichts besteht, ist sie dennoch nicht einfach ein Nichts, sondern lässt die Gesamtheit von Samsara und Nirwana entstehen. Damit ist sie die Grundlage für alles. In dem bereits erwähnten Mahamudra-Gebet von Rangjung Dorje heisst es: "Er (der Geist) ist nicht existent, denn selbst die Buddhas sehen ihn nicht. Er ist nicht nicht-existent, denn er ist die Grundlage für alles: Samsara und Nirwana" Sowohl in unserem jetzigen Zustand der Illusion des Samsara als auch im Zustand der Befreiung von dieser Illusion ist die grundlegende Natur des Geistes vollkommen. Um sich von der Illusion zu lösen, ist es notwendig, die Verdunkelungen zu

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entfernen, die die Natur des Geistes verhüllen. Der Zustand der Illusion von Samsara wird nur erlebt, weil man die Natur des Geistes nicht erkennt. Wird diese erkannt, so ist dies Befreiung von Illusion. Die Befreiung ist also nicht etwas, was neu, von aussen zu erwerben wäre, sondern liegt im Geist selbst. Deshalb ist der Geist die Grundlage für Samsara und Nirwana, für Illusion und Befreiung.

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Eigen-klare Bewusstheit und das Alaya-Bewusstsein, die Basis aller Illusion und Befreiung. Die Natur des bewussten Aspekts dieses neutralen Zustands ist Leerheit, deren Eigenschaft Klarheit. Untrennbar sind sie die Quintessenz der Bewusstheit. Derzeit halten wir aufgrund unserer Illusion an unseren Konzepten fest und sind daher unfähig, die uns innewohnende, selbsterkennende Bewusstheit, die Eigen-Klarheit des Geistes, zu erfahren, aus der alles entsteht. Was wir vielmehr erleben, ist das so genannte Alaya-Bewusstsein, jener Aspekt unseres Geistes, der allen Arten unseres derzeitigen Bewusstseins zugrunde liegt. Im Alaya-Bewusstsein werden alle Eindrücke - positive, negative und neutrale - gespeichert. Wird es aktiviert, werden aus dem Alaya-Bewusstsein diese Eindrücke wieder nach aussen projiziert. Dieses Alaya-Bewusstsein selbst ist jedoch seiner eigentlichen Natur nach nichts anderes als die selbsterkennende Bewusstheit. Aufgrund seiner Eigenschaft von Klarheit ist der Geist sich selbst nicht verborgen, er kann sich selbst erkennen und all die vielfältigen Buddha-Qualitäten und -Weisheiten entfalten. Leerheit und Klarheit des Geistes sind voneinander untrennbar - sie machen den Geist aus: die Einheit von Raum bzw. Leerheit und Weisheit bzw. Bewusstheit. Der Ausdruck "Quintessenz der Bewusstheit" bezieht sich auf eben diese Einheit von Leerheit und Klarheit.

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Raum, als Ding nicht fassbar, klarer Kristall, makellos und kostbar. Eigen-Bewusstheit und Eigen-Klarheit, wie das Licht der Butterlampe. In Worten nicht ausdrückbar, wie die Erfahrung eines Taubstummen. Unverschleierte, klare Weisheit, Klares Licht, Dharmakaya, Sugatagarbha, seit jeher rein und spontan. Niemand kann es durch Beispiele zeigen oder in Worte fassen, welche es auch sein mögen. Es ist der Raum der Phänomene, geistigen Vorstellungen unerträglich.

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Obwohl man nicht sagen kann, DAS ist der Geist, er ist dieses oder jenes, durchdringt er Samsara und Nirwana. Die Natur des Geistes, die Buddha-Natur, ist unbefleckt von Verdunkelungen; deshalb ist sie wie ein völlig reiner, klarer Kristall, durchsichtig und leuchtend. Ebenso wie eine Lampe von sich aus die Umgebung erhellt, so sind Eigen-Bewusstheit und Eigen-Klarheit unseres Geistes an sich schon die Erleuchtung, ohne dass zusätzlich etwas anderes notwendig wäre. Die Eigen-Bewusstheit und Eigen-Klarheit ist nicht in Worte fassbar. Auch die direkte Erfahrung davon kann nicht beschrieben werden - ebenso wenig, wie ein Taubstummer seine Erlebnisse in Worte kleiden könnte. Die Natur des Geistes ist unverschleierte, vollkommene Weisheit. Sie hat alle bisher beschriebenen Qualitäten und ist der Dharmakaya; das Klare Licht des Dharmakaya ist identisch mit Sugatagarbha, der Buddha-Natur. Diese ist seit jeher rein, weil sie niemals von irgendwelchen Verdunkelungen befleckt war, und spontan, da all die 64 Qualitäten eines Buddha seit jeher vollständig, von sich aus in der Buddha-Natur vorhanden sind, ohne dass sie neu zu erlangen, neu zu erwerben wären. Diese Buddha-Natur kann jedoch weder durch Beispiele noch durch Begriffe beschrieben werden. Buddha selbst sagte, dass

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alles, was mit Prajnaparamita - dem höchsten Wissen - zu tun hat, weder mit Gedanken erfasst noch mit Worten bezeichnet oder mit Begriffen erklärt werden kann, da es jenseits von begrifflichem Denken liegt.

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Die Buddha-Natur kann durch Nachdenken, Spekulieren, durch intellektuelle Annäherung nicht verstanden werden. Es ist unmöglich, durch Beispiele, Begriffe, Gedanken oder eigene Vorstellungen zu einem wirklichen Verständnis der wahren Natur des Geistes zu gelangen. Andere Dinge sind auf diese Weise verständlich, der Dharmadhatu aber ist dem Intellekt "unerträglich", da er jenseits davon liegt. Einsicht in die Buddha-Natur kann nur durch innere Erfahrung in Meditation entstehen. Hat man sich anfangs hierin Gewissheit verschafft, sollte man alle Zweifel abschneiden. Wie geht man nun vor, um die Buddha-Natur, den Dharmadhatu, der jenseits von Worten, Begriffen oder eigenen Vorstellungen liegt, zu erkennen? Zuerst muss man sich, indem man Belehrungen erhält, der richtigen Sichtweise gewiss werden: Alle Phänomene sind nicht wahrhaft existent; auf relativer Ebene tritt alles nur in gegenseitiger Abhängigkeit in Erscheinung; obwohl wir in unserer Illusion die Dinge für wirklich halten, sind sie letztendlich nicht vorhanden; diese beiden Arten von Wirklichkeit sind nicht voneinander zu trennen und stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern bilden eine Einheit. Hat man die verschiedenen Aspekte dieser richtigen Sichtweise verstanden und ist man sich somit über die Einheit der zwei Ebenen der Wirklichkeit im klaren, dann verfällt man nicht in die extremen Anschauungen von Sein bzw. Nichtsein und kann sich auf dieser Basis in Meditation üben. Wer mit Sichtweise Meditation übt, ist wie ein Garuda, der sich erhaben durch den Raum schwingt, ohne

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Furcht und Sorge. Wer ohne Sichtweise meditiert, ist wie ein Blinder, der in einer Ebene umherirrt, ohne Sicherheit darin, ob der Weg richtig ist oder nicht. Wer aber nur die Sichtweise besitzt, ohne meditieren zu können, gleicht einem Reichen, den sein Geiz fesselt: Er gibt weder sich noch anderen die benötigte Frucht. Beides miteinander zu verbinden ist die edle Tradition.

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Buddha lehrte auf sehr unterschiedlichen Ebenen, jeweils der Auffassungsgabe seiner Schüler entsprechend. So gibt es Lehren, die die eigentliche Bedeutung direkt vermitteln, und andere, die der Interpretation, d.h. weiterer Erläuterung bedürfen. In diesem Zusammenhang stehen auch die unterschiedlichen Erklärungen zur relativen und letztendlichen Wirklichkeit. Hat man die Sichtweise nicht oder nur vage verstanden, dann weiss man nicht, welche Lehren direkt zu verstehen sind und welche weiterer Interpretation bedürfen. Man neigt dazu, diese beiden Erklärungsweisen als widersprüchlich zu empfinden, man kennt die Einheit der beiden Wirklichkeiten nicht und läuft Gefahr, aufgrund von mangelndem theoretischen Wissen verwirrt zu werden. Es kommen z.B. Gedanken auf wie: An der einen Stelle steht, die Dinge sind existent. An einer anderen Stelle heisst es, sie sind nicht existent - das widerspricht sich... In all seinen Lehren hat Buddha Shakyamuni immer die beiden Ebenen der Wirklichkeit gelehrt. Dabei legte er manchmal den Schwerpunkt auf die relative Wirklichkeit, bei anderen Gelegenheiten auf die letztendliche. Es geht jedoch immer um das Verstehen der Einheit von relativer und letztendlicher Wirklichkeit. Fehlt dieses Verständnis, wird alles sehr schwierig und kompliziert: Betrachtet man nämlich die relative Wirklichkeit der Phänomene, dann bezieht man die letztendliche nicht ein; bezieht man sich auf die letztendliche Wirklichkeit, vergisst man die relative.

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Versteht man jedoch die Einheit der zwei Ebenen der Wirklichkeit, treten diese Schwierigkeiten nicht auf. Besonders für Mahamudra- bzw. Vajrayana-Praktizierende ist das richtige Verständnis der Einheit von relativer und letztendlicher Wirklichkeit überaus wichtig.

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In der Madhyamaka-Philosophie geht es um das Verstehen der Leerheit, der Tatsache, dass alle Phänomene frei von jeglichen extremen Seinsweisen sind. Die verschiedenen Madhyamaka-Schulen, wie z.B. die Rang-Tong- und die Shen-Tong-Schule, erklären die Leerheit auf unterschiedliche Weise. Ihre Aussagen widersprechen einander nicht, sie lehren nicht jeweils etwas anderes, sondern setzen nur beim Erklären der Leerheit verschiedene Schwerpunkte. So wird z.B. im Rangtong-Madhyamaka in erster Linie betont, dass alle Phänomene von Natur aus leer sind; der Schwerpunkt liegt also auf dem Aspekt der Leerheit als solcher. Die Shentong-Madhyamaka-Schule erklärt, dass unser Geist die Buddha-Natur enthält, und dass diese Buddha-Natur von den Schleiern zu reinigen ist, die sie verdunkeln. Diese Schule betont also in ihren Belehrungen den Aspekt der Klarheit. Versteht man beide Darlegungsweisen, kommt man zu der Erkenntnis der Einheit von Leerheit und Klarheit - und genau dieses Verständnis ist für die Mahamudra-Meditation unerlässlich. Nur mit der Gewissheit der richtigen Sichtweise kann man die verschiedenen Meditationen richtig anwenden und ohne Hindernisse praktizieren. Deshalb heisst es, dass jemand, der zuerst Gewissheit in der Sichtweise erlangt hat und mit der richtigen Anschauung Meditation übt, einem Garuda gleicht. Er kann, wenn z.B. in der Meditation verschiedene Erfahrungen auftreten, mit diesen umgehen, ohne gestört zu werden. Versucht man hingegen, mit einem ungenauen Verständnis zu meditieren, so stolpert man über diese Unklarheiten; man wird auf dem Weg nie sicher sein, ob man Fehler macht oder nicht. Diese Orientierungslosigkeit gleicht jener eines Blinden, der in einer Ebene umherirrt.

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Die richtige Sichtweise ist also sehr wichtig. Dennoch reicht sie allein nicht aus, da nur durch Meditation die innere Erfahrung entsteht. Anschauung ohne Meditation bringt weder uns selbst noch anderen einen Nutzen - man ist wie ein Reicher, der von seinem Geiz gefesselt ist.

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Die edle Tradition ist daher, die richtige Sichtweise mit der Einsicht, die durch Meditation entsteht, zu verbinden. Der Aspekt der Unwissenheit dieses neutralen Zustands besteht darin, aus fünf Gründen die eigene Natur nicht zu erkennen. Obwohl die grundlegende Klare-Licht-Natur des Geistes, die Buddha-Natur, frei von Illusion ist, erkennen wir sie nicht und befinden uns daher im Zustand der Illusion. Warum aber erkennen wir sie nicht? Aufgrund von fünf Faktoren: Erstens weil wir nicht verstehen, dass die Buddha-Natur dem Geist eines jeden Wesens innewohnt. Die Buddha-Natur ist bei allen Wesen gleich; sie durchdringt alle Wesen gleichermassen, ohne qualitative oder quantitative Unterschiede. Dies nicht zu erkennen, ist der erste Grund für die Unwissenheit. Der zweite Grund liegt in unserer dualistischen Auffassung von Samsara und Nirwana als zwei voneinander verschiedene Zustände. Wir halten fälschlicherweise die Buddhaschaft für etwas von uns selbst Getrenntes und glauben daher, sie ausserhalb von uns suchen zu müssen. Der dritte Grund ist, dass wir an dem Konzept festhalten, der Weg zur Buddhaschaft sei weit, lang und beschwerlich, obwohl es nur darum geht, die Natur des Geistes zu erkennen, welche in einem Augenblick erkannt werden kann. Dafür ist kein weiter Weg notwendig. Dies wird oft mit dem Auge und den Wimpern verglichen: Die Wimpern befinden sich unmittelbar am Auge - und dennoch sieht man selbst seine Wimpern nicht. Die Buddha-Natur ist die wahre Natur unseres eigenen Geistes, aber wir sind uns dessen nicht bewusst. Obwohl Buddhaschaft nichts anderes als das Erkennen der Natur unseres Geistes ist, sind wir derzeit

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aufgrund unserer ständigen Zerstreutheit zu dieser Erkenntnis nicht fähig.

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Der vierte Grund besteht darin, dass wir nicht erkennen, dass unsere Erlebniswelt nur aufgrund der in unserem Geist gespeicherten Eindrücke entsteht und wir infolgedessen zwischen Subjekt und Objekt trennen. Wegen der Eindrücke, die in unserem Alaya-Bewusstsein gespeichert sind, erleben wir alles, was wir erfahren, als Objekt und uns selbst, als denjenigen, der es erfährt, als Subjekt. Dabei verstehen wir nicht, dass diese Trennung nur aufgrund der in unserem Geist gespeicherten Gewohnheitstendenzen entsteht. Wir glauben fest an unsere Erlebniswelt, reagieren auf sie und setzen erneut positive und negative Handlungen, die wiederum Tendenzen schaffen. Der fünfte Grund ist, nicht zu verstehen, dass in unserem Geist - in der Buddha-Natur - alle Buddha-Qualitäten seit jeher enthalten sind. Die Buddha-Qualitäten des Dharmakaya und der Form-Kayas sind unserem Geistkontinuum inhärent. Wir jedoch leben in der Auffassung, dass wir uns erst von unseren Fehlern reinigen und dann Qualitäten erwerben müssten, um Buddhaschaft zu verwirklichen. Diese fünf Faktoren halten uns vom Erkennen der Natur unseres Geistes, der Buddha-Natur, ab und bewirken unsere Illusion, den Daseinskreislauf. Aus dem Ozean der von sich aus vorhandenen Unwissenheit bewegen sich die illusorischen Wogen des Haftens am Ich. Bewusstheit wird zum Ich, Eigen-Ausdruck (des Geistes) zu Objekten; die Gewohnheitsmuster von Subjekt und Objekt festigen sich. Dadurch wird Karma angesammelt und kommt zur völligen Reife. Der Kreis des Wasserrads von Samsara dreht sich, aber selbst im Drehen ist seine Natur makellos; selbst in seiner Erscheinung entbehrt es jeglicher Wirklichkeit.

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Obwohl die Natur des Geistes, die Grundlage, völlig rein ist, erkennen wir dieses Klare Licht nicht. Den eigenen Geist nicht zu erkennen, wird als Unwissenheit bezeichnet. Aus Unwissenheit entsteht das Haften an einem Ich. Dabei wird die Eigen-Bewusstheit - die Natur des Geistes - als ein

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Ich verkannt, mit dem man sich identifiziert. Dies bewirkt gleichzeitig, dass die Klarheit des Geistes - seine Ausdrucksfähigkeit - als etwas von dieser Identität Getrenntes erlebt wird, d.h. als äusseres Objekt. Dieses dualistische Auffassen prägt unsere Handlungen, und dadurch wird Karma auf vielfältige Weise angesammelt. Die angesammelten Eindrücke und das angesammelte Karma kommen zur Reife. Dieser fortlaufende Prozess des Zur-Reife-Kommens von Karma ist Samsara, in dem man unaufhörlich kreist. Dies wird im Text als das sich ständig drehende "Wasserrad" von Samsara bezeichnet. Etwas genauer könnte man diesen unaufhörlichen Ablauf folgendermassen beschreiben: Das Alaya-Bewusstsein ist die Grundlage für diesen gesamten Prozess: Da der Geist seine wahre Natur nicht versteht, kommen geistige Regungen auf, die Gewohnheitstendenzen verursachen. Diese bewirken das Aufkommen störender Emotionen und Konzepte, welche erneut Tendenzen im Alaya-Bewusstsein schaffen. Der Aspekt unseres Geistes, der die Eindrücke in das Alaya-Bewusstsein setzt, wird als die "Geisteskraft" bezeichnet. Jener Aspekt des Geistes, der die Illusion, das Konzept von "Ich" und "Ich bin" erlebt, ist der so genannte "Getrübte Geist"; er beruht auf dem Alaya-Bewusstsein. Diese drei Aspekte: das Alaya-Bewusstsein, in dem sich die Eindrücke sammeln, der Getrübte Geist, das Konzept von einem Ich, und die Geisteskraft, die die Tendenzen in den Geist setzt, Konzepte schafft und Gewohnheiten entwickelt, bewirken unser Erleben von Samsara. Dazu ein Beispiel: Unser Sehbewusstsein sieht eine bestimmte Form. Nach der Wahrnehmung entsteht eine Wertung - gut, schlecht oder neutral. Das Sehbewusstsein kann lediglich die

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äussere Form als solche erfassen, die Wertung "das ist eine Form, das ist gut ..." wird erst vom Geistbewusstsein getroffen. Indem das Geistbewusstsein die Wahrnehmung bewertet, entsteht ein geistiger Eindruck dieser Wertung, den die Geisteskraft als Tendenz in das Alaya-Bewusstsein setzt. Im Alaya-Bewusstsein festigt sich damit erneut ein Eindruck, und das Haften am Ich - der Getrübte Geist - wird wieder verstärkt. Um es noch einmal zusammenzufassen: Grundlage für unsere Illusion ist die Geisteskraft und das

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Alaya-Bewusstsein. Die Eindrücke, die die Geisteskraft in das Alaya-Bewusstsein setzt, aktivieren dieses. Dadurch unterscheiden wir zwischen den äusseren Sinnesobjekten, den inneren Sinnesbewusstseinsarten und dem Geistbewusstsein, und dies verfestigt wiederum die Konzepte des Haftens an Dualität. Man kann diesen Prozess auch anhand der Skandhas erklären: Das Skandha des Bewusstseins besteht darin, dass die Eindrücke des Alaya-Bewusstseins aktiviert werden, und wir infolgedessen die sechs Arten von Bewusstsein erleben. Das Skandha des Gefühls und der Unterscheidung besteht darin, dass wir an den Sinnesobjekten haften, und dass durch diese Wahrnehmung die verschiedenen Gefühle von Freude, Abneigung und Gleichgültigkeit entstehen. Das Skandha der gestaltenden Faktoren besteht darin, dass wir auf unsere Gefühle reagieren: Wir greifen nach Angenehmem, lehnen Unangenehmes ab etc. Die Anhaftung wird immer stärker, woraus sich automatisch das Skandha der Form entwickelt, d.h. dass man zwischen sich selbst und Äusserem unterscheidet. Dieses Äussere wiederum wird von den sechs Arten von Bewusstsein wahrgenommen, und somit schliesst sich das eine an das andere; dies ist der Kreislauf von Samsara. Samsara aber dreht sich nur deshalb, weil Eindrücke, die sich im Geist gesammelt haben, wieder nach aussen proji-ziert werden, wobei das Alaya-Bewusstsein von der Geisteskraft aktiviert wird. Die Illusion besteht in dem Glauben, dass die auf relativer Ebene erscheinenden Phänomene, die aufgrund des ungehinderten

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Ausdrucks des Geistes entstehen, wirklich seien. Auf letztendlicher Ebene aber - in der wahren Natur aller Erscheinungen - gibt es keine Illusion. Die Natur der Erscheinungen ist Leerheit - sie sind ihrer Natur nach nicht wahrhaft existent. Obwohl sie in Erscheinung treten, sind sie von Natur aus leer.

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Man könnte nun annehmen, dass die Phänomene lediglich beim Nicht-Erscheinen leer, beim Erscheinen jedoch nicht leer seien. Dies trifft jedoch nicht zu: Während sie erscheinen, sind sie ihrem Wesen nach leer, und weil sie leer sind, treten sie mannigfach und ungehindert in Erscheinung. Blosses Erscheinen ist bereits das Strahlen der drei Kayas. In allen relativen Phänomenen sind die drei Kayas von Natur aus spontan gegenwärtig, weil die Natur der Dinge leer ist und sie aufgrund ihrer Leerheit klar und ungehindert erscheinen: Die Natur der Phänomene ist Leerheit, ihre Eigenschaft Klarheit, und ihr Ausdruck Ungehindertheit. Alle Erscheinungen sind ein Ausdruck des Geistes. Da wir aber die Natur des Geistes - seine Leerheit - nicht verstehen, erfahren wir deren Illusionsaspekt, das Alaya-Bewusstsein. Da wir die Eigenschaft des Geistes - seine Klarheit - nicht erkennen, erleben wir deren Illusionsaspekt, den Getrübten Geist. Weil wir den Ausdruck des Geistes - das völlige Ungehindertsein - nicht erkennen, erleben wir dessen Illusionsaspekt, unsere verschiedenen Arten von Sinnesbewusstsein. Der Unterschied liegt also nur im Erkennen bzw. Nicht-Erkennen: Aufgrund des Nicht-Erkennens erleben wir das Alaya-Bewusstsein, den Getrübten Geist, die Sinnesbewusstseinsarten - eigentlich aber sind sie die drei Kayas, die in ihrer Natur leer, in ihrer Eigenschaft klar und in ihrem Ausdruck ungehindert sind. Aus diesem Grund sind die drei Kayas in allem spontan vorhanden.

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Nicht-Entstanden ist die Natur des Entstandenen, dieses Nicht-Entstandene ist endlos. Zwischen diesen beiden, die nicht zwei sind, gibt es kein Bestehen.

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Für uns scheint es, als würden die Phänomene entstehen. Was uns jedoch als Entstehen erscheint, ist nicht wirklich Entstehen, sondern tritt lediglich auf relativer Ebene in Abhängigkeit von gewissen Umständen und Bedingungen in Erscheinung. In letztendlicher Hinsicht, der wahren Natur nach, sind die Phänomene nicht entstanden; gleichzeitig ist ihre Erscheinungsweise, ihre Kontinuität jedoch ungehindert, da sie auf relativer Ebene ständig und in mannigfacher Form erscheinen. Zwischen diesen beiden - d.h. zwischen relativem Entstehen und letztendlichem Nicht-Entstehen - gibt es kein Bestehen. Die eigentliche Natur, das Klare Licht des Geistes, ist frei von Entstehen, Bestehen und Vergehen. Aus dem schwer zu beschreibenden Geist erscheinen die mannigfachen Wunder von Samsara und Nirwana. Sie als in sich selbst befreit zu erkennen, ist die höchste Sichtweise. Wird dies erkannt, ist alles Soheit. Gibt es weder Abwehren noch Erlangen, ist dies die ursprüngliche Natur. Geht man jenseits des konzepthaften Geistes, ist man am Ziel. Was ist frei von Entstehen, Bestehen und Vergehen? Es ist die Natur des Geistes. Solange jedoch die Natur des Geistes nicht erkannt wurde, wird Samsara erlebt. Durch Erkenntnis erfährt man Nirwana. So erscheinen die Phänomene entsprechend der Erkenntnis. Nirwana wird nicht erlangt, indem man Samsara überwindet oder störenden Gefühlen ein Ende bereitet, um dann etwas anderes zu

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erlangen. Vielmehr geht es darum, auf die eigentliche Natur der störenden Gefühle zu blicken und damit das störende Gefühl "in sich selbst zu befreien", d.h. seine Natur zu erkennen. Besitzt man diese höchste Sichtweise, hat man die Wirklichkeit, die Seinsweise aller Phänomene, verstanden.

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Wurde dieses Verständnis erlangt, und - frei von dem Streben, Samsara aufzugeben, um Nirwana zu erlangen - die grundlegende Natur aller Phänomene vollkommen erkannt, dann wird alles zur letztendlichen Wirklichkeit. Der konzepthafte Geist, das Werten in gut und schlecht etc. löst sich auf, und das Ziel, die Verwirklichung der letztendlichen Sichtweise, ist erreicht. Kurz gesagt: Es ist die Natur aller Phänomene, keine wahrhafte Existenz zu haben. Sie sind von Natur aus die drei Kayas: Frei von Entstehen sind sie der Dharmakaya; ihr ungehindertes In-Erscheinung-Treten ist der Sambhoga-kaya, und ihr mannigfaches Entstehen der Nirmanakaya. Diese drei Kayas sind nicht voneinander abgegrenzt; sie sind zusammen die Natur aller Phänomene. Dies wird hier mit dem Begriff "Ursprüngliche Natur" zum Ausdruck gebracht. Versteht man, dass die Natur aller Phänomene die drei Kayas sind, ruht man durch diese Erkenntnis - ohne etwas aufzugeben bzw. etwas zu erlangen - in der grundlegenden, spontanen Natur. Diese Sichtweise ist die letztendliche Sichtweise, das Grundlage-Mahamudra. Abschliessend eine kurze Zusammenfassung von Grundlage-Mahamudra: Die grundlegende wahre Natur ist die Buddha-Natur; sie ist jenseits von Extremen wie wahrem Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein; sie ist seit jeher völlig rein, von Natur aus nicht verschleiert und wird durch Erkenntnis nicht neu befreit. Sie ist kein Gegenstand, kein Ding, das irgendwelche Merkmale aufweisen würde, und es gibt nichts, was von dieser Natur nicht durchdrungen wäre. Die gesamte äussere Welt, die Phänomene,

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unsere Erfahrungen - alles ist von der wahren Natur durchdrungen, so wie der Raum alles durchdringt.

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Auf relativer Ebene erscheinen Samsara und Nirwana als voneinander getrennt. In der letztendlichen Seinsweise sind sie jedoch nicht zwei. Das ist die wahre Natur des Geistes, die Buddha-Natur, die letztendliche Wirklichkeit, das letztendliche Bodhicitta. Dies sind nur verschiedene Begriffe für das Grundlage-Mahamudra, die grundlegende Natur aller Phänomene.

Damit schliesst jener Teil des Gesanges, der sich auf das Grundlage-Mahamudra bezieht, d.h. darauf, wie die grundlegende Natur beschaffen ist, und welche Anschauung diesbezüglich die richtige ist.

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Jamgön Kongtrul Rinpoche

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Weg-Mahamudra Was das Weg-Mahamudra betrifft: Weg-Mahamudra ist das Praktizieren der Mahamudra-Sicht-weise, das Erleben dieser Sichtweise durch Meditation. In unserer Kagyü-Schule wird grundsätzlich in zwei Arten von Mahamudra unterschieden, in das Sutra- und das Tantra-Mahamudra. Beim Sutra-Mahamudra geht es in erster Linie um das Verständnis der Leerheit, d.h. darum, zu begreifen, dass die Phänomene keine wahrhafte Existenz aufweisen. Durch diese Einsicht löst man sich von allen Einbildungen bezüglich der Seinsweise der Dinge und man ruht frei von Vorstellungen und Einbildungen in der Natur des Geistes. Dies ist das Sutra-Mahamudra, das Freisein von Einbildungen, von geistigem Erschaffen. Tantra-Mahamudra ist Bestandteil des Vajrayana. Bei jeder Vajrayana-Praxis erhält der Praktizierende zuerst die Einweihung in den entsprechenden Yidam-Aspekt. Diese Einweihung besteht grundsätzlich aus vier Teilen, wobei eine davon die Einführung in das Tantra-Mahamudra ist, die Weisheit der Einheit von Grosser Freude und Leerheit. Unabhängig davon, welche Art von Mahamudra praktiziert wird, ob Sutra- oder Tantra-Mahamudra, ob Meditation mit oder ohne Vorstellungen, besteht Mahamudra darin, in der Natur des Geistes, dem Zustand des Klaren Lichtes, zu verweilen. Weg-Mahamudra ist das Praktizieren, das Üben auf dem Weg. Unsere unvergleichliche Dagpo-Kagyü-Tradition besteht dabei aus zwei Überlieferungen, da Gampopa die Lehren der Kadampa-Schule von Atisha mit jenen der Mahamudra-Linie vereinte. Der Weg umfasst diese beiden Überlieferungen. Um die Mahamudra-Meditation richtig entwickeln zu können, beginnt man damit, sich gemäss den Lehren der Kadampa-Schule die vier Gedanken zu vergegenwärtigen, durch die wir uns

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innerlich von Samsara abwenden. Dies sind die so genannten vier allgemeinen Vorbereitungen.

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Darauf folgen dann die vier besonderen Vorbereitungen. Davon besteht die erste aus zwei Teilen: einerseits der Zufluchtnahme zu den drei Juwelen und den drei Wurzeln und andererseits dem Entwickeln von Bodhicitta, d.h. dem Wunsch, alle Wesen zur Buddhaschaft zu führen. Beides bewirkt das Ansammeln von Verdienst. Durch die zweite Übung, die Meditation auf Dorje Sempa und die Rezitation des 100-silbigen Mantra, werden Verdunkelungen gereinigt. Die Mandala-Opferung - die dritte dieser Übungen -dient dem Aufbau der beiden Arten von Ansammlung, der objektbezogenen Ansammlung von Verdienst und der bezugsfreien Ansammlung von Weisheit. Schliesslich erhält man durch den Guru Yoga, die vierte Übung, die Inspiration von Körper, Rede und Geist des Lama und wird eins mit ihm. Der Mahamudra-Weg beginnt also mit dem stufenweisen Praktizieren der vier allgemeinen und der vier besonderen Vorbereitungen. Dann kommt man an den Punkt, wo Weg-Mahamudra wirklich praktiziert werden kann. Es geht beim Mahamudra-Weg nicht nur darum, sich ein bestimmtes Wissen anzueignen und sich mit Lehrinhalten theoretisch auseinanderzusetzen, sondern darum, im eigenen Geist die Meditation zu entwickeln. Es ist dafür unbedingt notwendig, durch die vorbereitenden Übungen Verdienst angesammelt und sich von Verdunkelungen gereinigt zu haben. Deswegen wird von allen Meistern der Kagyü-Linie immer wieder betont, wie wichtig das Ngöndro ist. Durch diese vorbereitenden Übungen können wir uns innerlich dem Dharma zuwenden und den Weg des Dharma gehen, wie es in den Vier Dharmas von Gampopa heisst. Geist und die Welt der Erscheinungen sind Mahamudra: dem Geist inhärent ist der Dharmakaya, den Erscheinungen inhärent ist das Dharmakaya-Licht.

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Weg-Mahamudra beginnt mit einer Einführung in die Erkenntnis, dass der eigene Geist der Dharmakaya ist, dass alle äusseren Phänomene - die Welt der Erscheinungen - ein Ausdruck unseres Geistes, bzw. das Licht des Dharmakaya sind, und dass der eigene Geist und die Welt der Erscheinungen nicht voneinander verschieden sind.

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In einem Tantra heisst es: "Dem Geist inhärent ist der Dharmakaya, den Erscheinungen inhärent ist das Dharmakaya-Licht. Inhärente Natur von Geist und Erscheinung sind untrennbar." "Dem Geist inhärent..." bezieht sich auf die nicht wahrhaft existente Natur des Geistes, seine Leerheit, den Dharmakaya. "Den Erscheinungen inhärent..." bezieht sich auf das Ungehindertsein des Geistes, dessen Ausdruck die gesamte Welt der vielfältigen Phänomene ist. Die Phänomene sind also der Eigen-Ausdruck, die Eigenmanifestation des Dharmakaya. "Inhärente Natur von Geist und Erscheinung sind untrennbar" bedeutet, dass der Geist und der Ausdruck seines Ungehindertseins - die Erscheinungen - nicht voneinander verschieden, sondern eine Einheit sind. Dies ist die dreifache Einführung in Mahamudra. Die Meditation, die man auf der Grundlage dieses Verständnisses praktiziert, ist zunächst die Meditation der Geistesruhe, durch die man sich der Seinsweise des Geistes erst einmal bewusst wird. Unser Geist ist derjenige, der einerseits alle äusseren Phänomene, all unsere Freuden und Probleme, Samsara und Nirwana erlebt, andererseits die Gesamtheit von Samsara und Nirwana hervorbringt. Daher untersuchen wir in unserer Meditation zunächst die Natur des Geistes: Ist der Geist ein blosses Nichts? Das kann nicht der Fall sein, da unser Geist schliesslich derjenige ist, der alles erlebt und hervorbringt. Ist der Geist also vorhanden? In diesem Fall müsste er irgendwo und irgendwann entstanden sein. Ist etwas einmal entstanden, dann gibt es auch einen Zeitpunkt des Vergehens und die

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dazwischenliegende Phase des Bestehens. Untersuchen wir aber die Natur unseres Geistes, dann stellen wir fest, dass wir die drei Phasen des Entstehens, Bestehens und Vergehens nicht finden, da der Geist von ihnen frei ist. Dieses Freisein von Entstehen, Bestehen und Vergehen ist der Dharmakaya, das nicht wahrhafte Vorhandensein des Geistes. Man versteht damit, dass der Geist nicht wahrhaft existent ist. Dies ist die Einsicht in die dem Geist innewohnende Dharmakaya-Natur.

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Der Geist ist nicht wahrhaft existent. Woraus aber entsteht die gesamte Welt der äusseren Erscheinungen? Sie sind der Eigen-Ausdruck des Geistes und erscheinen aus seiner Klarheit und seinem Ungehindertsein. All die vielfältigen Erscheinungen sind nur ein Ausdruck des Geistes und nichts anderes als der Geist. Man kann dies mit der Sonne und deren Strahlen vergleichen. Die Sonnenstrahlen, die Phänomene, sind von der Sonne, dem Geist, nicht verschieden, obwohl sie als etwas anderes erscheinen. Ebenso ist die gesamte relative Erscheinungswelt ein vom Geist selbst nicht trennbarer Ausdruck desselben; auf relativer Ebene sind die Phänomene vorhanden, nicht aber in letztendlicher Hinsicht. Sie sind wie das Licht oder der Ausdruck unseres Geistes, des Dharmakaya. Treffen der Segen des glorreichen Lama und das eigene Karma zusammen, erkennt man die eigene Natur wie einen alten Bekannten. Wie gelangen wir nun zur Erkenntnis der Natur unseres Geistes? Diese Erkenntnis können wir nicht erzwingen. Im Dorje Chang-Gebet heisst es, Vertrauen und Hingabe seien der Kopf der Meditation. Für das Erkennen des Geistes brauchen wir die Inspiration unseres Lama, die wir nur dann erfahren, wenn wir Vertrauen und Hingabe zu ihm haben. Dies ist "der Kopf der Meditation". Ohne Vertrauen und Hingabe zum Lehrer können wir dessen Segen und den der gesamten Überlieferungslinie nicht erhalten - und ohne diese Inspiration können wir die Natur unseres Geistes nicht vollkommen erkennen. Erkennen wir diese

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nicht, verstehen wir auch nicht, dass die Natur des Geistes der Dharmakaya ist, und dass alle Erscheinungen ein Ausdruck des Geistes, das Licht des Dharmakaya, sind.

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Nur indem Hingabe zum Lehrer entwickelt wird, trifft seine Inspiration auf unseren Geist, und das früher angesammelte eigene positive Karma kommt zur Reife. Auf dieser Basis ist man fähig, den eigenen Geist und die Natur der Phänomene direkt zu erkennen - so als würde man einem alten Bekannten wiederbegegnen. Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye zeigt hier in seinem Gesang, wie wir in die Natur des Geistes eingeführt werden, und von welchen Faktoren es abhängt, ob wir fähig sind, diese zu erkennen. Dabei spielen sehr persönliche Faktoren eine Rolle. Einerseits hängt es davon ab, welche Beziehung wir zu dem Lehrer haben, der uns in Mahamudra einführt, wie lange - wie viele Kaipas - diese Verbindung bereits besteht. Ein weiterer Faktor ist unser Vertrauen und unsere Hingabe zum Lehrer. Nur mit den richtigen Voraussetzungen werden wir, wenn wir von unserem Lama in die Natur des Geistes eingeführt werden, den Geist auch tatsächlich erkennen. Ansonsten kann man viele Lamas treffen, von ihnen Einführungen in die Natur des Geistes erhalten und zahlreiche Meditationen praktizieren - und dennoch die Natur des Geistes nicht erfahren. Vielen Praktizierenden geht es tatsächlich so. Die Erfahrung der Meditation hängt also einerseits von der Meditation als solcher ab, andererseits davon, ob wir Vertrauen und tiefe Hingabe entwickeln können, und schliesslich davon, ob wir eine aus früheren Leben stammende entsprechende karmische Verbindung mit dem Lehrer haben. Aus diesem Grund hat der Wurzel-Lama eine unendlich grosse Bedeutung für uns, denn allein durch seine Erklärungen gewinnen wir Einsicht in die Natur unseres Geistes. Lange Erklärungen bringen zwar nicht viel, Anfänger brauchen jedoch einiges:

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Fehlen die oben erwähnten Faktoren, d.h. einerseits unser Vertrauen und unsere Hingabe, und damit die Inspiration des Lehrers, und andererseits unsere karmische Verbindung mit ihm, haben auch noch so viele Erklärungen über die Natur des Geistes keinen Nutzen, denn wir werden dadurch nicht fähig, sie zu erkennen.

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Das soll jedoch nicht heissen, dass man einfach abwartet - ohne Erklärungen -, bis irgendwann einmal die richtige Verbindung zum Lehrer gegeben sein könnte... So ist es nicht gemeint! Vielmehr ist es für Anfänger zunächst sehr wichtig, sich die richtige Anschauung bezüglich der Natur der Dinge anzueignen. Dies geschieht, indem man Belehrungen empfängt und so die Einsicht des Zuhörens erlangt, dann über das Gelernte nachdenkt, und mit der Einsicht des Nachdenkens alle extremen Anschauungen überwindet. Ebenso ist es wichtig, das Ngöndro zu praktizieren, um Verdunkelungen zu reinigen und Verdienst anzusammeln. Insbesondere aber bezieht sich der Ausdruck "Anfänger brauchen jedoch einiges" auf die innere Abkehr von Samsara, die als Grundlage für das Entwickeln echter Meditation unerlässlich ist. So heisst es im Dorje Chang-Gebet, die Abkehr von Samsara sei "der Fuss der Meditation", denn ohne diese innere Abkehr fehlt der Meditation die Grundlage. Oft besteht das Missverständnis, dass mit Abkehr von Samsara gemeint sei, alles aufzugeben. Tatsächlich bedeutet es jedoch, die Gewissheit zu entwickeln, dass die bedingte Welt, Samsara, ohne wirklichen Wert ist. Es ist das Verständnis, dass all das, was uns als Freude erscheint, nichts anderes als Leid ist, dass alles vergänglich ist, sich in ständiger Veränderung befindet. Nur mit der Gewissheit, dass Samsara ohne wirklichen Wert ist, kann man sich dem Dharma ganz zuwenden. Ohne diese Einsicht ist dies nicht möglich, denn es fehlt dann die Grundlage für echte Meditationserfahrung; diese stellt sich nämlich nicht ein, solange der Geist von äusseren Dingen abgelenkt ist, und Ablenkung kann man nur durch innere Abkehr von Samsara überwinden.

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Man sollte damit aufhören, Gedanken über Vergangenes und Zukünftiges willkommen zu heissen oder zu verdrängen.

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Bei Mahamudra geht es um das gewöhnliche Bewusstsein, um den jetzigen Bewusstseinsmoment, darum, im gegenwärtigen Bewusstseinsaugenblick zu ruhen, diesen zu erleben. Weder sollte man über Vergangenes nachdenken noch Pläne für die Zukunft schmieden. Man lässt den Geist natürlich und spontan den gegenwärtigen Bewusstseinsaugenblick, den jetzigen Gedanken, erleben, ohne etwas anderes zu erwarten oder zu suchen, ohne etwas verbessern oder erlangen zu wollen, ohne etwas zu vermeiden oder zu verdrängen. Der Geist verweilt in eben dem Moment, den er erlebt. Es gibt keine Mahamudra-Meditation, die etwas anderes wäre als - frei von der Idee "Ich meditiere jetzt" - die Frische des gegenwärtigen Gedankens oder Bewusstseinsaugenblicks zu erleben; es geht nicht darum, etwas anderes, Besseres zu erlangen. Verweilt man im gegenwärtigen Augenblick, ist dieses Bewusstsein das "gewöhnliche Bewusstsein". Es ist der normale Bewusstseinsmoment, in dem der Geist sich selbst bewusst erlebt, in sich ruht, so wie er eben jetzt ist. Im gegenwärtigen Bewusstseinsaugenblick liegt die ungeschaffene ursprüngliche Natur. Im allgemeinen bemühen wir uns, positive Gedanken zu stärken und negative zu verringern. Darum geht es jedoch hier, bei dieser Meditation nicht. Es wird nichts Neues geschaffen, nichts verändert, nichts bewertet. Ohne den Bewusstseinsaugenblick zu beeinflussen, verweilt man in dessen ursprünglicher Natur. Obwohl es somit kein Objekt der Meditation gibt, ist der Geist unzerstreut, ohne Ablenkung im Erleben des gewöhnlichen, natürlichen Bewusstseinsmoments.

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Meditation sollte ohne die geringste Spur von Überlegen sein. Nicht für einen Augenblick sollte man zerstreut in Illusion abgleiten. Nicht-Zerstreutheit, Nicht-Meditation und Nicht-Erschaffen sind der Kernpunkt. Frisch, gelöst und klar verweilt man gesammelt im Raum der drei Tore zur Befreiung und baut die richtige Achtsamkeit auf. In dem beständigen Üben, den Geist zwischen Anspannung und Lockerlassen im Gleichgewicht zu halten, beruhigt man die drei Arten von Gedanken: die feinen, die fassbaren und die groben. Verweile im Zustand des in sich selbst ruhenden, ungeschaffenen Geistes.

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Entsteht ein Gedanke - sei er positiv oder negativ - kümmert man sich nicht um dessen Qualität, sondern lässt den Geist ungekünstelt auf der Natur des Gedankens ruhen. Ohne sich von dem Gedanken ablenken zu lassen, ruht man im Bewusstseinsaugenblick. Nicht-Zerstreutheit bedeutet, frische und völlige Achtsamkeit auf den Bewusstseinsaugenblick aufrecht zu erhalten, ohne abgelenkt zu sein, und in der Frische des momentanen Bewusstseins zu ruhen, ohne daran etwas zu verändern. Nicht-Meditation bedeutet, dass es sich bei diesem Verweilen nicht um eine Meditation auf ein Objekt handelt, sondern dass man nur gelöst in der Natur des Geistes ruht. Nicht-Erschaffen bedeutet, das, was im Geist aufkommt - also Gedanken und Gefühle - nicht als gut oder schlecht zu bewerten. Man bemüht sich nicht darum, Gedanken zu beseitigen und etwas Neues entstehen zu lassen, sondern ruht im Bewusstseinsaugenblick. Dies ist die Bedeutung von Nicht-Zerstreutheit, Nicht-Meditation und Nicht-Erschaffen, welche die "drei Tore zur Befreiung" genannt werden.

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Praktiziert man in dieser Weise, lösen sich alle Hoffnungen und Ängste, alle Anschauungen und Konzepte auf, die die drei Zeiten - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft -betreffen, und man tritt durch die drei Tore der Befreiung, da Grundlage, Weg und Frucht richtig eingeschätzt werden: Bezüglich der Grundlage ist dies die Erkenntnis, dass es kein Entstehen gibt; bezüglich des Weges die Einsicht, dass er keine ihn bestimmenden Merkmale aufweist, und im Hinblick auf die Frucht ist es das Freisein von dem Wunsch, etwas Bestimmtes zu erlangen.

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Unzerstreut zu sein, ist überaus wichtig. So heisst es auch im Dorje Chang-Gebet, Unzerstreutheit sei die eigentliche Meditation. Dafür brauchen wir in unserer Meditation zwei Elemente. Einerseits Sammlung in dem Sinn, dass wir unseren Geist völlig auf einen Punkt konzentrieren, und andererseits Achtsamkeit, um zu verhindern, dass unser Geist erneut in Zerstreuung abgleitet. Diese beiden, Sammlung und Achtsamkeit, müssen unbedingt aufrecht erhalten werden, damit der Geist seine ursprüngliche Natur erfahren kann. Ohne diese beiden unterliegen wir unseren Gewohnheitstendenzen, denken an irgendetwas und sind unkonzentriert. Nur mit Sammlung und Achtsamkeit erlangen wir Unzerstreutheit, und erst dann kann der Geist in seiner Natur ruhen. Weiter heisst es hier, man solle den Geist zwischen Anspannung und Lockerlassen halten. In der Meditation kommt es oft dazu, dass wir entweder schläfrig dumpf oder sehr ab- gelenkt sind. Wichtig ist, hier einen Mittelweg zu finden. Dies bedeutet, sich einerseits im Bemühen um Konzentration nicht zu sehr zu verkrampfen, was zu Ablenkung führt, und andererseits nicht allzu entspannt zu sein, da der Geist sonst träge wird. Für das Verweilen in der Natur des Geistes ist dieses Gleichgewicht unerlässlich, denn nur damit werden sich die drei Arten von Gedanken, die subtilen, die fassbaren und die groben, allmählich beruhigen.

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Die vier Stufen der Erfahrung entstehen eine nach der anderen. Die Sonne des Klaren Lichtes erstrahlt überall. Die Wurzel der Mahamudra-Meditation ist geschaffen.

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Praktizieren wir Meditation mit der erwähnten Sammlung und Achtsamkeit, wird der Geist ungekünstelt in seiner Natur ruhen, und die verschiedenen Stufen der Erfahrung dieses Weges werden eine nach der anderen allmählich entstehen. Auf der so geschaffenen Wurzel der Mahamudra-Meditation werden sich allmählich die vier Stufen der Erfahrung dieses Weges - Einspitzigkeit, Freisein-von-Einbildungen, Ein-Geschmack und Nicht-Meditation - einstellen, und die Sonne des Klaren Lichtes von Mahamudra wird überall erstrahlen. Ohne sie ist unser Gerede von hoher Erkenntnis wie das Bauen eines Hauses ohne Fundament. Ist man nicht fähig, Meditation mit Sammlung und Achtsamkeit zu üben, und behauptet man dennoch, Mahamudra-Meditation zu praktizieren, die Einheit von Samsara und Nirwana erkannt zu haben usw., ist dies nur hohles Gerede, denn die Meditation entbehrt ihres eigentlichen Fundaments. Nur auf der Grundlage von Sammlung und Achtsamkeit kann der Geist in sich zur Ruhe kommen, können sich die Gedanken beruhigen, seien es die groben oder subtilen. In dieser Ruhe kann der Geist in seiner ursprünglichen, spontanen Natur verweilen, wodurch sich die verschiedenen Stufen der Erfahrungen einstellen. Aus diesem Grund ist Shine, die Meditation der Geistesruhe, von so überaus grosser Bedeutung. Gelingt es uns nämlich nicht, mit Sammlung und Achtsamkeit den Geist zur Ruhe kommen zu lassen, dann kann Lhagthong, die Klare Einsicht, niemals entstehen.

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Übertriebenes Anhaften ist das Werk von Mara. Meist werden jene, die wenig wissen, aber ausdauernd sind, von scheinbaren Tugenden getäuscht und führen sich selbst und andere auf den Weg zu niederen Bereichen. Selbst gute Erfahrungen wie Freude, Klarheit und Nicht-konzepthaftigkeit sind Ursache für Samsara, wenn man an ihnen haftet.

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In der Meditation kommen verschiedene Erfahrungen auf. Fehlt uns die Grundlage von Sammlung und Achtsamkeit, haften wir sehr schnell an diesen Erfahrungen an. Man hat z.B. den Eindruck, Leerheit erkannt und diese oder jene tiefe Erkenntnis verwirklicht zu haben. Das Anhaften daran wird zu einem Hindernis für die Entwicklung, und es können keine weiteren Erfahrungen entstehen; man kommt auf den falschen Weg. Deswegen wird Anhaften an blossen Erfahrungen als das Werk von Mara bezeichnet. Manche, denen es an theoretischem Wissen über den Weg und an der richtigen Sichtweise mangelt, und die somit ohne Grundlage praktizieren, geraten mit ihrem grossen Fleiss auf einen falschen Weg und führen sich dadurch in die Irre. Sie halten fälschlicherweise Erfahrungen, die nur reine Einbildungen sind, für die eigentlichen Erfahrungen, und setzen ihre Praxis fort, obwohl es sich nicht mehr um den richtigen Weg handelt. Dies wird nicht zur Befreiung, sondern vielmehr zu niederen Bereichen führen. Mahamudra-Praxis ohne Verständnis der richtigen Sichtweise kann dazu führen, dass man Erfahrungen missversteht und sich damit selbst schadet. Spricht man dann über diese Erfahrungen - weil man denkt, man könnte wegen der eigenen scheinbar tiefen Erkenntnisse anderen dieses Wissen vermitteln und ihnen den Weg zeigen - schadet man auch noch anderen. Mahamudra-Meditation kann daher nicht irgendwie, ohne die Gewissheit der richtigen Sichtweise, praktiziert werden, indem man sich einfach in Meditationshaltung hinsetzt.

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Es ist sehr wichtig, zuerst die richtige Sichtweise über die wahre Natur zu entwickeln, um auf dieser Basis die Meditation richtig zu praktizieren.

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Ansonsten entfernt man sich nicht nur von der Befreiung, sondern führt sich selbst und andere in niedere Bereiche. Praktiziert man den Weg richtig, entstehen die Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtkonzepthaftigkeit. Haftet man aber an diesen Erfahrungen, werden auch sie zu einer weiteren Ursache der bedingten Existenz. Wenn du mit Hingabe dein Herz bestärkst, trifft in der Bewusstheit Stein auf Knochen, und der Segen der Linie der Erkenntnis wird übertragen. Durch vollkommene Hingabe, die unser Herz durchdringt, wird unser Geist mit dem Segen des Lama und der früheren Meister der Kagyü-Überlieferung erfüllt. Durch diese Hingabe und die Inspiration, die man dadurch erlebt, trifft "Stein auf Knochen". Dies bedeutet, dass durch völlige Hingabe zum Lama sein Segen so intensiv ist, dass dieser, ebenso wie Stein Knochen zertrümmert, alle falschen Wege versperrt. So sollte man mit tiefer Hingabe praktizieren, denn dadurch wird man fähig, die Frische des gegenwärtigen Augenblicks zu erleben. Gleite nicht ab in die vier Arten des Abgleitens, verfalle nicht in die drei Irrtümer, gehe jenseits der vier Freuden, befreie dich von den drei Bedingungen, verwirkliche durch die drei Arten der Entwicklung, sei unberührt vom Geist der drei Grossen. Nach einiger Zeit der Praxis stellen sich Erfahrungen der Leerheit ein. Dabei kann es sein, dass man zu falschen Auffassungen bezüglich der Erfahrungen kommt. Diese werden im Text als die vier Arten des Abgleitens bezeichnet:

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Abgleiten in die Grundlage der Leerheit, Abgleiten in den Weg der Leerheit, Abgleiten in das Gegenmittel der Leerheit und Abgleiten in die Vorstellung der Leerheit.

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Das Abgleiten in die Grundlage der Leerheit besteht darin, an der Essenz der Leerheit, an Leerheit als solcher anzuhaften: Man hat ein wenig Verständnis von Leerheit erlangt und entwickelt die nihilistische Anschauung, Phänomene seien nur leer, es existiere nichts. Das Abgleiten in den Weg der Leerheit besteht darin, an der Erfahrung der Leerheit anzuhaften: Man erfährt, dass alle Phänomene leer sind, und glaubt, damit Leerheit verstanden zu haben, und dass es deswegen nicht mehr nötig wäre, Verdienst anzusammeln, Verdunkelungen zu reinigen, positiv zu handeln, Negatives zu vermeiden usw. Man hat in der Meditation eine kleine Einsicht in Leerheit gewonnen und hält dies für die grosse Erkenntnis der Leerheit. Das Abgleiten in das Gegenmittel der Leerheit besteht in der falschen Einstellung, durch die Meditation auf Leerheit würde keine letztendliche Frucht erlangt werden. Es ist das Nichtverstehen der Einheit von Klarheit und Leerheit: Man glaubt, die Frucht sei nicht im Geist, in der Leerheit selbst, sondern ausserhalb davon. Man versteht nicht, dass Methode und Weisheit untrennbar voneinander sind, empfindet Leerheit und störende Gefühle als getrennt und macht Leerheit zu einem Gegenmittel gegen störende Gefühle. Das Abgleiten in die Vorstellung der Leerheit besteht darin, sich lediglich vorzustellen, dass alle äusseren Phänomene leer sind, ohne die Leerheit der Phänomene wirklich verstanden zu haben. Diese vier Arten des Abgleitens kommen insbesondere in der Lhagthong-Meditation auf, da man sich bei dieser Art der Meditation auf die Leerheit ausrichtet. Es ist ebenso wichtig, die drei Irrtümer zu vermeiden. Diese beziehen sich in erster Linie auf die Shine-Medita-tion, denn sie bestehen im Anhaften an jene Erfahrungen, die sich mit der Geistesruhe einstellen - die Erfahrung von Freude, Klarheit und Nichtkonzepthaftigkeit.

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Anhaftung an die Erfahrung von Freude bewirkt eine Wiedergeburt im Bereich der Sinne. Anhaftung an die Erfahrung der Klarheit bewirkt eine Wiedergeburt im Bereich der Körperhaftigkeit, und Anhaftung an die Erfahrung der

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Nichtkonzepthaftigkeit bewirkt die Wiedergeburt im Bereich der Körperlosigkeit. Das Haften an den Meditationserfahrungen ist somit eine Ursache für Samsara. Die vier Freuden, jenseits welcher man gehen sollte, sind Freude, Grosse Freude, Aussergewöhnliche Freude und Inhärente Freude. Dies sind die vier Freuden, die u.a. bei Einweihungen als "Weisheit durch Beispiele" beschrieben werden; durch sie wird die eigentliche Weisheit erkannt, nämlich der Zustand, in dem das Verständnis von Leerheit, Freude und Nichtkonzepthaftigkeit vereint sind. Es ist kaum möglich, die vier Freuden zu erklären - es ist die Erfahrung eines Siddha, die man nur allmählich selbst durch eigene Praxis machen kann. Die drei Bedingungen, von denen man sich befreien sollte, sind die bereits erwähnten drei Erfahrungen im Zusammenhang mit der Shine-Meditation: Freude, Klarheit und Nichtkonzepthaftigkeit. Man sollte sie als blosse Erfahrungen auffassen und jenseits davon gehen. Mit "Verwirklichung durch die drei Arten der Entwicklung" ist gemeint, wie schnell sich die Praktizierenden - entsprechend ihrer Fähigkeiten - auf dem Weg zur Buddhaschaft entwickeln. Man unterscheidet in Praktizierende mit geringen, mittleren und grossen Fähigkeiten. Jene mit geringen Fähigkeiten gehen den Weg stufenweise, um schliesslich Erleuchtung zu erlangen. Jene mit mittleren Fähigkeiten überspringen verschiedene Entwicklungsstufen, sie können z.B. auf den Bodhisattvastufen gleich die ersten zwei, dann die dritte und vierte etc. verwirklichen und damit schneller Erleuchtung erlangen. Jene mit den höchsten Fähigkeiten können Erleuchtung in einem Augenblick verwirklichen, d.h. sie erlangen Erkenntnis und gleichzeitig Befreiung.

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Der Vers: "Sei unberührt vom Geist der Drei Grossen" bedeutet, dass die letztendliche Natur, die Bewusstheit des ursprünglichen Geistes, weder im Bereich des Verstehens durch Hören noch in dem der Erfahrung durch Nachdenken oder in dem der Meditation liegt. Die ursprüngliche Natur des Geistes ist jenseits von diesen dreien.

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Dies ist die selbstentstandene, nicht mit Erfahrungen vermischte Natur. Wie die Mitte des wolkenlosen Himmels kann man die Eigen-Bewusstheit und Eigen-Klarheit nicht in Worte fassen. Die nichtbegriffliche Weisheit, jenseits von Beispielen, ist die Nacktheit des gewöhnlichen Bewusstseins. Die direkte Erfahrung der selbstentstandenen, ursprünglichen, von nichts beeinflussten Natur des Geistes ist wie der wolkenlose Himmel, in dem die Klarheit - das Blau des Himmels - von selbst vorhanden ist. Der Geist ist in seiner Eigen-Bewusstheit und Eigen-Klarheit vollkommen - nichts ist zusätzlich notwendig. Diese Erfahrung ist nicht in Worte fassbar, sie liegt jenseits aller Beispiele und Beschreibungen. Die nichtbegriffliche Weisheit ist die natürliche und frische Erfahrung des gewöhnlichen Bewusstseins. Ohne Bezeichnung und Vorstellung wird es klar als Dharmakaya gesehen. "Ohne Bezeichnung" bedeutet, dass der Zustand nicht in Worte zu fassen ist, "ohne Vorstellung", dass geistige Vorstellungen über die Natur des Geistes nicht zutreffend sind. Frei von diesen beiden Konzepten - nämlich das zu Erfahrende in Worte oder Gedanken zu kleiden - ruht man im gewöhnlichen Bewusstsein und erfährt dessen Natur als Klares Licht des Dharmakaya.

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Die Erscheinungen der sechs Ansammlungen, die wie der Mond im Wasser sind, erstrahlen im Zustand der Weisheit. Was auch immer erscheint, ist der ursprüngliche, ungeschaffene Zustand. Alles, was entsteht, ist die Natur von Mahamudra. Die Welt der Erscheinungen ist der Dharmakaya, Grosse Freude.

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Das gewöhnliche Bewusstsein, das Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks, ist von Natur aus der Dharmakaya. Durch diese Erfahrung erkennt man, dass alles, was mit den sechs Sinnen wahrgenommen wird - Form, Laut, Geruch usw. - wie die Spiegelung des Mondes auf einer Wasserfläche ist. Der Mond erscheint zwar deutlich, ist jedoch nicht wirklich vorhanden. Hat man dies erkannt, unterliegt man nicht mehr der Illusion, die Dinge seien wirklich, und alles, was erscheint, wird im Licht dieser Weisheit erlebt. Das ist mit "Erstrahlen im Zustand der Weisheit" gemeint. Was auch immer im Geist erscheint - Gedanken usw. -wird nicht als gut oder schlecht bewertet, es werden weder Erwartung noch Furcht daran geknüpft. Ohne abzuwehren und ohne auf etwas zu hoffen, ruht man in der spontanen ursprünglichen Natur. Die gesamte Welt der Erscheinungen wird dadurch als Licht - als Ausdruck des Dharmakaya -und der Geist als Dharmakaya erkannt. Somit hat alles Innere und Äussere die Natur von Mahamudra. Um dies jedoch zu erkennen, sind Shine und Lhagthong notwendig. Die beiden - Shine, Ruhen in sich selbst, und Lhagthong, Sehen des Nicht-Sichtbaren -, sollten nicht getrennt, sondern in Ruhe, Bewegung und Bewusstheit vereint werden. Auf der Grundlage der richtigen Anschauung, des Grundlage-Mahamudra, praktiziert man Weg-Mahamudra. Der Kernpunkt der Praxis ist, den Geist in seiner natürlichen Frische verweilen zu

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lassen. Dies führt zur Erkenntnis, dass die gesamte Welt der Erscheinungen ihrer Natur nach Mahamudra ist. Damit der Geist in seiner Natur ruhen kann, praktiziert man Shine, die Meditation der Geistesruhe, und Lhagthong, das Sehen des Nicht-Sichtbaren. Dabei ist es wichtig, in der Shine-Meditation die bereits erwähnten drei Arten von Irrtümern, in der Lhagthong-Meditation die vier Arten des Abgleitens zu vermeiden.

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Was sollte man über Shine-Meditation, über das Ruhen des Geistes in sich selbst, wissen? Mahamudra bedeutet, frei von geistigem Handeln zu sein: Der Geist ruht in sich selbst, und das gewöhnliche Bewusstsein wird erfahren. Dafür braucht man jedoch zunächst Geistesruhe. Warum Geistesruhe, wenn es darum geht, das gewöhnliche Bewusstsein zu erfahren? Der Grund liegt darin, dass wir unablässig von äusseren Objekten und Sinneseindrücken abgelenkt sind und unser Geist nicht fähig ist, auch nur einen Augenblick in sich selbst zu ruhen. Daher müssen wir zuerst diese Zerstreutheit überwinden. Als Mittel gegen die ständige Ablenkung praktizieren wir die Meditation der Geistesruhe, konzentrieren wir uns "einspitzig". Erst wenn der Geist unzerstreut und ruhig verweilen kann, wird man fähig, in seiner Natur zu ruhen. Es gibt verschiedene, immer subtiler werdende Methoden, um den Geist in Ruhe verweilen zu lassen: Shine-Meditation mit Stütze, ohne Stütze und auf die Natur als solche. Die erste Form der Shine-Meditation ist jene mit Stütze. Unser Geist wird ständig von Objekten abgelenkt, wobei das wahrnehmende Bewusstsein jeweils an einem bestimmten Objekt haftet. Um dieser Gewohnheit zu entsprechen, praktiziert man Shine-Meditation zunächst mit einem solchen Sinnesobjekt - der Stütze. Man legt bzw. stellt einen Gegenstand vor sich, entweder eine so genannte "allgemeine Stütze" oder eine "reine Stütze"; ersteres wäre z.B. ein kleiner Stein oder ein Stück Holz. Reine Stützen sind eine Buddhastatue, ein Bild des Buddha etc. Ist uns

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diese Meditation einmal vertraut, wechseln wir zur Shine-Meditation ohne Stütze.

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Die Shine-Meditation ohne Stütze besteht darin, den Geist ohne äusseres, materielles Objekt auf eine geistige Vorstellung zu konzentrieren. Die Vorstellung kann z.B. ein Buddha-Aspekt sein. Zunächst konzentriert man sich nur auf Details der Form, wie das Gesicht, später auf die gesamte Erscheinung. Ist man mit dieser Methode gut vertraut, beginnt man mit der Shine-Meditation auf die Natur als solche. Die Shine-Meditation auf die Natur als solche, die hier im Gesang von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye gemeint ist, ist die höchste Form der Meditation der Geistesruhe. Ohne irgendein Objekt der Konzentration lässt man den Geist in seiner Natur ruhen. Kommen Gedanken auf, blickt man - ohne sie zu verdrängen oder ihnen zu folgen - direkt auf ihre Natur. Dann verschwinden die Gedanken von selbst, und man verweilt wieder in der Ruhe des Geistes. Im Dorje Chang-Gebet wird dies im Vers: "Die Natur der Gedanken ist der Dharmakaya" zum Ausdruck gebracht. Die Gedanken erscheinen aus dem Geist, ihrer wahren Natur nach sind sie jedoch leer. Gedanken sind ein Eigen-Ausdruck des Geistes, sie entstehen aus dem Geist und lösen sich wieder im Geist auf, wenn man auf ihre Natur blickt, da ihre Natur der Dharmakaya, d.h. Leerheit, ist. Wir leben insofern in einer Illusion, als wir unsere Gedanken für wirklich halten, an ihnen hängen und ihnen nachfolgen. Erkennt man jedoch, statt den Gedanken zu folgen, durch das Sehen ihrer Natur, dass sie leer sind, so erkennt man damit den Dharmakaya. Die Gedanken verschmelzen zurück in das Alaya-Bewusstsein. Das Alaya-Bewusstsein ist dabei wie ein Meer, und die Gedanken, die im Geist aufkommen, sind wie die Wellen. Das Meer und die Wellen sind nicht voneinander getrennt, die Wellen sind ein Teil des Meeres, sie kommen im Meer auf und gehen ins Meer zurück. Entsprechend diesem Vergleich sollte die Mahamudra-Shine-Meditation praktiziert werden. Man lässt den Geist in sich

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verweilen; kommen aus dem Ozean des Alaya-Bewusstseins Gedanken auf, blickt man auf deren Natur, ohne ihnen zu folgen oder sie zu unterbrechen. Dann lösen sich die Gedanken - ebenso wie die Wellen in das Meer zurückgehen - wieder im Geist auf. Praktiziert man so, werden keine Störungen, wie z.B inneres Aufgewühltsein, entstehen. Dieses Ruhen in der Natur des Geistes bzw. der Gedanken nennt man Shine-Meditation auf die Natur als solche, die höchste Form der Meditation der Geistesruhe.

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Die verschiedenen Erfahrungen, die man auf dem Weg der Shine-Meditation macht, können unterschiedlich beschrieben werden. So gibt es eine Einteilung in die so genannten neun Stufen des geistigen Verweilens, die man in den Abhandlungen über Shine findet. Eine andere Beschreibung entspricht den Kernunterweisungen. Dabei werden die Erfahrungen bildhaft dargestellt. Die erste Stufe wird z.B. mit einem tosenden Wasserfall verglichen, der einen hohen Berg herabstürzt; man erlebt, wie aufgewühlt der Geist ist. Später wird der Geist dann mit einem grossen Strom verglichen, denn er wird ruhiger, gleichmässiger etc. Aber unabhängig davon, welcher Art von Erklärung wir folgen - es geht darum, die eigentliche Frucht der Shine-Meditation zu erlangen, nämlich körperliche und geistige Geschmeidigkeit. Oft fällt es uns aufgrund unseres schlechten Karma und unserer störenden Emotionen schwer, positiv zu handeln. Wir müssen uns darum bemühen, positiv zu denken, zu handeln, keine störenden Gefühle zu haben usw. Mit Geschmeidigkeit ist nun gemeint, dass die Unfähigkeit zu positivem Handeln bzw. das angestrengte Bemühen darum aufhört, und wir uns ganz natürlich und mühelos körperlich wie geistig richtig verhalten. Frei von störenden Emotionen handelt man von selbst positiv. Diese Geschmeidigkeit von Körper und Geist ist die letztendliche Frucht der Geistesruhe, und die Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtkonzepthaftigkeit stellen sich ein. Die Erfahrung von vollständiger Freude bezieht sich sowohl auf unser Körpergefühl als auch auf unsere geistige Verfassung.

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Unser schweres Körpergefühl verschwindet, wir fühlen uns leicht und gut. Diese Erfahrung wird mit Wolle verglichen, die sich sehr leicht und angenehm anfühlt. Geistig sind wir voll Freude, frei von jeglicher Dumpfheit oder Zerstreutheit.

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Die Erfahrung von Klarheit bezieht sich ebenso auf Körper und Geist. Sie besteht in einem vollkommen klaren Erfassen der Sinneswahrnehmungen, in der Fähigkeit, selbst die feinsten Einzelheiten klar unterscheiden zu können. Die Erfahrung von Nichtkonzepthaftigkeit ist wie das Erleben des Raumes. Normalerweise denken wir, die Dinge seien so, wie wir sie erleben. Wir hören Laute, sehen Formen, riechen Düfte etc. und haften an diesen Sinneswahrnehmungen. Wir leben in dem Konzept der drei Zeiten, dem Unterschied zwischen Frau und Mann etc. und haften an den Merkmalen, die wir den Phänomenen zuschreiben. Es ist dieses Haften an Merkmalen, das sich in der Erfahrung der Nichtkonzepthaftigkeit auflöst und das Erleben raumgleich werden lässt. Man haftet also nicht mehr an der Form, die man sieht, dem Laut, den man hört, dem Konzept der drei Zeiten etc., sondern erfährt den Raum. Diese drei Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtkonzepthaftigkeit treten in erster Linie während der Meditation auf. Ausserhalb der Meditationssitzungen erlebt man alles wie gewohnt, haftet an den Merkmalen der Phänomene etc. Nur selten stellen sich die Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtkonzepthaftigkeit auch ausserhalb der Meditation ein. Was ist mit Lhagthong, dem Sehen des Nicht-Sichtbaren, gemeint? Entsprechend den Schriften ist Lhagthong - "die alle Phänomene unterscheidende Weisheit" - jene Einsicht, die als Frucht aus der Shine-Meditation entsteht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Lhagthong-Einsicht einfach von selbst aus der Shine-Meditation, dem Verweilen in Ruhe, entstehen würde. Shine bedeutet, den Geist einspitzig auf etwas zu konzentrieren, während Lhagthong das Erfassen der eigentlichen Natur der Dinge ist. Lhagthong besteht also darin, auf die Natur aller

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Phänomene - nämlich deren nicht wahrhafte Existenz - zu meditieren, diese zu untersuchen. Damit ist Shine verweilende, und Lhagthong analytische Meditation. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Shine- und Lhagthong-Meditation anzuwenden. So kann man zuerst Shine praktizieren und später, auf der Basis der Geistesruhe, mit Lhagthong-Meditation beginnen. Eine andere Möglichkeit ist, Shine und Lhagthong abwechselnd zu praktizieren: Man praktiziert eine Zeitlang Shine-Meditation, dann konzentriert man sich auf die Lhagthong-Einsicht, kehrt wieder zurück zu Shine, dann wieder zu Lhagthong usw. Die Kombination von Shine mit Lhagthong, von verweilender mit analytischer Meditation, ist eine sehr gute Art der Praxis.

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Konzentrieren wir uns bei der Shine-Meditation z.B. auf das Kommen und Gehen des Atems, dann besteht der Aspekt der Geistesruhe darin, dass wir uns völlig auf die Atmung konzentrieren, ohne abgelenkt zu sein. Lhagthong besteht darin, dass man sich nach einiger Zeit nicht nur auf die Atmung konzentriert, sondern auf die Natur des Atems sieht und sie untersucht. Nachdem man sich so die Natur des Atems eine Weile vergegenwärtigt hat, konzentriert man sich wieder einspitzig auf den Atem. So kann man Shine und Lhagthong abwechselnd praktizieren. Shine und Lhagthong sind zwar zwei Begriffe für Meditationen, die nacheinander bzw. abwechselnd praktiziert werden, worum es jedoch eigentlich geht, ist, diese beiden zu vereinen. Praktiziert man nämlich nur Shine bzw. nur Lhagthong, kann die Einheit von Shine und Lhagthong nicht entstehen. Was aber bedeutet es, Shine und Lhagthong ungetrennt voneinander zu praktizieren? Shine besteht darin, den Geist konzentriert auf einem Objekt ruhen zu lassen. Beide - der Geist und das Objekt - sind letztendlich nicht wahrhaft existent. Diese wahre Natur ist immer vorhanden - nicht erst dann, wenn man sich durch analytische Lhagthong-Meditation ihrer bewusst wird. Die Bewusstheit, die Einsicht in die der Shine-Meditation aufrecht zu erhalten, d.h. den Aspekt der einspitzigen Konzentration und

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den der Bewusstheit nicht voneinander zu trennen, ist die Einheit von Shine und Lhagthong.

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Wie werden nun bei einem Gefühl oder Gedanken durch Shine und Lhagthong "Ruhe, Bewegung und Bewusstheit vereint"? Dazu als Beispiel das Aufkommen von Zorn: Zuerst bemerkt man, dass Zorn entstanden ist und erkennt ihn. Dies entspricht Shine, der Geistesruhe; es ist die Achtsamkeit, die darin besteht, sich des Gefühls bewusst zu sein. Auf dieser Basis wird mit Lhagthong das Gefühl, der Gedanke, untersucht. Ruhe, Bewegung und Bewusstheit sind dabei die drei Phasen, die man untersucht. Ruhe ist das Untersuchen der Frage: Wo hält sich der Gedanke auf? Bewegung: Wohin geht der Gedanke, das Gefühl? Bewusstheit: Was ist es, das zwischen dem Vorhandensein und dem Aufhören des Gedankens vorhanden ist? Durch dieses Untersuchen erkennt man, dass das Gefühl nicht wahrhaft existent ist. Es herrscht die weit verbreitete Ansicht, dass Shine und Lhagthong nur am Anfang des Weges praktiziert würden - sozusagen als Einstieg in die eigentliche Meditation. Dies ist jedoch absolut falsch, denn Shine und Lhagthong werden in allen Aspekten des buddhistischen Weges praktiziert. So findet man den Shine-Aspekt z.B. in dem Entwickeln von Bodhicitta - dem Erleuchtungsgeist - oder in den Entstehungsphasen, den Visualisierungen im Vajrayana. All dies ist nichts anderes als Shine, wofür aber unterschiedliche Methoden und Begriffe verwendet werden. Das gleiche gilt auch für die Sechs Lehren von Naropa, deren Praxis u.a. darin besteht, die Energiewinde zu halten und auf die Kanäle und Tropfen zu meditieren. Alle diese Formen von Meditation sind verschiedene Methoden der Shine-Praxis, sie beruhen ganz auf Geistesruhe und können ohne diese nicht praktiziert werden. Ebenso ist es mit Lhagthong: Auf dem Shravaka-Weg z.B. liegt Lhagthong in der Meditation über die Ichlosig-keit. Auf dem Bodhisattva-Weg besteht Lhagthong in den Meditationen über Leerheit und das Entstehen in Abhängigkeit, also in der

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Vergegenwärtigung der Tatsache, dass die Phänomene keine wahre Existenz aufweisen. Im Vajrayana wird Lhagthong durch die Vollendungsphasen der Meditation praktiziert.

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Auf keinem buddhistischen Weg gibt es daher eine Methode, die nicht Shine oder Lhagthong zugeordnet werden könnte. Shine und Lhagthong sind also sehr wichtig! Es gibt keine Konzepte, keine Illusion, die aufzugeben wären. Es gibt keine spirituelle Praxis von Gegenmittel, die anzuwenden wäre. Die Zeit des spontanen Erlangens wird kommen. Praktiziert man Shine und Lhagthong richtig, gibt es keine Illusion, keine Gedanken mehr, die aufzugeben wären. Blickt man nämlich auf die Natur der Konzepte, verschwinden sie, sie lösen sich in sich selbst auf, da sie ihrer Natur nach nicht wahrhaft existent sind. Die Anwendung eines bestimmten Gegenmittels gegen die Illusion erübrigt sich. Kann man nämlich den Geist in sich selbst ruhen lassen, wird sich, ohne dass man sich auf ein Gegenmittel stützen müsste, die Illusion in sich selbst auflösen. Ist diese Erkenntnis erlangt, gibt es nichts mehr, was nicht Meditation wäre. An der Schwelle zum Freisein von Aufgeben und Erlangen ist sogar Meditation nicht vorhanden. In der Erkenntnis der letztendlichen Natur gibt es keinen Moment mehr, der ausserhalb der Meditation liegen würde. Zu dieser Erkenntnis gelangt man allerdings nur durch Meditation. Man wird frei von dem Bestreben, störende Emotionen aufzugeben bzw. Weisheit "neu erlangen" zu müssen. An diesem Punkt ist auch Meditation nicht vorhanden, weil die Trennung in einen Meditierenden, die Meditation und ein Objekt der Meditation verschwindet.

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Für Anfänger aber, die unfähig sind, ihre haarfeinen Konzepte aufzulösen, ist Meditation wichtig: Durch Meditation entsteht Erfahrung; Erfahrung erstrahlt als Schmuck der Bewusstheit. Für Anfänger, die ihre geistige Anhaftung nicht überwunden haben, ist Meditation notwendig. Solange noch Konzepte vorhanden sind, ist es unerlässlich, Meditation zu praktizieren, denn ansonsten stellen sich Erfahrungen wie Klarheit, Freude und Nichtkonzepthaftigkeit nicht ein. Diese Erfahrungen werden zum "Schmuck der Bewusstheit", da durch Meditation die Einsicht in die Natur aller Phänomene allmählich entsteht. Der besondere Weg unterteilt sich in die vier Yogas: Shine-Meditation ist das Verweilen des Geistes in sich selbst; Lhagthong ist die von Dualität freie Einsicht in die letztendliche Wirklichkeit. Das Praktizieren der Einheit von Shine und Lhagthong führt zum stufenweisen Erlangen der vier Yogas: Der erste Yoga, "Einspitzigkeit", ist das erste Erkennen der Natur des Geistes, das erste Erleben des gewöhnlichen Bewusstseins. Übt man sich weiterhin in Meditation, erlangt man die Einsicht, dass die Natur des Geistes keine inhärente wahre Existenz aufweist; dies ist der zweite Yoga, "Frei-von-Einbildungen". Festigt sich diese Einsicht durch Meditation, erlangt man das Verständnis, dass die gesamte Welt der Erscheinungen nichts anderes ist, als der Ausdruck des eigenen Geistes, bzw. dass der Geist von äusseren Phänomenen nicht verschieden ist; man erlangt den dritten Yoga, "Ein-Geschmack". Vertieft sich diese Einsicht durch Meditation weiter, erkennt man, dass zwischen der Meditation, dem Meditierenden und dem Objekt der Meditation kein Unterschied, keine Trennung besteht - man erlangt den

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vierten Yoga, "Nicht-Meditation". Jeder der vier Yogas ist in drei Stufen unterteilt.

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"Einspitzigkeit" ist, die Natur des Geistes zu erkennen. Sie ist in die kleine, mittlere und grosse Stufe unterteilt: Man sieht das Sich-Abwechseln von Freude und Klarheit, man meistert das Verweilen in Samadhi, und Erfahrung erscheint ununterbrochen als Klares Licht. Der Yoga der Einspitzigkeit besteht im ersten Erkennen der Natur des Geistes, nachdem man durch den Lehrer darin eingeführt wurde. Je nach bereits erlangter Stabilität der Einsicht unterscheidet man innerhalb dieses ersten Yoga in die kleine, mittlere und grosse Stufe. Indem sich die Einsicht in die Natur des Geistes immer mehr festigt, stellen sich die Erfahrungen der Meditation ein: Abwechselnd werden Freude, Klarheit und Nichtkonzepthaftigkeit erlebt. Diese wiederum verstärken die Fähigkeit, im Geist zu verweilen, wodurch sich die geistige Vertiefung festigt. Dadurch wird die Bewusstheit immer klarer, dass alle Phänomene nicht wahrhaft existent sind, d.h. das Klare Licht der Erscheinungen wird ständig erlebt. "Frei-von-Einbildungen" ist die Erkenntnis, dass der Geist wurzellos ist. Sie ist in die kleine, mittlere und grosse Stufe unterteilt: Man erkennt, dass Entstehen, Vergehen und Bestehen, alle drei, leer sind, man wird frei vom Ursprung des Haftens an Erscheinung und Leerheit, man durchschneidet die eingebildeten Zweifel bezüglich aller Phänomene.

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Auf der Stufe des zweiten Yoga, Frei-von-Einbildungen, wird erkannt, dass der Geist und alle Phänomene frei von jeglichen extremen Seinsweisen sind, also keine inhärente wahre Existenz haben. Es ist die Einsicht in die Bedeutung der Wirklichkeit. Diese Stufe der Erkenntnis entspricht der ersten Bodhisattva-Stufe bzw. dem Weg der Einsicht im Mahayana und wird, je nach Stabilität der Erkenntnis, in die kleine, mittlere und grosse Stufe unterteilt.

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Man erkennt, dass der Geist leer ist, frei von Entstehen, Bestehen und Vergehen; durch diese Einsicht löst sich das Haften an Erscheinung und Leerheit auf. Die Gewohnheitstendenzen, aufgrund derer wir dazu neigen, die Erscheinung der Dinge und ihre Leerheit voneinander zu trennen, verschwinden. Durch die Erkenntnis des Fehlens inhärenter Existenz lösen sich falsche Anschauungen und Zweifel bezüglich der Seinsweise aller inneren und äusseren Phänomene auf. "Ein-Geschmack" ist das Vermischen der Erscheinungen mit dem Geist. Er ist in die kleine, mittlere und grosse Stufe unterteilt: Die in den zweien zusammengefassten Phänomene vermischen sich zu einem Geschmack, Erscheinung und Geist werden wie Wasser, das in Wasser fliesst, aus dem einen Geschmack entstehen die verschiedenen Weisheiten. Der dritte Yoga, Ein-Geschmack, ist das Einswerden der äusseren Objekte mit dem inneren, sie erlebenden Bewusstsein. Es ist das Auflösen der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt und wird wiederum je nach erlangter Stabilität in drei Stufen unterteilt. Alle Phänomene, d.h. die äusseren Objekte, an denen man haftet, und das Bewusstsein, das sie wahrnimmt, werden zu einem Geschmack; die Trennung zwischen ihnen löst sich auf. Erscheinungen und Geist werden ebenso zu einer Einheit, wie Wasser, das in Wasser fliesst. Man hat die Einsicht gewonnen,

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dass alle Erscheinungen nur der Eigen-Ausdruck des Geistes und nicht von ihm getrennt sind.

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Aus dem einen Geschmack der Einsicht in die Einheit von Samsara und Nirwana entstehen die verschiedenen Arten von Weisheit. "Nicht-Meditation" ist das Sich-Erschöpfen aller geistigen Konzepte. Sie ist in die kleine, mittlere und grosse Stufe unterteilt: Man ist frei von Meditation und Meditierendem, die Gewohnheiten der konzepthaften Verdunkelungen werden allmählich gereinigt, Mutter- und Sohn-Klares-Licht verschmelzen miteinander, und die Dharmadhatu-Weisheit durchdringt den Raum. Auf der Ebene des vierten Yoga, der Nicht-Meditation, verschwinden alle Konzepte und Einbildungen, alle Vorstellungen über Meditation und Meditierenden werden vollständig aufgelöst. Wieder unterscheidet man in drei Stufen, je nachdem wie weit die Erkenntnis gefestigt ist. Zunächst erkennt man, dass es keinen Unterschied zwischen der Meditation und dem Meditierenden gibt. Die konzepthaften Verdunkelungen werden gereinigt, d.h. man wird frei von dem Konzept der sogenannten drei Kreise. Anhand des Beispiels "Geben" erklärt, bedeutet dies, frei zu sein von den Konzepten eines Gebenden, eines Gebens und eines Empfängers. Man ist frei von der Auffassung, diese drei seien voneinander getrennt. Was bedeutet "Mutter- und Sohn-Klares-Licht"? Aufgrund unserer Illusion sind wir anfangs nicht in der Lage, die wirkliche Natur zu erkennen. Praktizieren wir jedoch auf der Basis des Grundlage-Mahamudra, also der richtigen Sichtweise, den Mahamudra-Weg, so werden sich die auf unserem Weg gemachten Erfahrungen - der Sohn - immer mehr an die eigentliche Wirklichkeit - die Mutter - annähern, bis angeeignete Einsicht und Wirklichkeit eins werden

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- Sohn und Mutter also zusammentreffen -, und wir die allesdurchdringende Dharmadhatu-Weisheit verwirklichen.

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Kurz zur Meditation: Den Geist verweilen lassen, solange man es wünscht, und die Natur des gewöhnlichen Bewusstseins sehen, ist "Einspitzigkeit". Das Fehlen einer Grundlage erkennen, ist "Frei-von-Einbildungen". Alles dualistische Haften an Phänomenen durch Bewusstheit befreien, ist "Ein-Geschmack". Alle herkömmlichen Vorstellungen von Meditation und Meditierendem überwinden und das Sich-Erschöpfen der Gewohnheitsmuster wird "Nicht-Meditation" genannt. Normalerweise ist unser Geist ständig - auch in Meditation - abgelenkt und aufgewühlt. Gedanken entstehen, verschwinden, neue Gedanken tauchen auf usw., der Geist kann nicht auf einem Punkt verweilen. Solange man die Natur des Geistes nicht kennt, erlebt man zwischen Geist und Gedanken eine Trennung. Das ist der Grund, warum es dann bei der Shine-Meditation die Vorstellungen von "jemandem" gibt, der den Geist konzentriert hält. Die Gedanken stören die Meditation, solange man deren Natur nicht versteht. Hat man aber die Natur des Geistes - und damit auch die der Gedanken - verstanden, kann der Geist immer in sich ruhen, ohne jemals von dem, was im Geist entsteht, beeinträchtigt oder abgelenkt zu werden. Das gewöhnliche Bewusstsein wird erlebt: Man sieht die Natur des Geistes und versteht, dass der Geist nicht vom gegenwärtigen Bewusstseinsmoment verschieden ist. Aus diesem Grund wird diese Stufe als Einspitzigkeit bezeichnet. Eine solche Einführung in den Geist - wie hier im vorliegenden Vajra-Gesang - findet sich auch in einem anderen Werk von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye. Dort heisst es, dass man auf die Basis des Geistes blicken soll, wobei diese nichts anderes als der gegenwärtige Bewusstseinsmoment, der jetzige Gedanke ist. Nirgendwo anders ist der Geist zu suchen. Betrachtet man den

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Geist bzw. die Natur der Gedanken, werden Betrachter und betrachtetes Objekt eins, denn der Geist sieht den Geist an. Da die Natur des Geistes Leerheit ist, gibt es nichts, was gesehen wird, es gibt kein Objekt. Gleichzeitig wird jedoch, statt eines blossen Nichts, Klarheit erlebt.

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Betrachtet man die Natur der Gedanken, lösen sich diese in sich selbst auf und Klarheit wird erlebt: die Eigen-Klarheit und Eigen-Bewusstheit des Geistes. Die zwei Aspekte des Geistes, seine Leerheit und seine Klarheit, sind nicht voneinander getrennt, sondern eine Einheit - dies ist die Natur des Geistes. Auf die Natur des Geistes schauen ist nichts anderes, als den gegenwärtigen Bewusstseinsmoment zu erleben und zu sehen, dass es, abgesehen von diesem Bewusstseinsmoment, keinen Geist gibt. Dieser Erfahrung werden in den verschiedenen Terminologien unterschiedliche Namen gegeben. Im Mahamudra heisst dieses Erlebnis die Erfahrung des gewöhnlichen Bewusstseins, im Maha-Ati Bewusstheit. Beides bezeichnet jedoch nur das Erleben des Geistes hier und jetzt. Im gegenwärtigen Bewusstsein sind die Gedanken nicht mehr etwas, das verdrängt oder gefördert werden müsste. Durch das direkte Erleben des gegenwärtigen Gedankens wird dessen Natur erfahren, also Leerheit, Eigen-Bewusstheit und Eigen-Klarheit. Es gibt zwischen dem Erleber - der auf den Gedanken blickt - und dem Erlebnis - dem Gedanken selbst - keine Trennung. Den Geist in dieser Erfahrung ruhen zu lassen - genau das ist das Erfahren des Dharma-kaya. Damit wird auch klar, warum Weisheit - der Dharmakaya - nichts ist, was ausserhalb von uns neu erlangt werden müsste. Es geht lediglich darum, im Zustand der Einheit zu ruhen, den gegenwärtigen Bewusstseinsmoment zu erleben und zu erkennen. Nur - man muss ihn auch erkennen! Solange wir nämlich in unserem Konzept der Dualität leben und zwischen jemandem, der auf den Geist schaut, und dem Geist selbst unterscheiden, erkennen wir dies nicht.

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Um diese Erkenntnis erlangen zu können, ist es unerlässlich, Verdienst anzusammeln und sich von Verdunkelungen zu reinigen. Es gibt zwar den Vers: "Der Buddha ist in deiner Handfläche" - das, wonach wir suchen, liegt nicht woanders, sondern in uns selbst. Bemüht man sich jedoch nicht darum, Verdienst anzusammeln und Verdunkelungen abzubauen, ist es unmöglich, Erkenntnis zu erlangen. Aus diesem Grund sind die vorbereitenden Übungen, das Ansammeln von Verdienst, die Reinigung von Verdunkelungen, die Yidam-Praktiken etc. so wichtig: Sie werden praktiziert, damit man zu dem Punkt gelangen kann, der die eigentliche Erkenntnis ermöglicht.

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Jeder hat die Fähigkeit, diese Erkenntnis zu erlangen, sie liegt nicht nur sehr nah, sondern sogar direkt in uns; aber es hängt von jedem einzelnen ab, ob er sich bemüht, sie zu verwirklichen. Der Buddha ist nicht ausserhalb von uns - diese Erkenntnis, von der abgesehen es keine Buddhaschaft gibt, ist der eigentliche Sinn der Praxis, der letztendliche Weg von Mahamudra und Maha-Ati. Vertieft man die Meditation durch weitere Praxis, kommt man zum zweiten Yoga, Frei-von-Einbildungen. Es ist das Verständnis, dass zwischen dem, was im Geist untersucht wird, und dem Geist selbst kein Unterschied besteht. Hat man dies richtig verstanden, löst sich das Haften an der Trennung zwischen Objekt und erfassendem Bewusstsein. Man begreift, dass die gesamten Erscheinungen nichts anderes sind als eine Manifestation, ein Ausdruck des Geistes, und erkennt die Einheit von Geist und Erscheinungen - dies ist Ein-Geschmack, der dritte Yoga. Sind der Geist und die Erscheinungen zu einem Geschmack geworden, besteht kein Unterschied mehr zwischen Meditation und Nicht-Meditation, denn dies sind Begriffe, die nur auf oberflächlicher Ebene relevant sind. Die konzepthaften und subtilen Verdunkelungen der Tendenzen sind entfernt, die Trennung zwischen einem Meditierenden und der Meditation ist verschwunden. Dies ist das Erlangen des Königreichs des Dharmakaya, der NichtMeditation.

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So haben die mächtigen Yogis der Goldenen Kette der Kagyüs, von Naro und Maitri bis zu dem ehrwürdigen Lama Pema Wangchen, das Königreich des Dharmakaya der Nicht-Meditation erreicht. Sie haben die Finsternis der beiden Verdunkelungen im Raum gereinigt, die grosse Kraft der zwei Arten der Weisheit ausgedehnt und den Schatz geöffnet, der den Wesen, die den Raum erfüllen, nützt.

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Die Lehrer der Goldenen Kette der Kagyü-Überlieferung, Tilopa, Naropa usw. bis zu Situ Pema Nyinje - dem Lehrer von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye - und von diesem bis zum 16. Gyalwa Karmapa, Rangjung Rigpe Dorje, haben durch Mahamudra das Königreich des Dharmakaya, der Nicht-Meditation, erreicht und die Mahamudra-Linie, die Linie der Verwirklichung, ungebrochen jeweils von einem zum anderen übermittelt. Sie haben sowohl die emotionellen als auch die konzepthaften Verdunkelungen gereinigt und die beiden Arten der Weisheit erlangt: das Verständnis der Tiefe und das der Weite. Tiefe in dem Sinn, dass die eigentliche Natur aller Phänomene, die Leerheit, erkannt wurde, und Weite in dem Sinn, dass zugleich die Klarheit, die ungehinderte Manifestation aller Phänomene in relativer Hinsicht erfasst wurde. Die Träger der Kagyü-Überlieferung haben nicht nur die Bedeutung von Mahamudra erkannt, sondern wirken auf der Grundlage ihrer Erkenntnis und motiviert von Liebe und Mitgefühl zum Wohl der Wesen und helfen ihnen, Buddhaschaft zu verwirklichen, wie jemand, der für andere einen Schatz zugänglich macht. Frei von Zweifel ruhen wir in dieser Zuflucht.

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Aufgrund der vollkommenen Eigenschaften der Träger der Mahamudra-Linie können alle Wesen ihr Vertrauen in diese Zuflucht setzen und ohne Unsicherheit oder Zweifel die Gewissheit haben, in diesem und in späteren Leben geschützt zu sein. In dieser Weise stützt sich in der Kagyü-Linie einer auf den anderen. Sie ist nicht allein für ihre Worte berühmt, sondern für deren Bedeutung. Die Mahamudra-Linie der Erkenntnis wird vom Lehrer zum Schüler, von diesem wiederum zu dessen Schüler etc. überliefert. So stützt sich einer auf den anderen. Dieser Vers ist nicht als blosse Floskel zu verstehen: Nicht nur die Worte, sondern die Erkenntnis, die Inspiration der Verwirklichung, wird in dieser Linie von einem zum anderen, von Lehrer zu Schüler weitergegeben, woraus der Ozean der Siddhas hervorgeht. Bitte führt selbst einen gewöhnlichen Rohling wie mich, der die Merkmale Eurer Linie trägt, schnell in das Reich der Nicht-Meditation. Mitfühlender, bereite meinen Konzepten ein Ende! Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye richtet sich hier mit seiner Bitte an die Kagyü-Linie im allgemeinen und insbesondere an seinen Lehrer Situ Pema Nyinje Wangpo. Er, der nur "die Merkmale der Linie" trägt, nicht aber deren wirkliche Bedeutung, bittet die Kagyü-Linie um die Inspiration, die dazu befähigt, die Illusion des verwirrten Geistes schnell aufzulösen und das Reich des Dharmakaya, der Nicht-Meditation, zu erfahren.

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Abschliessend eine kurze Zusammenfassung des Weg-Mahamudra:

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Weg-Mahamudra besteht darin, auf der Basis des Grundlage-Mahamudra, d.h. der richtigen Sichtweise, durch die Anwendung der Praxis dem Weg des Mahamudra zu folgen. Zunächst ist es notwendig, die Natur des Geistes richtig zu verstehen: der eigene Geist ist von Natur aus der Dharmakaya, die äusseren, relativen Erscheinungen sind der Eigen-Ausdruck, das Licht des Dharmakaya. Um diese Einsicht zu entwickeln, praktiziert man die verschiedenen Meditationen des Mahamudra-Weges, also Mahamudra-Shine und -Lhagthong, bzw. im Vajrayana die Entstehungs- und Vollendungsphasen und, in diesem Zusammenhang, die Meditation auf Kanäle, Energiewinde und Tropfen. Der Kernpunkt der Mahamudra-Meditation ist das Verweilen im gegenwärtigen Bewusstseinsaugenblick ohne irgendetwas zu verändern, zu erschaffen oder zu verdrängen. Weg-Mahamudra besteht somit darin, unzerstreut in der Frische des Gedankens zu verweilen, gelöst zu sein, ohne auf etwas zu meditieren und gelassen im ursprünglichen Zustand des Geistes zu ruhen, ohne etwas zu erschaffen. Dafür sind Sammlung und Achtsamkeit unerlässlich; Sammlung ist, den Geist völlig zu konzentrieren, zur Ruhe zu bringen, und Achtsamkeit bedeutet, sich jedes Gedankens - sei er grob oder fein -, jeder Ablenkung des Geistes bewusst zu sein. In dem Bemühen, Sammlung und Achtsamkeit aufrechtzuerhalten, sollte man weder verkrampft noch zu locker sein, da sich sonst Zerstreutheit bzw. Dumpfheit einstellen.

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Frucht-Mahamudra Zum Frucht-Mahamudra folgende Worte: Die Grundlage ist, in die innewohnenden drei Kayas eingeführt zu werden. Durch den Weg, der im Erfassen des Kernpunkts von Sichtweise und Meditation besteht, wird die Frucht der Verwirklichung der makellosen drei Kayas erlangt. Frucht-Mahamudra ist die Erkenntnis, dass die relativen Erscheinungen und der Geist ihrer Natur nach die drei Kayas sind. Für diese Erkenntnis ist es in erster Linie notwendig, sich die Grundlage, die Sichtweise, klar zu vergegenwärtigen: Unabhängig davon, worum es sich handelt - seien es die äusseren relativen Erscheinungen oder der innere Geist - alles ist seiner Natur nach nicht wahrhaft existent: Dies ist der Dharmakaya. Sein Ausdruck ist ungehindert: Dies ist der Sambhoghakaya. Die Erscheinungen sind vielfältig, mannigfach: Dies ist der Nirmanakaya. Dem Geist inhärent ist der Dharmakaya, den Erscheinungen inhärent ist das Dharmakaya-Licht. Ebenso wie der Dharmakaya und seine Strahlen sind Geist und Erscheinungen voneinander untrennbar. Dies ist die grundlegende Sichtweise. So heisst es auch im Mahamudra-Gebet des Allwissenden 3. Karmapa Rangjung Dorje: "Blickt man auf die Dinge, sind keine Dinge vorhanden, man sieht sie als Geist. Blickt man auf den Geist, ist kein Geist da, er ist seinem Wesen nach leer. Blickt man auf beides, befreit sich das Haften an Dualität von selbst. Mögen wir das Klare Licht, die Natur unseres Geistes, erkennen."

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Betrachten wir Objekte, d.h. die äusseren Phänomene, und werden wir uns ihrer letztendlichen Natur ein wenig gewahr, so erkennen wir, dass die Objekte nicht wahrhaft, beständig, unveränderlich vorhanden, sondern eine reine Vorstellung des Geistes sind, der sie als dieses oder jenes bezeichnet. Blickt man auf die Natur des Geistes, sieht man nur den gegenwärtigen Bewusstseinsaugenblick oder Gedanken; man erlebt keinen Geist, der etwas anderes als genau dies wäre. Man sieht die Natur des Geistes, seine Leerheit, sein Nicht-wahrhaftes-Vorhandensein. Die Phänomene sind nicht wahrhaft vorhanden, sie sind eine Projektion des nicht wahrhaft existenten Geistes und erscheinen aufgrund seiner Klarheit. Werden diese beiden Aspekte erkannt, löst sich das Haften an Dualität - nämlich die Trennung zwischen den äusseren Erscheinungen und dem innerlich haftenden Geist - in sich selbst auf. Es gibt nichts mehr, was abzuwehren, und nichts, was zu erlangen wäre. Die Klare-Licht-Natur des Geistes, seine letztendliche Natur, wird erkannt. Durch das Grundlage-Mahamudra wird man in die richtige Sichtweise, d.h. die Einheit von Erscheinung und Geist, in die drei Kayas, eingeführt. Auf dieser Grundlage wird der Weg, d.h. die Anwendung von Sichtweise und Meditation praktiziert. Durch Meditation von Shine und Lhagthong ruht der Geist spontan im Erleben der Nicht-Dualität, der Einheit von Erscheinung und Geist. Man erlangt die Einsicht, dass der Geist der Dharmakaya und die Erscheinungen der Ausdruck, das Licht des Dharmakaya, sind. Das Verhalten, nämlich das Bodhisattva-Verhalten, das mit dem Verständnis von Leerheit und Mitgefühl praktiziert wird, unterstützt die Meditation und lässt die Frucht heranwachsen. Dies ist der Weg von Sichtweise, Meditation und Verhalten, durch dessen Praxis die Frucht, die Verwirklichung der makellosen drei Kayas, erlangt wird.

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Der Natur nach Dharmakaya, leer und frei von Einbildungen, dem Ausdruck nach Sambhogakaya, von sich aus klar, der Kraft nach Nirmanakaya, mannigfach und ungehindert; dies ist es, was alles durchdringt.

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Die grundlegende Natur ist nicht wahrhaft existent, da sie leer ist, frei von den vier Arten extremer Seinsweisen - dies ist der Dhamakaya. Auf der Grundlage des Dharmakaya, der Leerheit, frei von extremen Seinsweisen, kommt ungehindertes Erscheinen auf. Dies ist der klare Aspekt, der Sambhogakaya. Aus der ungehinderten Klarheit entstehen die vielfältigen Manifestationen des Nirmanakaya. Die drei Kayas: Dharmakaya, Sambhogakaya und Nirmanakaya durchdringen demnach alles. Es gibt nichts, was nicht von ihnen durchdrungen, nicht von ihrer Natur wäre. Die Natur von Mahamudra ist Einheit, der Raum der Phänomene, frei von Aufgeben und Erlangen. Die drei Kayas sind nicht voneinander getrennt. Wurde der Raum der Phänomene, Dharmadhatu, die Einheit der drei Kayas, verwirklicht, gibt es keine Unterscheidung mehr in Samsara als einen Zustand der Illusion, den es aufzugeben gilt, und Nirwana als Befreiung, die zu erlangen wäre. Im unveränderlichen Raum der Phänomene gibt es diesen Unterschied nicht. Mit der jugendlichen reinen Freude, ist es die riesige Wonne der Weisheit. Es ist der Eigen-Ausdruck des Mitgefühls, jenseits von Gedanken.

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Der Dharmadhatu oder die spontane Einheit der drei Kayas ist die unbefleckte Grosse Freude, die Einheit der Methode des grossen Mitgefühls und der Weite der ungehinderten, alles durchdringenden höchsten Weisheit. Aus der Einheit dieser beiden Aspekte, der reinen Grossen Freude der Erfahrung und der Tiefe der Weisheit, manifestiert sich das aktive Mitgefühl aller Buddhas und Bodhisattvas.

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Der Zustand der Allwissenheit ist also nicht ein blosses Nichts oder eine völlige Leere, sondern vielmehr der Reichtum vollkommener Weisheit. Als Eigen-Ausdruck des Reichtums dieser Weisheit entsteht das Mitgefühl aller Buddhas und Bodhisattvas, das alle Wesen ungehindert erreicht. Es ist Mitgefühl, das nicht mit Vorstellungen zu begreifen ist, das jenseits von unseren Begriffen liegt. Aufgrund von Weisheit gibt es kein Verweilen in Samsara, aufgrund von Mitgefühl kein Verweilen in Nirwana, spontan wird mühelose Buddha-Aktivität vollbracht. Wegen der vollkommenen Weisheit, der Erkenntnis der Leerheit, ist derjenige, der Mahamudra verwirklicht hat, nicht in Samsara, d.h. in den drei Bereichen von bedingter Existenz, gefangen. Aufgrund des vollkommenen Mitgefühls, des Aspekts der Methode, verweilt er jedoch auch nicht im einseitigen Nirwana, dem Zustand der blossen Ruhe - jenem Zustand, der von Shravakas und Pratyekabuddhas durch das Streben nach eigenem Frieden erlangt wird. Aus der Einheit von Weisheit und grossem, umfassendem Mitgefühl entsteht mühelos und spontan die Buddha-Aktivität zum Wohl aller Wesen. Die Klarheit von Grundlage und Weg, Mutter und Sohn, verschmelzen miteinander, Grundlage und Frucht umschliessen einander,

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Buddha wird im eigenen Geist entdeckt, die Fundgrube dessen, was notwendig und erwünscht ist, eröffnet sich von selbst. Wie wunderbar und phantastisch!

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Die Grundlage, die wahre Natur aller Phänomene, und die auf dem Weg gesammelten Erfahrungen verschmelzen miteinander. Dies wird, wie bereits erwähnt, als das Zusammentreffen von Mutter und Sohn bezeichnet, d.h. das Klare Licht der Grundlage und der Frucht des Weges werden zu einer Einheit. Dies ist die Verwirklichung der uns selbst innewohnenden Natur: Buddhaschaft wird daher nicht ausserhalb, als etwas Neues oder woanders erlangt - so, als würde man in ein anderes Land reisen - sondern besteht lediglich darin, die Natur des eigenen Geistes zu erkennen. Indem wir den eigenen Geist erkennen - Buddhaschaft verwirklichen - eröffnet sich ein Schatz in uns: Verwirklichung ist erlangt, und man wird dazu fähig, zum Wohl der Wesen zu wirken. Den Buddha im eigenen Geist gefunden und den Schatz von allem, was benötigt und gewünscht wird, geöffnet zu haben, ist wunderbar und phantastisch. Da in der Mahamudra-Sichtweise Theoretisieren nicht anwendbar ist, wirf künstliche Vorstellungen weit von dir weg. Da es in der Mahamudra-Meditation kein Festhalten an bestimmten Gedanken gibt, vermeide gekünstelte Meditation. Da es im Mahamudra-Verhalten keinen Bezugspunkt für das Handeln gibt, sei frei von jeglichen Vorstellungen über Handeln und Nicht-Handeln. Da es im Frucht-Mahamudra keine neue Verwirklichung zu erlangen gibt, wirf Hoffnungen, Sorgen und Wünsche weit von dir weg.

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Mahamudra-Sichtweise besteht nicht im Denken, Mahamudra oder der Geist seien dieses oder jenes. Ebensowenig besteht Mahamudra-Meditation darin, Gedanken zu analysieren.

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Während der Geist in sich selbst ruht, sieht man direkt auf die Natur der Gedanken; dann erkennt man, dass nichts entsteht, nichts vergeht und dazwischen auch nichts besteht. Deswegen sollte man gekünstelte Vorstellungen darüber, wie die Natur des Geistes beschaffen sein könnte, aufgeben und unmittelbar in der Natur des Geistes verweilen. Das ist die Sichtweise von Mahamudra. Mahamudra-Meditation sollte von jeglichem Haften an der Meditation frei sein. Man sollte nicht denken: "Jetzt meditiere ich, das ist Meditation, das ist keine Meditation". Frei von solchen Vorstellungen über die Meditation und ohne den Geist in einen gekünstelten Zustand zu versetzen, sollte man ihn in sich selbst ruhen lassen. Mahamudra-Verhalten ist frei von Konzepten wie: "Ich tue dieses, jenes tue ich nicht". Dies ist das Freisein von Vorstellungen über Handeln und Nichthandeln. Wir haben gesehen, dass durch den Mahamudra-Weg die Frucht nicht neu erlangt wird. Die Verwirklichung ist nichts neu Dazugewonnenes, und deshalb sollte man alle Erwartungen, Sorgen und Wünsche, die wir mit unserem von Unwissenheit befangenen Geist im Hinblick auf die Verwirklichung haben, beiseite lassen. Alle Vorstellungen wie: "Praktiziere ich dies, verwirkliche ich jenes, praktiziere ich dies nicht, erlange ich das nicht" sind überflüssig. Abschliessend eine kurze Zusammenfassung von Mahamudra-Sichtweise, -Verhalten und -Meditation: Absolut gesehen, gibt es keinen Unterschied zwischen Samsara und Nirwana. Wir aber haben die Auffassung, Samsara und Nirwana seien zwei verschiedene Zustände, da wir die Natur unseres Geistes nicht erkannt haben und deswegen in Illusion leben. So heisst es auch im Mahamudra-Gebet des 3. Karmapa:

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"Die Eigen-Erscheinung, die niemals existierte, wird als Objekt verkannt. Die Eigen-Bewusstheit wird durch Unwissenheit als Ich verkannt. Wegen des Haftens an Dualität irrt man umher in der Weite der Wiedergeburten. Möge Unwissenheit, die Wurzel der Illusion, überwunden werden."

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Unsere Illusion rührt daher, dass wir einerseits den Eigen-Ausdruck unseres Geistes als äussere Objekte verkennen und diese für wirklich halten, andererseits die Leerheit des Geistes für unser Ich halten. Aus dieser Dualität heraus unterscheiden wir zwischen unserem Ich und anderem, zwischen Samsara und Nirwana. Auf letztendlicher Ebene aber gibt es diese Trennung nicht. Durch Mahamudra-Sichtweise wird verstanden, dass Samsara und Nirwana nicht zwei voneinander getrennte Entitäten sind, dass es weder ein erfasstes Objekt noch ein erfassendes Bewusstsein gibt. Mahamudra-Meditation ist, ohne zwischen dem Objekt und dem erlebenden Bewusstsein zu unterscheiden, den Geist in seinem ursprünglichen, ungekünstelten Zustand ruhen zu lassen. Mahamudra-Verhalten ist, sich durch die ungehinderte Kraft der Einheit von Leerheit und Mitgefühl im Bodhisattva-Verhalten zu üben. Durch die Verwirklichung dieser drei Aspekte des Weges, nämlich Sichtweise, Meditation und Verhalten, gelangen wir zur Erkenntnis der letztendlichen Natur der Wirklichkeit, der Einheit von Samsara und Nirwana, zum Frucht-Mahamudra. Dies ist das Tiefgründige im Geist aller Kagyüs. Es ist der einzige Weg, den die Siegreichen und ihre Söhne beschreiten. Es ist die Methode, die den Kreislauf der Illusion von

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Samsara umkehrt. Es ist der Dharma, der in einem Leben zur Buddhaschaft führt. Es ist die Quintessenz aller Sutra- und Tantra-Belehrungen.

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Mahamudra ist das, was all die grossen Siddhas, die vielen Meister der Kagyüs, verwirklicht haben. Alle Siegreichen, die Buddhas, und ihre Söhne, die Bodhisattvas, der drei Zeiten und zehn Richtungen haben durch diesen Weg Erkenntnis erlangt. Die Illusion der drei Bereiche von Samsara wird kraft dieses Mahamudra-Weges beendet, durch den man innerhalb eines Lebens Buddhaschaft, den Zustand von Dorje Chang, erlangen kann. Mahamudra ist die Quintessenz aller Lehren Buddhas, aller Sutras und Tantras. Möge ich gemeinsam mit allen Menschen, mit allen Wesen, die den Raum erfüllen, Erkenntnis und gleichzeitig Befreiung erlangen und damit höchstes Mahamudra verwirklichen. Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye hat diese Doha verfasst, als er selbst Mahamudra verwirklichte. In diesem Vajra-Gesang bringt er für jeden verständliche innere Erfahrung -und nicht hohes intellektuelles Wissen - zum Ausdruck. Zwar ist einerseits der Gesang recht schwierig, da manche Stellen und Begriffe schwer zu verstehen sind, andererseits aber umfasst dieser Gesang den gesamten Weg. Es gibt nichts, was nicht darin enthalten wäre - von der Grundlage bis zur letztendlichen Frucht. Aus diesem Grund ist es sehr, sehr gut, diesem Gesang entsprechend zu praktizieren. Mögen alle Wesen dadurch schnell die höchste Verwirklichung von Mahamudra erlangen.

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Fragen und Antworten Frage: Woher kommt die Illusion? Antwort: Die Illusion ist anfangslos, da die Illusion an sich nicht existiert; das ist anfangsloses Samsara. Das gleiche gilt auch für das Ende der Illusion. Einerseits gibt es - da Illusion selbst nicht existiert - kein Ende, andererseits aber wird ihr in dem Sinn ein Ende bereitet, dass man sich selbst aus dem Zustand der Illusion befreit. Dies bezeichnet man als das "Ende von Samsara". Frage: Kann man aus der Buddhaschaft wieder in Unwissenheit zurückfallen? Antwort: Nein, denn Buddhaschaft ist das Freisein von Unwissenheit. Aber sie ist nicht das Ende der Illusion, auch wenn sie als solches bezeichnet wird, da es letztlich keine Illusion, keine Unwissenheit, d.h. kein Samsara gibt, aus dem man sich befreien müsste. Da aber die Ursache für das Leiden überwunden wurde, wird es als das Ende von Samsara bezeichnet. Frage: Wie kann Illusion entstehen, wenn der Geist seit jeher leer und klar ist? Antwort: Illusion besteht darin, die Natur des Geistes nicht zu erkennen. Obwohl die Natur des Geistes vollkommen rein und klar ist, erleben wir - solange der Geist seine Natur nicht erkennt - Illusion. Frage: Gibt es Wesen, die schon immer erleuchtet waren, ohne den Weg gegangen zu sein? Antwort: Nein, es ist notwendig, den Weg zu gehen. Nur ist der Zeitraum, den die einzelnen Wesen brauchen, um Verwirklichung zu erlangen, sehr unterschiedlich.

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Frage: Der Weg zur Buddhaschaft scheint doch wirklich lang und beschwerlich zu sein, oder nicht?

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Antwort: Buddhaschaft erlangen bedeutet, den eigenen Geist zu erkennen. Es geht nur um dieses Erkennen bzw. Nicht-Erkennen. Um jedoch zu dieser Erkenntnis fähig zu sein, braucht man lange, da die Gewohnheiten und Muster in unserem Geist, unserem Alaya-Bewusstsein, sehr stark verwurzelt sind. Frage: Wie entwickelt man die richtige Sichtweise von der relativen und letztendlichen Wirklichkeit? Antwort: Um zur richtigen Anschauung zu kommen, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Einerseits kann man die Sichtweise durch die Theorie erlernen, andererseits ist es möglich, sie durch Meditation zu erlangen. Von diesen beiden ist jedoch die erste die leichtere, wobei die richtige Anschauung die Meditation sehr unterstützt. Die Meditation, die in diesem Zusammenhang gemeint ist, ist die von Shine und Lhagthong - also Meditation auf die Natur des Geistes. Ich persönlich finde es gut, zuerst die richtige Anschauung durch Theorie zu entwickeln. Das bedeutet nicht, dass man die gesamte buddhistische Philosophie erlernen müsste -aber man sollte die buddhistische Sichtweise kennen. Am besten ist es, sich einerseits theoretisch mit der Sichtweise zu befassen und andererseits Meditation wie Shine zu praktizieren, da das Studium allein nicht weiterhilft. Der eigentliche Nutzen entsteht nur durch Meditation. Frage: Verstärkt denn das Sich-Aneignen einer Sichtweise nicht unser konzepthaftes Denken? Antwort: Ja, in gewisser Weise schon. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, das Studium, die Theorie, mit Meditation zu kombinieren. Buddha Shakyamuni selbst sagte, dass man sich nicht auf die Worte verlassen, sondern ihre Bedeutung erfahren sollte.

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Frage: Hängen die Art der Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtkonzepthaftigkeit und die Erfahrungen von Leerheit von den Methoden ab, die man auf dem Weg verwendet?

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Antwort: Einerseits hängt es von den Meditations-Methoden ab, andererseits jedoch hauptsächlich von dem jeweiligen Praktizierenden - 'davon, worauf er sich besonders ausrichtet, ob auf die Erfahrung der Klarheit oder auf die der Leerheit. Frage: Bedeutet Nichtkonzepthaftigkeit, dass keine Gedanken mehr aufkommen? Antwort: Die Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtkonzepthaftigkeit werden in der Shine-Meditation erlebt, sie sind aber nur ein Ergebnis der Shine-Meditation, nicht deren eigentliche Frucht. Nichtkonzepthaftigkeit besteht darin, dass sich unser Haften an den verschiedenen Erlebnissen und Sinneseindrücken wie Hören, Schmecken usw. ändert. Wir trennen nicht mehr, sondern erleben immer mehr die Einheit der Erfahrungen. Diese Erfahrung ähnelt dem Raum, der alles durchdringt. Zwar kommen Gedanken auf, aber man haftet nicht an ihnen. Es wird niemals so sein, dass überhaupt keine Gedanken aufkommen. Die Frucht von Shine - und ebenso von Lhagthong - ist Geschmeidigkeit, Leichtigkeit, und zwar in dem Sinn, dass man alles, Körper, Rede und Geist völlig im Griff hat. Normalerweise ist es ja oft so, dass wir zwar positiv handeln wollen, aber wegen unserer Emotionen nicht dazu fähig sind, unseren Geist in die eigentlich gewollte Richtung zu wenden. Die Geschmeidigkeit oder Leichtigkeit besteht nun darin, dass wir innerlich den Raum haben, uns so zu verhalten, wie wir es möchten, ohne von unseren eigenen Störungen daran gehindert zu werden. Frage: Was ist der Unterschied zwischen dem Alaya-Bewusstsein und der Natur des Geistes? Antwort: Das Alaya-Bewusstsein ist die Basis für das Erleben des illusionären Zustands. Alle Gedanken und Konzepte sammeln

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sich im Alaya-Bewusstsein und kommen daraus wieder hervor. Die Natur des Geistes ist Leerheit, seine Eigenschaft Klarheit - diese beiden sind eine Einheit.

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Frage: Welche Rolle spielt das Alaya-Bewusstsein beim Entstehen der Illusion? Antwort: Mit dem Sinnesbewusstsein des Auges z.B. wird eine Form erfasst; das Geistbewusstsein wertet die Wahrnehmung, und die Geisteskraft setzt den Eindruck, der durch diese Wertung entsteht, in das Alaya-Bewusstsein. Durch die Gewohnheiten, die sich im Alaya-Bewusstsein verfestigen, entstehen störende Gefühle, der so genannte Getrübte Geist. Frage: Ich kann mir unter den Gewohnheitstendenzen, die sich im Alaya-Bewusstsein befinden, nichts vorstellen. Antwort: Die Art und Weise, wie Eindrücke oder Gewohnheitstendenzen entstehen, ist folgende: Wir leben im Dualismus - glauben an ein Ich und an das andere; daraus entstehen die störenden Emotionen, die unsere physischen, verbalen und geistigen Handlungen prägen. Diese Handlungen, bzw. die aus ihnen entstehenden Gewohnheiten oder der Eindruck, den sie hinterlassen, werden von unserer Geisteskraft in das Alaya-Bewusstsein gesetzt. Treffen die entsprechenden Bedingungen zusammen, die diese Eindrücke im Alaya-Bewusstsein aktivieren, reifen die Eindrücke heran und werden erneut erlebt. Es ist eine Gewohnheit: Wenn man an etwas gewöhnt ist, geht es ganz von selbst, ohne dass man darüber nachdenken müsste. Fehlt hingegen die Gewohnheit für etwas Bestimmtes, dann muss man daran denken, sich konkret darum bemühen, es geht nicht automatisch. Frage: Also basiert alles, was man automatisch macht, auf Gewohnheitstendenzen? Antwort: Ja, man könnte es so beschreiben. Nur sollte man dabei die Intensität der Gewohnheit und karmische Gewohnheiten

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in Betracht ziehen. Gewohnheiten stammen nicht nur aus diesem Leben, und jene aus früheren Leben sind stärker als die aus dem jetzigen.

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Frage: In den "siebenteiligen Gebeten" bittet man die Buddhas, nicht in ein so genanntes "einseitiges Nirwana" einzugehen. Was bedeutet "einseitiges Nirwana", und ist es überhaupt möglich, dass ein Buddha in ein einseitiges Nirwana eingeht? Antwort: Man richtet diese Bitte an alle Buddhas und Bodhisattvas der zehn Richtungen und der drei Zeiten. Vom gegenwärtigen Zeitpunkt aus gesehen, gibt es Buddhas, die bereits in das Nirwana eingegangen sind, andere, die gerade dabei sind. Buddhas wirken immer in unendlichem Ausmass zum Wohl der Wesen, sie haben die Fähigkeit, sich in zahllosen Körpern zu manifestieren. Aber seitens der Wesen muss eine Verbindung geschaffen werden; dafür ist ein Bezugspunkt nötig, und genau das ist es, worum es bei diesem Gebet geht. Um diese Verbindung zu schaffen, richtet man diese Bitte an die Buddhas, als Bezugspunkt. Der Begriff Nirwana hat zwei Bedeutungen: Einerseits bedeutet Nirwana das, was jenseits von Samsara und Nirwana liegt, d.h. dass die Trennung zwischen Samsara und Nirwana aufgehoben wurde - die beiden als Einheit erlebt werden. Die andere Bedeutung, die hier angesprochen wird, ist Nirwana als der Zustand, wenn die Form-Kayas in den Dharmakaya verschmelzen. Wurde Bodhicitta entwickelt, wird in unendlichem Ausmass das Wohl der Wesen bewirkt. Aus der Erkenntnis der Leerheit heraus entsteht die Fähigkeit in einem oder in vielen Körpern zum Wohl der Wesen zu wirken. Frage: Was sind die 64 Qualitäten eines Buddha? Antwort: Diese 64 bestehen aus den 32 Qualitäten, die nur einem Buddha zu eigen sind, und den 32 Qualitäten der Reife. Man kann auch sagen, dass die Buddhas endlos viele Qualitäten haben, denn in den 64 sind alle Qualitäten, die es gibt, inbegriffen.

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Frage: Was sind die acht Qualitäten von Dorje Chang? Antwort: 1. Dorje Chang hat keinen gewöhnlichen Körper. Er ist Dharmakaya, die Einheit von Leerheit und Klarheit: Seine körperliche Erscheinung ist nicht aus Fleisch und Blut, nicht aus materieller Substanz; obwohl er erscheint, ist seine Natur Leerheit. 2. Obwohl er seiner Natur nach leer ist, erscheint er ungehindert in seiner Form: als Sambhogakaya mit seiner blauen Körperfarbe, den gekreuzten Händen, in denen er Dorje und Glocke hält, seinen Attributen usw. Dies ist die ungehinderte Erscheinungsweise. 3. Er besitzt die gesamten Qualitäten eines Buddha: also die 32 und 80 besonderen Merkmale. 4. Der Dharmakaya, Dorje Chang, durchdringt die Gesamtheit von Samsara und Nirwana. Es gibt nichts, was nicht von ihm durchdrungen wäre. Obwohl er einen Körper besitzt, ist er nicht auf diesen Körper begrenzt, sondern durchdringt gleichzeitig alles gleichermassen. 5. Dharmakaya-Körper von Dorje Chang wirft keinen Schatten. 6. Er ist unabhängig von Licht oder Dunkelheit, ohne jeglichen Makel. 7. Um die Unerschütterlichkeit des Dharmakaya zu symbolisieren, ist die Körperfarbe von Dorje Chang die des Herbsthimmels - tiefblau. 8. Er besitzt Allwissenheit über die drei Zeiten, d.h. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - ohne, so wie wir, in diese Konzepte zu unterscheiden. Als Symbol dafür sind seine Augen immer unveränderlich in der gleichen Stellung. Frage: Was bedeutet "Klares Licht"? Ist es symbolisch zu verstehen? Antwort: Was mit "Klarem Licht" wirklich gemeint ist, ist der Aspekt der Ungehindertheit, d.h., dass aufgrund der Leerheit alles möglich ist, dass alles ungehindert, endlos, in jedem Augenblick

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entstehen kann. Es geht dabei nicht um Sonnenlicht oder elektrisches Licht.

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Frage: Was bedeutet die Ungehindertheit des Geistes? Antwort: Der Geist ist ungehindert, da er von Natur aus Leerheit ist. Es ist die in jeder Hinsicht hervorragende Leerheit. Weil der Geist Leerheit ist, ist er von sich aus ungehindert, und alles kann entstehen. Wäre dies nicht der Fall, so wäre Leerheit ein blosses Negieren und damit das Extrem des Nihilismus. Frage: Was bedeutet der Vers "Zwischen ihnen, die nicht zwei sind, gibt es kein Bestehen" genau? Antwort: Ein Entstehen des Geistes und der Phänomene ist nur in relativer Hinsicht richtig; in letztendlicher Hinsicht sind sie von Natur aus nicht-entstanden - in anderen Worten: nicht existent. Sie sind jedoch nicht einfach nichts, sondern treten unaufhörlich in Erscheinung. Diese beiden, d.h. das letztendlich Nicht-Entstandene einerseits und die relative Fortdauer ohne Ende andererseits, sind dabei nicht voneinander verschieden. Dies ist gemeint mit dem Freisein von Entstehen, Vergehen und Bestehen. Der Geist und die Phänomene sind in letztendlicher Hinsicht nicht entstanden. Daraus könnte man schliessen, dass sie auch keine Kontinuität hätten. Dies trifft jedoch nicht zu, vielmehr ist die Kontinuität ungehindert: alles tritt ständig in Erscheinung. Der Geist erlebt die Gesamtheit von Samsara und Nirwana. Da er nicht entstanden und ohne Ende ist, hat er auch kein Bestehen. Damit ist die Natur des Geistes frei von Entstehen, Vergehen und Bestehen. Frage: Wenn der Geist kein Entstehen, Vergehen und Bestehen hat, gibt es dann bei allen anderen Phänomenen, die vergänglich sind, ein Entstehen? Antwort: In relativer Hinsicht hat alles ein Entstehen und ist vergänglich, die äusseren Phänomene und ebenso der Geist, da ständig Gedanken entstehen und vergehen. In letztendlicher

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Hinsicht jedoch gibt es kein Entstehen, weder für den Geist noch für die Phänomene.

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Frage: Welche Meditation wird besonders verwendet, um Achtsamkeit zu entwickeln? Antwort: Alle Meditationen haben den Sinn, Achtsamkeit zu entwickeln. Oft beginnt man mit Shine und "Geben und Nehmen", um Bodhicitta zu entwickeln. Auch im Tantra geht es bei allen Visualisierungen, den Entstehungs- und Vollendungsphasen der Yidam-Aspekte, darum, Bewusstheit zu festigen. Praktiziert man z.B. die Entstehungsphasen und konzentriert man sich auf die Form des Yidam, wird Geistesruhe - Shine - natürlicherweise daraus entstehen. Frage: Wenn einem das Ngöndro schwer fällt, sollte man es trotzdem praktizieren? Antwort: Es ist zwar in Ordnung, andere Meditationen zu praktizieren, das Ngöndro ist aber sehr, sehr gut. Vergleichen wir dafür die buddhistischen Wege: Auf dem Ursachen-Kennzeichen-Weg oder Sutra-Weg ist es notwendig, drei unendlich lange Zeitalter hindurch Verdienst anzusammeln. Auf dem Tantra-Weg hingegen kann mit Hilfe der aussergewöhnlichen Methoden wie der Praxis des Ngöndro Verdienst in äusserst kurzer Zeit angesammelt werden. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, das Ngöndro zu praktizieren. Auch wenn man aufgrund körperlicher Leiden keine Verbeugungen machen kann, ist es gut, Zuflucht, Dorje Sempa und die anderen Übungen zu praktizieren. Unter den vorbereitenden Übungen ist besonders die des Guru Yoga sehr wichtig. Dies steht im Zusammenhang mit dem Mahamudra-Weg, bei dem der Segen des Lama für das Entfalten der letztendlichen Weisheit so wichtig ist. Frage: Kann man also Dorje Sempa praktizieren, ohne Verbeugungen gemacht zu haben?

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Antwort: Wenn man krank ist, ja. Sonst sollte man eine Übung nach der anderen praktizieren.

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Frage: Einerseits heisst es, dass wir die Buddha-Natur in uns tragen und es nicht notwendig sei, die Natur des Geistes zu reinigen. Andererseits haben die vorbereitenden Übungen die Wirkung der Reinigung. Ist das nicht paradox? Antwort: In unserer Buddha-Natur sind zwar alle Qualitäten vollkommen vorhanden, nur sind wir bislang nicht fähig, dies zu erkennen, da unsere eigenen dualistischen Gewohnheitstendenzen uns daran hindern. Um uns von diesen Gewohnheitstendenzen zu befreien, brauchen wir zweierlei: Reinigung von Verdunkelungen und Negativem und die Ansammlung von Verdienst und Weisheit. Erst mit diesen beiden - die durch das Ngöndro angesammelt werden - werden wir fähig, die uns innewohnenden Qualitäten auch zu erkennen. Frage: Was sind die drei Tore zur Befreiung? Antwort: Die drei Tore zur Befreiung beziehen sich auf Grundlage, Weg und Frucht. Die Grundlage ist ohne Entstehen, der Weg ohne Merkmale, die Frucht ohne Wunsch und Streben. Dabei ist die Grundlage die bereits beschriebene Sichtweise: alle Phänomene haben letztendlich keinen Anfang und kein Ende und daher auch kein Bestehen. Der Weg ist die Annäherung an diese Erkenntnis. Da es nichts gibt, worauf meditiert wird, also nichts, was den Weg kennzeichnet, weist der Weg keine ihn bestimmenden Merkmale auf. Er besteht lediglich darin, in der ursprünglichen Natur des Geistes zu verweilen. Die Frucht ist ohne Wunsch und Streben: Es ist die Einsicht, dass es in letztendlicher Hinsicht keine Frucht gibt, die erlangt wird und von jemandem erlangt werden würde. Ebenso ist es das Freisein von der Unsicherheit, diese Frucht nicht erlangen zu können. Frage: Was sind die drei Arten von Gedanken?

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Antwort: Die Gedanken selbst sind nicht subtil, fassbar und grob. Unser Haften an den Gedanken aber ist unterschiedlich intensiv. Dementsprechend unterscheidet man in subtile, fassbare und grobe Gedanken. So sind z.B. unsere störenden Emotionen, die wir sehr intensiv erleben, grobe Gedanken. Subtile Gedanken sind z.B. jene, die während der Shine-Meditation zwar aufkommen, uns jedoch kaum stören und nicht ablenken. Sie lösen sich einfach auf, gleich nachdem sie entstanden sind. Durch die Meditation der Geistesruhe lösen wir unser Haften an den Gedanken allmählich auf.

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Frage: Gedanken aufzulösen scheint mir einfach zu sein, wie aber steht es z.B. mit körperlichen Schmerzen? Antwort: Es hängt hauptsächlich von der eigenen Praxis ab. Wir hängen sehr stark an unserem Körper, und es ist daher auch schwierig, körperliche Schmerzen umzuwandeln. Man kann damit beginnen, bei geringfügigen körperlichen Schmerzen, Krankheiten etc. auf die Natur des Gefühls, des Schmerzes zu schauen. Das wäre eine sehr gute Art, mit ihnen umzugehen, aber es erfordert einiges an Erfahrung in dieser Praxis. Übt man sich lange Zeit darin, wird es einem allmählich gelingen, auch mit starkem Schmerz so umzugehen. Aber es ist schwierig, da man sehr am Körper haftet. Eine andere sehr gute Alternative ist es, Bodhicitta zu entwickeln und zu wünschen, dass sich in dem eigenen Leid alle Schmerzen, alle Leiden aller Wesen sammeln mögen, und damit geistig alles Leid der Wesen auf sich zu nehmen. Frage: Hat denn jeder Mensch eine besondere karmische Verbindung zu einem Lama? Antwort: Nein. Aus diesem Grund gibt es auch den Begriff "Wurzel-Lama"; so wird jener Lehrer bezeichnet, der fähig ist, den Geiststrom seines Schülers zur Reife, zur Befreiung, zu führen. Dies ist das Merkmal des Wurzel-Lama, den der Schüler braucht. Bei manchen Lehrer-Schüler-Beziehungen ist es so, dass von früheren Leben her bereits eine karmische Beziehung besteht, dass starke Wunschgebete gemacht wurden. Es kommt sogar

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vor, dass für die Einführung in Mahamudra keine Worte notwendig sind, sondern dass sie durch Symbole oder auf andere Weise vor sich geht.

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Frage: Es heisst, dass man durch die Mittel des Vajrayana in einem Leben Buddhaschaft verwirklichen kann. Steht dies nicht im Widerspruch zur der erwähnten Kalpa-langen Verbindung zum Lama? Antwort: Im Allgemeinen braucht man eine Kalpa-lange Verbindung mit dem Lama, um in diesem einen Leben den Zustand von Dorje Chang, den Zustand der Einheit, zu erlangen. Dann kann man, wenn man in diesem Leben mit Vajrayana-Lehren in Kontakt kommt, auf der Basis der bereits seit langem bestehenden Verbindung zu dem Lama, bei der Einführung in die Natur des Geistes in einem Augenblick Erleuchtung erlangen. Nehmen wir an, jemand bekommt in diesem Leben Zugang zu den Vajrayana-Lehren und trifft einen Lehrer, mit dem er bereits eine längere Verbindung hat. Praktiziert der Betreffende nun gemäss den Unterweisungen seines Lehrers, wird er die Natur des Geistes erkennen und entweder in diesem Leben oder in naher Zukunft - wie im Bardo oder in den nächsten Lebenszeiten - Erleuchtung erlangen. Nicht jeder, der Vajrayana praktiziert, wird in diesem Leben Erleuchtung erlangen. Es hängt sehr vom individuellen Karma ab. Es heisst jedoch, dass man innerhalb der nächsten sechzehn Lebenszeiten Buddhaschaft erlangen wird. Der Same der Erleuchtung setzt sich im Geist fest - sie rückt immer näher. Frage: Was ist die Bedeutung von "Einweihung"? Antwort: Ganz allgemein haben Vajrayana-Einweihungen den Sinn, den Geist des Schülers zur Reife zu führen. Eine Vajrayana-Einweihung hat verschiedene Stufen, wobei es z.B. eine Grundeinteilung in vier Einweihungen gibt. Die erste davon ist die Einweihung des Körpers, die "Vasen-Einweihung", die alle Verdunkelungen des Körpers reinigt; dies führt den Körper zur Reife, und die Frucht ist die Verwirklichung des Nirmanakaya. Die

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zweite ist die Einweihung der Rede, die "Geheime Einweihung". Diese reinigt die Verdunkelungen der Rede, und die Frucht ist die Verwirklichung des Sambhogakaya. Die dritte ist die Einweihung des Geistes, die "Weisheits-Bewusstheits-Einweihung", die Einführung in die Weisheit von Freude und Leerheit, deren Frucht die Verwirklichung des Dharmakaya ist. Die vierte Einweihung ist die so genannte "Wort-Einweihung"; dies ist die eigentliche Vorbereitung für Mahamudra, die Einführung in die Natur des Geistes. Durch diesen Teil der Einweihung werden Körper, Rede und Geist gemeinsam zur Reife geführt, und die Frucht, die verwirklicht wird, ist die Einheit der drei Kayas: der Svabhavikakaya.

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Frage: Kann man Vertrauen und Hingabe erlernen? Antwort: Zuerst geht es darum, Vertrauen zu entwickeln, auf dessen Basis Hingabe entstehen kann. Kurz gesagt, bedeutet Vertrauen, davon überzeugt zu sein, dass etwas, sei es die Lehre oder der Lehrer, das Richtige ist, und zwar nicht als blosser Gedanke, sondern als Gewissheit. Man setzt Vertrauen in den Buddha und in einen Lehrer, wenn man davon überzeugt ist, dass er vollkommen ist und einem wirklich helfen kann. Auf der Basis dieses Vertrauens "lodert" Hingabe auf. Hingabe kann verschieden intensiv sein, sie ist jedoch immer eine stärkere innere Erfahrung als Vertrauen. Die wirkliche, ungekünstelte Hingabe besteht darin, den Lehrer als vollendeten Buddha zu sehen. Vertrauen kann mit einem Gefäss verglichen werden, das andere Dinge enthalten kann. Ebenso passt der Vergleich mit einem Samen, aus dem die Frucht hervorkommt. Ein verbrannter Samen kann keine Frucht hervorbringen, und ebenso wenig - sagte der Buddha - kann der Weg des Dharma praktiziert werden, wenn kein Vertrauen vorhanden ist. Vertrauen wird nicht einfach in irgendetwas gesetzt. Vielmehr entwickelt man Vertrauen dadurch, dass man zuerst dem Dharma zuhört, über die Inhalte der Lehre genau nachdenkt und Gewissheit in deren Richtigkeit entsteht. Daraus entsteht Vertrauen in die Lehre und die Lehrer. Um Vertrauen zu entwickeln, muss man sich zu Beginn darum

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bemühen. Dann aber, wenn man praktiziert, wird es natürlich, von selbst wachsen. Zusammenfassend besteht Vertrauen darin, Gewissheit zu haben bezüglich der Lehre und des Lehrers, sich dessen gewiss zu sein, dass sie die Fähigkeit haben, uns auf den richtigen Weg zu führen. Wenn sich das Vertrauen festigt, entfaltet sich Hingabe. Traditionell heisst es, dass Hingabe bewirkt, dass Tränen in die Augen treten, dass sich unsere Körperhärchen aufstellen usw. Diese Hingabe entsteht schliesslich spontan, aus sich selbst.

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Frage: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Entstehungs- und Vollendungsphasen der Vajrayana-Meditation einerseits und der Mahamudra-Meditation andererseits? Antwort: Zwar gibt es in der Mahamudra-Meditation kein Objekt der Meditation, das heisst jedoch nicht, dass man auf überhaupt nichts meditiert! Das "Objekt" ist der von extremen Seinsweisen freie Zustand; man ist frei vom Haften am Erleber der Phänomene. Im Tantra wird durch die Entstehungsphasen und Vollendungsphasen letztendlich auf die Einheit von Klarheit und Leerheit meditiert. Das ist dasselbe. Diese Erklärungen über Mahamudra klingen zwar sehr leicht, sind jedoch für allgemeine Praktizierende sehr, sehr schwer zu praktizieren. Schwierig ist es deshalb, weil wir an so vielen Dingen haften. Wegen dieser Schwierigkeiten gehen wir den Vajrayana-Weg in mehreren Stufen, und genau diese Stufen sind die Entstehungs- und Vollendungsphasen, dies sind die besonderen Methoden des Vajrayana. Dabei ist es so, dass uns die Entstehungsphasen helfen, nicht in das Extrem des Nihilismus zu verfallen, während die Vollendungsphasen dazu dienen, das Haften an der Wirklichkeit der Phänomene zu überwinden. Letztendlich werden diese beiden Aspekte vereint, man kommt jenseits der extremen Anschauungen und erlangt damit den Zustand Frei-von-Einbildungen bezüglich der Seinsweise aller Phänomene. Damit man aber diese Erkenntnis erlangen kann, ist es sehr wichtig, die Entstehungsphasen richtig zu praktizieren. So ist es z.B. wichtig, den eigentlichen Sinn der Visualisierungen zu

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kennen - nämlich alle unreinen Erfahrungen auf eine reine Ebene zu führen -, den Symbolgehalt der jeweiligen Einzelheiten zu verstehen und nicht einfach nur auf irgendeinen Buddha-Aspekt zu meditieren.

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Frage: Worin liegt der Unterschied zwischen Sutra- und Tantra-Mahamudra? Antwort: Im Sutra-Mahamudra wird der Aspekt der Leerheit betont - dies ist das "Objekt der Meditation" -, die von extremen Seinsweisen freie Leerheit aller Phänomene, frei von geistigen Vorstellungen des Erlebers. Im Tantra-Mahamudra steht der Aspekt der Klarheit, der Methode im Vordergrund. Dies ist der Unterschied, das Ziel ist jedoch dasselbe. Durch die Erkenntnis der Einheit von Freude und Leerheit entsteht auf dem Mahamudra-Weg das Freisein von allen Konzepten. Im Sutra-Weg sind äusserliche Dinge nicht notwendig, während im Tantra-Weg mit Einweihungen usw. gearbeitet wird. Im Sutra-Weg wird Mahamudra-Shine und -Lhagthong praktiziert, im Tantra-Weg praktiziert man die Entstehungs- und Vollendungsphasen. Frage: Es heisst, man soll in der Frische des gegenwärtigen Bewusstseinsaugenblicks ruhen. Wenn ich mich aber zur Meditation hinsetze, erlebe ich überhaupt keine Frische. Antwort: Mahamudra klingt zwar sehr leicht, ist aber schwer zu praktizieren. Gerade weil es so schwer ist, die Erkenntnis direkt zu erlangen, werden die ganz besonderen Mittel des Vajrayana, die Entstehungs- und Vollendungsphasen verwendet. So sind z.B. die sechs Lehren von Naropa ein Mittel, die Natur des Geistes zu erkennen; in Verbindung mit ihnen wird Mahamudra praktiziert. Sehr unterstützend für die Praxis ist es ausserdem, Bodhicitta und Hingabe zu stärken. Frage: Was ist die Bedeutung von "Überlieferung des Segens der Erkenntnis"?

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Antwort: Es ist der Segen, der durch die Kagyü-Linie übermittelt wird. Die Kagyü-Linie, die Mahamudra-Linie, wird als die Linie der Erkenntnis und der letztendlichen Bedeutung bezeichnet, da in unserer Goldenen Kagyü Überlieferungskette die Inspiration der letztendlichen Bedeutung von Lehrer zu Schüler übermittelt wird.

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Frage: Muss man, um Bodhicitta, den Wunsch, solange im Samsara zu bleiben, bis alle Wesen Buddhaschaft erlangt haben, zu verwirklichen, selbst solange im Samsara bleiben, bis alle Wesen Buddhas sind? Antwort: Hat jemand diesen Wunsch wirklich entwickelt, und zwar nicht nur gekünstelt oder als Lippendienst, bewirkt dies, dass er selbst schnell Buddhaschaft verwirklichen wird. Das ist der "Trick" im Mahayana. Allerdings kann man Bodhicitta nicht bewusst als Trick einsetzen, denn es muss der echte, ungekünstelte Wunsch sein, alle Wesen zur Buddhaschaft zu führen. Dann wird man den Weg sehr schnell gehen können, Buddhaschaft oder hohe Bodhisattva-Stufen verwirklichen und zum Wohle aller Wesen wirken. Erst dann hat man auch tatsächlich die Fähigkeit, die Wesen zur Buddhaschaft zu führen. Frage: Wie kann man selbst Erfahrungen der Meditation beurteilen? Antwort: Das Allerbeste ist, den Lama, zu dem man Vertrauen hat, zu fragen. Frage: Man sollte prüfen, ob man die richtige Sichtweise vertritt. Wie kann man das bei sich selbst feststellen? Antwort: Hierin liegt die Bedeutung des spirituellen Freundes auf dem Weg. Frage: Wir haben aber zu unseren Lehrern nur wenig Kontakt. Antwort: Am Anfang ist es wichtig, sich auf einen Lehrer zu stützen und die Gewissheit zu bekommen, dass man die Unterweisungen versteht, umsetzen kann und richtig praktiziert.

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Dann braucht man nicht immer mit einem Lehrer zusammen zu sein. Es genügt vielmehr, ihn gelegentlich zu treffen. Die Situation in Indien und Tibet war früher ähnlich wie heute im Westen.

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Frage: Was bedeutet das Freisein von den drei Kreisen? Antwort: Die drei Kreise sind Konzepte, z.B. haben wir, wenn wir jemandem etwas geben, die Vorstellung, dass wir selbst der Gebende sind, der einem Empfänger etwas gibt. Dies sind die "drei Kreise", konzepthafte Verdunkelungen. Frei zu sein von diesen, bedeutet, zu erkennen, dass alle drei nicht wahrhaft existent sind, dass Gebender, Geben und Empfänger nicht verschieden, nicht voneinander getrennt sind. Dies trifft nicht nur auf Freigebigkeit zu, sondern ebenso auch auf die anderen Paramitas, denn erst in Verbindung mit höchstem Wissen werden die fünf anderen Paramitas wirklich befreiend. Frage: Was bedeutet der Satz "Nicht-Entstanden ist die Natur des Entstandenen"? Antwort: "Die blosse Erscheinung ist die Klarheit der drei Kayas" bezieht sich auf die letztendliche Natur aller Dinge: Ihre Natur ist Leerheit, d.h. Fehlen einer wahren Existenz, also der Dharmakaya. Aufgrund der Leerheit ist alles Ungehindertheit - der Sambhogakaya. Diese Ungehindertheit drückt sich in vielfältigen Formen aus - als Nirmanakaya. Damit sind die drei Kayas in allen Phänomenen gegenwärtig. "Nicht-Entstanden ist die Natur des Entstandenen" bezieht sich auf den Dharmakaya-Aspekt, da in letztendlicher Hinsicht Entstehen nicht wahrhaft vorhanden ist. Aufgrund der Ungehindertheit des Potentials, der Leerheit, kann alles ungehindert erscheinen. Es ist Entstehen, obwohl in letztendlicher Hinsicht nichts entsteht. Damit ist das Nicht-Entstandene endlos, und zwischen diesen beiden gibt es kein wahres Vorhandensein. Die Natur des Entstandenen ist nicht-entstanden, der Dharmakaya; die Ungehinderheit ist der Sambhogakaya, und die vielfältigen Manifestationen sind der Nirmanakaya.

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Frage: Worin besteht der Unterschied zwischen dem Sambhogakaya und dem Nirmanakaya?

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Antwort: Die Ungehindertheit unseres Geistes drückt sich im Sambhogakaya aus, mannigfache Manifestationen sind der Nirmanakaya. Der Hauptunterschied liegt in der subtilen bzw. groben Manifestation: Den Sambhogakaya können nur Wesen auf den hohen, reinen Stufen erleben. Den Nirmanakaya können auch jene auf unreinen Stufen erleben. Frage: Worin unterscheiden sich Dharmadhatu und Svabhavikakaya? Antwort: Der Svabhavikakaya ist die Einheit der drei Kayas - das gleiche gilt für den Dharmadhatu. Der Dharmadhatu bezeichnet den Raum der Phänomene, deren Leerheit, den Dharmakaya. Der Svabhavikakaya bezeichnet die Einheit der drei Kayas. Dharmadhatu und Svabhavikakaya sind dabei nur zwei Begriffe für das gleiche. Frage: Sollte man, wenn bei der Shine-Meditation mit Stütze Gedanken aufkommen, auch auf deren Natur blicken? Antwort: Nein, bei der Shine-Meditation mit Stütze sollte man nur darauf achten, aufkommende Gedanken zu bemerken und, ohne diese zu unterdrücken oder ihnen zu folgen, wieder zur Konzentration zurückkehren. Frage: Werden die drei Arten von Shine innerhalb einer Sitzung praktiziert? Antwort: Nein, stufenweise: zuerst die leichtere, dann die schwierigere Form. Frage: Worin besteht, kurz gesagt, der Unterschied zwischen Shine und Lhagthong? Antwort: Shine besteht grundsätzlich in der Konzentration, Lhagthong darin, mit unterscheidender Weisheit zu untersuchen.

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Shine ist, z.B. konzentriert dem Atem zu folgen, ohne abzuschweifen, Lhagthong ist das Blicken auf die Natur des Atems. Meditiert man z.B. auf einen Yidam, dann besteht Shine darin, dass man sich auf die Form des Yidams konzentriert, während Lhagthong die Bewusstheit von der Erscheinung, den Attributen etc. ist. Diese beiden Aspekte miteinander abzuwechseln ist sehr gut: zuerst Konzentration, Shine, dann Bewusstheit, Lhagthong, wieder Konzentration etc.

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Frage: Praktiziert man vor dem Ngönoro auch Shine-Meditation? Antwort: Der eigentliche Mahamudra-Weg wird so praktiziert, dass man zuerst die vorbereitenden Übungen, das Ngöndro, und danach - z.B. im Drei-Jahres-Retreat - in Mahamudra-Shine und -Lhagthong eingeführt wird. Es ist aber nichts dagegen einzuwenden, bereits vor dem Ngöndro Shine zu praktizieren. Man tut sich dann vielleicht leichter bei der Visualisierung des Zufluchtsbaumes etc. Es hängt jeweils vom Stil des Lehrers ab, welchen Aspekt er besonders betont. Frage: Am Ende der Mandala-Opferungen heisst es, man macht dem Lama äussere, innere, geheime und absolute Opferungen? Antwort: Äussere Opferungen sind die materiellen Opferungen, wie die Opferung des Mandala usw. Die inneren sind die Opferung von Körper, Rede und Geist. Die geheime und die absolute Opferung sind die Opferung von Leerheit, das Freisein von dem Konzept der drei Kreise. Frage: Inwieweit entspricht die Vollendungsphase des Vajrayana dem Lhagthong? Antwort: Lhagthong ist das Erkennen der letztendlichen Wirklichkeit, der Leerheit aller Dinge auf der Basis der Geistesruhe. Die Vollendungsphase im Vajrayana besteht darin, die aufgebaute Visualisierung stufenweise im Klaren Licht aufzulösen und dadurch die Leerheit aller Dinge zu

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erkennen. Alle Phänomene sind ihrer Natur nach Leerheit, nicht wahrhaft existent. Wir erkennen dies durch Lhagthong und durch die Vollendungsphase, damit ist es dasselbe.

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Frage: Ich habe oft gehört, dass Lhagthong die Frucht von Shine sei. Warum soll man dann überhaupt zusätzlich zu Shine Lhagthong praktizieren? Antwort: Im allgemeinen ist Lhagthong die Frucht von Shine, d.h., dass auf der Basis der Geistesruhe die eigentliche Wirklichkeit der Phänomene gesehen werden kann. Aber durch Shine allein zu dieser Einsicht zu gelangen, ist schwierig. Daher ist es gut, bereits während der Shine-Praxis Lhagthong in der Form zu integrieren, dass man die beiden Aspekte abwechselnd praktiziert. Dann unterstützt die Shine-Meditation die Lhagthong-Einsicht, und diese festigt die Shine-Meditation. Frage: Worin besteht der Unterschied zwischen dem Bereich der Körperhaftigkeit und dem der Körperlosigkeit? Antwort: Beides sind Götterbereiche: im Bereich der Körperhaftigkeit wird ein sehr subtiler physischer Körper erlebt, während der Bereich der Körperlosigkeit ein rein geistiger Zustand ist. Es ist das Erleben geistiger Vertiefung von "grenzenlosem Bewusstsein", "grenzenlosem Raum" usw., ohne das Konzept eines Körpers. Frage: Wie können Praktizierende mit Kindern Zeit für die Praxis finden? Antwort: Sind beide Elternteile Buddhisten, dann sollte man eine bestimmte Tageszeit für die eigene Praxis festlegen. Der eine kann morgens für 1-2 Stunden, und der andere abends für die gleiche Zeit praktizieren. Es ist wichtig, so viel Zeit wie möglich für die Dharma-Praxis zu reservieren. Meditation ist hauptsächlich Gewohnheit, man baut eine bestimmte Gewohnheit auf. Gewohnheit ist auch der Grund für unser Umherirren in Samsara, weil wir negative Gewohnheitstendenzen in unserem Geist haben.

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Unsere Meditation bewirkt, dass diese negativen Gewohnheitstendenzen abgeschwächt werden - und für die Meditation ist Regelmässigkeit und die daraus entstehende Gewohnheit sehr wichtig. Wenn auch jeweils nur für kurze Zeit, ist es nützlicher, regelmässig zu praktizieren, als manchmal sehr viel. Ausserdem kann man auch versuchen, sich gelegentlich für eine bestimmte Zeit zurückzuziehen.

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Frage: Werden die vier Yogas auf den Bodhisattva-Stufen verwirklicht? Antwort: Der Zusammenhang zwischen den Bodhisattva-Stufen, den fünf Wegen und den vier Yogas ist folgender: Der "Weg der Verbindung", der zweite der fünf Wege, unterteilt sich in vier Phasen, wobei eine als "Geduld" bezeichnet wird. Diese entspricht dem ersten Yoga, der "Einspitzigkeit". Der "Weg der Einsicht", der dritte Weg, entspricht dem zweiten Yoga, "Frei-von-Einbildungen". Mit dieser Erkenntnis wird die erste Bodhisattva-Stufe erlangt. Der "Weg der Meditation", der vierte Weg, entspricht dem dritten Yoga, "Ein-Geschmack", wobei auf dem Weg der Meditation die so genannten unreinen (1.-7.) und reinen (8.-10.) Bodhisattva-Stufen erlangt werden. Der Weg des "Nicht-mehr-Lernens", der fünfte Weg, entspricht dem vierten Yoga, "Nicht-Meditation". Es ist die elfte Stufe, also Buddhaschaft. Frage: Könnten Sie bitte das Mahamudra-Verhalten noch einmal kurz erklären? Antwort: Worauf man ganz besonderen Wert legen sollte, ist die Disziplin auf verbaler und körperlicher Ebene und ausserdem das Verhalten gemäss dem Bodhisattva-Weg, d.h. die sechs Paramitas. Solange man die Natur des Geistes nicht vollkommen erkannt hat, ist es sehr wichtig, mit Gedanken, Worten und Taten immer diszipliniert zu leben, den Wunsch, anderen zu helfen, zu entwickeln und die sechs Paramitas zu praktizieren. Hat man die Natur des Geistes erkannt, dann wird - wie bei allen Siddhas - alles zum richtigen Verhalten, denn es gibt die Unterscheidung

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zwischen "gutem, anzueignendem" und "schlechtem, zu vermeidendem" Verhalten nicht mehr. Aber auf unserer Ebene ist das nur so genanntes "hohes Gerede", denn es trifft nur für jene zu, die bereits hohe Stufen der Verwirklichung erlangt haben. Hat man die Erkenntnis nicht erlangt und handelt dennoch so, als hätte man sie verwirklicht, begeht man einen grossen Fehler. Hat man selbst keine Verwirklichung erlangt und sieht vielleicht bei dem eigenen Lehrer ein Verhalten, das nur mit seiner Erkenntnis möglich ist, kann man die falsche Vorstellung bekommen, man selbst solle das gleiche Verhalten zeigen, obwohl die Erkenntnis fehlt. Man wird dann von den eigenen störenden Gefühlen überwältigt.

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Frage: Was bedeutet "Wirf Vorstellungen weit von dir weg"? Antwort: Niemand kann sofort Mahamudra praktizieren. Es ist vielmehr notwendig, den Weg stufenweise zu gehen. Aus diesem Grund praktiziert man zuerst das Ngöndro, dann die Yidam-Meditationen mit den entsprechenden Mantra-Rezitationen usw. Durch diese Aspekte des Weges kann man sich allmählich von den dualistischen Auffassungen lösen. Durch Ngöndro und Yidam-Meditation kann man die unreinen Erscheinungen allmählich auf eine reine Ebene führen und kommt schliesslich dazu, die wirklich ungekünstelte Form von Meditation praktizieren zu können. Dann erst gilt der Satz "wirf Vorstellungen weit von dir weg"; aber niemand kann gleich zu Beginn so praktizieren. Frage: Sollte man trotzdem das Ziel, ein grosser Mahasiddha zu werden, im Auge behalten? Antwort: Ja, jedoch hilft es nichts, nur zu denken, dass man diese Stufe einmal erlangen möchte. Der Wunsch ist gut, aber man muss auch wissen, was wirklich damit gemeint ist. Es gibt ein Zitat von Sakya Pandita, in dem er sagt: "Praktiziert man als Einfältiger Mahamudra, schafft dies die Ursache für die Wiedergeburt als Tier." Einfältig bezieht sich darauf, dass man ohne die richtige Sichtweise praktiziert. Für eine richtige Meditationspraxis ist es unerlässlich, Grundlage, Sichtweise, Weg

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etc. genau zu kennen. Sich einfach nur zur Meditation hinzusetzen, mit weit geöffneten Augen zu praktizieren, ohne eine Ahnung davon zu haben, worum es bei Mahamudra tatsächlich geht, führt zu den Tierbereichen. Sakya Pandita schrieb ein ganzes Buch über derartige Fehler in der Meditation.

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Es gibt keinen Weg, der tiefgründiger und direkter wäre als der von Mahamudra und Maha-Ati. Es gibt keinen anderen Weg, der zum letztendlichen Ziel führt - alle anderen Annäherungen daran münden in diesen ein. Aber um den Weg praktizieren zu können, müssen wir dem stufenweisen Aufbau dieses Wegs folgen, da wir zu sehr an unseren dualistischen und illusorischen Auffassungen hängen. Es gibt in diesem Zusammenhang ein Sprichwort: "Praktiziert man Maha-Ati abends, wird man in der gleichen Nacht erleuchtet; praktiziert man es morgens, wird man an diesem Morgen erleuchtet. Praktiziert man Mahamudra, verwirklicht man Erleuchtung in einem Augenblick." Es gibt keinen tiefgründigeren Weg. Was man jedoch dafür braucht, ist die richtige Vorbereitung, denn ohne diese kann man den Weg nicht richtig praktizieren und verfehlt das Ziel. Frage: Besteht nicht die Gefahr, dass intellektuelles Arbeiten unseren Fortschritt in der Mahamudra-Meditation beeinträchtigt? Antwort: Nein, keineswegs, denn Gedanken und Konzepte beeinträchtigen den Geist nicht, sie sind der Geist. Auf dem Mahamudra-Weg lösen sie sich in sich selbst auf. Gedanken und Geist sind nicht voneinander verschieden. Hat man die Natur der Gedanken verstanden, erkennt man, dass sie eins mit dem Geist sind. Man erfährt sie als in sich selbst befreit; dies ist die Erfahrung des Dharmakaya.

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Anhang I: Kurze Geschichte der Inkarnationen von Jamgön Kongtrul

Rinpoche

Der 1. Jamgön Kongtrul Rinpoche, Lodrö Thaye (1813-1899) Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye wurde in Osttibet in einer Bönpo-Familie geboren und meisterte schnell deren Lehren. Er war eine Ausstrahlung von Buddha Vairocana, also jenes Buddha, der im Mandala der fünf Tathagatas in der Mitte dargestellt wird. Über die früheren Inkarnationen von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye sind zahlreiche Berichte überliefert, so war er zu Lebzeiten Buddha Shakyamunis dessen Schüler Ananda. In dem Leben, in dem er in seinem Bewusstseinsstrom die Erfahrung von Mahamudra und Maha-Ati vereinte und Dorje Chang, den Zustand vollkommener Einheit, verwirklichte, war er Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye, dessen Erscheinen von Buddha Shakyamuni u.a. im Samadhirajasutra und im Lankavatarasutra vorhergesagt worden war. Den grössten Teil seiner buddhistischen Ausbildung erhielt Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye vom 9. Situ Rinpoche, Pema Nyinje Wangpo (1774-1853), im Kagyü-Kloster Palpung, dem Hauptsitz der Situpas. Er erhielt von Situ Rinpoche die Mönchsgelübde und den Namen Karma Ngagwang Yönten Gyamtso Trinle Künkhyab Palsangpo. Zusammen mit dem Bodhisattva-Gelübde erhielt er den Namen Bodhisattva Lodrö Thaye. Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye wurde ein Schüler des 14. Karmapa, Thegchog Dorje (1798-1868), und erhielt von diesem die gesamte Übertragung der Kagyü-Lehren, die er später, als Lehrer des 15. Karmapa, Khakyab Dorje (1871-1922), an diesen weitergab. Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye war ein Glied der Goldenen Überlieferungskette der Kagyüs, durch die die Erfahrung von Mahamudra übermittelt wird, und der Verfasser

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jenes Vajra-Gesanges, der die Grundlage für das vorliegende Buch bildet.

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Seine geistige Verwirklichung fand in einer umfassenden Aktivität zum Wohle aller Wesen ihren Niederschlag. Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye fasste die buddhistische Lehre, die sich in Tibet in den sogenannten acht Überlieferungen entfaltet hatte, in fünf "Schätzen" zusammen: - dem Kagyü Ngag Dzö, dem "Schatz der Kagyü Mantras", einer Sammlung von Einweihungstexten, deren grösster Teil von Marpa nach Tibet gebracht worden war; - dem Dam Ngag Dzö, dem "Schatz der Kernunterweisungen", einer Sammlung der wichtigen Texte der buddhistischen Schulen in Tibet; - dem Rinchen Ter Dzö, dem "Schatz der kostbaren Termas", einer Sammlung von Termas, d.h. von einst versteckten und später wiederaufgefundenen Lehren; - dem Ka Dzö, dem "Schatz der Rede", den Gesammelten Werken von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye; - dem Sheja Künkhyab Dzö, dem "Schatz der allesdurchdringenden Wissensinhalte", einer Enzyklopädie der gesamten buddhistischen Lehre. Es heisst, dass in diesen fünf Werken alles, was mit Einweihung, Übertragung durch Lesen und Erklärung der vielschichtigen Lehre Buddhas zu tun hat, enthalten sei. Diese Sammlungen stellen eine strukturierte Zusammenfassung der verschiedenen Traditionen dar, die dadurch ausnahmslos als gleichermassen autoritativ weiter überliefert und praktiziert werden. Diese Überlieferung der Gesamtheit der Traditionen war das Ziel der Rime-Bewegung, zu deren herausragendsten Persönlichkeiten Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye zählte.

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Der 2. Jamgön Kongtrul Rinpoche, Khyentse Öser (1904-1953)

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Der zweite Jamgön Kongtrul Rinpoche, Khyentse Öser, wurde im Jahr 1904 geboren. Er wurde vom 15. Karmapa, Khakyab Dorje, als zweiter Jamgön Kongtrul Rinpoche anerkannt und erhielt von diesem alle Belehrungen. Jamgön Kongtrul Khyentse Öser verbrachte den Grossteil seines Lebens mit Meditation. Er gab die Überlieferung an den 16. Karmapa, Rangjung Rigpe Dorje (1924-1981), weiter. Vor seinem Tod im Jahr 1953 prophezeite Jamgön Kongtrul Khyentse Öser die Umstände seiner nächsten Wiedergeburt.

Der 3. Jamgön Kongtrul Rinpoche, Lodrö Chökyi Senge Tenpe Gocha Der jetzige Jamgön Kongtrul Rinpoche ist das dritte Glied in der Reihe der bewussten Inkarnationen von Jamgön Kongtrul Rinpoche. Er wurde 1954 in Zentraltibet geboren, wobei die Umstände seiner Geburt genau jenen Prophezeiungen entsprachen, die der 2. Jamgön Kongtrul Rinpoche darüber gegeben hatte. Jamgön Kongtrul Rinpoche lebt seit seiner Kindheit im Rumtek-Kloster in Sikkim, dem Hauptsitz der Karmapas, und studierte unter der Leitung von S.H. dem 16. Karmapa, dem Oberhaupt der Kagyü-Schule. Bereits 1977 begleitete er S.H. Karmapa auf dessen Reise in die USA und nach Europa. Während der letzten Jahre besuchte er regelmässig die Kagyü-Zentren in Asien und im Westen. Jamgön Kongtrul Rinpoche ist einer von Karmapas vier "Herzenssöhnen", die derzeit Linienhalter der Kagyü-Schule sind. Die weiteren drei sind Künsig Shamar Rinpoche, Tai Situ Rinpoche und Goshir Gyaltsab Rinpoche.

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Anhang II: Anmerkungen zu den einleitenden Versen des Vajra-Gesanges

1.) Lama Lodrö Thaye, Karma Ngagwang Yöngten Gyamtso: zwei Namen des 1. Jamgön Kongtrul Rinpoche. Siehe seine Lebensgeschichte in Anhang I.

2.) Dagpo Kagyü: siehe Glossar. 3.) Dorje Chang: siehe Glossar. 4.) Acht Qualitäten: siehe Fragen und Antworten 5.) Lotus: (üb. Pema) bezieht sich auf den Namen des

Lehrers von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye, Situ Pema Nyinje Wangpo.

6.) Achtblättriger Lotus-Palast: im Vajrayana ist die Beziehung zum Lehrer sehr wichtig. Eine Methode, um sie ständig aufrecht zu erhalten ist es, sich den Lehrer auf einer Lotusblüte im eigenen Herzen vorzustellen.

7.) Erkenntnis und gleichzeitig Befreiung: augenblickliche Verwirklichung der höchsten Mahamudra-Erkenntnis.

8.) Acht Dharmas: siehe Glossar. 9.) Dharmakaya: siehe Glossar. 10.) Dagpo Buddhas: siehe Glossar. 11.) Uddiyana: (tib. Orgyen) das Reine Land der Dakinis,

der Aufenthaltsort von Tilopa. 12.) Dakinis: siehe Glossar. 13.) Mahasiddha Tilo: siehe Glossar "Tilopa". 14.) Drei Juwelen: siehe Glossar. 15.) Mahapandita Naro: siehe Glossar "Naropa". 16.) Prana: Sanskr. für Energiewinde im Körper. Siehe

Glossar "Kanäle, Energiewinde, Tropfen". 17.) Von Heyajra ausgestrahlter Übersetzer: bezieht sich

auf den grossen Übersetzer Marpa. Siehe Glossar "Marpa".

18.) Lachender Vajra: siehe Glossar.

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19.) Ehrwürdiger Arzt: bezieht sich auf Gampopa. Siehe Glossar.

20.) Vier Grossen und acht Kleinen (Schulen). Siehe Glossar "Kagyüpa-Schule".

21.) Bodhicitta: siehe Glossar. 22.) Ansammlungen: siehe Glossar "Zwei Ansammlungen". 23.) Sambhogakaya: siehe Glossar "Kaya". 24.) Grosse Prophezeiung erfüllen: Verwirklichen der

Buddhaschaft, so wie es von dem Lehrer prophezeit wird.

25.) Stufen und Wege: siehe Glossar "Fünf Wege". 26.) Kernunterweisungen der vorbildlichen Linie: die

Mahamudra-Lehren der Kagyü-Überlieferung.

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Glossar Acht weltliche Dharmas: vier Gegensatzpaare, die unser Leben regieren, indem wir nach den einen streben und die anderen zu vermeiden suchen: Gewinn und Verlust, Freude und Leid, Ruhm und Verleumdung, Lob und Tadel.

Acht Überlieferungslinien: die Nyingmapa-, Kadampa-, Ka-gyüpa-, Sakyapa-, Shangpa-, Shije-, Orgyenpa-, und Jonangpa-Überlieferung. Man unterscheidet zwischen der "alten" - der Nyingma-Tradition -, die aus der ersten Verbreitung des Buddhismus in Tibet (8Jh.) hervorging, und den anderen, "neuen" Traditionen, die während der zweiten Übersetzungswelle nach Tibet kamen. Diese zweite Phase beginnt mit dem Übersetzer Rinchen Sangpo (958-1051).

Alaya-Bewusstsein: (tib. Künshi Nampar Shepa) das alles-zugrunde-liegende Bewusstsein; jener Aspekt des Geistes, der die Grundlage für die - durch Illusion bedingte - Identifikation mit einem Ich und für das dualistische Denken ist.

Atisha: (982-1054) Meditationsmeister und Gelehrter an der buddhistischen Universität Vikramashila in Indien. Auf wiederholte Einladung ging er nach Tibet, wo er viel zur Festigung der buddhistischen Lehre beitrug. Atisha ist auch unter dem Namen Dipamkara Shri Jnana bekannt. Sein Schüler Dromtönpa gründete die Kadampa-Schule.

Bardo: wörtl. "Zwischenraum"; bezieht sich im allgemeinen auf den Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt. Genauer aber unterscheidet man in sechs Arten von Bardo, nämlich den des Lebens, des Schlafens, der Meditation, des Sterbens, der Wirklichkeit und des Entstehens.

Bereich der Sinne: (tib. Do Kham) siehe Drei Bereiche.

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Bereich der Körperhaftigkeit: (tib. Sug Kham) siehe Drei Bereiche.

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Bereich der Körperlosigkeit: (tib. Sugme Kham) siehe Drei Bereiche.

Bodhicitta: (tib. Changchub Kyi Sem) die auf Erleuchtung ausgerichtete Geisteshaltung, zum Wohl aller Wesen Buddhaschaft zu erlangen. Bodhicitta wird in zwei Aspekte unterteilt: das relative und das letztendliche Bodhicitta. Das relative Bodhicitta besteht einerseits in dem Wunsch, Erleuchtung zum Wohl aller Wesen zu erlangen, und andererseits in der Umsetzung dieses Wunsches durch die Anwendung der befreienden Handlungen, der Paramitas. Das letztendliche Bodhicitta ist die Erkenntnis der Untrennbarkeit von Leerheit und Mitgefühl.

Bodhisattva: (tib. Changchub Sempa) ein Wesen, das unermüdlich - ohne jemals den Mut zu verlieren - nach Erleuchtung zum Wohl der Wesen strebt. Im engeren Sinn ist ein Bodhisattva jemand, der Leerheit erkannt und Mitgefühl entwickelt hat. Im weiteren Sinn ist jeder ein Bodhisattva, der das Bodhisattva-Gelübde abgelegt hat. Dieses ist eine Zeremonie, in der man das Versprechen ablegt, zum Wohl aller Wesen Buddhaschaft zu erlangen.

Bönpo: Bon ist eine schamanistische Naturreligion, die in Tibet besonders vor der Zeit des Buddhismus verbreitet war; Bönpos sind Anhänger des Bon.

Dakini: (tib. Kandro) wörtlich Himmelsläuferin. Dakinis stellen jenen inspirierenden Impuls des Bewusstseins dar, der den Praktizierenden beim Erlangen der Weisheit unterstützt; sie erscheinen in friedlichen, halbzornvollen und zornvollen Formen. Manche von ihnen zählen zu den Yidams, andere zu jenen Energien, die die Lehre und die Praktizierenden schützen. Daneben gibt es jedoch auch Dakinis, die nicht zum Wohl der Wesen wirken.

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Dagpo Buddhas: die verwirklichten Linienhalter der Dagpo-Kagyü-Schule. Siehe auch Kagyüpa-Schule.

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Dagpo Kagyü: siehe Kagyüpa-Schule.

Dharma: (tib. Chö) in diesem Buch (ausser bei dem Begriff "die acht weltlichen Dharmas") durchgehend als "buddhistische Lehre" zu verstehen.

Dharmadhatu: (tib. Chö Ying) der Raum der Phänomene, die letztendliche Wirklichkeit.

Dharmakaya: siehe Kaya.

Dharma-Roben: die drei Gewänder einer Nonne oder eines Mönches.

Dharma-Schützer: (tib. Chö Kyong) siehe drei Wurzeln.

Dorje Chang: (Sanskr. Vajradhara) Dharmakaya, der Zustand der Buddhaschaft, in Sambhogakaya - Form. Siehe auch Kaya.

Dorje Chang-Gebet: ein Gebet an die Kagyü-Überlieferungslinie, das in wenigen Worten den Mahamudra-Weg beschreibt. Verfasst wurde dieser Text von Jampel Sangpo, Schüler des 6. Karmapa und der Lehrer des 7. Karmapa.

Dorje Sempa: (Sanskr. Vajrasattva) eine Sambhogakaya-Form der Buddhaschaft, in der sich die reinigende Kraft der Erleuchtung ausdrückt. Siehe auch Kaya.

Dorje und Glocke: zwei der wichtigsten Ritualgegenstände im Vajrayana. Der Dorje, ein Symbol für Unzerstörbarkeit und Mitgefühl, wird immer in der rechten Hand gehalten. Die Glocke, ein Symbol für höchstes Wissen, immer in der linken.

Drei Bereiche von Samsara: (tib. Kham Sum) der Bereich der Sinne, der Körperhaftigkeit und der Körperlosigkeit. Zum Bereich der Sinne zählen die Höllen-, Preta-, Tier-, Menschen-, Asura-,

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und die "niederen" Götterwelten; die Sinne sind hier das wichtigste Element der Existenz-Erfahrung. Zum Bereich der Körperhaftigkeit und der Körperlosigkeit zählen nur Götterwelten, wobei im Bereich der Körperhaftigkeit die Illusion eines - wenn auch subtilen - Körpers erlebt wird, während der Bereich der Körperlosigkeit ein rein geistiger Zustand ist.

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Drei-Jahres-Retreat: eine traditionelle Form der Zurückziehung, die drei Jahre, drei Monate und drei Tage dauert.

Drei Juwelen: (tib. Könchog Sum) Buddha, Dharma (seine Lehre) und Sangha (die Gemeinschaft der Praktizierenden). Siehe auch Zuflucht.

Drei Wurzeln: (tib. Tsawa Sum) die erweiterte Zuflucht für den Vajrayana: Lama, Yidam und Dharma-Schützer. Der Lama ist die Quelle der Inspiration, durch die wir die Natur des eigenen Geistes erfahren. Die Yidams (Meditationsgottheiten), die Quelle der Siddhis, sind Sambhogakaya-Formen, subtile Manifestationen des Dharmakaya, die nur von verwirklichten Bodhisattvas erfahren, im Vajrayana jedoch als Meditationsobjekte visualisiert werden. Der Yidam als Meditationsgottheit des Praktizierenden verkörpert dessen erleuchtete Natur. Die Dharma-Schützer, ebenso Sambhogakaya-Formen, sind die Quelle der Aktivität, die vor Hindernissen auf dem Weg zur Buddhaschaft schützt. Die Yidams und Dharma-Schützer sind in ihrer Essenz untrennbar vom Lama.

Drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Einweihung: (Sanskr. Abhisheka, tib. Wang) eine Zeremonie, bei der der Praktizierende durch seinen Lehrer in das Mandala eines bestimmten Yidam eingeführt wird und dadurch die Ermächtigung erhält, auf diesen Yidam zu meditieren. Neben der Einweihung ist für die zielführende Praxis des Vajrayana auch noch die Übertragung durch Lesen (tib. Lung) und die mündlichen Erklärungen (tib. Tri) notwendig.

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Energiewinde: siehe Kanäle.

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Entstehungsphase: (tib. Kye Rim) im Weg der Methoden des Vajrayana unterscheidet man zwei Phasen im Ablauf der Meditation: die Entstehungsphase, in der man eine bestimmte Visualisierung aufbaut, und die Vollendungsphase (tib. Dzog Rim), in der diese in Leerheit aufgelöst wird.

Erleuchtung: Buddhaschaft. Das tib. Wort für Buddha, Sang Gye, verdeutlicht mit seinen beiden Silben die zwei Aspekte der Buddhaschaft. "Sang" bedeutet "vollkommenes Gereinigtsein" von allen Verdunkelungen, vom Schlaf der Unwissenheit. "Gye" bedeutet "vollkommenes Entfaltetsein" aller Qualitäten und der Weisheit. Erleuchtung - oder Buddhaschaft - ist der Zustand vollkommener Reinheit und Weisheit.

Form-Kayas: (tib. Sug Ku) Formkörper. Siehe Kaya.

Fünf Wege: die Beschreibung der spirituellen Entwicklung im Mahayana: der Weg der Ansammlung, der Verbindung, der Meditation, der Einsicht und des Nicht-mehr-Lernens. Mit dem Weg der Einsicht wird die erste von zehn Bodhisatt-va-Stufen verwirklicht. Innerhalb der zehn Bodhisattva-Stufen unterscheidet man in die sogenannten unreinen - von der ersten bis zur siebten - und die sogenannten reinen - von der achten bis zur zehnten Bodhisattva-Stufe. Die elfte Stufe ist die Verwirklichung vollkommener Buddhaschaft, der Weg des Nicht-mehr-Lernens.

Gampopa: (1079-1153) Hauptschüler Milarepas und Lehrer des ersten Karmapa, Düsum Khyenpa. Gampopa überlieferte zwei Traditionen: einerseits die Kadampa-Linie von Atisha und andererseits die Mahamudra-Linie, die er von Milarepa erhalten hatte. In Dagla Gampo gründete Gampopa das erste Kagyü-Kloster Tibets. Gampopa ist die Quelle aller vier grossen und acht kleinen Kagyü-Überlieferungslinien. Er ist auch unter dem Namen Dagpo Lharje, der Arzt von Dagpo, bekannt.

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Garuda: ein Vogel aus der indischen Mythologie, der ausgewachsen aus dem Ei schlüpft und daher den erwachten Zustand des Geistes symbolisiert.

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Geben und Nehmen: (tib. Tong Len) eine ursprünglich aus der Kadamapa-Tradition stammende Meditation, um Bodhicitta und Geistesruhe zu entwickeln.

Gelübde: man unterscheidet in drei Arten von Gelübden, die äusseren, inneren und geheimen. Die äusseren Gelübde sind jene Diszplin, durch die man es vermeidet, anderen Schaden zuzufügen; sie werden als die Gelübde zur eigenen Befreiung bezeichnet und bestehen aus sieben bzw. acht Gruppen von Gelübden, z.B. jenen für Nonnen, Mönche, Laien usw. Das innere Gelübde ist das Bodhisattva-Gelübde. Die geheimen Gelübde sind die tantrischen Gelübde.

Guru Yoga: (tib. Lame Naljor) Meditation, durch die man erkennt, dass der eigene Geist vom Geist des Lama und der letztendlichen Wirklichkeit, d.h. von der Buddhaschaft, untrennbar ist.

Hevajra: (tib. Kye Dorje) einer der fünf Haupt-Yidams der Kagyü-Schule; er war einer der Yidams von Marpa.

Hinayana: siehe Yana.

Inkarnationen: (tib. Tulku) sind Wesen, die aufgrund ihrer spirituellen Erkenntnis die Fähigkeit erlangt haben, sich bewusst in der Welt wiedergebären zu lassen, um den Wesen zu helfen.

Juwelenornament der Befreiung: (tib. Dagpo Thargyen) einer der wichtigsten Texte von Gampopa. Es ist die in der Kagyüpa-Schule gebräuchlichste Darstellung des stufenweisen Weges im Mahayana.

Kadampa: Name jener Tradition, die von den Schülern Atishas überliefert wurde. Es gibt sie heute nicht mehr als eigenständige

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Schule - vielmehr wird sie durch andere tibetisch-buddhistische Schulen überliefert.

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Kagyüpa-Schule: eine der vier grossen buddhistischen Überlieferungstraditionen Tibets. Die drei weiteren sind: Nyingmapa, Sakyapa und Gelugpa. Nach Gampopa wurde die Kagyü-Schule auch Dagpo Kagyü genannt. Innerhalb der Kagyü-Überlieferung unterscheidet man in die so genannten vier grossen und acht kleinen Traditionen. Die vier grossen Kagyü-Linien gehen auf die vier Hauptschüler von Gampopa zurück:

- die Karma Kagyü (oder Kamtsang Kagyü) -Tradition auf den 1. Karmapa, Düsum Khyenpa;

- die Pagdru Kagyü-Tradition auf Pagmo Drupa; - die Tsalpa Kagyü-Tradition auf Öngom Tsultrim Nyingpo

und dessen Schüler Zhang Darma Drag; - die Barom Kagyü-Tradition auf Barom Darma Wangchuk.

Die acht kleinen Linien, die auf die acht Hauptschüler von Pagmo Drupa zurückgehen, sind Drigung-, Taglung-, Yamsang-, Thropu-, Shugseb-, Yelpa-, Martsang- und Drugpa-Kagyü.

Als eigenständige Übertragungslinien bestehen heute von den vier grossen die Karma Kagyü, von den acht kleinen die Drugpa, Drigung und Taglung-Linie.

Kalpa: unvorstellbar langer Zeitraum, Äon.

Kanäle, Energiewinde, Tropfen: (tib. Tsa, Lung, Thigle) auf dem Weg der Methoden meditiert man auf im Körper befindliche Energiebahnen - die Kanäle -, auf die sich darin bewegenden Energiewinde und auf die Essenz des Körpers - die Tropfen. Diese Art von Meditation zählt zu den besonderen Mitteln des Vajrayana. Grundbedeutung des Wortes Thigle - Tropfen - ist Essenz, das Essentielle. Bei der Shine-Praxis z.B. verwendet man manchmal ein Thigle als "essentielle" Stütze - eine kleine visualisierte Kugel

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- für die Konzentration. In unserem Körper ist Thigle dessen männliche und weibliche Quintessenz, kraft derer Leben entsteht.

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Karma: (tib. Le) die Gesetzmässigkeit zwischen Handlungen und ihren Wirkungen, die die verschiedenen Arten von Welt-Erleben bedingt. Geistige Eindrücke von Handlungen, Worten und Gedanken, deren Konsequenz das Erleben von Leid ist, bezeichnet man als negatives Karma. Positives Karma führt zum Erleben von Glück.

Karma-Kagyüpa-Schule: siehe Kagyüpa-Schule.

Karmapa: spirituelles Oberhaupt der Kagyüpa-Schule. Die Karmapas verkörpern die Aktivität aller Buddhas. Dies kommt bereits im Namen Karmapa zum Ausdruck: Karma bedeutet Buddha-Aktivität. Der erste Karmapa, Düsum Khyenpa (l 110-1193), war der Hauptschüler von Gampopa. Vor seinem Tod hinterliess er in einem Brief die genauen Umstände seiner nächsten Geburt. Diesen Beschreibungen entsprechend wurde der zweite Karmapa, Karma Pakshi (1206-1283), als bewusste Wiedergeburt des ersten Karmapa geboren; er war der erste bewusst wiedergeborene Lama Tibets. Seit dieser Zeit wird die Kagyü-Schule von den Karmapas überliefert, wobei jeder Karmapa vor dem Tod genaue Angaben über seine Wiedergeburt hinterlässt.

Kaya: (tib. Ku) "Körper" der Buddhaschaft. Der Dharmakaya (tib. Chö Ku) ist der Zustand der Buddhaschaft an sich; er ist die Natur des Geistes - die Leerheit - und ist für einen selbst von Bedeutung. Sambhogakaya (tib. Long Ku) und Nirmanakaya (tib. Trül Ku) sind die "Formkörper", die sich aus Mitgefühl zum Wohl der Wesen manifestieren und daher für andere von Bedeutung sind. Die Sambhogakaya-Formen können nur von verwirklichten Bodhisattvas direkt erfahren werden; ein Beispiel für den Sambhogakaya ist Dorje Sempa. Die Nirmanakaya-Formen können von Wesen ohne besondere Erkenntnis wahrgenommen werden. Sie zeigen sich z.B. als Menschen wie Buddha

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Shakyamuni. Die Einheit der drei Kayas ist der Svabhavikakaya (tib. Ngowo Nyikyi Ku).

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Lachender Vajra: (tib. Shepa Dorje) Name, den Milarepa von seinem Lehrer Marpa erhielt.

Lama: siehe drei Wurzeln.

Lhagthong: (Sanskr. Vipashyana) klares Gewahrsein, klare Einsicht in die Natur des Geistes.

Linie: Abfolge von buddhistischen Meistern, die eine bestimmte Tradition überliefern.

Madhyamaka: (tib. Uma) von Buddha gelehrte Philosophie über die Leerheit, die letztendliche Seinsweise der Dinge. Diese Lehren Buddhas wurden später von indischen Meistern wie Nagarjuna, Chandrakirti usw. kommentiert und bilden das philosophische Fundament für den Vajrayana.

Maha-Ati: (tib. Dzogpa Chenpo) die "Grosse Vollendung". Entspricht dem Mahamudra der Kagyü-Tradition und wird hauptsächlich in der Nyingma-Tradition überliefert. Mahamudra und Maha-Ati sind in ihrer Natur und im Ziel gleich. Methoden und Weg sind jedoch verschieden.

Mahamudra: (tib. Chaggya Chenpo) das "Grosse Siegel" der Wirklichkeit. Man unterscheidet dabei in Grundlage-, Weg- und Frucht-Mahamudra. Grundlage-Mahamudra ist die Natur des Geistes und die richtige Sichtweise. Weg-Mahamudra ist die Anwendung der Mahamudra-Meditation. Frucht-Mahamudra ist die Erkenntnis der Natur des Geistes.

Mahasiddha: (tib. Drub Chen) ein(e) Praktizierende(r) des Vajrayana, der (die) die allgemeinen und höchsten Siddhis erlangt hat. Siehe auch Siddhi.

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Mahapandita: höchster indischer Gelehrtentitel. Mahayana: siehe Yana.

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Maitripa: (11. Jh.) - auch Maitri - indischer Mahasiddha, von dem Marpa die Mahamudra-Übertragungslinie erhielt.

Mandala: (tib. Khyil Khor) Mandala hat mehrere Bedeutungen: 1. Mandala als das geistige Kraftfeld der Buddhas. 2. Mandala als das unendlich schöne, mit Kostbarkeiten gefüllte Universum, das man geistig errichtet, um es bei der so genannten Mandala-Opferung den Buddhas zu opfern. 3. Mandala als die runde Scheibe, auf der dieses Universum symbolisch errichtet wird.

Mantra: (tib. Sang Ngag) Worte bzw. Silben, die in Meditationen des Vajrayana verwendet werden.

Mantrayana: anderer Begriff für Vajrayana bzw. Tantra-yana. Siehe Yana.

Mara: (tib. Du) durch Illusion, falsche Vorstellungen und negatives Verhalten bedingte Schwierigkeiten und Hindernisse.

Marpa: (1012-1097) der "Grosse Übersetzer", der als Ausstrahlung von Hevajra gilt. Marpa reiste dreimal von Tibet nach Indien, um von seinen Hauptlehrem Naropa und Maitripa Belehrungen zu erhalten. Er war der erste tibetische Linienhalter der Kagyü-Schule und der Lehrer von Milarepa.

Milarepa: (1040-1123) ein wichtiger Lehrer der Kagyüpa-Schule, der in einem Leben vollkommene Buddhaschaft erlangte. Er wird als der grösste unter den Yogis bezeichnet. Milarepa war der Lehrer von Gampopa.

Naropa: (1016-1100) - auch Naro - indischer Mahasiddha. Er war Schüler von Tilopa und Lehrer von Marpa.

Niedere Bereiche: Höllen-, Preta- und Tierbereiche. Siehe auch drei Bereiche.

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Neun Stufen des geistigen Verweilens: Die Erfahrungen auf dem Weg der Shine-Meditation werden in den Abhandlungen in neun Punkten erklärt. Diese neun sind: den Geist auf etwas Konzentrieren; andauerndes Konzentrieren; erneutes Konzentrieren; genaues Konzentrieren; Disziplinieren; Beruhigen; vollkommenes Beruhigen; einspitzig-Machen; ausgeglichenes Konzentrieren. Die Kernunterweisungen beschreiben die Entwicklung von Geistesruhe in fünf Stufen, die durch Beispiele illustriert sind: wie ein Wasserfall; ein reissender Fluss in einer Schlucht; ein breiter, langsam fliessender Strom; ein ruhiger Ozean; klar und ruhig wie eine Butterlampe in einem windstillen Raum.

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Ngöndro: die vorbereitenden Übungen für den Mahamudra-Weg. Man unterscheidet in die vier allgemeinen und die vier besonderen vorbereitenden Übungen. Die allgemeinen bestehen in der Vergegenwärtigung von: Kostbarkeit des menschlichen Lebens, Unbeständigkeit, Karma und Leidhaftigkeit von Samsara. Die besonderen vorbereitenden Übungen bestehen aus: Zuflucht und Bodhicitta, Dorje Sempa-Meditation, Mandala-Opferung und Guru Yoga.

Nirmanakaya: siehe Kaya.

Nirwana: (tib. Nyang De) Zustand der Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. Oft auch Synonym für Buddhaschaft.

Paramita: (tib. Paröl Tu Chinpa) die sechs Paramitas, die befreienden Handlungen, sind die Essenz des Mahayana; es sind dies Freigebigkeit, Disziplin, Geduld, Ausdauer, Meditation und Wissen. Es gibt auch eine Einteilung in zehn Paramitas, wobei die weiteren vier Methode, Wunsch, Kraft und Weisheit sind.

Prajnaparamita: (üb. Sherab Kyi Paröl Tu Chinpa) ist das sechste Paramita, höchstes Wissen. Erst dadurch werden die ersten fünf Paramitas wirklich befreiend. Prajnaparamita ist die Erkenntnis, dass die Wirklichkeit jenseits aller Dualität von Sein

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und Nicht-Sein liegt. Da diese Erkenntnis es ist, die zur Buddhaschaft führt, wird Prajnaparamita oft als die "Mutter aller Buddhas" bezeichnet und als weiblicher Buddha-Aspekt dargestellt.

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Pratyekabuddha: (tib. Rang Sangye) ein Zustand der Befreiung von Samsara. Diejenigen, die nach diesem Zustand streben, haben folgende Merkmale: sie fürchten Samsara, streben nach Nirwana, haben wenig Mitgefühl, sind stolz, halten ihre Lehrer geheim und streben nach Einsamkeit. Ihr Weg besteht in erster Linie darin, über das zwölffache Entstehen in Abhängigkeit zu meditieren. Siehe auch Yana.

Rinpoche: heisst "Kostbarer" und ist eine tibetische Anrede bzw. ein Titel für einen buddhistischen Meister.

Sakya Pandita: (1181 -1251) Titel von Künga Gyaltsen, einem der bedeutendsten Gelehrten der Sakyapa-Tradition.

Samadhi: (tib. Tin Nge Dzin) Zustand geistiger Versenkung.

Samsara: (tib. Khorwa) von Leid gekennzeichneter Zustand der Unwissenheit, in dem der dauernde Kreislauf von Wiedergeburten erlebt wird.

Sambhogakaya: siehe Kaya.

Sechs Bewusstseinsarten: die fünf Arten von Sinnesbewusstsein und das Geistbewusstsein.

Sechs Lehren von Naropa: (tib. Naro Chö Drug) sechs intensive Meditationspraktiken, die vor allem in der Ka-gyü-Tradition überliefert werden. Es sind die Meditationen von: Innerer Hitze (Tummo), Illusionskörper (Gyulü), Traum (Milam), Klarem Licht (Ösel), Bewusstseinsübertragung (Phowa) und Zwischenzustand (Bardo). Ziel dieser Praktiken ist es, die Natur des Geistes zu erkennen. Naropa erhielt diese Lehren von verschiedenen Lehrern und gab sie an seinen Schüler Marpa weiter.

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Shine: (Sanskr. Shamata) Meditation des Verweilens in Geistesruhe.

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Shravaka: (tib. Nyen Thö) ein Zustand der Befreiung von Samsara. Diejenigen, die nach diesem Zustand streben, haben folgende Merkmale: sie fürchten Samsara, streben nach Nirwana und haben wenig Mitgefühl. Ihr Weg besteht in erster Linie darin, über die Vier Edlen Wahrheiten und deren 16-fache Unterteilung zu meditieren. Siehe auch Yana.

Siddha: (tib. Drub Thob) siehe Mahasiddha.

Siddhi: (tib. Ngö Drub) besondere Fähigkeiten, die durch Meditation entwickelt werden. Man unterscheidet zwischen den allgemeinen und der letztendlichen Siddhi. Die "allgemeinen" sind aussergewöhnliche physische und psychische Fähigkeiten. Die "letztendliche" ist die Erkenntnis der Natur des Geistes, der Wirklichkeit.

Siebenteiliges Gebet: eine bestimmte Art von Gebeten, um spirituelles Verdienst anzusammeln. Die sieben Teile sind: Verbeugungen; Opferungen; Bereuen von Negativem; Erfreuen an Positivem; Bitte, das Rad der Lehre zu drehen; Bitte, nicht ins Nirwana einzugehen; Widmung des Verdienstes zum Wohl aller Wesen.

Siegreicher: (tib. Gyalwa) Name für Buddhas, die jegliche Illusion besiegt haben.

Skandha: (tib. Pungpo) die fünf Skandhas sind jene Ansammlungen, aus denen das Individuum und seine Erfahrungen bestehen: Form, Gefühl, Unterscheidung, gestaltende Faktoren und Bewusstsein. Solange wir im Zustand der Illusion leben, halten wir diese fünf - oder einzelne von ihnen - für wirklich. Untersucht man sie jedoch genau, kann man weder in ihrer Gesamtheit noch in einem einzelnen, noch ausserhalb davon ein Ich finden.

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Sugatagarbha: Buddha-Natur, das jedem Wesen inhärente Potential der Buddhaschaft.

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Sutra: (tib. Do) man kann die Lehre Buddhas in den Sutra-Weg und den Tantra-Weg unterteilen. Der Sutra-Weg besteht dann aus allen Hinayana- und Mahayana-Lehren; der Tantra-Weg umfasst die Belehrungen des Vajrayana. Siehe auch Yana.

Sutra-Weg: siehe Yana. Svabhavikakaya: siehe Kaya.

Tathagata: (tib. Deshin Shegpa) "der zur Soheit Gelangte", Name für einen Buddha.

Tantra-Weg: siehe Yana.

Tilopa: (988-1069) - auch Tilo - indischer Mahasiddha, einer der Vorväter der Kagyü-Linie. Er war der Lehrer von Naropa.

Ursachen-Merkmal-Fahrzeug: (tib. Gyu Tsen Nyi Theg-pa) anderer Name für den Sutra-Weg. Um Leerheit, das Merkmal der Wirklichkeit, zu erkennen, praktiziert man den Weg und sammelt damit die Ursachen für Erleuchtung an. Siehe auch Yana.

Vajra: (tib. Dorje). Siehe Dorje.

Vajrayana: (tib. Dorje Thegpa) ein anderer Begriff für den

Tantrayana: Siehe auch Yana.

Verdienst: (tib. Sönam) siehe zwei Ansammlungen.

Verdunkelungen: alles was uns daran hindert, Buddhaschaft - die Natur unseres Geistes - zu erkennen.

Vier grosse und acht kleine Linien: siehe Kagyüpa-Schule.

Vier allgemeine und vier besondere Vorbereitungen: siehe Ngöndro.

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Vier Dharmas von Gampopa: kurzer Text von Gampopa: "Mögen ich und alle Wesen uns innerlich dem Dharma zuwenden, den Dharma als unseren Weg gehen, uns von Illusion befreien und Illusion als ursprüngliche Weisheit erkennen".

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Vier extreme Seinsweisen: Vorhanden, Nichtvorhanden, Sowohl-Vorhanden-als-auch-Nichtvorhanden, Weder-Vorhanden-noch-Nichtvorhanden. Diese vier falschen Vorstellungen, die bei der Einschätzung der Wirklichkeit entstehen können, werden durch den Madhyamaka widerlegt.

Vier Wahrheiten: (tib. Denpa Shi) die "Vier Edlen Wahrheiten", die ersten Belehrungen von Buddha Shakyamuni: die Wahrheit des Leidens, der Ursache des Leidens, des Aufhörens des Leidens und des zum Aufhören führenden Weges.

Vier Yogas: auf dem Mahamudra-Weg unterscheidet man vier Stufen, die so genannten Yogas: Einspitzigkeit, Ein-Geschmack, Frei-von-Einbildungen und Nicht-Meditation. Jeder dieser vier ist in drei Grade der Verwirklichung unterteilt.

Visualisierung: Meditationstechnik des Vajrayana, die z.B. darin besteht, sich einen Yidam vorzustellen.

Vollendungsphase: siehe Entstehungsphase. Weg der Befreiung: siehe Weg der Methode. Weg der Einsicht: siehe fünf Wege.

Weg der Methode: (tib. Thab Lam) Obwohl es in allen buddhistischen Fahrzeugen Methoden zur Erlangung der Erkenntnis gibt, wird vor allem der Vajrayana - wegen seiner grossen Vielfalt an kraftvollen Mitteln - als "Weg der Methode" bezeichnet. Innerhalb des Vajrayana unterscheidet man zwischen Meditationen mit Visualisierungen - dem Weg der Methode -und solchen ohne besondere Vorstellungen - dem Weg der Befreiung (tib. Dröl Lam).

Weisheit: (tib. Yeshe) siehe zwei Ansammlungen.

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Wirklichkeit: man unterscheidet in die relative und die letztendliche Ebene der Wirklichkeit. Die relative Wirklichkeit ist unsere Erlebniswelt, die auf Entstehen in Abhängigkeit beruht. Die letztendliche Wirklichkeit ist die Leerheit, die wahre, nicht bedingte Natur der Dinge. Diese beiden Aspekte der Wirklichkeit sind voneinander untrennbar.

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Wissen: siehe Paramita.

Yana: (tib. Thegpa) bedeutet "Fahrzeug" und bezieht sich auf die buddhistischen Wege. Im Buddhismus unterscheidet man in die Drei Yanas: l. den Shravaka-Yana, 2. den Pratyekabuddha-Yana und 3. den Bodhisattva-Yana. Die ersten beiden dieser Yanas, der Shravaka- und Pratyekabuddha-Yana, sind der so genannte Hinayana (tib. Theg Men), das "Kleine Fahrzeug". Kurz gesagt, ist das besondere Merkmal dieser Wege, dass der Praktizierende hauptsächlich die eigene Befreiung zum Ziel hat. Der dritte Yana, der Bodhisattva-Yana, ist der so genannte Mahayana (tib. Theg Chen), das "Grosse Fahrzeug". Kurz gesagt, strebt der Praktizierende dieses Yana danach, durch Mitgefühl und Weisheit zum Wohl aller Wesen Buddhaschaft zu erlangen; damit ist seine Verantwortung, seine Verpflichtung bei weitem grösser als im Hinayana. Der Mahayana besteht aus Sutrayana und Tantrayana, die beide zu dem gleichen Ziel führen. Im Tantrayana stehen dem Praktizierenden jedoch besonders wirksame Methoden für das Entwickeln von Mitgefühl und Weisheit, für das Umwandeln von Unreinem in Reines zur Verfügung. Tantrayana, Vajrayana und Mantrayana sind bedeutungsgleich.

Yidam: siehe drei Wurzeln.

Yogi: (tib. Naljorpa) ein männlicher Praktizierender des Vajrayana.

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Zehn Richtungen: die vier Himmelsrichtungen, die vier dazwischen liegenden Richtungen, Zenith und Nadir; bedeutet auch jenseits aller Richtungen.

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Zehn Stufen: siehe fünf Wege.

Zuflucht: (tib. Kyab Dro) die Zufluchtnahme besteht in dem Entschluss, die drei Juwelen in das eigene Leben zu integrieren. Man nimmt Zuflucht zum Buddha als Ziel, zum Dharma - der Lehre - als Weg, und zum Sangha - der Gemeinschaft - als Helfer auf dem Weg. Im Vajrayana nimmt man zusätzlich Zuflucht zu den drei Wurzeln.

Zufluchtsbaum: eine bestimmte Art, sich die drei Juwelen und die drei Wurzeln vorzustellen. Sie wird z.B. bei den Verbeugungen im Ngöndro verwendet.

Zwei Ansammlungen: die Ansammlung von Verdienst (tib. Sönam Kyi Tsog), d.h. von positiven Eindrücken im Geist, und die Ansammlung von Weisheit (tib. Yeshe Kyi Tsog), d.h. von Einsicht in die Natur der Dinge.