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314 das Risiko des persistierenden Schmerzes. Nehmen wir an, die A- priori-Wahrscheinlichkeit sei kor- rekt berechnet und die Richtigkeit der Klassifikation dutch Anwen- dung der Diskriminanzfunktion in der vorliegenden Stichprobe tat- s~ichlich um 17 % verbessert wor- den. Mit groger Wahrscheinlichkeit ist zu erwarten, dab bei dem Ver- such einer Kreuzvalidierung der Befunde an einer unabhangigen Stichprobe die Anzahl korrekt klas- sifizierter F~ille deutlich geringer w~ire. Damit wtirde bei Anwendung der Diskriminanzfunktion in der chirurgischen Praxis die Wahr- scheinlichkeit steigen, zahlreichen Personen die Operation vorzuent- halten, die von ihr eigentlich profi- tieren wt~rden. Ein solches Vorge- hen aber erscheint ethisch proble- matisch. Zu prognostizieren, welche Pati- enten von einer Operation an der Wirbelsfiule profitieren werden und welche nicht, ist for die chirurgische Praxis von groger Bedeutung. Der Chirurg, der aufgrund vorliegender Studien eine Hilfestellung ftir die Indikationsstellung erwartet, wird bei einer Literaturanalyse allerdings eher verwirrt. Unterschiedliche Pr~- diktoren haben sich in den unter- schiedlichen Studien als relevant er- wiesen. Dies kann als Beleg daftir angesehen werden, dab die erzielten Ergebnisse in hohem MaBe stich- probenabhfingig sind. Eine Pro- gnose ist allerdings nur dann zul~is- sig, wenn davon auszugehen ist, dab ein erzielter Befund die Situation in der Grundgesamtheit beschreibt. Um der Verwirrung entgegenzuwir- ken, ist es daher yon groBer Bedeu- tung, Stichprobeneffekte zu kon- trollieren. Wenn wir nur solche Be- funde akzeptieren, von denen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit an- nehmen k6nnen, dab sie die Situa- tion in der Grundgesamtheit be- schreiben, werden sie auch in ande- ren Studien reproduzierbar sein. Nach meiner Einsch/itzung erlaubt es der derzeitige Stand der For- schung nicht, praoperativ erhobene soziodemographische, bzw. psycho- logische Variablen dazu zu nutzen, Patienten von einer Operation aus- zuschlieBen. H.-D. Basler Institut ftir Medizinische Psychologie Philipps-Universitfit Marburg Bunsenstrage 3 D-35037 Marburg M. Hasenbring Entgegnung auf den Leserbrief von H. D. Basler Bezug: Beitrag Junge et al. in Der Schmerz (1995) 9:70-77 Herr Basler Obt Kritik an einigen Aspekten der statistischen Auswer- tung einer prospektiven Lfings- schnittstudie zur Vorhersage des Genesungsverlaufs yon Bandschei- benpatienten, die yon Junge et al. publiziert wurde. Ich selbst war an der Planung dieser Studie beteiligt, die nach 3 vorangegangenen unab- h~ingigen Studien unserer Kieler bzw. Kiel/Hamburger Arbeits- gruppe nun yon der Arbeitsgruppe Ahrens, Junge und Dvorak multi- zentrisch an Kliniken in Hamburg und ZUrich durchgeft~hrt wurde. Obwohl ich somit nur mittelbar an dieser Arbeit beteiligt war, liegt es mir als Mitautorin sehr am Herzen, selbst zu einigen yon Herrn Basler angesprochenen Punkten Stellung zu nehmen. Prospektive Studien zur Vorher- sage des Genesungsverlaufs bei Bandscheibenpatienten, wie sie von unseren beiden Arbeitsgruppen seit mehr als 12 Jahren durchgefOhrt wurden, dienen zweierlei Zielen, ei- nero grundlagenwissenschaftlichen und einem klinisch angewandten. In grundlagenwissenschaftlicher Hin- sicht geht es datum, tiber ein pro- spektives Feldstudiendesign Hin- weise auf m6gliche Ursache-Wir- kungs-Zusammenhange zwischen definierten biopsychosozialen Va- riablen einerseits und der Chronifizierung von Schmerzen so- wie verschiedener Verhaltenspara- meter (Arbeitsfghigkeit, Beren- tung) andererseits zu gewinnen. Die Untersuchung von Patienten mit ei- nem umschriebenen, radikul~iren Schmerzbild bei gleichzeitigem Vor- liegen eines lumbalen Bandschei- benvorfalls stellt in diesem Zusam- menhang ein geeignetes For- schungsparadigma dar, Prozesse der Chronifizierung zu untersuchen. Es erm6glicht einen klar definierbaren und gut operationalisierbaren Aus- gangspunkt bei einer Population, die eine relativ homogene organische Befundlage aufweist. Der Gene- sungsverlauf unter medizinischer Behandlung ist gut erforscht und weist im statistischen Sinne genii- gend Varianz fur die Untersuchung multivariater Fragestellungen auf. Das vorliegende Forschungspa- radigma erlaubt dartiber hinaus auch die Beantwortung klin&ch angewandter Fragen. Fiir den be- handelnden Arzt wie ftir die Ko- stentr~iger im Gesundheitswesen ist es nattirlich von groBer Bedeutung, m6glichst friihzeitig Hinweise daftir zu bekommen, bei welchen Patien- ten mit einem chronischen Verlauf yon Schmerzen, Immobilit~it und eingeschr~inkter Arbeitsf~ihigkeit zu rechnen ist. Ich hare es jedoch an dieser Stelle fiir enorm wichtig, kri- tisch zu reflektieren, welche Schlug- folgerungen aus Befunden dieser Arbeiten gezogen werden k6nnen.

Entgegnung auf den Leserbrief von H.D. Basler Bezug: Beitrag Junge et al. in Der Schmerz (1995) 9: 70–77

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das Risiko des persistierenden Schmerzes. Nehmen wir an, die A- priori-Wahrscheinlichkeit sei kor- rekt berechnet und die Richtigkeit der Klassifikation dutch Anwen- dung der Diskriminanzfunktion in der vorliegenden Stichprobe tat- s~ichlich um 17 % verbessert wor- den. Mit groger Wahrscheinlichkeit ist zu erwarten, dab bei dem Ver- such einer Kreuzvalidierung der Befunde an einer unabhangigen Stichprobe die Anzahl korrekt klas- sifizierter F~ille deutlich geringer w~ire. Damit wtirde bei Anwendung der Diskriminanzfunktion in der chirurgischen Praxis die Wahr- scheinlichkeit steigen, zahlreichen Personen die Operation vorzuent- halten, die von ihr eigentlich profi- tieren wt~rden. Ein solches Vorge- hen aber erscheint ethisch proble- matisch.

Zu prognostizieren, welche Pati- enten von einer Operation an der Wirbelsfiule profitieren werden und welche nicht, ist for die chirurgische Praxis von groger Bedeutung. Der Chirurg, der aufgrund vorliegender Studien eine Hilfestellung ftir die Indikationsstellung erwartet, wird bei einer Literaturanalyse allerdings eher verwirrt. Unterschiedliche Pr~- diktoren haben sich in den unter- schiedlichen Studien als relevant er- wiesen. Dies kann als Beleg daftir angesehen werden, dab die erzielten Ergebnisse in hohem MaBe stich- probenabhfingig sind. Eine Pro- gnose ist allerdings nur dann zul~is- sig, wenn davon auszugehen ist, dab ein erzielter Befund die Situation in der Grundgesamtheit beschreibt. Um der Verwirrung entgegenzuwir- ken, ist es daher yon groBer Bedeu- tung, Stichprobeneffekte zu kon-

trollieren. Wenn wir nur solche Be- funde akzeptieren, von denen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit an- nehmen k6nnen, dab sie die Situa- tion in der Grundgesamtheit be- schreiben, werden sie auch in ande- ren Studien reproduzierbar sein. Nach meiner Einsch/itzung erlaubt es der derzeitige Stand der For- schung nicht, praoperativ erhobene soziodemographische, bzw. psycho- logische Variablen dazu zu nutzen, Patienten von einer Operation aus- zuschlieBen.

H.-D. Basler Institut ftir Medizinische Psychologie Philipps-Universitfit Marburg Bunsenstrage 3 D-35037 Marburg

M. Hasenbring

Entgegnung auf den Leserbrief von H. D. Basler Bezug: Beitrag Junge et al. in Der Schmerz (1995) 9 :70-77

Herr Basler Obt Kritik an einigen Aspekten der statistischen Auswer- tung einer prospektiven Lfings- schnittstudie zur Vorhersage des Genesungsverlaufs yon Bandschei- benpatienten, die yon Junge et al. publiziert wurde. Ich selbst war an der Planung dieser Studie beteiligt, die nach 3 vorangegangenen unab- h~ingigen Studien unserer Kieler bzw. Kiel/Hamburger Arbeits- gruppe nun yon der Arbeitsgruppe Ahrens, Junge und Dvorak multi- zentrisch an Kliniken in Hamburg und ZUrich durchgeft~hrt wurde. Obwohl ich somit nur mittelbar an dieser Arbeit beteiligt war, liegt es mir als Mitautorin sehr am Herzen, selbst zu einigen yon Herrn Basler

angesprochenen Punkten Stellung zu nehmen.

Prospektive Studien zur Vorher- sage des Genesungsverlaufs bei Bandscheibenpatienten, wie sie von unseren beiden Arbeitsgruppen seit mehr als 12 Jahren durchgefOhrt wurden, dienen zweierlei Zielen, ei- nero grundlagenwissenschaftlichen und einem klinisch angewandten. In grundlagenwissenschaftlicher Hin- sicht geht es datum, tiber ein pro- spektives Feldstudiendesign Hin- weise auf m6gliche Ursache-Wir- kungs-Zusammenhange zwischen definierten biopsychosozialen Va- riablen einerseits und der Chronifizierung von Schmerzen so- wie verschiedener Verhaltenspara- meter (Arbeitsfghigkeit, Beren- tung) andererseits zu gewinnen. Die Untersuchung von Patienten mit ei- nem umschriebenen, radikul~iren Schmerzbild bei gleichzeitigem Vor- liegen eines lumbalen Bandschei- benvorfalls stellt in diesem Zusam- menhang ein geeignetes For- schungsparadigma dar, Prozesse der

Chronifizierung zu untersuchen. Es erm6glicht einen klar definierbaren und gut operationalisierbaren Aus- gangspunkt bei einer Population, die eine relativ homogene organische Befundlage aufweist. Der Gene- sungsverlauf unter medizinischer Behandlung ist gut erforscht und weist im statistischen Sinne genii- gend Varianz fur die Untersuchung multivariater Fragestellungen auf.

Das vorliegende Forschungspa- radigma erlaubt dartiber hinaus auch die Beantwortung klin&ch angewandter Fragen. Fiir den be- handelnden Arzt wie ftir die Ko- stentr~iger im Gesundheitswesen ist es nattirlich von groBer Bedeutung, m6glichst friihzeitig Hinweise daftir zu bekommen, bei welchen Patien- ten mit einem chronischen Verlauf yon Schmerzen, Immobilit~it und eingeschr~inkter Arbeitsf~ihigkeit zu rechnen ist. Ich hare es jedoch an dieser Stelle fiir enorm wichtig, kri- tisch zu reflektieren, welche Schlug- folgerungen aus Befunden dieser Arbeiten gezogen werden k6nnen.

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Im Vordergrund stehen a) Fragen der Selektion hinsichtlich der Ope- rationsentscheidung und b) Fragen der Beratung im Hinblick auf wei- terffihrende, die medizinische Be- handlung erganzender Verfahren.

Herr Basler bezweifelt, dab die Daten der vorliegenden Studie eine Selektionsentscheidung zulassen. Abgesehen davon, dab die Autoren dies an keiner Stelle ihrer Publika- tion tun, m6chte ich dieses Forum nutzen, um eindringlich davor zu warnen, eine solche Selektionsent- scheidung anhand psychologischer und medizinisch-anamnestischer Befunde iJberhaupt treffen zu wol- len. Ich halte es ftir nicht sinnvoll, ineffektiv und potentiell nachteilig fur den Patienten, einen operativen Eingriff vom Vorliegen psychologi- scher Auff~illigkeiten bzw. anamne- stischer Besonderheiten abh~ingig zu machen. Einem Patienten, bei dem positive psychologische Be- funde eine Chronifizierung der Be- schwerden wahrscheinlich machen, von einer Operation abzuraten, wenn von neurochirurgischer Seite aus gleichzeitig eine sog. absolute OP-Indikation besteht (z. B. massive L~hmungserscheinungen) ist schlicht nicht zu verantworten. Ei- nem Patienten mit relativer OP-In- dikation (radikulares Schmerzbild bei unklaren neurologischen Befun- den), bei dem die psychologische Diagnostik negativ ausf~illt (keine Risikofaktoren), zu einer Operation zu raten, ist unsinnig. Im Falle einer ,,richtig negativen" Vorhersage w~ire eine solche Entscheidung un- ter Kostengesichtspunkten nicht zu verantworten, im Falle einer ,,falsch negativen" Vorhersage ware sie un- zureichend, weil es dennoch zu einer Chronifizierung kommen wtirde, welche von den vorliegenden Pra- diktoren nicht angezeigt wurde.

In klinisch-pragmatischer Hin- sicht kann es meiner Meinung nach nur darum gehen, eine Beurtei-

lungsgrundlage zu entwickeln, die es uns erlaubt, anhand einer differen- zierten Diagnostik auf somatischer und psychologischer Ebene zu einer Indikationsstellung jeweils spezifi- scher BehandlungsmaBnahmen zu kommen. Die somatische Diagno- stik muB die Frage der Operations- indikation klaren, die psychologi- sche Diagnostik kRirt Ansatzpunkte fiir Interventionen auf psychosozia- ler Ebene. Nur gut kontrollierte In- terventionsstudien k6nnen kl~iren, welche Behandlungsstrategien in der Lage sind, eine Chronifizierung der Schmerzen sowie eine sp~itere Immobilit~it und Frtihberentung zu vermeiden.

Eine wichtige Frage ist, ob die Befunde der bislang vorliegenden prospektiven L~ingsschnittstudien zum Genesungsverlauf bei Band~ scheibenpatienten zum gegenwarti- gen Zeitpunkt eine ausreichende Grundlage bilden, um entspre- chende Interventionsstudien zu pla- nen. Ich meine ja. Die Ergebnisse verschiedener Studien weisen iiber- zeugende Gemeinsamkeiten auf, die, in psychologischer Hinsicht, auf die Relevanz der Faktoren Depres- sivit~it und maladaptive Schmerz- verarbeitung hinweisen. Die Bedeu- tung dieser Befunde wird unterstri- chen durch die Obereinstimmung mit theoretischen Konzepten der psychologischen Schmerzforschung einerseits, mit Befunden der psy- chophysiologischen Laborforschung andererseits. Die bisher publizierten Arbeiten unterscheiden sich zwar noch hinsichtlich der relativen Ge- wichtung der ft~r relevant erachteten Pr~idiktoren. Dies h~ingt nicht nut mit bisher noch nicht ausreichend gekRirten Stichprobeneffekten zu- sammen. Die Ergebnisse der meist angewandten multivariaten Analy- severfahren (multiple Regression, multiple Diskriminanzanalyse) sind abh~ingig von Art und Anzahl der Uberhaupt einbezogenen potentiel-

len Pr~idiktoren und auch hierin un- terscheiden sich die bisher durehge- ft~hrten Studien zum Teil noch im- mer betrgchtlich.

Diese Oberlegungen zu einer kritischen Reflektion des Selekti- ons- vs. Beratungsprinzips sind eng verknt~pft mit einem weiteren Aspekt, der auch unsere aktuelle, gemeinsame Publikation betrifft: nach meinen Erfahrungen in diesem Feld hare ich es nicht mehr ftir an- gemessen, yon Operations-Erfolg oder Miflerfolg zu sprechen. Der Erfolg eines operativen Eingriffs an der Bandscheibe ist sehr eng an der konkreten Zielsetzung zu beurtei- len. Besteht das Ziel in einer Freile- gung der Nervenwurzel, so ist der Erfolg eines solchen Eingriffs an- hand des intraoperativen Befundes sowie m6glicherweise anschlieBen- den bildgebenden Verfahren festzu- stellen. Schon die Persistenz von Schmerzen stellt nur einen indirek- ten Indikator dar. Sind bleibende Schmerzen durch psychologische Faktoren moduliert, k6nnen wir daraus nicht schluBfolgern, daB die Operation ,,miBgltickt" ist, sondern dab sie als alleinige MaBnahme un- zureichend war. Ich m6chte daher empfehlen, lediglich von Gene- sungsverlauf nach einer Bandschei- benoperation zu sprechen, der tiber unterschiedliche Kriterien (z. B. lumbale, radikulfire oder pseudora- dikulare Schmerzen, Funktionsein- schrfinkungen, Immobilisierung im Alltag, Arbeitsfahigkeit, Berentung, Hfiufigkeit von Arztkontakten) zu definieren ist. Ftir jedes unabh~in- gige Kriterium ist zu klaren, welche somatischen, psychologischen und sozialen Faktoren EinfluB nehmen.

M. Hasenbring Institut for Medizinische Psychologie Zentrum Nervenheilkunde Klinikum der Christian-Albrecht- Universitfit Niemannsweg 147 D-24105 Kiel