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Andreas Urs Sommer
Ein Kommentar zur „Götzen-Dämmerung“
Einige Problemanzeigen
Vortrag für das Seminar der Nietzsche-Research Group, Nijmegen, 8. November 2008
I. Zur Disziplinierung der Nietzsche-Forschung
Vielleicht hält man es für zu selbstverständlich, dass Nietzsche Bücher geschrieben hat. In der
gängigen Nietzsche-Literatur wird jedenfalls wenig Gedankenarbeit auf den Umstand
verschwendet, dass wir von Nietzsche zunächst keine Hauptlehren, keine Theorien, erst recht
kein System haben, sondern nur Bücher. Diese Feststellung ist zwar trivial und gilt zunächst
auch für andere Autoren, denen wir Hauptlehren, Theorien und Systeme eher zuzuschreiben
geneigt sind. Aber die Hauptwerke Spinozas, Kants oder Hegels sind zumindest dem
Anspruch nach systematisch angelegt und fordern daher eine systematische Rekonstruktion
heraus. Diese Hauptwerke, so scheint es im Vergleich zu Nietzsches Werken, schlagen selbst
eine hierarchische Ordnung der Gedanken vor, anhand derer dann eben die Philosophie
Spinozas, Kants oder Hegels systematisch rekonstruierbar wäre. Nietzsches Werke hingegen
bieten kaum eine solche hierarchische Ordnung der Gedanken an, mit deren Hilfe die Leserin
ihre Lektüre nach Haupt- und Nebengedanken strukturieren kann, um anzugeben, worauf es
Nietzsche eigentlich ankam.
Dieser verstörende Effekt der Lektüre von Nietzsches Büchern hat unterschiedliche
Reaktionsmuster provoziert: Die grossen deutschsprachigen Nietzsche-Deutungen aus der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich damit beholfen, einzelnen in Nietzsches
Büchern – insbesondere in Also sprach Zarathustra – vorkommenden Gedanken den
Charakter von „Hauptlehren“ zuzuschreiben: So sind bei Karl Löwith, Karl Jaspers und
Martin Heidegger der Wille zur Macht, die Ewige Wiederkunft des Gleichen, der
Übermensch zu „Hauptlehren“ erklärt worden, denen (in unterschiedlicher Weise) die Kraft
zugeschrieben wurde, Nietzsches Bücher zu erschliessen.1 Erst durch diese Identifikation von
„Hauptlehren“ schien angesichts der disparaten Lektüreeindrücke, die Nietzsches Bücher
hinterliessen, die Möglichkeit geschaffen, ihn doch noch ins Pantheon der grossen
1 Vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 1956; Karl
Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens [1936], Berlin 21947; Martin
Heidegger, Nietzsche [1936/61], 2 Bde., Pfullingen 51989.
2
Philosophen aufzunehmen, für das „Hauptlehren“ als Eintrittsticket galten.2 Namentlich
Heidegger begegnete dem Unbehagen angesichts der disparaten Lektüreeindrücke von
Nietzsches Büchern mit einer Umwertung des Quellenmaterials: Nicht in den von Nietzsche
publizierten Büchern, sondern vielmehr im unpublizierten Nachlass insbesondere der
Achtziger Jahre sei das Eigentliche von Nietzsches Denken zu finden.3 Damit adelte
Heidegger die editorische Praxis von Elisabeth Förster-Nietzsche und ihrem Weimarer Archiv
philosophisch, aus Nachlassnotizen Nietzsches „Hauptwerk“, nämlich den Willen zur Macht
als Buch hervorzuzaubern.4 Über den höchst zweifelhaften Kompilat- und
Fälschungscharakter dieses vermeintlichen Hauptwerkes sind wir mittlerweile ebenso
erschöpfend unterrichtet wie darüber, dass Nietzsches Überlegungen zum Thema „Wille zur
Macht“ keineswegs in einer parametaphysischen Lehre von einem Willen zur Macht
kulminierte, sondern dass in diesen Überlegungen vielmehr eine irreduzible Fülle von Willen-
zur-Macht-Quanten hätte konzeptualisiert werden sollen.5
Nicht zuletzt unter dem Einfluss postrukturalistischer und dekonstruktiver Lesarten hat
sich die Forschung mancherorts von der gebetsmühlenartigen Rekapitulation der vorgeblichen
„Hauptlehren“ Nietzsches emanzipiert. Dies freilich hat nur vereinzelt dazu geführt, dass
Nietzsches Bücher als Bücher wieder in den Fokus der Forschung gerückt wären. Ein
oberflächlicher Blick auf die vielen hundert jährlichen Neuerscheinungen zu Nietzsche
erweckt eher den Eindruck, die exegetische Willkür nehme mehr und mehr überhand. Denn
mittlerweile hat sich eben auch die Orientierung an den „Hauptlehren“ verflüchtigt, mit deren
2 Zur kritischen Auseinandersetzung mit diesen „Hauptlehren“ siehe z. B. Werner Stegmaier, Philosophieren als
Vermeiden einer Lehre. Inter-individuelle Orientierung bei Sokrates und Platon, Nietzsche und Derrida, in: Josef
Simon (Hrsg.), Distanz im Verstehen. Zeichen und Interpretation II, Frankfurt am Main 1995, S. 213-238. 3 Martin Heidegger, Nietzsche [1936/61], Bd. 1, 5. Auflage, Pfullingen 1989, S. 17: „Die eigentliche Philosophie
Nietzsches aber, die Grundstellung, aus der heraus er in diesen und in allen von ihm selbst veröffentlichten
Schriften spricht, kommt nicht zur endgültigen Gestaltung und nicht zur werkmäßigen Veröffentlichung, weder
in dem Jahrzehnt zwischen 1879 und 1889 noch in den voranliegenden Jahren. Was Nietzsche zeit seines
Schaffens selbst veröffentlicht hat, ist immer Vordergrund. Das gilt auch von der ersten Schrift ‚Die Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der Musik’ (1872). Die eigentliche Philosophie bleibt als ‚Nachlaß’ zurück.“ 4 Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht. [Erste Fassung] = Werke [Grossoktav-Ausgabe], Bd. 15, Leipzig
1901; Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht. [Zweite Fassung] = Werke [Grossoktav-Ausgabe], Bde. 15 und
16, Leipzig 1911. Vgl. z. B. Wolfgang Müller-Lauter, "Der Wille zur Macht" als Buch der 'Krisis'
philosophischer Nietzsche-Interpretation, in: Nietzsche-Studien, Bd. 24 (1995), S. 223-260. 5 Vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Phi-
losophie, Berlin / New York 1971; Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige
Wiederkehr. 2, um ein Vorwort erweiterte Auflage, Berlin / New York 1998. Auch Müller-Lauters Werk steht
noch im Banne Heideggers.
3
Hilfe man eine hierarchische Strukturierung von Nietzsches Denkbewegungen gewinnen zu
können hoffte. Daher lässt sich jetzt jede beliebige Äusserung Nietzsches in einigen tausend
Buch- und Nachlassseiten zum Ausgangspunkt einer Gesamtinterpretation des Werkes
machen – einer Gesamtinterpretation, die nun just diese zufällig ausgewählte Äusserung als
Angelpunkt von Nietzsches Gesamtwerk deklariert und daraus meint ‚das Ganze’ erklären zu
können.6 Allerdings sind Ansätze zur Kanalisierung der ausufernden Nietzsche-Forschung
durchaus erkennbar, so etwa durch das Nietzsche-Handbuch,7 durch die Neuedition des späten
Nachlasses in KGW IX,8 durch verstärkte Erforschung der von Nietzsche verarbeiteten
Quellen, namentlich der in seiner Bibliothek erhaltenen Bücher,9 sowie insbesondere auch
durch das auf vier Bände angelegte, neue Nietzsche-Wörterbuch, das Nietzsches Werk nach
Schlüsselwörtern semasiologisch aufschlüsselt.10 So wichtig und hilfreich diese
Anstrengungen auch sind, führen sie doch nur bedingt zurück zu einer intensiveren Lektüre
von Nietzsches Werken als Büchern. Aber gerade eine unvoreingenommene Betrachtung des
Nachlasses belehrt darüber, dass Nietzsche tatsächlich die Mehrzahl seiner Gedanken
schliesslich seinen zum Druck beförderten Schriften anvertraut hat, so dass wir schwerlich
umhinkommen, in diesen gedruckten Büchern die Hauptsache von Nietzsches intellektueller
Hinterlassenschaft zu sehen.
Daraus lässt sich unmittelbar der Aufruf „Zurück zu Nietzsches Büchern!“ ableiten
und damit die Aufforderung, zu Nietzsches Büchern als Büchern zurückzukehren. Dies
6 Ein abschreckendes, aber bezeichnenderweise weithin positiv aufgenommenes Exempel dieses Verfahrens gibt
im Blick auf den Stil Nietzsches Heinz Schlaffer, Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen,
München 2007. Das dazu Notwendige habe ich gesagt in: Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur
germanistischen Literaturwissenschaft, Bd. 1/2008, S. 98-103. 7 Henning Ottmann (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben — Werk — Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000. 8 Eine Unternehmung, an die man freilich auch die Sinnfrage richten darf, vgl. Andreas Urs Sommer, Nietzsche,
nur noch philologisch? Zur IX. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe, in: Information Philosophie, Jg. 31,
Heft 1, März 2003, S. 54-56. 9 Campioni, Giuliano / D’Iorio, Paolo / Fornari, Maria Cristina / Fronterotta, Francesco / Orsucci, Andrea
(Hrsg.), Nietzsches persönliche Bibliothek, Berlin / New York 2003, vgl. auch die zahlreichen einschlägigen
Arbeiten von Thomas H. Brobjer, z. B. Thomas H. Brobjer, Nietzsche's Reading and Private Library, 1885-1889,
in: Journal of the History of Ideas, Vol. 58 (1997), S. 663-693. Zur Frage nach dem philosophischen Ertrag der
Quellen- und Bibliotheksforschung siehe Andreas Urs Sommer, Vom Nutzen und Nachteil kritischer
Quellenforschung. Einige Überlegungen zum Fall Nietzsches, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch
für die Nietzsche-Forschung, Bd. 29 (2000), S. 302-316. 10 Nietzsche-Wörterbuch, hrsg. von der Nietzsche Research Group (Nijmegen) unter Leitung von Paul van
Tongeren, Gerd Schank und Herman Siemens, Bde. 1ff., Berlin / New York 2004ff.
4
wiederum bedeutet, die Machart, die innere Logik, die Intention und Ausgestaltung von
Nietzsches Denken, als ein Denken, das seine definitive Gestalt in Buchform gewinnt, ernster
zu nehmen als dies gewöhnlich geschieht. Unter dem Patronat der Heidelberger Akademie der
Wissenschaften und als ein Projekt der Union der deutschen wissenschaftlichen Akademien
soll deshalb in den nächsten 15 Jahren an der Universität Freiburg ein Kommentar zu
Nietzsches sämtlichen philosophischen Werke, also unter Ausschluss der Philologica und des
Nachlasses in sieben umfangreichen Bänden entstehen, der nicht nur Quellen und Querbezüge
erschliessen, sondern versuchen wird, die Bücher als Bücher zu verstehen, d.h. sie in ihrer
inneren gedanklichen Struktur zu rekonstruieren und zu fragen, welcher Deutungshorizont
sich für Nietzsches Denken ergibt, wenn wir ihre Erscheinungsform in der Gestalt ganz
bestimmter Bücher ernstnehmen. Der Nietzsche-Kommentar versagt sich also die landläufige
Praxis der Dekontextualisierung, mit der man „an Nietzsche“ heranzugehen pflegt und will
zur Disziplinierung der Nietzsche-Forschung beitragen, indem er auf die ursprüngliche
Ordnung des Textes verweist.
Die Versuchung, Nietzsches Gedanken zu dekontextualisieren, rührt nicht nur daher,
dass sich darin eine systematische und hierarchische Ordnung zumindest auf Anhieb nicht
erkennen lässt, sondern auch daher, dass Nietzsches Werke schwer ‚nacherzählbar’ sind.
Immerhin wird für abhandlungsartige Publikationen wie Die Geburt der Tragödie, Zur
Genealogie der Moral oder Der Antichrist und für das philosophische Epos Also sprach
Zarathustra eine solche Nacherzählung, eine konsekutive Paraphrase des Inhalts, noch
möglich erscheinen – sehr im Gegensatz zu den sogenannten Aphorismenbücher. Liest man
Menschliches, Allzumenschliches, Die fröhliche Wissenschaft oder Jenseits von Gut und Böse
zum ersten Mal, dann behält man zwar einzelne, starke Eindrücke zurück, aber das Buch als
ganzes scheint zu zerbröseln: Man hat grosse Mühe, einen Gedankengang oder einen Plot zu
benennen, der dem ganzen Werk eine Einheit gibt. Umso verständlicher ist es deshalb, wenn
man diesem ernüchternden Befund ausweicht, indem man nach eigenem Gutdünken
bestimmte Aphorismen isoliert und sie zur Hauptsache erklärt.
In der Forschung ist oft unbeachtet geblieben, dass dieser rezeptionsästhetische Effekt
von Nietzsches Aphorismenbüchern nicht allein dem Stilwillen der Verknappung,
Verdichtung und Perspektivenvervielfältigung gehorcht, sondern ebenso dem philosophischen
Willen, die altabendländische Sinn- und Ploteinheit „Buch“ aufzubrechen.11 Nietzsches
Aphorismenbücher von MA I an unterlaufen das Selbstverständnis dessen, was man bislang
im Abendland als Buch zu verstehen gewohnt war, auch wenn es durchaus faktisch schon
11 Vgl. NL 1885, KSA 11, 37[5], S. 579f.
5
früher Bücher gegeben hat, die keine Sinn- oder Ploteinheit mehr bezeugen.12 Aber diese
Bücher – für Nietzsche exemplarisch Blaise Pascals Pensées und Georg Christoph
Lichtenbergs Sudelbücher – waren zunächst nicht als Bücher konzipiert, sondern wurden es
erst unter den Händen eifriger Nachlassverwalter und -herausgeber.13 Nietzsche
demgegenüber schreibt sehr bewusst Bücher, die nach landläufigem Verständnis gar keine
Bücher sind. Damit kündigt er nicht nur der abendländischen Moral, dem Subjekt oder der
Sprache als Erkenntnismittel das Vertrauen auf, sondern ebenso dem Buch als dem
privilegierten abendländischen Medium der Erkenntnisvermittlung. Dies jedoch bedeutet
nicht, dass er auf das Buch verzichten würde – ebensowenig wie er auf Moral, das Subjekt
oder die Sprache verzichtet –, sondern er versucht aus dem Buch etwas Neues zu machen, es
umzuwerten. Insofern muss sich ein Nietzsche-Kommentar, der die Einheit „Buch“ in
vielleicht altmodischer Weise hochhält, nach und nach darüber Klarheit verschaffen, welche
Folgen Nietzsches buchförmige Aufhebung der Buchform für diesen Kommentar in
Buchform selbst haben wird. Darauf habe ich noch keine Antwort.
II. Vorüberlegungen zu einem Kommentar über Götzen-Dämmerung
Das Werk, das ich nun ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen will, enthält keineswegs nur
Aphorismen, ist aber auch keine Abhandlung mit einem übergreifenden thematischen Bogen.
Dabei wollte Nietzsche die Götzen-Dämmerung als „vollkommene Gesammt-Einführung“ in
sein Denken verstanden wissen.14 Dennoch geniessen die Schriften von 1888, zu denen
Götzen-Dämmerung gehört, einen zweifelhaften Ruf: Zu viel scheint Nietzsche in seinem
letzten Schaffensjahr gewollt zu haben, als dass er sich, so Giorgio Colli in seinem Nachwort
zur Kritischen Studienausgabe, für die Komposition seiner Schriften „das architektonische
Gefühl“ (KSA 6, S. 449) bewahrt hätte. Angesichts des Umstandes, dass Nietzsche in diesem
Jahr den Plan aufgibt, ein Buch mit dem Titel „Der Wille zur Macht“ noch zu schreiben, das
Nachfolgeprojekt einer „Umwerthung aller Werthe“ ständig umgestaltet, scheint die
Druckgestalt der zahlreichen in diesem Jahr für die Publikation vorbereiteten Bücher eher
zufällig zu sein: Aus demselben Materialfundus kristallisieren sich so unterschiedliche Werke
wie Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist und Ecce homo heraus. So könnte
12 Es wäre zu fragen, auf welche Weise Bücher wie Senecas Epistulae ad Lucilium oder La Rochefoucauld eine
solche Sinn- oder Plotheit generieren. 13 Bewusst als Aphorismenbücher konzipierte Werke wie diejenigen der französischen Moralisten von La
Rochefoucauld an behalten demgegenüber trotz ihrer aphoristischen Form meist die herkömmliche Sinneinheit
eines Buches bei – in der Tradition der klassischen Sentenzen- und Apophthegmen-Sammlungen. 14 Brief an Carl Fuchs, 9. September 1888 (KSB 8, S. 414, Nr. 1104).
6
man zu zweifeln versucht sei, ob hinter den scheinbar so hastig niedergeschriebenen und zum
Druck präparierten Schriften von 1888 tatsächlich ein Wille zum Werk steht und ob wir also
den damals entstandenen Büchern tatsächlich Werkdignität zugestehen und in ihnen nicht
bloss zufällig arrangierte Notizen sehen wollen, die sonst unweigerlich im Orkus des
Nachlasses verschwunden wären.
Dieser Zweifel scheint mir nicht hinlänglich begründet: Ich halte Nietzsches
Werkwillen 1888 für unvermindert stark ausgeprägt, auch wenn und gerade weil Nietzsche
ersichtlich andere Vorstellungen davon entwickelt hat, was ein Buch ist und wie es
auszusehen hat, als man sie gemeinhin pflegt. Gerade die Tatsache, dass aus demselben
Materialfundus so unterschiedliche Werke wie WA, GD, AC und EH haben hervorgehen
können, ist doch ein sprechender Beweis für die anhaltende Stärke dieses Werkwillens und
die ebenso anhaltende Differenzierungskraft des Autors.15 Zwar – und das macht eine
genetische Betrachtung schnell sichtbar – verändert Nietzsche 1888 seine Druckmanuskripte
unentwegt, aber gerade dies ist doch ein Beleg dafür, wie bewusst er seine Werke nach wie
vor gestaltet. Das alles läuft auf das Plädoyer hinaus, gerade die Schriften des Jahres 1888 als
Bücher und damit als sehr bewusste Kompositionen von Texten und Gedanken zu würdigen.
Kommen wir damit endlich zur Götzen-Dämmerung und damit zur Frage, mit welchen
Problemen ein Kommentator hier konfrontiert ist und welchen Erkenntnisinteressen er in
seiner Arbeit folgt. Wie soll er verfahren, um diese Erkenntnisinteressen am ehesten zu
befriedigen? Er wird gut daran tun, zunächst alle Bestandteile des Werkes gleichermassen
ernst zu nehmen, denn seine Erkenntnisinteressen zielen darauf, dieses Werk in seinen
Einzelheiten ebenso wie als Gesamtkomposition transparent zu machen. Philologisch-
historische Erschliessung von Text, Quellen und Quellenmodifikationen ist dabei die
Voraussetzung für die philosophische Erschliessung, d. h. für die Erschliessung der in den
Text eingelassenenen Denkverläufe. Der Werk-Kommentator wird dabei den Zusammenhang
der Denkverläufe in ihrem Werkkontext zum Ausgangspunkt der Erschliessung machen und
nicht das Auftreten von Denkfiguren in ihrem ursprünglichen Entstehungskontext. Das wäre
die Aufgabe einer genetischen Betrachtung, die ein Werk-Kommentar höchstens ansatzweise
leisten kann. Der Werk-Kommentator sieht für seine eigene Aufgabe die gedruckte oder für
den Druck autorisierte Abfolge der Gedanken im Werk für verbindlich an.
15 Über das bei der Kommentierung in Anschlag zu bringende Konzept des Autors und der Autorschaft (oder
allenfalls die Verzichtbarkeit eines solchen Konzepts) ist gesondert nachzudenken. Wie wird in den Schriften
des Jahres 1888 eine Autorrolle aufgebaut und verankert – und wie unterscheidet sich diese Autorrolle z. B. in
GD von der in AC?
7
Der Kommentator räumt also dem Werk das Prärogativ vor allen anderen
Erscheinungsformen der Metonymie „Nietzsche“ ein, also der mit diesem Namen assoziierten
Philosophie, Hauptlehren, Gedanken, Aphorismen und Textfragmente. Die Eigenart des
Kommentars ist es, das zu kommentierende Buch als Ausgangs- und Fluchtpunkt der
Betrachtung anzusetzen. Der Kommentator wird zunächst einen Überblick über das
Textkorpus zu gewinnen trachten, dem er den Kommentar widmet und den Ausgangspunkt all
seiner weiteren Äusserungen über „Nietzsche“, seine Philosophie, sein Denken, seine Lehre
darstellen soll. Er wird feststellen, dass die Goetzen-Daemmerung 10 einzeln übertitelte
Kapitel hat, dazu ein Vorwort und einen Auszug aus Also sprach Zarathustra unter dem Titel
„Der Hammer redet“ als eine Art Epilog, als nachgeschobenes Motto. Dass mit diesem Titel
der Anschluss zum Untertitel des Buches selbst hergestellt wird – „Wie man mit dem
Hammer philosophirt“ (KSA 6, S. 55), ergibt sich für den Kommentator fast von selbst –
wobei der Kommentator gleich auf die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks „Hammer“ verweisen
wird, der nur im Buchtitel, im Vorwort und in der Überschrift des nachgeschobenen Mottos
vorkommt: Der Hammer ist nicht nur ein Instrument der brachialen Zerstörung, wie der
abschliessend zitierte Text aus Also sprach Zarathustra ja den Anschein erwecken könnte, der
zuerst eine Unterhaltung zwischen Diamant und Küchen-Kohle kolportiert und dann in
Zarathustras Rede in der Sentenz gipfelt: „werdet hart!“, mit der dann auch die Götzen-
Dämmerung endet. Der Hammer ist auch ein diagnostisches Instrument, das Diagnose-
Hämmerchen des Arztes und die Stimmgabel, die den Klang eines Objektes erfassen will, hier
eben Götzen abklopft, um zu horchen, wie hohl sie klingen. So legt es das Vorwort zu GD
nahe, die von den „e w i g e n Götzen“ spricht, „an die hier mit dem Hammer wie mit einer
Stimmgabel gerührt“ werde (KSA 6, S. 58).16 Der Kommentator kann dann beginnen, die
Metaphorik des Hammers auszuleuchten, etwa unter Hinweis darauf, dass Nietzsche seine
Götzen-Dämmerung, die ursprünglich schlicht Müssiggang eines Psychologen hätte heissen
sollen, nach einer Intervention von Peter Gast zunächst in Götzen-Hammer umzubennen
überlegte, bevor er auf Götzen-Dämmerung kam (vgl. NL 1888, KSA 13, 22[6], S. 586).17
16 Vgl. David S. Thatcher, A Diagnosis of Idols: Percussions and Repercussions of a Distant Hammer. In:
Nietzsche-Studien 14 (1985), S. 250-268; Eric Blondel, „Götzen aushorchen“. Versuch einer Genealogie der
Genealogie. Nietzsches philosophisches Apriori und die christliche Kritik des Christentums, in: Perspektiven der
Philosophie 7 (1981), S. 51-72; Peter Claessens, Nietzsches Otobiographie oder der Philosoph mit der
Stimmgabel, in: Prima philosophia 10 (1997), Heft 4, S. 449-456. 17 Noch in einem Brief an Helen Zimmern um den 17. Dezember 1888 schreibt Nietzsche, „man könnte den Titel
vereinfachen: G ö t z e n - H a m m e r “ (KSB 8, S. 537, Nr. 1197). „Meine Argumente sind ganz andrer Art,
als je angewendet worden sind, - ich bin gar kein Mensch, ich bin Dynamit.“ „M a r t e a u d e s I d o l e s “
8
Sodann mag der Kommentator Nachlassstellen heranziehen, die die Ewige Wiederkunft als
Hammer verstehen (z. B. NL 1883, KSA 10, 16[49], S. 514; NL 1885/86, KSA 12, 2[129], S.
128), um so hinter dem Hammer in GD die Ewige Wiederkunft zu vermuten.18 Oder er würde
darauf hinweisen, dass die Falschmünzer ebenso wie die Umwerter gleichfalls des Hammers
bedürfen, um ihrem Geschäft nachzugehen, so dass also auch der Prägehammer im
Assoziationshorizont des Hammers von GD steht.19 Aber schweift der Kommentator damit
nicht schon weit von der selbst auferlegten Werkfokussierung ab? Hat er sich mit dem
Hammer nicht ungebührlich weit von seinem Text enfernt, etwa auch vom definitiven Buch-
Haupttitel, der doch noch ein bisschen mehr besagen wird als nur eine bissige Anspielung auf
Wagners Götterdämmerung zu sein20 – Zeichen womöglich dafür, dass sich Nietzsche mit
zwei Anti-Wagner-Schriften in einem einzigen Jahr – Der Fall Wagner, Nietzsche contra
Wagner – noch immer nicht genügend an seinem grossen Übervater abgearbeitet hat. Wie
weit ist eine Parallelstellenmethode überhaupt zulässig?
Deutlich geworden ist jedenfalls, dass sich der Kommentar am Besonderen zu reiben
haben wird, am einzelnen Wort, das mitunter monolithisch dazustehen scheint oder mitunter
in weitausgreifende Gedankenketten eingegliedert ist. Methodisch wesentlich ist für die
Erläuterungsarbeit des Kommentators auf jeden Fall, dass er das Besondere, das einzelne
Wort im Kontext des jeweiligen Buches erörtert. Eine Abhandlung über den Gebrauch des
Wortes “Hammer” bei Nietzsche gehört in das neue Nietzsche-Wörterbuch, aber nur in ganz
zugespitzter Form in einen Kommentar zu GD, der hingegen den Gebrauch und die Stellung
des Wortes innerhalb des Werkes zu berücksichtigen hat.
Wir waren ja eigentlich bei einer ersten Annäherung an den Text, bei einem ersten
Übersicht-Gewinnen. Dabei sind wir unversehens in die Detailarbeit des Kommentierens
anhand eines konkreten Falls, eben des Hammers hineingeraten. Was als ein
vortragstechnischer lapsus calami erscheint, bildet freilich die Praxis des Kommentierens
ganz gut ab: Sie wird stets zwischen den verschiedenen Ebenen des Textes und seines
hätte die französische Übersetzung heissen sollen (Briefentwurf an Jean Bourdeau, um den 17. Dezember 1888,
KSB 8, S. 535, Nr. 1196). 18 Thomas H. Brobjer, To Philosophize with a Hammer. An Interpretation, in: Nietzsche-Studien 28 (1999), S.
38-41. 19 Ausführlich zum Thema Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“. Ein philosophisch-
historischer Kommentar, Basel 2000, S. 152-159. 20 GD „n o c h e i n e B o s h e i t gegen Wagner“ explizit im Brief an Heinrich Köselitz, 27. September
1888 (KSB 8, S. 443, Nr. 1122).
9
Kommentars hin und her springen, das Allgemeinere am Besondereren justieren und
umgekehrt – in der Hoffnung, am Ende das Ganze und die Teile besser zu verstehen.
Der nach Übersicht strebende Kommentator wird sich jetzt die Kapiteleinteilung, ihre
Überschrift, ihre thematisch Gewichtung und ihre Textform näher anschauen. Er wird
zunächst feststellen, dass zwei Kapitelüberschriften abgesehen von Vorwort und Epilog über
den Inhalt des jeweiligen Kapitels wenig verraten – es sind dies das erste Kapitel “Sprüche
und Pfeile” und das zweitletzte “Streifzüge eines Unzeitgemässen”. Bei allen anderen
Kapiteln wird in den Überschriften der zu erwartende Inhalt angezeigt – mitunter in
verknappter und verrätselter Form, die sich erst bei der Lektüre der entsprechenden Kapitel
erschliesst. Bei den “Sprüchen” und “Streifzügen” handelt es sich, wie ein Blick über den
Titel hinaus belehrt, um kleinere Sammlungen von in ersten Fall 44, im zweiten 51
Aphorismen, die thematisch einen weiten Bogen abstecken und deren gedanklicher
Zusammenhang sich nicht unmittelbar erschliesst.
In der ursprünglichen Anlage des Textes standen die beiden Aphorismensammlungen
am Anfang und am Ende des Buches, bildeten also den Rahmen, zunächst des
Spannungsaufbaus, dann der allmählichen Abspannung, gerade in den “Streifzügen”, die viel
Zeitgemässes unzeitgemäss perspektivieren. Im Oktober 1888, als Nietzsche sich entschloss,
Ecce homo zu schreiben, fügte er GD noch das Kapitel “Was ich den Alten verdanke” hinzu,
das er ursprünglich für eine kleine Selbstdarstellung im Nachlassheft W II 9c geschrieben
hatte (vgl. KSA 14, S. 464 und KSA 13, 24[1]7-9, S. 623-629). Der Kommentator wird sich
nun nicht nur mit der Neukontextualisierung dieser ursprünglich in autobiographischem
Kontext stehendem Passage beschäftigen, sondern auch danach fragen, was genau in dieser
Passage mit der Neukontextualisierung umgestellt worden ist. Vor allem aber wird ihn
interessieren, wie sich das Gesamtgefüge von GD mit dem neuen, dem Verleger Naumann
erst im Oktober 1888 übersandten Schlusskapitel verändert hat. Die Einheit der Rahmung
durch kleine Aphorismen-Sammlungen ist zerbrochen; das Kapitel “Was ich den Alten
verdanke” ist das einzige, in dessen Titel ein “Ich” vorkommt und scheint tatsächlich einige
autobiographische Auskünfte zu geben. Nun wird der Kommentator sagen, gerade diese
Erweiterung des Genre-Repertoires unterstreiche den Eindruck einer „vollkommenen
Gesammt-Einführung“, als die der der Brief an Fuchs vom 9. September 1888 GD
ausgegeben hatte (mehr als einen Monat freilich bevor „Was ich den Alten verdanke“ zu GD
hinzukam): Der Leser von GD bekommt nicht nur einen Streifzug durch Nietzsches Denken
geliefert, sondern eben auch durch seine Stil- und Schreiblandschaften. Diese Vermutung
seitens des Kommentators mag zwar richtig sein, allerdings würde man den Charakter von
10
„Was ich den Alten verdanke“ verkennen, sähe man in diesem Kapitel einzig oder in erster
Linie ein autobiographisches Dokument.
Zunächst einmal ist die Opposition des Kapitels über die Alten zu den in den nun
unmittelbar vorangehenden „Streifzügen“ behandelten Modernen sehr bewusst so inszeniert,
dass es zu keinem Spannungsabfall im Laufe der Lektüre, zu keiner Erholung kommen kann.
Denn die Äusserungen zur römischen und griechischen Literatur betreten nur scheinbar einen
Nebenschauplatz. Tatsächlich zeigt Nietzsche hier, wie er sich bereits von GT an als ein
Umwerter von Werten, im gegebenen Fall der Werte des Philhellenismus betätigt und die
Griechen neu entdeckt hat – Dionysos, Schmerz, Orgiasmus, tragisches Gefühl sind
entscheidende Stichworte, die erkennen lassen, dass es hier um weit mehr als eine
antiquarische Fingerübung geht. Zwar wird die zwischen den „Streifzügen“ und „Was ich den
Alten verdanke“ ausgetragene querelle des anciens et des modernes nicht einseitig gegen die
Modernen entschieden, aber doch gegen die Modernen in landläufigem Sinn. Das Ich, das im
letzten Kapitel das Wort führt, scheint kaum zu Danksagungen aufgelegt, die man dem Titel
gemäss erwarten würde, vielmehr dazu, sein Konzept des Griechentums gegen den
Klassizismus trennscharf zu profilieren, um in dessen dionysischem Habitus für die
Gegenwart und Zukunft Exemplarisches zu finden.
Der Kommentator, von Natur aus zu Misstrauen neigen, wird sich dann vielleicht
selbst zu antiquarischen Abschweifungen motiviert sehen, ist ihm doch von der Nietzsche-
Forschung schon zugetragen worden,21 dass Nietzsche das Zitat aus dem Aglaophamus von
August Lobeck, das er im 4. Abschnitt des Kapitels anführt (KSA 6, S. 158), aus zweiter
Hand hat, nämlich aus den Erläuterungen zu einer deutschen Ausgabe von Arnobius’ Sieben
Bücher wider die Heiden von 1842.22 In Nietzsches Bibliothek, die in Weimar in der Anna
Amalia Bibliothek aufbewahrt wird, hat sich Nietzsches Handexemplar dieser Arnobius-
Ausgabe erhalten. Wer sie zur Hand nimmt, wird zahlreiche Lesespuren in Form von
Marginalien und Anstreichungen entdecken.23 Marginalien und Anstreichungen finden sich
insbesondere dort, wo der Arnobius-Herausgeber Franz Anton von Besnard über Dionysos,
die Mysterien, das Phallische und den Schmerz spricht. Ein genauerer Vergleich, den der
Kommentator nun unternehmen müsste, könnte zeigen, wie Nietzsche diese Überlegungen
21 Igor Ebanoidse, Beiträgen zur Quellenforschung, in: Nietzsche-Studien 27 (1998), S. 552-556; Sommer,
Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“, S. 615, Fn. 240. 22 Des Afrikaner's Arnobius sieben Bücher wider die Heiden. Aus dem Lateinischen übersetzt und erläutert von
Franz Anton von Besnard, Landshut 1842, S. 564. 23 Campioni u. a. (Hrsg.), Nietzsches persönliche Bibliothek, S. 126f.
11
aufgenommen und mit seinen Überlegungen zum Griechentum synthetisiert hat. Beispielhaft
liesse sich hier Nietzsches fruchtbarer und zugleich räuberischer Umgang mit seinen Quellen
aufzeigen.24
Aber der Kommentator wird sich dann wieder auf das Trachten nach Gesamtüberblick
besinnen und jenen sieben bisher noch ausgeklammerten Kapiteln der GD seine
Aufmersamkeit zuwenden, die sich weder in aphoristischer noch in autobiographischer Form
üben. Er wird feststellen, dass diese Texte teilweise die Form von Abhandlungen haben,
teilweise die Form von Erzählungen, dass sie teilweise Mischformen von Abhandlung und
Erzählung erproben oder in der direkten politischen Invektivik die stilistische
Herausforderung sehen (besonders im Kapitel „Was den Deutschen abgeht“). Der
Kommentator wird auch feststellen, dass man GD schwerlich auf eine Frage reduzieren kann,
auf die der Text dann die Antwort darstellt, sind doch eine ganze Anzahl von Fragen im Spiel.
Zwar mögen sich all diese Fragen auf die im Vorwort ausgegebene Losung des Götzen-
Aushorchens beziehen lassen, insofern sich alle Fragen, die der Text stellt, als an Götzen
gerichtete Fragen verstehen lassen – zumal es in der Welt doch mehr Götzen als Realitäten
gäbe (KSA 6, S. 57). Dennoch sind die Götzen nicht aufeinander rückführbar – nicht alle
erscheinen als Ausdruck eines einzigen Verderbens. Das Motiv des Müssiggangs, das im
ursprünglichen Titel von GD, eben Müssiggang eines Psychologen, ebenso aufscheint wie im
ersten Aphorismus der „Sprüche und Pfeile“, könnte die Lizenz zu einer völligen Unordnung
des Gedachten einschliessen – promenierend kann einem ja ganz einfach jede Erkenntnis an
unverhofftem Ort widerfahren. Und diese Lizenz könnte sich Nietzsche zueigen machen,
wenn er, wie vorhin gemutmasst, die traditionelle Ordnungs- und Orientierungsfunktion des
Buches, das Buch als Einheit gerade unterminieren will. Aber GD ist kein Protokoll eines
Bewusstseinsstroms, auch kein dadaistisches Manifest, sondern bleibt in gewisser Weise bei
aller Varianz, Modulation und gelegentlichen Schrillheit des Tons ein Buch im traditionellen
Sinn.
Es handelt sich bei GD um ein Buch, das nicht nur als Appetizer für Nietzsches andere
Bücher wirken soll, sondern die Buchform nutzt, um Buchphilosophie, Buchreligion und
Buchweltanschauung zu sabotieren. Dass die Götzen-Dämmerung und der ursprünglich als
erstes Buch der Umwerthung konzipierte Antichrist teilweise aus denselben
Nachlassaufzeichnungen entstanden sind, ist nicht zufällig und verlangt vom Kommentator
24 Zum philosophisch-methodologischen Problem der Quellenforschung vgl. Andreas Urs Sommer, Vom Nutzen
und Nachteil kritischer Quellenforschung. Einige Überlegungen zum Fall Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 29
(2000), S. 302-316.
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eine Nietzsche-immanent intertextuelle Horizonterweiterung. Ähnliches gilt für Der Fall
Wagner, der es mit einem „Zeitgötzen“ zu tun hat, während GD eben „e w i g e Götzen“
(KSA 6, S. 58) zu traktieren verspricht, ohne dieser Vorgabe in der Ausführung immer ganz
treu zu bleiben. Das wird im Rückblick von EH auch deutlich gesagt: „Es giebt keine Realität,
keine ‚Idealität’, die in dieser Schrift nicht berührt würde (– berührt: was für ein vorsichtiger
Euphemismus!…) Nicht bloss die e w i g e n Götzen, auch die allerjüngsten, folglich
altersschwächsten.“ (EH GD 2, KSA 6, S. 354) Die präparatorisch-protreptische Funktion des
Werkes streicht Nietzsche in seinen Selbstzeugnissen jedenfalls deutlich heraus: Die
Umwertung zeichnet sich am Horizonte ab – und selbst wenn der Umwerter müssig geht,
dann fallen die vorgeblichen Wahrheiten gleich reihenweise. Götze sei, so EH, „ganz einfach
das, was bisher Wahrheit genannt wurde. G ö t z e n - D ä m m e r u n g – auf deutsch: es
geht zu Ende mit der alten Wahrheit…“ (EH GD 1, KSA 6, S. 354)
Der Kommentator wird sich jetzt einen thematischen Überblick über die einzelnen
Kapitel zu verschaffen suchen, bevor er auf den Aufbau von GD extrapoliert.25 Das auf die
„Sprüche“ folgende, abhandlungsartige Kapitel „Das Problem des Sokrates“ erneuert die
schon in der Geburt der Tragödie artikulierte Sokrates-Kritik – während das Schlusskapitel
letzter Hand, eben „Was ich den Alten verdanke“, in der Platon-Kritik kulmiert und zugleich
Nietzsches intellektuellen Lebensbogen abschschliesst. Sokrates erscheint in dem nach ihm
benannten Kapitel als ein Repräsentant nicht nur des „Pöbels“ (KSA 6, S. 68), sondern auch
der décadence, des physiologischen Niedergangs, dessen „Instinkte in Anarchie“ (KSA 6, S.
71) gewesen seien. Daher hätten sich die Philosophen fortan auf die Bekämpfung der
Instinkte verlegt, anstatt wie im aufsteigenden Leben Instinkt mit Glück zu identifizieren.
Das folgende Kapitel „Die ‚Vernunft’ in der Philosophie“ gibt eine Kurzfassung von
Nietzsches Kritik dessen, was die Philosophen ‚Vernunft’ nennen. Die erste „Idionsynkrasie“
der Philosophen ist nach Nietzsche ihr „Mangel an historischem Sinn“ (KSA 6, S. 74), was
zugleich bedeutet, dass sie das Werden und die Sinnlichkeit möglichst ganz zu (ver)leugnen
trachteten. Die zweite „Idiosynkrasie“ besteht darin, „die allgemeinsten, leersten Begriffe, den
letzten Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang a l s Anfang“ (KSA 6, S. 76) zu
setzen. Das führt geradewegs zur Hypostasierung des Irrealsten, bloss Begrifflichen zur
eigentlichen Realität. Die Sprache sei es, die die Menschen zu den Vernunft-Irrtümern
verleite, indem sie die reale Existenz von Dingen wie „Ich“, „Sein“ oder Wille als Vermögen
anzunehmen heisse, die nur als Sprachprodukte existierten. „Ich fürchte, wir werden Gott
nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben…“ (KSA 6, S. 78) Hat Nietzsche in den
25 Für das Folgende greife ich auf meinen Artikel zu GD für das neue Kindler-Literaturlexikon zurück.
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vorangegangenen Kapitel Psychologie und Physiologie als Werkzeuge des
Götzenaushorchens benutzt, sind es jetzt Historie und Sprachkritik.
Im Kapitel „Wie die ‚wahre Welt’ endlich zur Fabel wurde“ wird die aus der
Vernunft- qua „Sprach-Metaphysik“-Kritik (vgl. KSA 6, S. 77) gewonnene Erkenntnis in
einer thesenartig verknappten Erzählung verdichtet: Platon erscheint da als Erfinder einer
wahren geistigen Welt jenseits der bloss „scheinbaren“ sinnlichen Welt, die dann
christianisiert und kantianisiert wird, bevor sie als überflüssig abgetan werden kann. Der
Kampf gegen den Dualismus in der Metaphysik wird im Kapitel „Moral als Widernatur“
sekundiert vom Kampf gegen eine Moral, die die Leidenschaften und Begierden, die
Sinnlichkeit unterdrückt. „Jeder Naturalismus in der Moral, das heisst jede g e s u n d e
Moral ist von einem Instinkte des Lebens beherrscht“ (KSA 6, S. 85). Demgegenüber hat
Moral nach Nietzsches Diagnose bisher der Verurteilung eines solchen Instinktes gedient,
und zwar im Interesse kranken Lebens, das vom Typus des „Priesters“ repräsentiert wird.
Das Kapitel „Die vier grossen Irrthümer“ hämmert dem Leser regelrecht ein, dass der
„I r r t h u m d e r V e r w e c h s l u n g v o n U r s a c h e u n d F o l g e “ (KSA 6, S.
88) in Gestalt von Moral und Religion unmittelbar greifbar seien; dass der „I r r t h u m
e i n e r f a l s c h e n U r s ä c h l i c h k e i t “ darin liege, gar nicht zu wissen, was
eigentlich eine Ursache sei, und sie dann etwa in „‚inneren Thatsachen’“ (KSA 6, S. 90) zu
suchen. Dazu gehört dann auch der „I r r t h u m d e r i m a g i n ä r e n U r s a c h e n “
(KSA 6, S. 92), demzufolge wir uns eine Ursache ausdenken, wenn gerade keine zur Hand ist
– dies geschehe nicht nur in der Sinnesphysiologie, sondern auch in Religion und Moral. Der
„I r r t h u m v o m f r e i e n W i l l e n “ (KSA 6, S. 95) macht schließlich die Reihe
komplett. Das Kapitel mündet in ein wütendes atheistisches Bekenntnis: „Der Begriff ‚Gott’
war bisher der grösste E i n w a n d gegen das Dasein... Wir leugnen Gott, wir leugnen die
Verantwortlichkeit in Gott: d a m i t erst erlösen wir die Welt.“ (KSA 6, S. 97).
Im Kapitel „Die ‚Verbesserer’ der Menschheit“ wird der aggressive Ton zunächst
wieder herabgestimmt. Der Wunsch, die Menschen zu „verbessern“, als der sich Moral bisher
darstellte, könne sich sowohl als Versuch der „Z ä h m u n g der Bestie Mensch“ als auch der
„Z ü c h t u n g einer bestimmten Gattung Mensch“ (KSA 6, S. 99) ausprägen. Ein Beispiel
für Zähmung durch Schwächung findet Nietzsche im Christentum, während ihm das
Gesetzbuch des Manu mit seiner rigiden Kastenordnung ein Beispiel für ein
Züchtungsprogramm gibt. Das nächste Kapitel lässt die „ewigen Götzen“ hinter sich und
steigt in die Niederungen der politisch-kulturellen Gegenwartsdiagnose hinab: Unter dem
Titel „Was den Deutschen abgeht“ werden die schon aus Nietzsches früheren Schriften
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wohlbekannten Invektiven gegen den Niedergang der Kultur in Deutschland „als Europa’s
F l a c h l a n d “ erneuert.
In dieses grobmaschige Netz einer ersten thematischen Orientierung über den
Gesamttext wird der Kommentator nun seine Feinanalysen eintragen und sehen, wie er hier
ein Gesamtbild gewinnen kann, das eine Gesamtdeutung dieses Textes erlaubt und der
Fragmentierung der Nietzsche-Forschung tatsächlich etwas entgegenzusetzen hat. Ob dies so
sein wird, kann ich Ihnen erst verraten, wenn ich mich in das Geschäft des Kommentators
weiter eingearbeitet habe.
Lassen Sie mich noch einmal einen Punkt in Erinnerung rufen, auf den es zu Beginn
beim Geschäft des Kommentators wesentlich ankommt: Nämlich auf die „E p h e x i s in der
Interpretation“ (AC 52, KSA 6, S. 233), wie Nietzsche sich im Antichrist in nicht ganz
klassischem Griechisch ausdrückt26 und damit die skeptische epoché, die Urteilsenthaltung
meint. Diese Ephexis bedeutet nicht, dass der Kommentator zur philologischen Maschine
mutieren soll,27 die sich aller Aussagen inhaltlicher Art verweigert, sondern dass der
Kommentator den Text zunächst einmal verschont mit all dem, was er schon über Nietzsches
Denken und Schreiben zu wissen glaubt. Der Kommentator legt die seinen Kommentar
bestimmenden Gesichtspunkte nicht von vornherein aus seinem Vorwissen heraus fest, z. B.
aus seiner Kenntnis sogenannter Hauptlehren, sondern gewährt dem Text möglichst
weitgehend Raum, das Wesentliche zu bestimmen. Es wäre beispielsweise nicht tunlich, aus
dem letzten Halbsatz des Schlusskapitels „Was ich den Alten verdanke“: „ich, der Lehrer der
ewigen Wiederkunft“ (KSA 6, S. 160) zu deduzieren, es gehe in GD ‚eigentlich’ und zur
Hauptsache um die ‚Lehre’ von der ewigen Wiederkunft. Da muss sich der Kommentator
schon den ganzen Satz ansehen: Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmals ausgieng – die
„Geburt der Tragödie“ war meine erste Umwerthung aller Werthe: damit stelle ich
mich wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, mein K ö n n e n wächst
- ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, - ich, der Lehrer der ewigen
Wiederkunft… (KSA 6, S. 160)
Was hier wiederkehrt, ist nicht das Gleiche, das Weltganze oder der abgründlichste
Gedanke, sondern schlicht ein Lebensmotiv, das der Umwertung, das Nietzsche schon in
seiner Frühschrift entdecken zu können wähnt. Wiederkunft verliert hier jede kosmologische
26 Zum Problem der Ephexis Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“, S. 510-512. 27 Es wäre zu fragen, wie sich die Ephexis der Editoren von KGW IX, die sich ja entschieden haben, im
Unterschied zu Colli und Montinari nicht zu entscheiden, was publikationswürdig ist und was nicht, von der
Ephexis der Nietzsche-Kommentatoren unterscheidet.
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Konnotation und ist nur noch eine halb ironisch-kecke Umschreibung dafür, wie sich der
Lebens- und Denkkreis im Rückblick rundet. Oder ist auch dies schon wieder eine
gewaltsame Schönung eines widerspenstigen Textes? Der zu kommentierende Text behält im
Kommentar das letzte Wort. Der Kommentar selbst soll zur Gelassenheit gegenüber
aggressiven Texten beitragen,28 aber auch eine neue Aufmerksamkeit für die tatsächlichen
Denk- und Sprechzusammenhänge ebendieser Texte schaffen. Kommentieren ist ein ständiger
Transpositionsprozess. Denn Nietzsches Texte sind solche, mit denen man nicht zu Ende
kommt, Texte, die stets alles offen halten. Texte, mit denen man nicht fertig wird.
Kommentieren ist nicht die schlechteste Antwort darauf. Denn der Kommentar kann explizit
machen, was im kommentierten Buch implizit angelegt ist. Er verdeutlicht im besten Fall den
Buchcharakter des Kommentierten. Ob der Kommentar dadurch selbst zu einem Buch wird,
das sich zu lesen lohnt, müssen Sie dereinst entscheiden, wenn in ein paar Jahren die ersten
Bände des Heidelberger Akademie-Kommentars zu Nietzsches Büchern erscheinen werden.
28 Vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der Moral“, Darmstadt 1994, S. 7.