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Aufklärung und Kritik 1/2008 41 Dr. Wolfgang Eirund (Wiesbaden) Selbsttötung als Anspruch auf menschliche Würde? Anmerkungen zur Bedeutung suizidaler Gedanken in emanzipatorischen Entwicklungsprozessen Einleitung Über Suizidalität nachdenkend, in den Ge- danken uns hineinfühlend meinen wir im- mer zunächst den Tod, dann seine Her- kunft. Das Zusammentreffen von aktivem und passivem Teil einer Handlung, deren Folge die Vernichtung beider ist, entwirft bei genauerer Anschau einen Spannungs- bogen, der zu jener emotionalen Diskus- sion Anlass wird, in deren Verlauf man versucht ist, sich unbewusst mit einer Sei- te, der aktiven oder der passiven, zu soli- darisieren. Dabei bemerken wir kaum, dass beide Seiten den selben meinen: Das sich vernichtende Lebewesen, den Menschen. Vielleicht spürend, dass hier ein unauflös- bar widersprüchliches Gefühl in uns ent- stehen will, scheint die Bezugnahme auf eine vermeintlich dritte Perspektive hilf- reich zu sein, indem wir uns etwa auf un- sere Traditionen, Riten, Religionen bezie- hen und den Stab in ihrem Sinne über je- nen brechen, der in unüberwindbarer Ein- maligkeit von seinem Handeln auf eine Weise Gebrauch macht, die ihn gleichzei- tig und endgültig von jeder weiteren Hand- lungsfähigkeit ausschließt. Diese endgül- tige Ausgeschlossenheit, diese Art von Tod sollte eigentlich hinreichend Grund sein, unser ethisches Engagement im Sinne der Entwicklung einer moralischen Haltung dem Suizidanten gegenüber möglichst zu- rückhaltend zu üben. Dennoch lösen suizidale Handlungen nicht selten sehr starke Krisen bei Angehörigen und Freunden aus. Diese Krise kann letzt- lich erst wieder durch eine Besinnung auf jenes Zusammentreffen von aktivem und passivem Teil, von „Täter und Opfer“ 1 in einer Person, auf das eigentliche Dilem- ma zurückgeführt werden. Darin fühlen sich dann jedoch die Überlebenden umso deutlicher in einem Gefühl verzweifelter oder wütender Ohnmacht zurückgelassen. In Anbetracht der Häufigkeit suizidaler Handlungen und Impulse wird die Selbst- tötung auch zum Gegenstand allgemeiner gesellschaftlicher Diskussionen, in deren Rahmen wir jedoch die Solidarisierungs- versuche mit einer von beiden Seiten eben- so beobachten können wie den darin lie- genden Spannungsbogen. Dieser wird dann Anlass zur Bezugnahme auf schein- bar überindividuelle Vorstellungen, Riten und Glaubensinhalte, ohne deren Hilfe wir uns kaum ein Urteil über die Handlung zuzutrauen scheinen. Tod als spiegelnder Fluchtpunkt Im Anblick der Gedenkstätten für die Ah- nen einer menschlichen Gesellschaft wird deutlich, wie groß der Raum ist, den die Beschäftigung mit dem Tod in unserer menschlichen Wahrnehmung einnimmt. Überflüssig erscheint angesichts der hier sichtbaren religiösen Symbolik der Hin- weis, dass wohl kaum eine Religion oder Glaubensrichtung ohne den Tod als einen oder den zentralen Fluchtpunkt ihrer Bot- schaft auszukommen scheint. Dies verur- teilen zu wollen erscheint angesichts der Allgegenwärtigkeit dieses Phänomens we- niger angemessen, als sich mit der Ursa- che dieser Zusammenhänge auseinander

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Aufklärung und Kritik 1/2008 41

Dr. Wolfgang Eirund (Wiesbaden)Selbsttötung als Anspruch auf menschliche Würde?

Anmerkungen zur Bedeutung suizidaler Gedanken inemanzipatorischen Entwicklungsprozessen

EinleitungÜber Suizidalität nachdenkend, in den Ge-danken uns hineinfühlend meinen wir im-mer zunächst den Tod, dann seine Her-kunft. Das Zusammentreffen von aktivemund passivem Teil einer Handlung, derenFolge die Vernichtung beider ist, entwirftbei genauerer Anschau einen Spannungs-bogen, der zu jener emotionalen Diskus-sion Anlass wird, in deren Verlauf manversucht ist, sich unbewusst mit einer Sei-te, der aktiven oder der passiven, zu soli-darisieren. Dabei bemerken wir kaum, dassbeide Seiten den selben meinen: Das sichvernichtende Lebewesen, den Menschen.Vielleicht spürend, dass hier ein unauflös-bar widersprüchliches Gefühl in uns ent-stehen will, scheint die Bezugnahme aufeine vermeintlich dritte Perspektive hilf-reich zu sein, indem wir uns etwa auf un-sere Traditionen, Riten, Religionen bezie-hen und den Stab in ihrem Sinne über je-nen brechen, der in unüberwindbarer Ein-maligkeit von seinem Handeln auf eineWeise Gebrauch macht, die ihn gleichzei-tig und endgültig von jeder weiteren Hand-lungsfähigkeit ausschließt. Diese endgül-tige Ausgeschlossenheit, diese Art von Todsollte eigentlich hinreichend Grund sein,unser ethisches Engagement im Sinne derEntwicklung einer moralischen Haltungdem Suizidanten gegenüber möglichst zu-rückhaltend zu üben.Dennoch lösen suizidale Handlungen nichtselten sehr starke Krisen bei Angehörigenund Freunden aus. Diese Krise kann letzt-lich erst wieder durch eine Besinnung auf

jenes Zusammentreffen von aktivem undpassivem Teil, von „Täter und Opfer“1 ineiner Person, auf das eigentliche Dilem-ma zurückgeführt werden. Darin fühlensich dann jedoch die Überlebenden umsodeutlicher in einem Gefühl verzweifelteroder wütender Ohnmacht zurückgelassen.In Anbetracht der Häufigkeit suizidalerHandlungen und Impulse wird die Selbst-tötung auch zum Gegenstand allgemeinergesellschaftlicher Diskussionen, in derenRahmen wir jedoch die Solidarisierungs-versuche mit einer von beiden Seiten eben-so beobachten können wie den darin lie-genden Spannungsbogen. Dieser wirddann Anlass zur Bezugnahme auf schein-bar überindividuelle Vorstellungen, Ritenund Glaubensinhalte, ohne deren Hilfe wiruns kaum ein Urteil über die Handlungzuzutrauen scheinen.

Tod als spiegelnder FluchtpunktIm Anblick der Gedenkstätten für die Ah-nen einer menschlichen Gesellschaft wirddeutlich, wie groß der Raum ist, den dieBeschäftigung mit dem Tod in unserermenschlichen Wahrnehmung einnimmt.Überflüssig erscheint angesichts der hiersichtbaren religiösen Symbolik der Hin-weis, dass wohl kaum eine Religion oderGlaubensrichtung ohne den Tod als einenoder den zentralen Fluchtpunkt ihrer Bot-schaft auszukommen scheint. Dies verur-teilen zu wollen erscheint angesichts derAllgegenwärtigkeit dieses Phänomens we-niger angemessen, als sich mit der Ursa-che dieser Zusammenhänge auseinander

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zu setzen. Schließlich könnten die darinwohnenden emotionalen Beweggründedoch vielleicht auch von jenen erlebt wer-den, die sich von den metaphysischenRitualen zu emanzipieren versuchen.

Allgegenwart des SterbensWenngleich der Tod für uns Menschenoffenbar eine besondere Bedeutung hat,ist unübersehbar, wie alltäglich und über-all in der Natur gestorben wird. Es müssteuns doch eigentlich erstaunen, wie beiläu-fig wir dem Tod des anderen natürlichenLebens etwa während eines Spaziergangsam muschelübersäten Strand begegnen.Mehr noch: Dass wir ihn sogar zu unse-rem Nutzen in der schlachtenden Tierhal-tung kultivieren und ihn dabei kaum oderallenfalls am Rande zur Kenntnis nehmen,wirkt auch bei oberflächlicher Anschau-ung erstaunlich widersprüchlich.Während wir also das pflanzliche und tie-rische Sterben und die Verwesung jenerKörper als notwendigen Teil eines pro-zesshaften natürlichen Kreislaufes verste-hen, hebt sich unsere Vorstellung und un-ser Verständnis vom eigenen Tod in fastallen Kulturen davon ab. Dies mit unserenreligiösen oder spirituellen und ethischenWurzeln zu begründen, scheint zwar vor-dergründig möglich, ist bei genauerer Be-trachtung jedoch ein geradezu diametralverkehrtes Verständnis dieser Phänome-ne. Vielmehr scheinen doch unsere spiri-tuellen Traditionen gerade umgekehrt ausder besonders gewichtigen und beängsti-genden Wahrnehmung des eigenen Able-bens hervorzugehen, im Anspruch, die-sem seinen Schrecken nehmen zu wollen.Dies wird gerne begründet durch Hinwei-se auf Unterschiede zwischen den all-sterblichen Wesen unserer Welt einerseitsund den Besonderheiten von uns Men-

schen andererseits, als könnten solcheUnterschiede die Möglichkeit eines wieauch immer gearteten Lebens nach demTod beweisen.Das religiöse Verständnis des Menschenim Angesicht seines eigenen Todes ist ananderer Stelle bereits hinreichend bearbeitetworden2 . Zurückgreifend auf die beson-dere Würdigung des eigenen, des mensch-lichen Todes scheint die Suche nach ei-nem die unterschiedlichen auch religiösenRituale verbindenden Element durchaussinnvoll. Dies kann selbstverständlich nurunter Umgehung jedes letztlich ja nichtnachvollziehbaren religiösen Alleinvertre-tungsanspruchs geschehen.So reduziert es nach allen vorgestelltenErläuterungen auch wirken mag, mündetjede Suche nach einem die unterschiedlichenRituale verbindenden Element schlicht immenschlichen Anspruch auf „Würde“.Dieser Anspruch scheint der universalere,die Religionen und Traditionen mit einbe-ziehende und dann übersteigende (s.u.)Hintergrund für unseren Umgang mitmenschlichem Tod zu sein: In Würde ster-ben zu wollen wird zum wesenhaften undzugleich ansprüchlichsten Unterschieddes menschlichen im Vergleich zum „an-deren“ universalen Sterben.

Bewusstheit des sicheren TodesWie immer das Bedürfnis nach einem„würdevollen Tod“ im einzelnen kulturel-len Kontext begründet sein mag, so wur-zelt es sicherlich doch überall in der Tat-sache, dass sich der Mensch wohl nocham meisten von allen Lebewesen des si-cheren Todes bewusst ist. In seinem über-durchschnittlichen Zeiterleben, seiner sicherinnernden Vorausschau, sieht er denTod auch ohne jede konkrete Bedrohungauf sich zukommen als Notwendigkeit, der

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er höchstens im Einzelfall, aber nichtgrundsätzlich ausweichen kann. Mag dasTier den todbringenden Einzelfall ein um’sandere mal überleben, so scheint es nachjedem glücklich geendeten Wettlauf vondem dennoch sicheren eigenen Tod kaumbeeinträchtigt zu sein und geht darumschon rasch über in seine Rituale des ge-meinsamen Aasens, als sei nichts beson-deres geschehen, wie wir es anschaulichbei Nietzsche beschrieben finden3 .Anders der Mensch: Durch sein sicheresWissen um sein eigenes Ende wird er an-getrieben, seiner begrenzten Zeit einenSinn zu geben und sich darin seiner eige-nen Bedeutung bewusster zu werden. Dieanstrengende Bürde, einem ganzen Leben(auch wenn es das eigene ist) einen Sinnzu geben, wurde durch schamanistischeKollektivierungen des Lebenssinns aufge-fangen, was sich in der Folge im Sinneder Entwicklung von Religionen auswei-tete. Vor diesem Hintergrund scheint esnicht zu verwundern, warum medizinischeHeilkünste und theokratische Heilslehrentraditionell eine große Verwobenheit ha-ben, die auch in modernen Gesellschaftenkeineswegs überwunden zu sein scheint.4Doch ist das Bedürfnis nach Sinn und Be-deutung ja auch in einer individualisiertenGesellschaft ebenso wenig verloren gegan-gen, wie die Sicherheit im Wissen um deneigenen Tod. Wie immer dieser Lebens-sinn, diese Bedeutungsgebung auch indi-viduell gesetzt werden mag, so wird dochdeutlich, wie sehr aber ein so „bewusstesLeben“ auch im Umkehrschluss den Todals den Abschluss in anderem Licht er-scheinen lässt: Er ist durch die letztlichdurch ihn gestiftete Sinnhaftigkeit mit demmenschlichen Leben enger im Sinne einesBedeutungszusammenhanges verbundenals etwa beim Tier, wo er im Sinne eines

„nur“ prozesshaften natürlichen Kreislaufsvom Tier nicht wahrgenommen und reinäußerlich vom Menschen objektiviert ver-standen werden mag.In diesem sinnhaften Bedeutungszusam-menhang von Leben und Tod mag dasspeziell menschliche Bedürfnis wurzeln,sich den eigenen Tod würdevoll zu wün-schen. Doch was ist diese Würde?

Würde des TodesZurückkommend auf die religiösen Tra-ditionen sehen wir, wie diese ihre unter-schiedlichen Riten entwickelt haben, denTod zu zelebrieren. Wie eingangs erwähnt,steht die Entstehung religiöser Bedürfnis-se ja im Zusammenhang mit dem sicherenWissen um die Endlichkeit des Lebens,den Tod. Und so spielt dieser auch seinezentrale Rolle im jeweiligen Ritus: Er wirdnach der Bedeutung, die der Mensch sichund seinem Leben im religiösen Kontextgegeben hat, begangen.Mit nachlassender Religiosität aber lässtdas Wissen um die Endlichkeit jedoch ge-wiss nicht nach. Die universalen Bemü-hungen um einen lebenserhaltenden Le-bensstil und um medizinische Möglichkei-ten der Lebensverlängerung könnten eben-so wie unser konflikthafter Umgang mitKrankheit und Hinfälligkeit auf eine zuneh-mend subversiv wirksame Angst vor demTod hinweisen, den wir am liebsten hinterden verschlossenen Türen unserer Kran-kenhäuser und Altersheime warten lassenwollen, bis jeder einzelne soweit ist undsich (vielleicht viel zu spät) fragt, warumer sich nicht zeitig für einen anderen Wegals den in die Anstalt entschieden hat.5

So oder so steht also anscheinend auchin der modernen, mehr und mehr religions-entfremdeten Welt der Tod immer nochals Fixpunkt im Bewusstsein des Men-

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schen, an dessen Unausweichlichkeit sichdie verschiedenen Versuche verstehen las-sen, dem eigenen Leben eine Bedeutungzu geben. Unabhängig davon, wie weit je-der Einzelne von kollektiven Sinngebun-gen sich zu emanzipieren bereit ist, gibtuns eine offene Gesellschaft die Chance,unsere Bedeutungsgebung individueller,vereinzelter und variabler zu gestalten. Inseinem aber auch darin immer noch be-stehenden menschlichen Bedeutungszu-sammenhang, den der Tod zum Lebenherstellt, bleibt das Bedürfnis nach einemwürdevollen Umgang mit dem Tod bei al-ler Emanzipation meist zumindest erhal-ten. Nur wird der Begriff von der Würdeim Tod jetzt ähnlich so individualisiert ver-standen wie die persönliche Bedeutungs-gebung des eigenen gelebten Lebens. Faststellt sich hier die Frage, ob in der eman-zipierten Individualisierung der eigenenSinngebung der eigene Anspruch auf Wür-de nicht sogar noch höher sein mag.

Wie wir sterben wollenDie Frage, wie wir sterben wollen, ist vonder Frage, wie wir leben wollen, also auchheute nicht zu trennen, dabei aber offen-bar noch schwieriger zu beantworten alsje zuvor. Im selben Maße, wie unseredurchschnittliche und oft auch persönli-che Lebensspanne durch die Gnaden derZivilisation verlängert worden ist, scheintdie Frage drängender, was das mit unse-rem Anspruch auf Würde macht: Die Dis-kussionen um die Überlassung patentier-ter lebensnotwendiger Medikamente anEntwicklungsländer, um Sterbehilfe, Eu-thanasie oder unterlassene Hilfeleistung so-wie Reproduktionsmedizin und Abtrei-bung stehen doch letztlich alle im Kon-text der Frage, wie wir dem Anspruch aufMenschenwürde trotz der Individualisie-

rung unserer Glaubensinhalte fortgesetztgerecht werden können.Während in diesen Diskussionen aber derVektor im Sinne „Täter“ und „Opfer“noch meist erkennbar bleibt, also ethischeMaßstäbe möglich zu sein scheinen(?), sowird dies in der Frage der Suizidalität adabsurdum geführt. Wie bereits erwähnt,ist das Zusammentreffen des aktiven undpassiven Teils im willkürlichen Tötungs-akt unser Dilemma, und ein Ausweichenauf eine übergeordnete Perspektive scheintimmer mehr wie ein allgemeines Auswei-chen vor den Gefühlen, die der Suizid ei-nes Menschen in uns auslöst. Die Einnah-me einer „äußerlichen“ Perspektive scheintehrlich bekannt bis auf Ausnahmen nichtwirklich möglich. Also entzieht sich derSuizidant letztlich der Stellungnahmedurch Dritte und kann nur durch den Ver-such einer Identifikation allenfalls im An-satz verstanden werden.

Die Würde der Freiheit – die Freiheitder WürdeIn diesem Versuch einer letztlich immernur ansatzweisen und möglicherweiseauch sehr symbolisch wirksamen Identi-fikation mit dem Anderen kann mir auchim Unterschied zu mir sein Wünschen alsFreiheit verständlich werden. An der Stel-le der intersubjektiven Identifikation kom-me ich ohne einen gewissen Begriff vonFreiheit jedenfalls nicht mehr aus. Ohnediesen zu akademisch problematisieren zuwollen, soll er hier nicht in einer „Freiheitvon“ verkürzt verstanden werden, sonderneine „Freiheit für“ meinen: etwa im Sinneeiner Freiheit zur eigenen Lebensgestaltungvor dem Hintergrund persönlicher Sinn-gebungen.Nur zum Verständnis des Begriffes sei andieser Stelle erläutert, dass eine „Freiheit

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von“ als die Freiheit von einer zwingen-den Unmittelbarkeit der Erfüllung unsererBedürfnisse gemeint ist und so zwar dieVoraussetzung für eine „Freiheit für“ dar-stellt. Die „Freiheit von“ wirkt also nochnicht selber sinnstiftend. Vielmehr erreichterst die danach mögliche „Freiheit für“jene Wirkung, die nach der Entbindungvon der Erfüllung direkter Lust die Zeitübrig lässt, unsere Lebensmöglichkeitenzu erkennen. Sie kann dann als perspekti-vische Kraft und letztlich als Keim der in-dividuellen Emanzipation wirksam werden.Dadurch wird die Erfüllung unserer lust-vollen Bedürfnisse nicht etwa liquidiert,sondern eben diese Erfüllung wird zu ei-ner selbstbestimmten Möglichkeit, weil ichsie zumindest prinzipiell auch verschieben,im Einzelfall sogar auf sie verzichten kann.Hier scheint der wesenhafte Unterschiedschon durch: Eine Unbedingtheit als Un-freiheit ist an die Unmittelbarkeit gebun-den: Jetzt hungert mich, und jetzt esse ich,weil ich essen muss (wenn man mich lässt).Dies überwindend scheint jene erweitertePerspektive von „Freiheit für“ aufzuleuch-ten. – Anders formuliert: Die Einbeziehungvon Zeit als „Dauer“ macht eine „Freiheitfür“ möglich und begründet darin den Un-terschied zwischen lustvollem Wollen undeigentlichem Willen. So wird die Zeit, dieDauer, als wesentliche Bedingung für eineFreiheit der Möglichkeiten deutlich. Ummich dann bei der Wahl der Möglichkei-ten zu entscheiden, stellt sich mir die Fra-ge, warum ich das eine dem anderen vor-ziehen sollte: Warum, also zu welchemZweck, oder darüber hinaus weisend: Zuwelchem Sinn?6

„Freiheit wofür“ stellt also immer eine in-nere Freiheit dar. Sie stellt nach der Be-freiung von den inneren Zwängen letztlichdie Sinnfrage wofür und weist über das

Gegenwärtige und höchstens Unmittelba-re hinaus. Allem angestrengten Anscheindieser Gedanken zum Trotz ist es aller-dings so, dass wir im Alltag ständig dabeisind, unsere Bedürfnisse zugunsten ande-rer Ziele aufzuschieben. Dabei unterschei-den wir uns untereinander sehr darin, in-wiefern uns die Möglichkeiten des Auf-schubs und Verzichts nicht nur sachlich,sondern vor allem emotional hinreichenddeutlich werden, um ihre Umsetzbarkeitfür möglich zu halten.Nichtsdestoweniger stellt ein so verstan-dener Begriff von Freiheit mir dann eineFrage nach dem Sinn, was ich „eigent-lich will“, als projektiv nach vorne ent-worfene Sinngebung. Darin steht er imunmittelbaren Kontext der oben benann-ten final bedingten, quasi reflexiv beding-ten Sinnfrage, also im Kontext zur vomWissen um den Tod rückwirkend gestell-ten Frage nach der Bedeutung meines Le-bens. Die innere Freiheit und das Wissenum den Tod stellen also ein gegenseitigesBedingungsgefüge dar, in welchem eineVorstellung zukünftiger Möglichkeiten inder Erkenntnis des unausweichlichen To-des an dieser Erkenntnis spiegelnd sichzurückwirft.Anders formuliert steht die Überwindungdes inneren Konfliktes zwischen dem lust-vollen Wollen des Augenblicks und dem„eigentlichen Willen“ in einem unüberseh-baren Zusammenhang mit der persönlichenÜberwindung des Widerspruchs zwischendem zu lebenden Leben und dem gewuss-ten Tod. Diese Leistung wird vom Men-schen in seinem persönlichen Entwick-lungsprozess im Grunde subtil alltäglichabverlangt.Einer endgültigen Lösung sich meist ent-ziehend wird dieser Entwicklungsprozesszu einer emanzipatorischen Herausforde-

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rung im Sinne eines echten Individuations-prozesses, in dem die eigene Würde undFreiheit in unauflösbarer Verwobenheit zu-einander ins Zentrum des Menschseinsrücken. So, wie erst die „Freiheit für“ denSuizid als echte speziell menschliche Op-tion (also als „Freitod“) sichtbar werdenlässt, ist eben jene Freiheit nur dann zu-gleich als Voraussetzung für den Anspruchauf einen würdigen Tod wirksam, wennsie das Leben in Sicht auf den sicherenTod als sinnvoll erleben lässt.Ohne auszuschließen, dass die Selbsttö-tung durch noch weitere Facetten bedingtals Zeichen menschlichen Seins verstan-den werden kann, kommen wir also schonallein durch die genannten zwei Ebenender Würde im Angesicht des sicheren To-des einerseits und durch den Begriff derinneren „Freiheit für“ andererseits unaus-weichlich an die Notwendigkeit der Mög-lichkeit von Selbsttötung für das Selbst-verständnis als Mensch im Anspruch aufeinen emanzipatorischen Lebensprozess.

Suizid als Möglichkeit, Möglichkeit alsLebensnotwendigkeitFast scheinen sich die obigen Ausführun-gen als Begrüßung lebensüberdrüssigenVerhaltens anbieten zu wollen. Es kannaber natürlich nicht übersehen werden,dass Suizidalität sich oft im Kontext schwe-rer psychischer Beeinträchtigungen entwi-ckelt. Dass diese mit einer Einschränkungder Wahrnehmung von innerer Freiheit ein-hergehen kann7, liegt auf der Hand undrechtfertigt es, jedem suiziderwägendenMenschen wenigstens äußerlich Lebens-möglichkeiten aufzuweisen (s.u.). Vielesweist darauf hin, dass „zumindest in vie-len, und ich meine in den meisten Fällen,[...] sich selbstmörderische Personenwirklich im Irrtum [befinden], und es wäre

möglich, sie hiervon zu überzeugen, wennwir eine Chance hätten.“8

Der Aspekt von Suizidalität als aus inne-rer Freiheit geborene Möglichkeit einer-seits und als eine Art des Anspruchs aufeinen würdigen Tod andererseits sollteaber die wichtige und immanente Perspek-tive herausarbeiten, den suizidalen Gedan-ken als unbedingten Kontext eines sinn-stiftenden Lebensprozesses zu verstehen.(Darin mag auch begründet liegen, dasssich letztlich wohl kaum ein anderes Le-bewesen als der Mensch mit der Frageder Selbsttötung beschäftigt.)Aus dieser Perspektive heraus wird eineüberindividuelle ethische Bewertung sui-zidalen Verhaltens unmöglich und der sui-zidale Impuls des anderen kann dannethisch verallgemeinernd weder begrüßtnoch verworfen werden. Suizid steht danneben nicht im Widerspruch zum Anspruchauf einen würdigen Tod, sondern erscheintumgekehrt als eine individuelle Möglich-keit, diesen Anspruch umzusetzen. Nurindem wir dies verstehen, wird der suizi-dale Impuls enttabuisiert9 als wesentlicheVoraussetzung, einen Zugang zum Suizi-danten zu erhalten, der eben jene Chanceermöglicht, ihn eventuell über seinen „Irr-tum“ (Narveson, s.o.) aufzuklären undseine Absicht zu relativieren.

SchlussfolgerungNur scheinbar paradoxerweise wird demAutor an dieser Stelle schlechten Gewis-sens sein alltäglicher Auftrag klar, sich alsTherapeut einer grundsätzlich lebensbe-jahenden Haltung verpflichtet zu fühlen.In diesem Beitrag geht es aber bei allerAuseinandersetzung mit der persönlich un-ausweichlichen Betroffenheit in der Begeg-nung mit suizidanten Patienten darum, imsubjektiven Einzelfall dem Betroffenen

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gegenüber nicht verurteilend gestimmt zusein. Denn dies wäre paradoxerweise auchzum unterschwellig lebensbejahend wirk-samen Auftrag nur kontraproduktiv wirk-sam: Eine Verurteilung der persönlichenWertewelt meines Patienten würde diesenvon mir in einer Weise entfremden, die ei-ner Therapie als Auftrag zur emanzipato-rischen Befreiung von intraindividuell wirk-samen Zwängen in der interindividuellenBegegnung nur im Weg stände.Suizidalität kann aber eben nur im Ver-such einer Identifikation verstanden wer-den, die wiederum nur unter Umgehungeiner Vorverurteilung (und auch dann im-mer nur im Ansatz) gelingen mag, aber dieeinzige Möglichkeit darstellt, dem suizid-erwägenden Menschen neben äußeren Le-bensoptionen seine inneren Möglichkeitenerweitern zu helfen.Wir dürfen den suizidalen Impuls alsoeben dann nicht verwerfen, wenn wir ihnaus einer lebensbejahenden Haltung her-aus relativieren möchten, da er sich dochgerade aus jener bejahten, speziell mensch-lichen Lebensweise ergibt.

Anmerkungen und Literatur:1 Ungeachtet der im Begriff „Täter“ und „Opfer“liegenden Moralisierung2 Eirund, W.: Der verbrochene Mensch. In: Eirund,W., Röder, H. (Hrsg.): Psychotherapie, Spirituali-tät, Religion. Glaukos, Limburg 20073 Nietzsche, F.: Vom Nutzen und Nachteil der Hi-storie. Reklam, Ditzingen 19864 Beinert, W.: Heilkunde und Heilskunde. In: Ei-rund, W., Röder, H. (Hrsg.): Psychotherapie, Spi-ritualität, Religion. Glaukos, Limburg 20075 Dörner, K.: Ende der Veranstaltung. Paranus,Neumünster 20026 Eirund, W.: „Vor allem aber achtet scharf, dassman hier alles dürfen darf!“ – Äußere und innereFreiheit als Dimensionen therapeutischen Handelns.Vortrag auf dem Vierten gemeinsamen Symposium:„Freiheit in der Psychotherapie“ am 12. September

2007 in Bad Schwalbach. Drucklegung für 2008 in:Röder, H., W. Eirund: Freiheit in der Psychothera-pie. Glaukos, Limburg7 Eirund, W.: Chronische Schizophrenien oder: Vom„Irrsinn der Existenz“. Anmerkungen zur Bedeutungeiner geläufigen Diagnose. Fundamenta Psychiatrica16 (2002) 59-658 Narveson, J.: Die Ethik des Selbstmordes und derWert des Lebens. Aufklärung und Kritik, Sonder-heft 11 (2006), 131-1449 Bethchen, B., H. Hansen: Das Skepsis-Reservat:Vom Leben: Vom Suizid. Die gemütliche Kammeram Ende der Welt. www.boag-online.de/pdf/33001_Gemuetliche_Kammer.pdf

Zum Autor:Dr. med. Wolfgang Eirund, geb.20.08.1965, leitender Arzt einer statio-nären Einrichtung zur Therapie psy-chisch komorbider suchtkranker Men-schen in der Nähe von Wiesbaden. Nachdem Medizinstudium Promotion zu psy-choanalytisch fundierter Psychotherapie.Anschließend Ausbildung in der Psych-iatrie, psychosomatischen Medizin undPsychotherapie, Facharzt für Psychia-trie und Psychotherapie. Daneben An-erkennung und Tätigkeiten in der ärztli-chen Aus- und Weiterbildung auf denGebieten der Psychiatrie und Psychothe-rapie. Veröffentlichungen und Vortrags-tätigkeit mit Schwerpunkt einer Synop-sis interdisziplinärer, vorwiegend geistes-wissenschaftlicher Disziplinen mit psy-chotherapeutischen, psychiatrischen undneurobiologischen Denkansätzen.